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Heidegger E-Book

Udo Tietz

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Beschreibung

Einflussreich, vieldiskutiert und heftig umstritten - der Philosoph, der das Sein wieder ins Zentrum des Denkens rückte. Text aus der Reihe "Grundwissen Philosophie" mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe.

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Grundwissen Philosophie

Heidegger

von

Udo Tietz

Reclam

Wissenschaftlicher Beirat der Reihe

Grundwissen Philosophie:

Prof. Dr. Simone Dietz

Prof. Dr. Christoph Horn

Prof. Dr. Detlef Horster

Prof. Dr. Geert Keil

Prof. Dr. Ekkehard Martens

Prof. Dr. Corinna Mieth

Prof. Dr. Thomas Schmidt

Prof. Dr. Herbert Schnädelbach

Prof. Dr. Ludger Schwarte

Alle Rechte vorbehalten

© 2013 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2013

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960112-0

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020306-4

www.reclam.de

Inhalt

Einleitung

Die Frühschriften

Antipsychologismus: Urteilssinn und Urteilsvollzug

Heidegger und die Logistik

Heidegger und Frege über »Sinn« und »Bedeutung«

Der fundamentalontologische Ansatz im Umfeld von Sein und Zeit

Die Seinsfrage: Sein und Seiendes

Dasein und Sinn

Welt, Zeichen und Bedeutung

Sprache und Verstehen

Mitsein, Mitteilung und das »Man«

Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit

Das Gerede und die Neugier

Die eigentliche Rede, Privatsprache und Intersubjektivität

Wahrheit und Welterschließung

Die Spätschriften

Die Kehre

Metaphysik und Metaphysikkritik

Das anfängliche Denken als das Denken eines anderen Anfangs

Denken und Dichten

Kunst und Kunstwerk

Anmerkungen

Kommentierte Bibliographie

Schlüsselbegriffe

Zeittafel

Zum Autor

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

[7] Einleitung

»Jede philosophische Problematik hat etwas im Rücken, das sie selbst und trotz ihrer höchsten Durchsichtigkeit nicht erreicht, denn die Durchsichtigkeit hat sie gerade daher, daß sie um jene Voraussetzung nicht weiß.«

Martin Heidegger

Heidegger zählt zu den Denkern, die den philosophischen Diskurs der Moderne im 20. Jahrhundert entschieden geprägt haben. Wie wenige vor ihm hat er unser abendländisches Selbstverständnis einer grundlegenden Revision unterziehen wollen, die auch noch die Grundlagen eines Denkens betrifft, das sich auf das neuzeitliche Prinzip der Subjektivität und das damit verbundene Seinsverständnis gründet. Heidegger geht es um einen anderen Anfang, um einen Anfang, der nicht mehr den Menschen samt seiner verabsolutierten Zweckrationalität der »Durchrechnung alles Handelns und Planens« in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, sondern um einen Anfang, der auf dem Weg einer intern ansetzenden Überwindung der Metaphysik dieses Seinsverständnis überschreitet. Und insofern im Abendland die Metaphysik der Ort ist, an dem sich dieses Seinsverständnis artikuliert, zielt Heidegger nicht nur auf eine philosophische Revision des abendländischen Selbstverständnisses, sondern gleichzeitig auf eine Revision der gesamten Metaphysik.

Es besteht kein Zweifel: Heidegger geht es um die Eröffnung neuer Denkhorizonte, die jenseits des vergegenständlichenden Denkens der traditionellen Metaphysik liegen, von der er meint, daß sie das abendländische Denken gefangenhält. Er stieß dabei jedoch auch an Grenzen, die er nicht zu überschreiten vermochte. Genau hier liegen die Schwierigkeiten einer angemessenen Rezeption. Denn angemessen kann [8] keine Rezeption sein, die einzelne Begriffe, Thesen und Einsichten aus ihrem Zusammenhang heraushebt oder aber die Denkweise von Heidegger nur imitiert – einer der wohl unsympathischsten Züge der »Verehrung« eines Philosophen, der nur Verachtung für eine derartige Verehrung übrig gehabt hätte. Eine produktive Rezeption kann nur indirekter Art sein, wobei sich zweierlei zeigen müßte: erstens, inwieweit wir noch heute von den Fragen betroffen sind, die Heidegger umtrieben, und zweitens, wie sich einzelne Intentionen und Motive Heideggers retten lassen, ohne daß wir uns damit auf Prämissen verpflichten, die sich unter den Bedingungen eines Denkens nach Heidegger nicht mehr vertreten lassen.

[9] Die Frühschriften

Im Vorwort zu den Frühen Schriften stellt Heidegger 1972 fest: »Zur Zeit der Niederschrift der vorliegenden, im wörtlichen Sinne hilf-losen frühen Versuche, wußte ich noch nichts von dem, was später mein Denken bedrängte. Gleichwohl zeigen sie einen mir damals noch verschlossenen Wegbeginn: in Gestalt des Kategorienproblems die Seins-frage, die Frage nach der Sprache in der Form der Bedeutungslehre. Die Zusammengehörigkeit beider Fragen blieb im Dunkel. Die unvermeidliche Abhängigkeit ihrer Behandlungsart von der herrschenden Maßgabe der Lehre vom Urteil für alle Onto-Logik ließ das Dunkel nicht einmal ahnen.« (GA 1, 55) Nimmt man diese Feststellung ernst, dann deuten sich in Heideggers »hilf-losen frühen Versuchen« die zwei zentralen Themen seines Denkens an: die Seinsfrage und die Frage nach der Sprache. Beide Fragen haben ihn zeit seines Lebens beschäftigt.

Bei den hier angesprochenen Versuchen handelt es sich um Heideggers Dissertation Zur Lehre vom Urteil im Psychologismus aus dem Jahr 1913 und um seine Habilitation zur Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus von 1915, die Heidegger Heinrich Rickert (1863–1936), dem damaligen Haupt des südwestdeutschen Neukantianismus, »in dankbarster Verehrung« widmet. Rickert, der auch schon der Zweitgutachter der Dissertation war, übte einen überaus starken Einfluß auf den frühen Heidegger aus, insofern dieser zusammen mit Emil Lask (1875–1915) und Edmund Husserl (1859–1938), dem Begründer der Phänomenologie, in Frontstellung zum Psychologismus das Urteil als »psychischen Vorgang des Zusammentreffens verschiedener Vorstellungen« gegenüber dem »Vorstellungsinhalt« im Sinne des »Urteilssinns« abgehoben hat – womit der Weg in Richtung einer [10] antipsychologistischen und damit antirelativistischen Logikbegründung frei schien.

Auch Heidegger geht es in seinen beiden Qualifikationsarbeiten um solch eine antipsychologistische Logikbegründung, wobei sich das maßgebliche Argument aus der Unterscheidung von »Urteilssinn« und »Urteilsvollzug« ergeben soll. Heidegger entnimmt den beiden bedeutendsten antipsychologistischen Denkbewegungen am Anfang des 20. Jahrhunderts, der neukantianischen Geltungsphilosophie und der Phänomenologie, aber nicht nur seine Argumente gegen den Psychologismus, sondern auch seine Argumente zum »Wesen des Urteils«. Und dies ist kein Zufall. Heideggers Interesse am Urteil ist gut begründet. Er wählt die »Lehre vom Urteil […], weil sich am Urteil, das mit Recht als ›Zelle‹, d. h. als Urelement der Logik, betrachtet wird, am schärfsten der Unterschied zwischen Psychischem und Logischem herausstellen lassen muß, weil vom Urteil aus der eigentliche Aufbau der Logik sich zu vollziehen hat« (GA 1, 64).

Wie immer man das komplizierte Spannungsverhältnis von Geltungsphilosophie und Phänomenologie im Frühwerk von Heidegger einschätzen mag, sicher ist, daß Heidegger es seinerzeit Rickert, Lask und Husserl als Verdienst anrechnete, das Urteil vom »Vorstellungsinhalt« im Sinne des »Urteilssinns« abgegrenzt zu haben, womit Rickert, Lask und Husserl »den psychologischen Bann eigentlich gebrochen« haben. Auch Heideggers Antipsychologismus ist durch diese Unterscheidung von »Urteilssinn« und »Urteilsvollzug« charakterisiert.

Antipsychologismus: Urteilssinn und Urteilsvollzug

Heideggers Strategie, den Psychologismus zu widerlegen, besteht aus zwei Teilschritten: In einem ersten Schritt attackiert er die Konsequenzen, die sich aus den Versuchen ergeben, die Logik psychologistisch zu fundieren, um dann in einem [11] zweiten Schritt mittels ebendieser Unterscheidung die Voraussetzungen des Psychologismus in Frage zu stellen.

Die Quintessenz seiner Psychologismuskritik besteht in der Feststellung, daß die »verschiedenen Urteilslehren in der allgemeinen Auffassung des Urteils« darin einig sind, daß »das Urteil […] ein psychischer Vorgang« sei, der »sich in den Zusammenhang der psychischen Wirklichkeit einordnet« (GA 1, 116 f.). Genau hierin sieht Heidegger den Grundfehler der bekämpften Position. »Die Ableitung des Urteils aus der Grundeigenschaft der apperzeptiven Geistestätigkeit […] ist Psychologismus« (GA 1, 162), was insofern auch plausibel ist, als wir die Wahrheit oder Falschheit unserer Urteile ganz offensichtlich nicht von dem einwandfreien Funktionieren unseres Bewußtseins abhängig machen. Wenn wir fälschlicherweise von einem roten Tisch sagen, er sei blau, dann erklären wir diesen Fehler mit Rekurs auf eine Wahrnehmungstäuschung oder damit, daß wir die Farbprädikate »rot« und »blau« verwechselt haben, nicht aber damit, daß wir sagen, unser Bewußtsein hat gerade nicht richtig gearbeitet.

Der Gehalt unserer Überzeugungen, Heidegger spricht hier durchweg von Urteilen, läßt sich nicht aus der »apperzeptiven Geistestätigkeit« ableiten. »Die Problematik des Urteils liegt nicht im Psychischen.« (GA 1, 164) Zudem kollidiert die psychologistische Fundierung der Logik mit ihrem normativen Charakter, weshalb solch eine Position abzulehnen sei. Denn wenn sich die Logik mit der Normierung des Denkens befaßt, dann kann die normierende Kraft nicht in einem empirischen Sinn verstanden werden. Für Heidegger ist früh schon klar, daß sich der Psychologismus mit »seinen relativistischen Konsequenzen« selbst widerlegt. Gleichwohl meint er, daß mit der Feststellung seiner relativistischen Konsequenzen in positiver Hinsicht wenig ausgemacht sei. (GA 1, 165)

Heidegger greift also den Psychologismus als Relativismus mit einem Selbstwiderlegungsargument an und fragt dann, worin die Alternative zu dieser selbstwidersprüchlichen [12] Position besteht. Und diese Alternative sieht er durch die Geltungsphilosophie vorgezeichnet, insofern hier »die Wirklichkeitsform des im Urteilsvorgang aufgedeckten identischen Faktors« als geltender Sinn bestimmt wird. Heidegger orientiert sich mit der Unterscheidung von Urteilssinn und Urteilsvollzug, von logischem Gehalt und psychischen Akten an der Geltungsphilosophie, weil er der Auffassung ist, daß das »in der Zeit verlaufende Denkgeschehen« und der »ideale außerzeitliche identische Sinn« nicht identisch sein können. Nach Heidegger muß man das, »was ›ist‹, von dem, was ›gilt‹«, unterscheiden. Diese Unterscheidung, die für Heidegger eine zwischen dem Faktischen und dem Normativen ist, hat der Psychologismus nicht getroffen und statt dessen das Normative ins Faktische herabgezogen. Genau dies hält Heidegger für einen Fehler. »Die Logik bewegt sich nur in der Sphäre des Sinns«, nicht in der des Faktischen. Es ist das Reich der Geltung, das Heidegger für das Logische reserviert, ein Reich, welches der Psychologismus nicht kennt, weil er »die logische ›Wirklichkeit‹« nicht kennt, wobei Heidegger meint, daß dieses Reich nicht nur gegen das Psychische, sondern auch gegen das Metaphysische abzugrenzen sei. Er will den Relativismus nicht um den Preis eines Rückfalls in eine unkritische Metaphysik überwinden, sondern auf dem kritischen Weg.

Für Heideggers antipsychologistische Logikfundierung ist somit erstens die Unterscheidung von »Urteilssinn« und »Urteilsvollzug« und zweitens die Unterscheidung von »Sein« und »Gelten« charakteristisch. Doch was ist das: »Sinn«? Auch Heidegger stellt sich diese Frage: »Hat es überhaupt Sinn, danach zu fragen? Wenn wir den Sinn des Sinnes suchen, müssen wir doch wissen, was wir suchen, eben den Sinn. Die Frage nach dem Sinn ist nicht sinnlos.« (GA 1, 170) Diese Frage ist nicht trivial. Denn von der Art und Weise ihrer Beantwortung hängt nicht nur die Plausibilität von Heideggers früher Psychologismuskritik ab, es werden zugleich die Weichen für spätere Entwicklungen gestellt.

[13] Wie beantwortet er nun die Frage nach dem Sinn? »Sinn steht im engen Zusammenhang mit dem, was wir ganz allgemein mit Denken bezeichnen, wobei wir unter Denken nicht den weiten Begriff Vorstellen verstehen, sondern Denken, das richtig oder unrichtig, wahr oder falsch sein kann […]. Die Wirklichkeitsform des Sinnes ist das Gelten.« (GA 1, 172) Der Sinn ist es, der gilt. Er »verkörpert« das Logische. Denn der Sinn ist der »Inhalt, die logische Seite des Urteils«, oder, wie Heidegger auch sagt: »Das Urteil der Logik ist Sinn.« (GA 1, 172)

Bemerkenswert an dieser Antwort ist zum einen, daß der Sinnbegriff nicht mit Bezug auf die Sprache eingeführt wird, was insofern naheläge, als es sich bei Urteilen um einen sprachlich zugänglichen Sinn handelt, sondern mit Bezug auf das »Denken«, also innerhalb eines mentalistischen Paradigmas; und zum anderen, daß Heidegger behauptet: der Sinn gilt. Ebendiese Rede von einem Sinn, der gilt, ist keineswegs eindeutig. Eindeutig ist lediglich, daß Heidegger den Wahrheitsanspruch als einen Geltungsanspruch versteht. Denn das Wahre ist für ihn das Geltende selbst. Vergleichen wir aber die Prädikatausdrücke »… ist wahr« und »… gilt«, dann stellen wir fest, daß ein Wahrheitsanspruch kein Geltungsanspruch ist, da »gelten« in aller Regel in dreistelligen Prädikaten vorkommt, wobei wir zwei paradigmatische Fälle unterscheiden können: »X gilt für jemanden als Y« und »X gilt für jemanden für etwas«.

Nun untersteht die Wahrheitsfrage allerdings keiner solchen normativen Beziehung. Der Anspruch, den wir mit einem konstatierenden Sprechakt erheben, ist lediglich der, daß das, was wir sagen, wahr ist. Daher ist es »nichtssagend, den Wahrheitsanspruch einen Geltungsanspruch zu nennen, weil das, was da als Geltung beansprucht wird, nichts anderes als die Wahrheit selbst ist, oder es ist irreführend, weil der Anspruch ›p ist wahr‹ und der Anspruch ›p gilt‹ schon aus semantischen Gründen nicht miteinander identisch sein können. Wahrheitsfragen sind keine Geltungsfragen in dem Sinn, daß [14] man in allen Kontexten das Prädikat ›… ist wahr‹ durch das Prädikat ›… gilt …‹ ersetzen könnte.«1

Um den Relativismus in der Urteilstheorie abzuwehren, greift Heidegger also – in Reaktion auf den Psychologismus – zuerst das Wahrheitsproblem auf der Ebene der Erkenntnis auf und leitet damit den Übergang von der deskriptiven zur normativen Rede ein, der dann mit dem Terminus »gelten« effektiv vollzogen wird. Nachdem auf diese Weise die objektive Geltung von den Relativierungen des Urteilsvorgangs abgezogen wurde, behauptet er nun, daß das »Gelten dieses von jenem […] der logische Begriff der Kopula« besagt, die die »Relation zwischen Gegenstand und bestimmendem Bedeutungsgehalt« repräsentieren soll und daher als ein »notwendiger dritter Bestandteil des Urteils« (GA 1, 178) aufgefaßt werden muß. Im Bestreben, die Gebietsfremdheit von Logik und Grammatik darzutun, wird so die Kopula, also das grammatische Bindeglied zwischen Subjekt und Prädikat, »das wesentlichste und eigentümlichste Element im Urteil«. Denn sie repräsentiert das Logische überhaupt, »sofern dessen Wirklichkeitsform gerade das Gelten ist«. Und so meint Heidegger nun behaupten zu können: »Aus der bestehenden Zweigliedrigkeit folgt analytisch, daß die Kopula ein notwendiger dritter Bestandteil des Urteils sein muß.« (GA 1, 178)

Mit dieser Interpretation der Kopula als dritter Bestandteil des Urteils glaubt Heidegger die »Frage nach dem ›Sinn des Seins‹ im Urteil erledigt« zu haben. Die Schlußfolgerung, daß die Kopula als vermittelnde Mitte zwischen den Relaten die Vermittlung leistet, wäre jedoch nur zwingend, wenn man bereits akzeptiert, was erst noch zu zeigen wäre: daß das Urteil im Sinne der Gegenstandstheorie als eine Verbindung des Subjekts mit dem Prädikat gedacht werden muß. Wenn man jedoch das Urteil als »Relation« vorstellt und die Kopula als jenes »wesentlichste […] Element im Urteil« interpretiert, das eine »Relation vor den Gliedern« darstellt, dann wird nicht nur deutlich, daß der Wahrheitsanspruch fälschlicherweise [15] als ein Geltungsanspruch verstanden werden muß, insofern die Kopula das logische »gilt« repräsentieren soll, sondern auch, daß Heideggers Antipsychologismus erkauft wird mit einer Idealisierung der Geltung und der Bedeutung, die sich zu den Urteilen wie Platons (427–347 v. Chr.) Ideen zu ihren irdischen Manifestationen verhält.

Dies zeigt sich, wenn wir Heideggers Beispiel des prädikativen Satzes betrachten. Das »Urteil: ›Der Einband ist gelb‹ hat den Sinn: Gelbsein des Einbandes gilt. Dieser Sinn läßt sich genauer so ausdrücken: Vom Einband gilt das Gelbsein.« (GA 1, 175) Doch was besagt eigentlich: »Vom Einband gilt das Gelbsein«? Klar ist, daß der Übergang von »Der Einband ist gelb« zu »Vom Einband gilt das Gelbsein« eine Veränderung des Ausdrucks mit sich bringt. Die Form des Ausdrucks hat sich in der Weise verändert, daß das Prädikat »ist gelb« durch eine Nominalisierung in den singulären Terminus »das Gelbsein« verwandelt wurde.

Nun läßt sich aber nicht nur zeigen, daß die nominalisierte Form semantisch sekundär ist gegenüber der prädikativen Form, sondern auch, daß Heidegger dadurch, daß er die semantische Dimension überhaupt nicht wahrnimmt, die Bedeutung des Prädikates durch dessen Vergegenständlichung als einen selbständigen Gegenstand auffassen muß, auf den referierend Bezug genommen wird, so daß die Prädikation nach dem Modell der Referenz mißdeutet werden muß. Semantisch sekundär ist die nominalisierte Form deshalb, weil der nominalisierte Satz »daß p« nicht mehr, sondern weniger enthält als der ursprüngliche Satz »p«. Denn ihm wurde bei der Transformation in den singulären Terminus sein Behauptungsmoment entzogen.2 Wenn man nur sagt: »daß es heute regnet«, gibt man im Unterschied zu »heute regnet es« noch nichts zu verstehen, schafft allerdings eine Leerstelle durch den Verzicht auf das Behauptungsmoment. Und die Bedeutung des Prädikats muß Heidegger deshalb als einen selbständigen Gegenstand auffassen, weil das Geltende, das ja gerade nicht mehr im Sinne von Existenz gedacht werden [16] sollte, sich durch die Nominalisierung »das Gelbsein« selbst in ein Existierendes verwandelt3, so daß Heidegger analog zu Rickert, Lask und Husserl die Bedeutung des Aussagesatzes als einen zusammengesetzten Gegenstand auffassen muß. Zwar sagt Heidegger selbst: »Aus dem Eigenschaftswort ›blau‹ ergibt sich durch Nominalisierung ›das Blaue‹ und so in jedem Fall.« (GA 1, 356) Dennoch meint er, daß es zu jedem Ausdruck, also auch für Adjektive wie »blau« oder für Zahlen wie »fünf«, eine besondere Entität gibt, zu der der Ausdruck in der Beziehung der Bezeichnung steht.

Nominalisten – für die die Universalien nur Namen sind und nichts Wirkliches repräsentieren – hatten für solche Vergegenständlichungen von Entitäten nur abfällige Etikettierungen übrig, da dieser Universalienrealismus auf einem simplen Kategorienfehler beruht, der nach Gilbert Ryle (1900–1976) folgendermaßen funktioniert: So wie es eine mir bekannte Entität gibt, etwa meinen Hund Fido, der auf den Namen »Fido« hört und durch diesen Namen bezeichnet wird, so muß es für jeden sinnvollen Ausdruck eine besondere Entität geben, zu der er in der Beziehung der Bezeichnung steht, eben der durch »Fido«–Fido bezeichneten Realität. Während jedoch »Fido« tatsächlich ein Name ist, behandelt der Universalienrealist auch Ausdrücke als Namen, die überhaupt keine Namen sind, eben Ausdrücke wie »blau« und »fünf«.

Während für den Nominalismus, der in ontologischer Hinsicht als eine Gegenposition zum Universalienrealismus angesehen werden kann, die These charakteristisch ist, daß es keine abstrakten Entitäten gibt, die durch singuläre oder allgemeine Termini bezeichnet werden4, glaubt Heidegger, daß das Nomen nicht nur einen »Gegenstand überhaupt« oder ein »Wesen« zu bedeuten hat, sondern eben auch, daß dieses Wesen das Universale »repräsentiert«. Damit sind in bedeutungstheoretischer Hinsicht schon in seiner Dissertation und seiner Habilitation die Weichen für eine gegenstandstheoretische Engführung der Sprachphilosophie im allgemeinen und [17] der Prädikations- und Bedeutungstheorie im besonderen gestellt.

Aber auch Heideggers These, daß sich die Urteile in positive und negative einteilen lassen und daß die »Negation primär in der Kopula ruht« (GA 1, 183 f.), eine Auffassung, die Heidegger mit Rudolf Hermann Lotze (1817–1881), Rickert, Husserl und den meisten Logikern seiner Zeit teilte5 – eine These im übrigen, die uns in ontologisch modifizierter Form in Heideggers Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? wiederbegegnen wird, insofern Heidegger hier behauptet, daß das »Nichts«, also ein unbestimmter singulärer Terminus, der überhaupt erst durch seine Nominalisierung zu einem bestimmten singulären Terminus wird, »ursprünglicher als das Nicht und die Verneinung« (GA 9, 108) ist –, kann in dieser Form nicht richtig sein, da es keine Möglichkeit gibt, die Sätze in bejahende und verneinende einzuteilen. Denn das Prädikat »ist gelb« ist genauso positiv wie das Prädikat »ist nicht gelb«. Folglich unterscheiden sich die beiden Sätze nicht als Behauptungen, sondern lediglich hinsichtlich ihres propositionalen Gehalts. Dies jedoch bedeutet, daß die Negation keine Eigenschaft ist, die einem Urteil an sich zukommt, sondern eine Operation darstellt, die, auf einen Satz angewendet, den entgegengesetzten erzeugt.6

Der von Heidegger übersehene Punkt ist, daß der Aussagesatz »Der Einband ist gelb« genauso behauptend ist wie der Aussagesatz »Der Einband ist nicht gelb«. Der zweite Satz negiert nicht den ersten, sondern lediglich das, was der erste behauptet – seinen propositionalen Gehalt.7 Der propositionale Gehalt entspricht nun aber genau dem, was in der nominalisierten Form durch »daß p« zum Ausdruck gebracht wird. Wenn also sowohl der Sprecher als auch der Hörer sagen kann: »das ist wahr«, dann sind die Sprechhandlungen, mit denen ein Hörer auf eine Behauptung des Sprechers reagiert, in der gleichen geregelten Weise auf die Äußerungen des Sprechers bezogen wie die Sprechhandlungen eines Sprechers auf die Ja/Nein-Stellungnahmen des Hörers. Dies aber [18] bedeutet, daß es keinen generellen Unterschied und auch kein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis »zwischen bejahenden und verneinenden Aussagen gibt; wir können nur sagen, daß die zweite die Verneinung der ersten ist«, so wie die erste die Verneinung der zweiten. Beide Sprechhandlungen beziehen sich offenkundig auf dasselbe: Das, was der eine Sprecher verneint, wird von dem anderen Sprecher bejaht.8

Hätte sich Heidegger an der Konfrontation zweier entgegengesetzter Behauptungen orientiert, dann hätte sich zweierlei gezeigt: erstens, daß die Möglichkeit der Verwendung des Wortes »wahr« mit der Erklärung der Verwendung assertorischer, also behauptender Sätze zusammenfällt. Und zweitens, daß das, was Heidegger mit Bezug auf Rickerts Aufsatz Urteil und Urteilen »beim Akt der Bejahung« eines »wahren Urteilsgehaltes« den »Ja-Sinn« nennt9 (beim Akt der Verneinung des unwahren Urteilsgehalts müßten wir dann folglich von einem »Nein-Sinn« sprechen können, obgleich Rickert auch sagt, daß immer dann, wenn dem »gültigen Wertgehalte« kein »Bejahen im Subjektiven« entspricht, »Urteilen logisch sinnlos« sei10), der als immanenter Urteilssinn dem objektiven Urteilsgehalt zur Seite steht, sich sprachanalytisch reformuliert als die Stellungnahme eines Hörers rekonstruieren läßt, der zu einem konstatierenden Sprechakt mit »Ja« oder »Nein« Stellung nimmt – und zwar ohne dafür auf einen objektiven Urteilsgehalt jenseits der tatsächlichen Bejahung oder Verneinung rekurrieren zu müssen. Dies setzt allerdings voraus, daß die Kopula nicht in die Negation lanciert und dann auch noch als die vermittelnde Mitte zwischen Subjekt und Prädikat interpretiert wird, die das Geltende repräsentiert. Denn eben mit dieser Interpretation der Kopula stellt Heidegger seine Bedeutungstheorie auf eine Basis, die es erforderlich macht, die Bedeutung des ganzen Satzes aus der Bedeutung seiner Teile zu rekonstruieren. Das Problem besteht jedoch gerade darin, daß sich der prädikative Satz überhaupt nicht als eine solche Relationsaussage verstehen läßt. Allein unter der gegenstandstheoretischen Voraussetzung, [19] daß sich die Kopula vom Prädikat trennen läßt und als unselbständiges, also »synkategorematisches« Verbindungswort fungiert, das die Synthesis repräsentiert, kann es erst als sinnvoll erscheinen, daß das Prädikat für etwas steht und daß sich der Sachverhalt in einer kategorialen Synthesis konstituiert.

Während sich also Heideggers Kritik an den relativistischen Konsequenzen des Psychologismus mittels der Unterscheidung von »Urteilsvollzug« und »Urteilssinn« auch heute noch aufrechterhalten läßt, muß sein Versuch, die Voraussetzungen des Psychologismus durch eine gegenstandstheoretische Urteilstheorie in Frage zu stellen, als gescheitert angesehen werden. Und dies aus zwei Gründen: zum einen, weil die Widerlegung des Psychologismus mit einer falschen Ontologisierung logischer Sachverhalte erkauft wird, so daß Heidegger den Relativismus nur um den Preis des Absolutismus überwinden konnte – was ihm im Verlauf seines »Denkweges« bewußt wird; zum anderen, weil Heidegger eine Voraussetzung mit dem Psychologismus teilt, die Voraussetzung nämlich, daß das Urteil sich einer Synthesis von Subjekt und Prädikat verdankt, wobei der Status der Kopula innerhalb der einzelnen »Urteilslehren« strittig war. Diese Voraussetzung, die sowohl von Psychologisten als auch von Antipsychologisten nie angezweifelt wird, ist deshalb problematisch, weil sie das, was mit ebendieser Voraussetzung aufgeklärt werden soll, nämlich die logische Struktur des Urteils, nicht aufklären kann.

Freilich bleibt die Frage offen, ob es für Heidegger überhaupt eine Alternative zum gegenstandstheoretischen Paradigma gab. Und eine solche gab es in der Tat – und zwar in Gestalt der Arbeiten von Gottlob Frege (1848–1925).11 Freges Theorie des Sinns bietet uns einen Ansatz zur Lösung unserer Frage, insofern der Sinn lediglich in der Art und Weise der Bestimmung des Bezuges des Ausdrucks besteht, die ihrerseits ein Schritt ist bei der Bestimmung des Wahrheitswerts eines Satzes, in dem dieser Ausdruck vorkommt.

[20] Wenn es also innerhalb eines gegenstandstheoretischen Paradigmas unmöglich ist, die logische Struktur des prädikativen Satzes aufzuklären, dann kann es sich bei den Differenzen zwischen Heidegger, Husserl, Rickert, Lask und Josef Geyser (1869–1948) lediglich um binnentheoretische Unterschiede innerhalb eines Paradigmas handeln, eben des gegenstandstheoretischen. Dies bedeutet dann aber, daß die Frage, an der sich im »Psychologismusstreit« die Geister scheiden, nicht die ist, ob wir in der Urteilstheorie einen psychologistischen oder antipsychologistischen Standpunkt vertreten. Die Logistik ist ja ebenfalls antipsychologistisch ausgerichtet. Die Frage, an der sich die Geister scheiden, bezieht sich darauf, ob wir in der Urteilstheorie einen gegenstandstheoretischen oder einen funktionalen Ansatz vertreten. Das heißt dann aber, daß die Frontlinie im »Psychologismusstreit« nicht nur zwischen Psychologisten und Antipsychologisten verläuft, da auch alle von Heidegger kritisierten psychologistischen Positionen gegenstandstheoretisch ausgerichtet sind, sondern zwischen Frege, Bertrand Russell (1872–1970) und dem frühen Ludwig Wittgenstein (1889–1951) auf der einen Seite und Heidegger, Husserl, Rickert, Lask und Geyser inklusive der psychologistischen Positionen von Wilhelm Wundt (1832–1920), Heinrich Maier (1867–1933), Franz Brentano (1838–1917), Anton Marty (1847–1914), und Theodor Lipps (1851–1941) auf der anderen Seite. Der Grund für diesen etwas seltsam klingenden Befund ist leicht benannt: Die gegenstandstheoretische Voraussetzung in der Urteilstheorie ist sowohl mit einer relativistisch-psychologistischen als auch mit einer absolutistisch-ontologischen Deutung kompatibel, nicht hingegen mit einer funktionalen, mit der sich allein die logische Struktur prädikativer Sätze aufklären läßt.

[21] Heidegger und die Logistik

Der beschriebenen Auffassung steht jedoch das Gros der Heidegger-Interpretationen entgegen, insoweit sie sich überhaupt auf unser Problem einlassen – was allerdings eher die Ausnahme als die Regel darstellt. So gibt Manfred Riedel zwar zu, daß sich Heidegger, um der »Subjektivierung des Wahrheitsproblems« zu entgehen, »die der angestrebten Objektivität der Lehre vom Urteil aufs härteste widerspricht«, auf »die neue Logik von Frege« hätte beziehen können, »die gegen die Reduktion der Kopula im Urteil auf das ›es gilt‹ auf ein ›es gibt (existiert)‹ zurückgreift und damit die Begrifflichkeit von Sinn und Bedeutung logisch aufklärt«. Als Erklärung dafür, warum Heidegger dies nicht getan hat, erfahren wir aber nur, daß »Heideggers Frage ›Was heißt ist?‹ (die so auch Frege stellt)« sich »am Gehaltsinn der Kopula orientiert, der sich durch die prädikatlogische Umformung des Wortes ›existieren‹ (›Menschen existieren‹) genauso nominalisiert wie in der subjektlogischen Formel: ›Es gibt Menschen.‹ Und wenn dieser Ausdruck dasselbe bedeutet wie ›Einige Menschen sind gleich‹, dann liegt das Herausfordernde darin, daß sich die Kopula nicht mehr vom ›Ist‹ der mathematischen Gleichung unterscheidet. Was zum Denken herausfordert, ist die Stellung des Verbums innerhalb des Satzsinnes – daß das grammatische Subjekt, das Nomen, den Gegenstand, das Verbum aber einen Gegenstandsverhalt ausdrückt, der weder im ›theoretischen Reich des Sinnes‹ (Lask) noch in der logischen Sinnlehre der ›Begriffsschrift‹, einer Semiotik oder formalen Semantik, aufgeht.«12

Heidegger sah dies ähnlich. Mit der Logistik, also der mathematischen Logik, hatte er nicht viel am Hut, was freilich nicht bedeutet, daß er sie nicht zur Kenntnis genommen hätte. Heidegger ist kein philosophischer Ignorant – wie viele seiner Adepten. Er meint nur, daß die Logistik in bezug auf das anstehende Problem nicht sehr hilfreich sei und sich vor [22] einer an Immanuel Kant (1728–1804) orientierten Logiktheorie nicht behaupten könne.

Was also sind die Argumente, die Heidegger gegen die Logistik ins Feld führt, und was hat er im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit den neueren Entwicklungen innerhalb der Logik überhaupt zur Kenntnis genommen? Wir wissen, daß er wenigstens zwei Texte von Frege kannte: Über Sinn und Bedeutung und Über Begriff und Gegenstand. Beide Aufsätze stammen aus dem Jahr 1892. Ob ihm auch der 1891 gehaltene Vortrag Funktion und Begriff aus eigener Lektüre bekannt war, ist unklar. Fest steht jedoch, daß Heidegger in seinem Literaturbericht Neuere Forschungen über Logik (1912) auf zwei von drei Aufsätzen verweist, in denen Frege die Kernideen seiner logischen Propädeutik entfaltet: »G. Freges logisch-mathematische Forschungen sind meines Erachtens in ihrer wahren Bedeutung noch nicht gewürdigt, geschweige denn ausgeschöpft. Was er in seinen Arbeiten über ›Sinn und Bedeutung‹, über ›Begriff und Gegenstand‹ niedergelegt hat, darf keine Philosophie der Mathematik übersehen; es ist aber auch im gleichen Maße wertvoll für eine allgemeine Theorie des Begriffs. Wenn Frege den Psychologismus im Prinzip wohl überwand, so hat doch Husserl erst in seinen ›Prolegomena zur reinen Logik‹ das Wesen, die relativistischen Konsequenzen und den theoretischen Unwert des Psychologismus systematisch und umfassend auseinandergelegt.« (GA 1, 20) Doch nicht nur Frege findet in dem besagten Literaturbericht Erwähnung, auch Russell und Alfred North Whitehead (1861–1947).

»Eine neue Richtung in der Logik beansprucht das Verdienst, erst mit ihren Methoden vollständig und systematisch die Logik auf neue undefinierbare Begriffe und zwanzig unbeweisbare Grundsätze gegründet zu haben. Die Idee der ›Logistik‹ oder ›symbolischen Logik‹ hat schon Leibniz in der Characteristica universalis vorgeschwebt. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts verfeinerten sich in der Mathematik die Methoden. Die Untersuchungen der [23] Mathematiker zielten auf eine schärfere Fassung der Begriffe ab und zugleich auf die systematische Festlegung der leitenden Prinzipien und Grundlagen ihrer Wissenschaft. Diese philosophisch gerichteten Bestrebungen führten zur Begründung der Mengenlehre und Gruppentheorie. Zugleich begann man, die formale Logik über die überlieferte Subsumtionslogik hinaus zu erweitern; man schuf die allgemeine Logik der Relationen, wobei die algebraische Methode und deren Symbole zur Behandlung der logischen Probleme herangezogen wurden. Diese beiden gleichsam konvergierenden Bewegungen ließen die Logistik entstehen. Sie bildet den logischen Aufriß der Mathematik. Die Systematik und Geschlossenheit logizistischer Probleme erscheint am weitesten fortgeschritten bei Bertrand Russell. Während der Bearbeitung des zweiten Bandes in Verbindung mit A. Whitehead erkannte Russell, daß der Gegenstand seiner Untersuchung sich ausgedehnter zeigte, zugleich aber auch, daß manches in der früheren Darstellung ›zweifelhaft und dunkel‹ geblieben sei. Russell und Whitehead schufen daher ein völlig neues Werk, dessen erster Band vorliegt.

Das ›Urteilskalkül‹, ›Klassenkalkül‹ und ›Relationskalkül‹ behandeln die logischen Grundbegriffe und Funktionen. Durch den Beweis, daß diese und nur diese fundamentalen Phänomene den Bau der Mathematik stützen, ist die Identität der Logik und Mathematik gegeben. Der Logik entsteht mit dieser Theorie eine neue Aufgabe der Gebietsabgrenzung. Bei deren Lösung ist meines Erachtens vor allem nachzuweisen, daß die Logistik überhaupt nicht aus der Mathematik herauskommt und zu den eigentlichen logischen Problemen nicht vorzudringen vermag. Die Schranke sehe ich in der Anwendung mathematischer Symbole und Begriffe (vor allem des Funktionsbegriffs), wodurch die Bedeutungen und Bedeutungsverschiebungen der Urteile verdeckt werden. Der tiefere Sinn der Prinzipien bleibt im Dunkeln, das Urteil z. B. ist ein Rechnen mit Urteilen, die Probleme der Urteilstheorie kennt die Logistik nicht. Die Mathematik und die mathematische Behandlung logischer Probleme gelangen an Grenzen, wo ihre Begriffe und Methoden versagen, das ist genau dort, wo die Bedingungen ihrer Möglichkeit liegen.« (GA 1, 41 f.)

[24] Was kann Heidegger nun von seinen eigenen Voraussetzungen aus gesehen kritisieren? Er kann zunächst einmal darauf hinweisen, daß Freges Gesamtprojekt einer rein logischen Begründung der Arithmetik gescheitert ist. Heidegger würde sich mit diesem Verweis in die Reihe jener einreihen, die zeigen konnten, daß das Hauptziel der Begriffsschrift und damit das Gesamtprojekt von Frege antinomieanfällig ist. Und tatsächlich mußte Frege gegenüber Russell zugeben, daß dessen Antinomieeinwand berechtigt sei. Im Jahr 1902 wies nämlich Russell ihn auf einen Widerspruch im System hin, der sich aus den Voraussetzungen der klassischen Mengenlehre ergab.13