Heilen mit der Kraft der Natur - Prof. Dr. Andreas Michalsen - E-Book

Heilen mit der Kraft der Natur E-Book

Prof. Dr. Andreas Michalsen

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Beschreibung

Seit Erscheinen der ersten Auflage des Buches wurde die Welt von zwei fundamentalen Ereignissen erschüttert: der Klima- und der Corona-Krise. Beide globalen Krisen haben in direkter Weise mit diesem Buch zu tun und machen noch mehr deutlich, wie die Naturheilkunde lebensrettend für den Menschen und den Planeten sein kann. Die Naturheilkunde bietet individuell auf den Patienten abgestimmte Heilungsprogramme, deren Wirkung längst wissenschaftlich belegt ist. Sie wird ganz gezielt auch zur Prävention von Krankheiten eingesetzt, zur Stärkung des Immunsystems und zur Anregung der körpereigenen Selbstheilungskräfte.

Für jeden von uns ist es möglich, sich selbst zu stärken und zu schützen und dem Körper zu geben, was er so dringend für die Aktivierung seiner Abwehrkräfte benötigt. Gerade in Bereichen, die für die Virusabwehr entscheidend sind und wo viele geschwächt sind: bei den Atemwegen und dem Immunsystem.

Auch die im Buch vorgestellten Maßnahmen zur Therapie von chronischen Erkrankungen sind genau die Maßnahmen, die die Abwehrkraft stärken. Wir können sogar unser biologisches Alter beeinflussen. Die Heilkraft der Naturheilkunde ist daher so aktuell wie nie zuvor. Im Fokus stehen die traditionellen Therapien, mein Fasten- und Ernährungsprogramm, Darmgesundheit, Bewegung, Stressbewältigung und Entspannung und die wunderbaren Möglichkeiten der neuen Natur- und Wald-Medizin, des Waldbadens.

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PROF. DR. ANDREAS MICHALSEN

HEILEN

MIT DER KRAFT DER NATUR

unter Mitarbeit von Dr. Petra Thorbrietz

herausgegeben von Friedrich-Karl Sandmann

Insel Verlag

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Plädoyer für eine neue Medizin

.

Vorwort

Entscheidung für die »Zuwendungsmedizin«

.

Mein Weg zur Naturheilkunde

In der Tradition des »Wasserpfarrers« Kneipp

Was ist die »richtige« Medizin

Den Menschen in seinem gesamten Lebensentwurf erfassen

Traditionelle Heilkunden in die »moderne« Medizin einbringen

Ein Team für die Anleitung zur Selbstheilung

Die Suche nach den Wurzeln der Gesundheit

Die Grundprinzipien der Naturheilkunde

.

Selbstheilungskräfte stärken durch Reiz und Reaktion

Den Organismus anregen

Die Konstitution des Patienten erkennen

Die richtige Dosierung – am Beispiel der Sonne

Im Einklang mit der Natur leben

Die Kraft der Kälte- und Wärmereize

Von Verdauungsfeuer und Lebenswärme

Das Ursache-Wirkung-Prinzip der Hormesis-Forschung

Warum mehr Gesundes nicht immer mehr Gesundheit macht

Die Fähigkeit des Körpers, sich selbst zu heilen

Das Verständnis des Patienten für den inneren Zusammenhang

Placebo – die unbekannte Kraft der Selbstheilung

Selbstheilung bewusst herbeiführen

Antike Therapien neu entdeckt

.

Blutegel, Schröpfen und Aderlass

Blutegel – uralte, effektive Helfer

Was passiert, wenn die Egel zubeißen

Die immense Wirkung der Blutegelbehandlung

So wird nun eine Blutegeltherapie durchgeführt

Deutliche Erfolge auch bei Rhizarthrose, Sehnenentzündungen und Rückenschmerzen

Blutegelspeichel – entzündungshemmend und schmerzstillend

Schröpfen – eine antike Heilmethode wird neu entdeckt

Der doppelte Nutzen der Blutspende

Zu viel Eisen im Blut schadet

Die Alten hatten doch recht

Wasser als Heilmedium

.

Die Hydrotherapie

Wasser – das vielleicht älteste Heilmittel der Welt

Die Kneipp-Wasserheilkunde wiederentdecken

Warum warme Füße beim Einschlafen helfen

So geht Kneippen in der Dusche

Bessere Effekte durch Wasseranwendungen als durch Medikamente

Wertvoller Verzicht

.

Fasten als Impuls der Selbstheilung

Die richtige Ernährung schützt vor Krankheiten

Dem Körper schadet vor allem der Nahrungsüberfluss

Fasten stärkt die Immunabwehr

Regelmäßig Fasten heißt, gesünder und länger zu leben

Ein Experiment mit erstaunlichem Ausgang

Die Heilwirkung des intermittierenden Fastens

Gezieltes Fasten verbessert die Krebstherapie

Wie sich der Körper selbst reinigt und entgiftet

Es kommt nicht nur darauf an, was man isst, sondern wann man es tut

Der Rhythmus der Mahlzeiten ist der Schlüssel

Heilung durch Verzicht

Heilfasten ist keine Diät

Wer sich überwindet, erfährt den Erfolg

Kann man den Körper entgiften?

Die Selbstreparatur des Körpers

Fasten reguliert den Stoffwechsel und wirkt stark blutdrucksenkend

Heilerfolge bei Diabetes

Fasten stärkt den Energiehaushalt der Zelle

Die Darmbakterien passen sich an

Durch Fasten entsteht Brennstoff für das Gehirn

Fasten macht glücklich

So fasten Sie richtig

Meine Empfehlung aus der klinischen Erfahrung

Muss eine Darmreinigung sein?

Intervallfasten – das verlängerte Nachtfasten

Zwei ordentliche Mahlzeiten, nicht mehr

Esse zu Mittag wie ein König

Fasten – eine ganzheitliche Erfahrung

Der Schlüssel zur Gesundheit

.

Essen ist Medizin

Fertigprodukte möglichst meiden

Dean Ornish, ein Revoluzzer unter den Kardiologen

Was ist so gesund an der Mittelmeerkost?

Essen ist mehr als seine Inhaltsstoffe

Wie ungesunde Kohlenhydrate die Übergewichtswelle angeschoben haben

Zucker verändert die Hirnleistung

Weltweit reagiert ein Drittel der Menschen salzsensitiv

Gluten – nur eine Marketingmasche?

Die Darmbakterien – eine Welt voller Rätsel

Milch – kein gesundes Lebensmittel

La Grande Bouffe – Das große Fressen

Vegetarische Lebensart

Vegetarisch oder vegan?

Eier sind nicht gesund

Ein Bio-Würstchen ist nicht die Lösung

Stillstand macht krank

.

Die Bedeutung der Bewegung

Wie viel man sich bewegen sollte

Finden Sie eine Aktivität, die Ihnen Spaß macht

Trainieren Sie das Bindegewebe

Übungen für »Vielsitzer«

Waldmedizin

.

Die heilende Begegnung mit der Natur

Die Sehnsucht nach Natur ist fest in uns verankert

Eine Waldtherapie stärkt das Immunsystem

Die Natur macht uns einfach glücklich

Das Walderlebnis wirkt schon als reines Bild

Wald und Natur stärken unsere Zuversicht und spenden Energie

Städte fordern zu viel Aufmerksamkeit und verursachen Stress, Ermüdung und Depressivität

Es ist Zeit, grüner zu wohnen und zu leben

Der Wald ist eine Heilkraft der Natur

Wir müssen den Wald schützen

Der Klimawandel macht uns krank

.

Wie wir durch unsere Ernährung das Klima retten können

Unsere Gesundheit leidet massiv unter dem Klimawandel

Zunehmende Hitze setzt uns unter Druck

Die Luftverschmutzung schwächt unsere Atemwege

Die Klimaerwärmung bringt tropische Erkrankungen zu uns

Wie wir durch unsere Ernährung das Klima retten können

Massentierhaltung ist eine ökologische Katastrophe

Unsere Gesundheit profitiert, wenn wir unseren Lebensstil ändern

Corona/COVID-19 – die globale Bedrohung

.

Was wir tun können und was wir daraus lernen müssen

Ein gesunder Lebensstil stärkt das Immunsystem und steigert die Antikörperbildung

Die menschengemachte Pandemie

Was wir vom Immunsystem der Fledermäuse lernen können

Der Eingriff in die Natur ist ein Hauptgrund für große Epidemien

Die Entwicklung der Coronaviren

Die Warnungen vor Pandemien sind nicht neu

Auf Fleischkonsum verzichten für die Gesundheit der Menschheit

Die Corona-Pandemie muss ein Weckruf sein

Unser Immunsystem ist Viren nicht hilflos ausgeliefert

Ernährung ist ein Schlüssel zum Schutz vor einer Viruserkrankung

Stress und Bewegungsmangel schwächen das Immunsystem

Fasten hilft vor allem vorbeugend gegen Infekte

Yoga, Meditation und Achtsamkeit

.

Mind-Body-Medizin

Schlafmangel als Indikator für Stress

Dauererreichbarkeit schadet der Gesundheit

Stress entsteht, wenn wir keine Kontrolle über die Dinge haben

Mind-Body-Medizin – Körper, Geist und Seele in Einklang bringen

Yoga – Geschenk Indiens an die Welt

Yoga gibt Energie, reduziert Stress und lindert Schmerzen

Yoga unterstützt die Krebsbehandlung

Welches Yoga zu Ihnen passt

Was Yoga so besonders macht

Der achtstufige Weg des Yoga

Yoga – oft wirkungsvoller als Sport und Physiotherapie

Meditation – die Kunst der inneren Einkehr, der Stille, des Nichtdenkens

Achtsamkeit – das Rezept zur Stressreduktion

Wichtigster Wirkmechanismus der Achtsamkeit ist die Distanzierung vom eigenen Leiden

Langsames Atmen verlängert das Leben

Globale Medizin

.

Ayurveda, Akupunktur und die Heilkraft der Pflanzen

Ayurveda – die Lehre von einem gesunden Leben

Ayurveda denkt in Eigenschaften

Meine erste Reise nach Indien

Indiens reichhaltige Kräuter- und Gewürzapotheke

Welche Krankheiten sich in Europa durch Ayurveda behandeln lassen

Forschungskooperation mit Indien

Ayurveda – Prävention und Therapie zugleich

Die Prinzipien des Ayurveda sind universell

Akupunktur – erfolgreich gegen Schmerzen

Die Heilkraft der Pflanzen

Wirksame Therapien mit Heilpflanzen

Zusammenfassend sind dies die 15 wichtigsten Einsatzgebiete der Pflanzenmedizin:

Meine Behandlungspläne

.

Zehn häufige chronische Erkrankungen erfolgreich behandeln

Bluthochdruck

So behandelt die Schulmedizin

So behandelt die Naturheilkunde

Meine Top Ten bei Bluthochdruck

Koronare Herzkrankheit und Arteriosklerose

So behandelt die Schulmedizin

So behandelt die Naturheilkunde

Meine Top Ten bei Koronarer Herzkrankheit und Arteriosklerose

Arthrose

So behandelt die Schulmedizin

So behandelt die Naturheilkunde

Meine Top Ten bei Arthrose

Depression und Angstsyndrome

So behandelt die Schulmedizin

So behandelt die Naturheilkunde

Meine Top Ten bei Depressionen und Angstzuständen

Rücken- und Nackenschmerzen

So behandelt die Schulmedizin

So behandelt die Naturheilkunde

Meine Top Ten bei Rücken- und Nackenschmerzen

Diabetes Typ 2

So behandelt die Schulmedizin

So behandelt die Naturheilkunde

Meine Top Ten bei Diabetes

Rheuma

So behandelt die Schulmedizin

So behandelt die Naturheilkunde

Meine Top Ten bei Rheuma

Magen-Darm-Erkrankungen

So behandelt die Schulmedizin

So behandelt die Naturheilkunde

Meine Top Ten bei Magen-Darm-Beschwerden

Beim Reizdarmsyndrom:

Bei Sodbrennen und Refluxkrankheit:

Allergien und Asthma bronchiale

So behandelt die Schulmedizin

So behandelt die Naturheilkunde

Meine Top Ten bei Allergien und Asthma bronchiale

Virale Atemwegsinfekte und Corona-Infektionen

So behandelt die Schulmedizin

So behandelt die Naturheilkunde

Überblick der Wirkungsweisen spezifischer Nahrungsmittel und Heilpflanzen

Meine Top Ten zur Prävention und ergänzenden Therapie bei viralen Atemwegsinfektionen und Corona-Infektionen

Strategien für ein gesundes Leben

.

Wie Sie Ihren eigenen Weg finden

Beeren

Gemüse und Obst

Blattgemüse

Kreuzblütler

Leinsamen

Nüsse

Olivenöl

Bohnen, Erbsen, Linsen

Gewürze

Natürliche Süße

Wasser

Zusammengefasst ist dies meine Empfehlung:

Die Zukunft der Medizin

.

Was sich ändern muss

These 1

Ärzte sollten Krankheiten verhindern, statt nur ihre Folgen zu behandeln.

These 2

Naturheilkunde muss stärker gefördert werden.

These 3

Die Medizin kann mehr als Medikamente.

These 4

Ohne gesunde Ernährung ist keine Gesundheit möglich.

These 5

Gesunder Lebensstil muss zur Stilfrage werden.

These 6

Medizin muss Menschen ermutigen.

These 7

»Schulmedizin« und Naturheilkunde gehören zusammen.

These 8

Gesundheitssystem nicht auf Effizienz, sondern auf Resilienz ausrichten.

Auswahl der wichtigsten Literatur

Index

Danksagung

Informationen zum Buch

Abbildungsnachweis

Textnachweis

Impressum

Hinweise zum eBook

Plädoyer für eine neue Medizin

Vorwort

Seit Erscheinen der ersten Auflage dieses Buches hat die Welt zwei fundamentale Krisen erlebt: die Klimakrise, die 2019 kaum mehr von jemand geleugnet wurde, und die Corona-Krise, die mit einer vorher für unvorstellbar gehaltenen Dynamik die Welt erschütterte. Beide globalen Krisen haben in direkter Weise mit dem Gegenstand dieses Buches zu tun und machen deutlich, dass die Sichtweise der Naturheilkunde von existenzieller Bedeutung für den Menschen und den Planeten ist. Die Ängste vor der Erkrankung, vor den wirtschaftlichen Folgen und vor allem die Grenzen der Belastbarkeit der modernen medizinischen Versorgung, die eine Nation nach der anderen zum Lockdown zwang, ließen die Menschen weltweit spüren, wie wichtig, ja entscheidend die Gesundheit ist. Vielerorts hat sich die Politik schnell und klar entschieden, der Gesundheit den Vorrang vor allen anderen Belangen der Gesellschaft einzuräumen.

Obwohl ich aus der wissenschaftlichen Literatur wusste, dass eine Pandemie jederzeit auftreten kann, hätte auch ich, als ich noch Anfang Januar 2020 mit der norditalienischen Familie meiner Frau in Südtirol Urlaub machte, es nicht im Entferntesten für möglich gehalten, dass die Pandemie kurz darauf eine solche Dynamik entfesseln könnte. Weder wirksame Medikamente noch ein Impfstoff standen zur Verfügung. So konzentrierten sich zu Recht alle Maßnahmen auf die klassischen seuchenhygienischen Maßnahmen: Abstand, Hygiene, Maske. Weltweit wurden alle Möglichkeiten der Intensivmedizin mobilisiert, öffentliche Gesundheitsstrukturen verstärkt und umorganisiert, und unzählige Forschergruppen begannen mit atemberaubender finanzieller Unterstützung die Suche nach antiviralen Medikamenten – vor allem nach einem wirksamen Impfstoff. Bei all diesen notwendigen und wichtigen Aktivitäten sollten grundsätzliche Überlegungen nicht vergessen werden: Warum werden diese Pandemien aktuell häufiger, und warum sind sie so gefährlich?

Die Beantwortung beider Fragen schlägt eine Brücke zur Naturheilkunde. Schon seit mehreren Jahren weisen seriöse wissenschaftliche Arbeiten darauf hin, dass Industrialisierung, Bevölkerungswachstum, Naturzerstörung und Abnahme der Biodiversität – zusammen mit Massentierhaltung und Erderwärmung – den Virusübertritt auf den Menschen immer wahrscheinlicher machen. Viren, die früher in der Natur, in Wildtieren, ihren Wirt fanden, werden zum Übertritt auf den Menschen gedrängt, zum sogenannten Spillover. Auf der anderen Seite sind immer mehr Menschen durch einen ungesunden Lebensstil, der nicht mehr ihrem biologischen und genetischen Programm entspricht, abwehrgeschwächt. Immunfunktion, Atemwege und Herz-Kreislauf-System sind durch chronische Lebensstil- und umweltbedingte Erkrankungen anfälliger für schwere Infektionen. Und hier schließt sich der Kreis: Ungesunde Ernährung mit zu viel tierischen Produkten und industriell verarbeiteten Nahrungsmitteln sind genauso schlecht für den CO2-Fußabdruck wie für unsere immunologischen Abwehrkräfte, unser Herz und unseren Stoffwechsel. Die Produktion ungesunder Nahrung mittels Massentierhaltung und Monokulturen führt außerdem zu Waldrodungen, Abnahme der Biodiversität und weiterer Klimaerwärmung. All das bahnt den Weg für unbekannte Viren und die Möglichkeit von Pandemien, die von Mobilität und Urbanisation profitieren. Die Rückzugsräume der Natur nehmen ab. Nicht ohne Grund leiden die Menschen unter Stress, Allergien, Bluthochdruck, Schlafstörungen, Rückenschmerzen, Atemwegserkrankungen – was alles das Immunsystem überfordert. Und nicht zuletzt zeigt die hohe Sterblichkeit durch COVID-19 in der vorwiegend älteren Bevölkerung und bei Patienten mit Übergewicht, Diabetes Typ 2, Herz-Kreislauf- und Stoffwechsel-Erkrankungen, dass das entscheidende Kriterium immer die individuelle Abwehrkraft ist – für den Schutz vor Erkrankungen und deren Therapie. Es gibt jedoch Möglichkeiten, diesen Negativkreislauf zu unterbrechen. Wir sind nicht ohnmächtig!

Dass diese Zusammenhänge auch in der allgemeinen Öffentlichkeit immer deutlicher werden, ist einer der Gründe, warum ich mich dafür entschieden habe, dieses Buch, das auch auf großes internationales Interesse gestoßen ist und in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurde, auf den neuesten Stand zu bringen, um drei Kapitel zu erweitern und neu aufzulegen. Wann wäre ein besserer Zeitpunkt, Argumente für die moderne Naturheilkunde zu nennen, als jetzt?

Zudem liefert die medizinische und biologische Forschung immer mehr Erkenntnisse, die in die Richtung einer komplexen, ganzheitlich orientierten Medizin weisen, einer Heilkunst, die nicht nur den Organismus behandelt, sondern auch sein Umfeld mit einbezieht. Die sich nicht nur um Krankheiten kümmert, sondern vor allem auch um die Grundlage der Gesundheit. Die Menschen nicht nur als Patienten sieht, sondern als eigenverantwortliche Partner im Umgang mit unseren lebenswichtigen Ressourcen.

Und hier eben zeigt sich, dass die Ansätze der Naturheilkunde so aktuell sind wie nie zuvor. Vertieft wurde deshalb in diesem Buch das Kapitel über die enormen Heilwirkungen, die man beim Eintauchen in die Natur und den Wald – dem Waldbaden – erfahren kann. Der Aufenthalt im Grünen lindert sofort spürbar Stress, entspannt das Herz-Kreislauf-System, reinigt die Atemwege und stärkt die Immunabwehr. Zur Prävention und Therapie von viralen Atemwegsinfekten und Corona-Infektionen sowie Allergien und Asthma wurden neue Behandlungspläne eingefügt. Und auch bei wichtigen naturheilkundlichen Therapiemethoden wie dem Intervallfasten und Heilfasten, der Ernährungstherapie und Bewegungstherapie gibt es zahlreiche neue Forschungsarbeiten und wichtige sich daraus ableitende Erkenntnisse, die ich weitergeben möchte.

Es wird deutlich, dass die Pandemie die bestehenden Probleme des Gesundheitssystems zugespitzt bzw. seine Schwächen zum Vorschein gebracht hat. Zum Beispiel dass Naturheilkunde in der Prävention wie auch im Umgang mit chronischen Erkrankungen im Medizinsystem sträflich vernachlässigt wurde. Der renommierte amerikanische Kardiologe und ehemalige Präsident der amerikanischen Hochschule für Kardiologie, Kim A. Williams, hat stattdessen die Strategie der modernen Medizin im Umgang mit den chronischen Erkrankungen so beschrieben: »Wenn ein Waschbecken bei voll aufgedrehtem Wasserhahn überläuft, gibt es zwei Möglichkeiten, Schlimmeres zu verhindern: Man kann mit Mopp und Eimer beginnen aufzuwischen – Symptome lindern. Oder man dreht den Wasserhahn zu: Das ist Ursachenbekämpfung.« Bei Bluthochdruck verordnen wir blutdrucksenkende Medikamente, die wirkungsvoll den Blutdruck senken, aber die eigentliche Ursache, Fehlernährung, Bewegungsmangel und Stress, tangieren wir nicht. Für Diabetes mellitus Typ 2 wurden in den vergangenen Jahren einige wirkungsvolle und teure Medikamente entwickelt – aber die Ursache der Erkrankung, Übergewicht, Fehlernährung und Bewegungsmangel, werden genauso wenig beeinflusst, wie die Nebenwirkungen der Medikamente gelindert werden. Eine »Volkskrankheit« sind auch erhöhte Cholesterinwerte, die wir hervorragend mit Statinen absenken, wieder ohne die eigentliche Ursache in den Blick zu nehmen. Ähnlich sieht es bei Rückenschmerzen, Arthrose oder Depressionen aus. Um im Bild des Waschbeckens zu bleiben: Wir sind superschnelle Aufwischexperten geworden. Spezialisten wurden geschult, neue saugfähige Materialien und sogar Aufwischroboter entwickelt. Das Wirksamste aber wäre, den Wasserhahn zuzudrehen.

Die Ursache unseres Tunnelblicks ist, dass unser ganzes Krankenhaus- und Medizinsystem auf die akute Versorgung ausgerichtet ist. Hier leistet es Hervorragendes und Segensreiches, aber dieses System lässt sich nicht sinnvoll auf die Behandlung chronischer Erkrankungen und komplexer biologischer Zusammenhänge übertragen. Auch die Klimakrise und die Corona-Pandemie haben diese eingeengte Perspektive und Fehlsteuerung erneut sichtbar gemacht. Wir haben eine hervorragende Intensivmedizin. Besser wäre es, das Immunsystem so weit zu stärken, dass ein Krankenhausaufenthalt gar nicht erst nötig würde.

Mit der Neuauflage dieses Buches möchte ich also erneut, mit weiteren Argumenten und aktuellen Forschungsergebnissen, deutlich machen: Wir brauchen eine neue Medizin, die Hightech und Naturheilkunde verbindet. Die Errungenschaften der technischen und pharmakologischen Medizin sollten da, wo sie notwendig sind, gezielt zum Einsatz kommen. Die Naturheilkunde jedoch ist eine Lebensstil-Medizin, die nicht nur im Einklang mit der Natur steht, sondern auch die Grundlagen unserer Gesundheit schützt – im ganz normalen Alltag. Die Wertschätzung unserer Ressourcen, der individuellen wie der planetaren, könnte viel Leid und Geld sparen. Es wird jetzt viel von der notwendigen Klimawende und von der Agrarwende gesprochen. Es wird aber auch höchste Zeit für die Medizinwende, die Integration der Naturheilkunde in die moderne Biomedizin. Jetzt.

Prof. Dr. med. Andreas Michalsen

Entscheidung für die »Zuwendungsmedizin«

Mein Weg zur Naturheilkunde

Ich stamme aus einer Arztfamilie. Schlimmer noch: aus einer Naturheilkunde-Arztfamilie. Patienten finden meine Therapierichtung meistens gut, aber unter Medizinern ist es immer noch riskant, sich auf diese Weise zu outen. Häufig bekommt man zu hören, man wende »Hausmittelchen« an, ohne wissenschaftliche Basis. Die meisten meiner Kollegen wissen gar nicht, wie viel Forschung es schon zur Wirkung von Naturheilverfahren gibt und dass sie in den USA, Trendsetter in der Medizin, mit erheblichen Mitteln staatlich gefördert und unterstützt werden. Oft wird auch »übersehen«, dass es in Deutschland bereits mehrere Professuren für Naturheilkunde gibt und ihre Grundlagen verpflichtender Bestandteil der Ausbildung zum Mediziner sind.

Verdrängt wird aber auch, dass die sogenannte Schulmedizin an vielen Punkten in einer Sackgasse angelangt ist. In der Akutmedizin leistet sie Phänomenales, dort, wo es um Leben oder Tod geht, auf der Intensivstation oder im Operationssaal. Doch der größte Teil der Patienten sucht heutzutage den Arzt auf, weil eine oder mehrere chronische Krankheiten Beschwerden verursachen und die Lebensqualität stark einschränken. Und da hat die Schulmedizin nicht viel zu bieten, weil sie ganzheitliche Zusammenhänge vernachlässigt und sich stattdessen auf immer kleinteiligere Fachdisziplinen hoch spezialisiert hat. Ihre Vertreter behandeln dann jeweils aus ihrer Sicht viele einzelne Aspekte mit Medikamenten, was meist nur kurzfristig Symptome lindert, langfristig aber neue Probleme schafft – Nebenwirkungen, Überdiagnose, Übertherapie oder Behandlungsfehler. Das große Ganze, der mögliche gemeinsame Nenner, die oft in den Prospekten von Krankenhäusern und Praxen beschworene »Ganzheitlichkeit« haben in diesem System letztlich keine Chance.

Dennoch hat das die Medizin bisher nicht genügend veranlasst, sich kritisch mit ihrer eigenen Begrenztheit auseinanderzusetzen. Oder vielleicht einmal zu überlegen, wie Heilverfahren Jahrtausende überdauern konnten, während die arzneimittelfokussierte Medizin – denn nichts anderes ist der Schwerpunkt der »modernen« Medizin – schon nach rund hundert Jahren manchmal ziemlich ratlos ist. Naturheilkundliche Therapien haben das Ziel, die Selbstheilungskräfte der Patienten zu stärken. Wenn das gelingt und es den Kranken besser geht, bezeichnen das viele meiner Kollegen herablassend als Placeboeffekt – und sie meinen damit, es handele sich um »Einbildung«. Nur weil den Patienten etwas gelungen ist, was die technische Medizin selbst nicht geschafft hat. Das ist typisch für eine Medizin, die allein auf Krankheiten schaut, aber nicht genügend auf die Menschen, die sie erleiden.

In der Tradition des »Wasserpfarrers« Kneipp

Bei uns in der Familie standen nie die Krankheiten im Mittelpunkt, sondern immer die Ressourcen der Patienten. Das fing bei meinem Großvater an, der als praktischer Arzt eine Praxis in Bad Wörishofen hatte, dem Ort im bayerischen Schwaben, an dem Sebastian Kneipp (1821-1897) die Hydrotherapie berühmt gemacht hatte. Schon damals, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hatten sich Menschen durch die Folgen der Industrialisierung und der größer und enger werdenden Städte körperlich überfordert und krank gefühlt. Der »Wasserpfarrer« zeigte ihnen, was sie selbst tun konnten, um wieder ein inneres Gleichgewicht und mehr Gesundheit zu finden. Sein Vertrauen in die Selbstheilungskräfte – heute würde man sagen, in die körperlichen und seelischen Ressourcen – der Patienten hatte meinen Großvater so sehr fasziniert, dass er beschloss, Arzt zu werden.

Sein Sohn, Peter Michalsen, setzte die Tradition fort. Nach seiner Ausbildung in Würzburg, Wörishofen und seiner Klinikzeit am damals für seine Förderung der Naturheilkunde und Homöopathie bekannten Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart wurde mein Vater zu einem der ersten Ärzte in Württemberg, der die offizielle, von der Ärztekammer vergebene Zusatzbezeichnung »Naturheilverfahren« erwarb. Außerdem erhielt er als Erster die Befugnis, andere Ärzte in diesem Bereich weiterzubilden. Er war, kann ich nur stolz sagen, ein Pionier. Als »überzeugter Anhänger von Naturheilverfahren«, wie es heute auf der Webseite des Kneippvereins Bad Waldsee heißt, wurde er 1955 der »Badearzt« in dem nicht weit vom Bodensee gelegenen kleinen Kurort. Sechs Jahre später wurde ich dort geboren.

Als kleines Kind fand ich es toll, dass es bei uns zu Hause Fußbadewannen fürs Kneippen gab und einen Schlauch, mit dem man unter der Dusche kalte Güsse machen konnte. Nicht so toll fand ich, dass ich mit sieben Jahren trotz aller »Abhärtung« an einer hartnäckigen Bronchitis erkrankte. Die Naturheilmittel zu Hause reichten nicht aus, und mein Vater verfrachtete mich an die Nordsee, auf die Insel Sylt, wo ich in einer Heilanstalt jeden Tag Salzwasserinhalationen bekam, mit Salzwasser gurgeln und sogar ein kleines Glas Salzwasser trinken musste. Am schlimmsten waren für mich als Kind die Meerwasser-Nasenspülungen – furchtbar. Aber die Bronchitis verschwand. Das war die erste naturheilkundliche »Umstimmung«, die ich am eigenen Leib erfuhr.

Immer freitags machte mein Vater einen Haferschleim- oder Weizenkeimtag und aß nichts anderes. Mittags saß er mit uns am Tisch und erzählte viel von seinen Patienten, wer woran litt und was er tat, um zu helfen. Das hat mich sehr beeindruckt und geprägt, vor allem die Tatsache, dass hinter den Diagnosen ganz unterschiedliche Lebensgeschichten steckten, denen mein Vater in seinen Gesprächen mit den Patienten nachforschte und die seine Therapien beeinflussten.

Was ist die »richtige« Medizin

Trotz vieler Erfolge – und in Bad Waldsee wird vom dortigen Kneippverein noch heute liebevoll an seine Arbeit gedacht – musste mein Vater sehr kämpfen. Die anderen Ärzte rümpften die Nase und gaben oft zu verstehen, dass sie das, »was er da mache«, für puren Unsinn hielten. Bad Waldsee war eine Kleinstadt mit 10 ‌000 Einwohnern, und damals luden sich die Ärzte gegenseitig von Zeit zu Zeit ein. Alle paar Monate also kamen sie zu uns, alles »beinharte Schulmediziner«, und ich erinnere mich, dass mein Vater manchmal Mühe hatte, die Fassung zu bewahren, weil sie ihn nicht wirklich ernst nahmen. Er fühlte sich immer aufgefordert, zu beweisen, dass auch er ein »richtiger« Mediziner war. Vielleicht waren die lieben Kollegen aber nur ein wenig neidisch, denn von den Patienten bekam mein Vater große Anerkennung. Viele Patienten reisten sogar von weit her an, um sich mit seinen Naturheilmethoden behandeln zu lassen. Meine Mutter hatte die Hände voll zu tun, ihn bei der Organisation zu unterstützen.

An diesem Missverhältnis hat sich bis heute nicht viel verändert: Die Nachfrage und der Wunsch der Patienten nach Naturheilkunde standen lange im umgekehrten Verhältnis zur Anerkennung der medizinischen Kollegen. Als ich 2006 an der Universität Duisburg-Essen habilitierte, also meine universitäre Lehrbefähigung als Privatdozent erwarb, schrieb der frühere Dekan der medizinischen Fakultät noch einen Brief an alle Fakultätsmitglieder, die über meinen Lehrauftrag zu befinden hatten: »Ich entnehme dem Protokoll mit Erstaunen, dass der Fachbereichsrat der Eröffnung des Habilitationsverfahrens von Herrn Dr. Andreas Michalsen zugestimmt hat. Der Kollege stammt aus der ›Klinik für Naturheilkunde und integrative Medizin‹ – hat sich die Fakultät kundig gemacht, was dort eigentlich betrieben wird? Ich wünschte, dass meine alte Fakultät sich der Problematik dieser Außenseitermedizin bewusst ist und sie nicht durch Einbindung akademisch aufwertet.« Es fielen auch Ausdrücke wie »tönende Phraseologie« oder »Scharlatanerie«. Aber: Der Wind hat sich gedreht: Heute findet die Naturheilkunde auch an renommierten Universitätskliniken wie der Charité Anerkennung.

Zuerst hatte ich ja Volkswirtschaft und Philosophie studiert – die Frage nach dem Warum, den größeren Zusammenhang der Dinge zu begreifen, das hat mich schon immer beschäftigt und nie losgelassen. Aber im Gegensatz zu anderen Fächern schien die Medizin etwas, wo man die Theorie unmittelbar in ein Tun umsetzen konnte, ganz praktisch. Und wie viele junge Menschen, die Arzt werden wollen oder in einen sozialen Beruf streben, wollte ich gerne anderen »helfen«. Aber vielleicht hatte mich doch einfach auch die Familientradition voll im Griff, jedenfalls endete ich immer wieder in den Biologie-Vorlesungen und stellte fest, dass ich mich dort viel wohler fühlte. Also doch Medizin.

Die Ignoranz gegenüber der Naturheilkunde habe ich schon als Student womöglich mit einer gewissen Arroganz quittiert – ich hatte durch mein Zuhause ja real einiges erfahren, mir war klar, wovon meine Professoren und Lehrer letztlich keine Ahnung hatten. Durch diese Einstellung habe ich mir bis heute meine innere Unabhängigkeit bewahrt. Außerdem hatte ich Jean-Jacques Rousseau gelesen und Hermann Hesse, Adalbert Stifter und Henry David Thoreau, Bücher über die Reformbewegungen, die in der Natur die Richtschnur für ein gutes und gesundes Leben sahen. Diese sicher romantischen Vorstellungen haben mich jedenfalls viel mehr beeinflusst als René Descartes, dessen Mensch-Maschine-Modell mir – wie vielen anderen Naturheilkundlern – kein geeignetes Abbild des unglaublich komplexen und um sich selbst kümmernden Körpers schien. Zumindest habe ich es bis jetzt nicht erlebt, dass sich ein Auto oder ein Fahrrad selbst reparieren kann – im Gegensatz zum menschlichen Körper, der in jeder Sekunde unzählige Selbstreparaturmechanismen in einer unglaublichen Komplexität gezielt steuert.

Zu Hause hatte ich also gesehen, welche Kämpfe mein Vater mitunter zu kämpfen hatte, aber ich erinnere mich auch noch gut an die Blumensträuße und Pralinenschachteln, die dankbare Patienten bei uns abgaben. Mir wurde vor Augen geführt, dass die Naturheilkunde eine wirksame Medizin ist – sie aber nicht die Anerkennung bekam, die ihr eigentlich zustand. Das hat vielleicht auch den Kampfgeist in mir geweckt, den Trotz und den Widerspruchsgeist.

Inzwischen hat sich die Medizin weiterentwickelt und verändert, gerade die Molekularbiologie hat überraschenderweise den Blick geweitet. Aber damals, in den Achtzigerjahren, als ich studierte, war das Weltbild der Wissenschaftler noch extrem mechanistisch. Heute wirkt das geradezu absurd. Ich erinnere mich beispielsweise, wie ich in der wöchentlichen Fortbildungsrunde während meiner Ausbildung zum Internisten eine Studie vorstellte, wonach psychischer Stress einen Herzinfarkt auslösen kann. Als Ergebnis wurde ich ausgelacht: »Wie stellen Sie sich das denn vor, Michalsen?«, wurde demonstrativ spöttisch gefragt. »Der Ärger macht dann ein Blutgerinnsel, oder wie soll das gehen?« Seitdem ist durch unzählige Studien belegt, dass Ärger und Angst tatsächlich die Arterien eng machen, die Blutgerinnung und damit die gefährlichen Gerinnsel, die einem Herzinfarkt zugrunde liegen, mit auslösen können.

Als ich Mediziner wurde, wandelte sich gerade die sogenannte eminenzbasierte in die evidenzbasierte Medizin – eine Forderung, die von dem Kanadier David Sackett aufgestellt worden war und die sich dann international durchsetzte. Eben noch hatte der »Halbgott« Arzt, die Eminenz, das tun können, was er selbst für richtig hielt (und hatte es in eigenen Lehrbüchern verbreitet). Plötzlich aber wurde von ihm verlangt, durch Studien und gut und systematisch dokumentierte klinische Praxis zu beweisen, dass seine Therapien auch wirklich halfen. Einerseits hat das mehr Rationalität in ärztliches Handeln gebracht, andererseits aber dazu geführt, dass die Medizin ganz einfache Erkenntnisse und Weisheiten zu ignorieren begann, wenn denn keine Studie dazu vorlag. Zum Beispiel die Tatsache, dass man mit warmen Füßen besser einschläft als mit kalten. Eigentlich wusste auch jeder Arzt aus der Praxis, dass Trauer oder Ärger ein »gebrochenes Herz« machen können, aber weil man den Mechanismus nicht erklären konnte, hat man diese Erfahrungen einfach ignoriert. Später wurde zudem klar, dass vor allem das erforscht wird, wo es einen »Return on Investment« gibt, also patentierbare Medikamente. Mit heißen Fußbädern oder Fasten lässt sich wenig Geld verdienen, also ist es entsprechend schwer, eine Studienfinanzierung zu bekommen.

Mein damaliger Chef Walter Thimme war allerdings immer offen für neue Erkenntnisse. Er war ein sehr erfahrener und auch sehr wissenschaftsorientierter Professor, der bei der Visite die Behandlung jedes Patienten zur Prüfung machte. Außerdem war er einer der Herausgeber der pharmakritischen Zeitung Der Arzneimittelbrief und brachte mir bei, dass vor allem chronisch erkrankte Menschen viel zu viele Medikamente nehmen und immer zu prüfen ist, welchen Nutzen der Patient von jeder einzelnen Pille wirklich hat. Wir hatten sehr konstruktive Auseinandersetzungen, und immer öfter ist er auf meine Argumente eingegangen, hat sie kritisch kommentiert und dann vorgeschlagen: »Schreiben Sie doch mal einen Artikel über …« So konnte ich die Wirkung von Heilpflanzen oder die Rolle der Ernährung schildern. Zu seiner Verabschiedung 2001 bat er mich, einen Vortrag über Komplementärmedizin in der Kardiologie zu halten. Das waren sehr positive Erfahrungen im Diskurs mit der Schulmedizin. Sie haben mich überzeugt, dass wir auf einem guten Weg sind und es sich lohnt, mit der Naturheilkunde weiterzumachen.

Den Menschen in seinem gesamten Lebensentwurf erfassen

In meinem Studium gab es niemanden, der wie ich aus einem traditionellen naturheilkundlichen Haus kam, aber wir hatten eine Arbeitsgruppe, in der wir uns mit der Arbeit von Viktor von Weizsäcker befassten, einem Onkel von Richard von Weizsäcker und Mitbegründer der psychosomatischen Medizin. Er vertrat einen anthropologisch-biografischen Ansatz der Anamnese – es ging ihm darum, den Menschen in seinem gesamten Lebensentwurf zu erfassen, wenn es um seine Behandlung geht. Diese Arbeitsgruppe war eine bunte Mischung aus angehenden Internisten, Neurologen und Psychiatern – mit einigen halte ich heute noch engen Kontakt; alles Menschen, die bemüht waren, das Ganze und nicht nur die Teile zu sehen.

Außerdem hatte ich auch immer schon die Vorstellung, dass traditionelles Wissen und die moderne Medizin kein Gegensatz sein müssen, sondern sich idealerweise ergänzen. Die internistisch-kardiologische Abteilung, in der ich im Humboldt-Klinikum Berlin gelernt habe, war riesig – 120 Betten, Notarztwagen, Intensivstation – und faszinierend, mit all den Möglichkeiten, die die Medizin bot. Gleichzeitig hatte unser Professor einen hohen wissenschaftlichen Anspruch, jeden Montag mussten wir die neuesten relevanten Aufsätze aus dem New England Journal of Medicine gelesen haben und in der Konferenz diskutieren. Diesen wissenschaftlichen Anspruch fand ich wunderbar. In unserer Abteilung wurde eine sehr anspruchsvolle Schulmedizin, aber gleichzeitig auch reduzierte Medizin praktiziert – nicht alle, die ASS als Blutverdünner nahmen, bekamen gleich noch ein Magenmittel aufs Auge gedrückt. Und nicht jeder mit Brustschmerzen wurde sofort ins Herzkatheterlabor einbestellt. Stattdessen wurde wissenschaftlich objektiv argumentiert, aber individuell, subjektiv überprüft.

Leider hat sich die Kardiologie von diesen sachlichen Standards weit entfernt. Weil die Kliniken Geld damit machen, werden in Deutschland heute schnell Herzkatheter geschoben, etwa 900 ‌000 pro Jahr. Dabei werden pro 100 ‌000 Einwohner inzwischen mehr als 450 Eingriffe mit Stenteinlage in den Herzkranzgefäßen vorgenommen. In anderen Ländern in Eurpoa geschieht dies nur 258-mal. Parallel nimmt die Anzahl der Herzkatheter-Labore in Deutschland Jahr für Jahr zu. Werden wir Deutsche vielleicht besser versorgt als in vergleichbaren Ländern? Nicht in diesem Punkt – denn die Statistik zeigt auch, dass die Lebenserwartung durch einen Kathetereingriff im statistischen Mittel nicht unbedingt steigt. Bei einem akuten Herzanfall kann die Weitung eines Herzkranzgefäßes Leben retten – aber nicht, wenn sie, wie so häufig, »prophylaktisch« bei chronischen stabilen Gefäßverengungen durchgeführt wird. Eine Gruppe deutscher Kardiologen machte 2020 im Deutschen Ärzteblatt endlich auf diesen Missstand aufmerksam und formulierte, dass diese Praxis bis auf wenige Ausnahmen für den Patienten nachteilig ist. Warum also wird dieser Eingriff gemacht, der den Patienten zudem suggeriert, ihre Blutgefäße ließen sich reparieren wie andere Leitungen auch und sie müssten nichts an ihren Belastungsfaktoren ändern? Das Geld, das die Krankenkassen dafür ausgeben, wäre an anderer Stelle viel sinnvoller eingesetzt.

Auf der kardiologischen Intensivstation und im Katheterlabor lernte ich schon als junger Arzt, Fragen wie diese zu stellen: Welche therapeutische Konsequenz hat eine Behandlung für einen Patienten? Das ist keine selbstverständliche Frage, denn die spezialisierte Hochleistungsmedizin kümmert sich in erster Linie um die Beseitigung aktueller Symptome. Ob der Mensch von einer Behandlung mittel- oder längerfristig profitiert, steht nicht im Fokus.

Viel lernte ich auch in der »Schleuse«, in der die Patienten nach dem Katheterisieren noch etwa zehn bis fünfzehn Minuten lagen. Es war üblich, dass der den Herzkatheter legende Arzt nach dem Entfernen des Gefäßschlauchs noch jene zehn bis fünfzehn Minuten persönlich die Arterie in der Leiste abdrückte, damit es später nicht zu Blutungen kam. Die Patienten waren glücklich, dass sie den Eingriff unbeschadet überstanden hatten, und froh, mit jemandem reden zu können. Meistens habe ich sie gefragt, was sie denn selbst dachten, warum sie Herzprobleme hätten – man nennt das »subjektive Krankheitseinschätzung«. Jeder Mensch sucht für sich nach einem Grund, warum es ihm schlechtgeht: »Ich hatte viel Stress«, »Ich bin schon länger arbeitslos«, »Das liegt bei uns in der Familie« oder Ähnliches. Auch wenn solche Einschätzungen aus medizinischer Sicht oft nur zum Teil richtig sind, dennoch kommen dabei bedeutsame Details heraus, über die in einem normalen Arztgespräch, in dem der Patient vor allem zuhören muss, nie gesprochen worden wäre.

Traditionelle Heilkunden in die »moderne« Medizin einbringen

Vor meiner Lehrzeit in der Kardiologie hatte ich an der Freien Universität Berlin als Assistent am Lehrstuhl für Naturheilkunde gearbeitet. Der Lehrstuhlinhaber war Malte Bühring, der sich als Mediziner damals schon für die Integration der traditionellen Heilkunden in die Schulmedizin einsetzte und den vorherrschenden Streit, der selbst die Naturheilkundler separierte, aus tiefstem Herzen ablehnte. An eine seiner Vorlesungen erinnere ich mich noch besonders deutlich. Er erzählte von einer Studie, veröffentlicht in einem hochrangigen Journal, in der beschrieben wurde, dass Menschen, die eine sehr tiefe Ohrläppchenfalte haben, eher zu Herzkrankheiten neigen. Das war Anästhesiepflegern aufgefallen, die während einer OP zum Teil über Stunden auf den Kopf von Patienten fokussiert sind. Menschen, die herzkrank sind, haben aber nicht nur abweichende Ohrmerkmale, sondern oft auch Rückenschmerzen, Verspannungen im Brustwirbelbereich oder Schmerzen an den Rippen, die das Herz schützen. Alle diese Areale werden von denselben aus der Brustwirbelsäule austretenden Nerven versorgt. Ebenso ist die Zunge bei Patienten mit Herzbeschwerden oder Bluthochdruck häufig farblich verändert: Sie ist an der Spitze rot oder trägt kleine rote Punkte auf der Oberfläche. Das ist in der Traditionellen Chinesischen wie in der indischen Ayurveda-Medizin nur zu gut bekannt.

In der Kardiologie habe ich später immer wieder versucht, mein Wissen aus der Naturheilkunde einzubringen und die Patienten von der häufig übertriebenen Pharmakomedizin wegzubringen. Von Walter Thimme, meinem arzneimittelkritischen Chef am Humboldt-Klinikum, wurde ich darin bestärkt. Gerade ältere Menschen schlucken durchschnittlich täglich acht bis zehn unterschiedliche Präparate für chronische Krankheiten. Schon ab drei Medikamenten haben wir im Prinzip keine Ahnung mehr, zu welchen Wechselwirkungen es dadurch kommt.

Aus Umfragen wissen wir heute, dass es vor allem die Angst vor Nebenwirkungen von Medikamenten ist, die viele Patienten veranlasst, sich für Naturheilkunde zu interessieren. Die meisten Menschen sehen diese Welten nicht getrennt, sondern möchten am liebsten eine Kombination aus der molekularbiologischen Medizin und den ganzheitlichen Heiltraditionen (High Tech/High Touch), die die persönlichen Ressourcen einer Person im Blick haben. Denn sie wollen selbst etwas tun, damit es ihnen besser geht – aber sie wissen nicht, was sie selbst beitragen können.

Es stimmt: Medikamente haben die großen Infektionskrankheiten als Killer weitgehend besiegt. Viel Leid konnte zum Beispiel in der Kardiologie, Rheumatologie und anderen Fächern gelindert werden. Auch haben die diagnostischen Möglichkeiten der modernen Wissenschaft und Technik mit dazu beigetragen, dass wir eine Menge über unseren Körper gelernt haben. Doch dass sich die Lebenserwartung in den vergangenen 150 Jahren bei uns in Europa fast verdoppelt hat, geht zum größten Teil auf verbesserte Hygiene, frische Lebensmittel, eine lange Phase ohne Kriege und einen steigenden Wohlstand zurück. Und natürlich auf die gute Akut- und Unfallmedizin, die zum Beispiel die Risiken, bei einem Unfall an einem Herzinfarkt oder Schlaganfall zu sterben, deutlich verringert hat.

Der Preis, den wir für diesen Fortschritt zahlen, sind allerdings die chronischen Krankheiten. Sie sind eine Folge der längeren Lebenserwartung, unseres hektischen und ungesunden Lebensstils, aber sicher ebenso der Überdiagnostik und Falschmedikamentierung, die in allen wohlhabenderen Medizinsystemen einen Teil des Fortschritts wieder zunichtemacht. Arthrose, Demenz, Schmerzsyndrome, Diabetes und Krebs sind in dieser Fülle eine völlig neue Herausforderung für die Medizin.

In den konkreten therapeutischen Strategien spiegelt sich diese dramatische Dimension aber noch nicht wider. Die Schulmedizin behandelt weiter die Symptome statt den chronisch Erkrankten: Deshalb stehen auf den Frühstückstischen vieler Menschen immer noch die Tablettenspender mit den acht oder zehn bunten Pillen.

Malte Bühring zeigte in seinen Vorlesungen sehr anschaulich, was es bringen kann, wenn ein Mediziner den ganzen Mensch im Blick hat. Gleichzeitig war er das, was man heute einen »integrativen« Mediziner nennen würde: Naturheilkunde war für ihn keine Alternative zur modernen Medizin, sondern eine sinnvolle Ergänzung. Damals, 1989, war sein Lehrstuhl, den ich heute innehabe, die erste wissenschaftliche Institution dieser Art nach dem Krieg. Doch die wissenschaftliche Basis des Fachs Naturheilkunde ließ Anfang der Neunzigerjahre noch sehr zu wünschen übrig. Dass die Naturheilkunde, die bis dahin vor allem eine Erfahrungsheilkunde war, plötzlich Wissenschaft auf Englisch publizieren sollte, hielten manche ihrer Vertreter für ein lästiges Übergangsphänomen. Die meisten wissenschaftlichen Artikel zur Naturheilkunde waren in Deutsch geschrieben, die Schulmediziner publizierten überwiegend schon damals in Englisch. Die einzelnen Schulen der Naturheilkunde waren zudem untereinander zerstritten, da wurden eher Ideologien gepflegt als der freie Meinungsaustausch. Bühring selbst hatte den Ehrgeiz, der Humoralpathologie mit ihrer Säftelehre zur Erklärung körperlicher Vorgänge, die die antiken griechischen und römischen Ärzte etablierten, wieder zu ihrem Recht zu verhelfen – bei den Visiten wurde reichlich darüber diskutiert, was die Patienten essen sollten und welche Lebensmittel »kühlend« oder »erhitzend« wirkten. Mich hatte das nie überzeugt, denn im Gegensatz zur Traditionellen Chinesischen oder ayurvedischen Medizin ist das, was wir an Überlieferung aus der europäischen Antike hatten, relativ grob und ungenau.

Dass ich bis zum Professor durchgehalten habe und heute selbst unterrichte, daran ist einer meiner Schullehrer schuld. Er hatte mir – noch im Gymnasium und im Geschichtsunterricht – beigebracht, keiner Information zu glauben, deren Quelle ich nicht selbst recherchiert hatte. Während andere Lehrer uns zwangen, Bücher auswendig zu lernen, wollte er, dass man Wissen kritisch hinterfragte. Ich verbrachte also schon als Schüler viel Zeit in Bibliotheken, um nach Originalquellen zu suchen. Mein erster Buchbeitrag wurde dann eine historische Beschreibung der Hexenverbrennungen im mittelalterlichen Bad Waldsee. Ich war fasziniert davon, die Urteile der »Richter« über die »Ketzer« im Original zu lesen – und davon, dass Menschen damals von etwas absolut und mörderisch überzeugt waren, das aus heutiger Sicht völlig absurd anmutet. Frauen, die sich in Pflanzenheilkunde auskannten, wurden nicht selten als Hexen gebrandmarkt, unter anderem zum Beispiel die Mutter von Johannes Kepler, dem berühmten Astronomen. Sie war in Württemberg angeklagt worden und starb 1622 an den Folgen einer Kerkerhaft.

Die Hexenprozesse waren ein Beispiel dafür, wie stark die Psyche Menschen beherrschen konnte, etwas, was mir später auch immer wieder in der Medizin begegnen sollte. Gleichzeitig lernte ich, dass es unterschiedliche Perspektiven gab, unter denen man einen Tatbestand sehen konnte. Das war wie in der Naturheilkunde, die neben der biochemischen Erklärung für ein Symptom noch andere Ebenen betrachtet, etwa die Konstitution, die Psyche, die Biografie oder den Lebensstil. Solche Vielfalt der Bezüge wird in der modernen Medizin leider völlig vernachlässigt. Geschichte oder Philosophie kommen in der Ausbildung nicht vor, und später führt die starke Spezialisierung dazu, dass die wenigsten Ärzte Fakten oder Forschung außerhalb ihres eigenen Fachgebiets kennen.

Heute muss auch die Naturheilkunde »Evidenz« nachweisen – allerdings ist das nicht in jedem Fall leicht, weil das Geld von potenten Pharmafirmen dazu fehlt. In Deutschland werden etwa 90 Prozent der Forschung von der Industrie finanziert, und die interessiert sich wenig für Naturheilkunde, an der sich kaum etwas verdienen lässt. In den USA hingegen gibt es ein Institut im Rahmen der staatlichen Gesundheitsbehörde NIH, das sich eigens um Qualitätssicherung und Forschung im Bereich der Komplementärmedizin bemüht. Dieser Bereich erhält jährlich rund 250 Millionen US-Dollar für Forschung aus öffentlichen Mitteln. Die entsprechende Forschung in Deutschland ist dagegen zum größten Teil auf Stiftungen angewiesen, wie etwa die Karl und Veronica Carstens-Stiftung, deren Vorstandsvorsitzender ich heute bin. Die Frau des ehemaligen Bundespräsidenten, selbst Ärztin, setzte stets mit großer Freundlichkeit, beeindruckender Klarheit und sehr vehement durch, was sie in der Medizin für unterstützenswert und zu wenig beachtet hielt. Sie ist ein großes Vorbild.

Ein Team für die Anleitung zur Selbstheilung

So viel ich auch gelernt hatte und bereits erfolgreich anwenden konnte, blieb trotzdem manchmal eine gewisse Unzufriedenheit: Die Naturheilkunde bot noch wenig wissenschaftlichen Anreiz, und in der Kardiologie wollte ich nicht weiter bleiben, weil das übliche Vorgehen, das ständige Hantieren mit Kathetern und Stents, die damals gerade groß in Mode kamen, mich nicht überzeugte. Ja, dachte ich, wenn ich einmal einen Herzinfarkt habe, dann möchte ich bitte auch einen Stent – und bitte schnell –, aber ich möchte diese Dinger nicht den ganzen Tag und den Rest meines Lebens in gekachelten fensterlosen Räumen unter Röntgenschirmen selber setzen müssen. Doch ich habe Freunde, für die diese wirkungsvolle Technik bis heute nichts von ihrer Faszination verloren hat.

Da passte es gut, dass man mir 1999 im sächsischen Bad Elster in einer neu gegründeten und innovativ ausgerichteten Spezialklinik für chronische Erkrankungen eine Stelle als leitender Oberarzt anbot. Neuer Chefarzt dort war Gustav Dobos, einer der Pioniere der modernen Integrativen Medizin in Deutschland, ein Nephrologe und Intensivmediziner, der einige Zeit in China verbracht hatte und dort einen tiefen Einblick in die Traditionelle Chinesische Medizin gewinnen konnte. Er war sehr offen und interessiert an der Naturheilkunde, und war habilitiert – ihm fehlte jedoch ein sachkundiges Team, um seine Vorstellungen umzusetzen. Dieter Melchart, der später Lehrstuhlinhaber für Naturheilkunde an der Technischen Universität München wurde, war der wissenschaftliche Leiter. Plötzlich kristallisierte sich in Bad Elster, am äußersten Rand der Republik, ein interdisziplinäres Team heraus, das alles, was ich bis dahin gesehen und gelernt hatte, in eine moderne Therapiestruktur goss. In ihrem Mittelpunkt standen der Patient und seine Fähigkeit, selbst aktiv zu seiner Gesundung beizutragen – ein Konzept, wie es in dieser Geschlossenheit in Deutschland zuvor noch keines gegeben hatte.

Schon nach etwas mehr als einem Jahr präsentierte uns Gustav Dobos ein sehr vielversprechendes neues Projekt – eine Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin an den Kliniken Essen-Mitte, eine Modelleinrichtung des Landes Nordrhein-Westfalen mit dem Schwerpunkt der Behandlung schwer chronisch Erkrankter. Die Herausforderung war so interessant, dass ihm fast das gesamte Kernteam aus Bad Elster ins Ruhrgebiet folgte.

Die Zeit in Essen war eine echte Pionierphase – sie war aufregend und unglaublich kreativ. Wir waren ein Dream-Team, was unsere Fähigkeiten und Mentalitäten betraf. Prägend war vor allem eine gemeinsame Ausbildung an der Harvard Medical School bei Herbert Benson, einem US-amerikanischen Kardiologen, der schon seit vielen Jahren systematisch Methoden zur Stressminderung entwickelt und wissenschaftlich untersucht hatte. Wenig später hatten wir Jon Kabat-Zinn zu Gast, einen Molekularbiologen aus den USA und Erfinder eines meditationsbasierten Anti-Stress-Programms, der Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR). Heute ist Kabat-Zinn ein Star, sein Meditationsprogramm ist nicht nur weltweit in der Medizin, sondern auch in Psychologie und Wirtschaft etabliert.

Die Suche nach den Wurzeln der Gesundheit

All das waren besondere Menschen, die einen völlig anderen Blick auf die Heilkunde warfen. Wir suchten nach den Wurzeln der Gesundheit und der Widerstandskräfte und nicht nach den Krankheiten. Und trotz anfänglicher Anfeindungen von Gegnern der Naturheilkunde war die Klinik auch rasch erfolgreich. Ich wurde Oberarzt in Essen und begann, an meiner Habilitation zu arbeiten. Das Thema: »Lebensstilveränderungen bei Herz-Kreislauf-Krankheiten«. Als Malte Bühring dann aus gesundheitlichen Gründen frühzeitig in den Ruhestand ging, sah es zunächst so aus, als würde der Lehrstuhl in Berlin nicht mehr neu besetzt werden, und den neu geschaffenen Lehrstuhl in Duisburg-Essen hatte in der Zwischenzeit Gustav Dobos verdient erhalten. Aber dann gelang es dem Humanmediziner Stefan Willich, nicht nur die eine historische, sondern noch zwei neue Professuren für Naturheilkunde zu installieren. Die Charité wurde wieder zur Keimzelle der Naturheilkunde.

2009 erhielt ich den Ruf auf die Stiftungsprofessur für klinische Naturheilkunde der Charité und wurde Chefarzt der Abteilung für Naturheilkunde am Berliner Immanuel Krankenhaus, einer Spezialklinik für chronische und rheumatische Erkrankungen, die einst auch Malte Bühring geleitet hatte. Dort traf ich auf Rainer Stange, den Komissarischen Leiter der Abteilung, und zusammen bildeten wir ein schlagkräftiges Team. Heute haben wir dort 60 stationäre Betten, eine Hochschulambulanz für Naturheilkunde der Charité sowie eine Tagesklinik, in der spezialisierte Therapeuten und Psychologen gemeinsam mit den Ärzten Stressreduktion, Meditation, Bewegung, Ernährung und naturheilkundliche Selbsthilfe in einem intensiven Schulungsprogramm für chronisch Erkrankte vermitteln.

Im Rahmen meiner Professur konnte ich mir zudem einen Traum erfüllen und zusammen mit meinem Oberarzt Christian Kessler eine Forschungsabteilung für Ayurvedische Medizin eröffnen. Viele der heute bedeutenden Naturheilmethoden haben ihren Ursprung in Indien: Ayurveda, Yoga, Meditation. Ich meditiere schon seit vielen Jahren, und in Essen hatte ich mit Yoga begonnen. Doch nach Indien kam ich erst 2006. Ich muss sagen: Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich fühlte mich sofort zu Hause, trotz der vielen Unwägbarkeiten und Andersartigkeiten, die Indien nun mal so mit sich bringt. Heute arbeiten in meiner Abteilung Indologen und Ärzte mit Ayurveda-Ausbildung, Ayurveda-Therapeuten und Yoga-Lehrer Hand in Hand. Stolz bin ich auch darauf, dass wir als erste medizinisch-wissenschaftliche Institution in Deutschland im Rahmen einer Forschungskooperation eine finanzielle Förderung von der indischen Regierung bekommen haben, um die bislang größte Studie zur Wirksamkeit von Ayurveda außerhalb Indiens durchzuführen. Dabei half wohl auch unser Berliner Standort: Die damals zuständige Ministerin jedenfalls fing bei unserem Gespräch in Delhi plötzlich an, von der Charité zu schwärmen: »Die gehört doch zur Humboldt-Universität? Die haben die beste Indologie der Welt!« Und wir hatten die Forschungsfinanzierung für die große Ayurveda-Studie.

Die Grundprinzipien der Naturheilkunde

Selbstheilungskräfte stärken durch Reiz und Reaktion

Das Grundprinzip der Naturheilkunde – wie das aller traditioneller Heilverfahren – ist das Zusammenspiel von Reiz und Reaktion. Die Hydrotherapie zum Beispiel setzt durch den Einsatz von kaltem oder warmem Wasser gezielt einen Reiz, und dieser führt dann zu Veränderungen im Körper: Der Reiz aktiviert die Selbstregulation.

Konkretisieren wir ein weiteres Beispiel: Sie haben eine fiebrige Erkältung. Ihr Arzt befürchtet, dass sich auf den durch Viren ausgelösten Infekt eine bakterielle Lungenentzündung aufsetzt, und gibt Ihnen ein Antibiotikum sowie fiebersenkende Medikamente. Seine Absicht ist, die Erreger abzutöten und den vom Fieber geplagten Organismus zu entlasten. Vielleicht erhalten Sie noch ein schleimlösendes Präparat und Zink oder Vitamin C, um die Abwehr zu stärken.

Wie geht die Naturheilkunde vor? Sie erhalten einen feucht-kalten Brustwickel, der eng um Ihren Leib geschnürt und dann von wärmenden Decken umhüllt wird. Er kühlt zwar Ihre heiße Körperoberfläche im ersten Moment und Sie fangen vielleicht zu zittern an, doch gleich danach wird Ihnen wohlig warm, weil die Regulationssysteme Ihres Organismus intensiv beginnen, sich gegen den Kälteimpuls zur Wehr zu setzen – und zwar nicht nur lokal, an der Haut, sondern auch an weit entfernten Orten Ihres Körpers. Wenn das Fieber höher steigt, wird mit Wadenwickel gegengesteuert. Um das Schwitzen anzuregen, wird zusätzlich Lindenblüten- und Holundertee verabreicht.

Den Organismus anregen

Viele Reize wirken »unspezifisch« – sie werden von sehr unterschiedlichen Reaktionen beantwortet, vor allem von Nervenreflexen und Hormonausschüttungen. Dass die Reaktionen individuell sehr unterschiedlich sein können – abhängig von der Konstitution, der Stärke des Reizes und der Häufigkeit, in der er gesetzt wird –, lässt manche Schulmediziner glauben, eine naturheilkundliche Behandlung »wirke« nicht. Doch sie verkennen das Prinzip: Während die konventionelle Medizin Krankhaftes von außen eliminiert und dabei häufig schnelle (aber kurzfristige) Erfolge erzielt, arbeitet die Naturheilkunde mit dem Herauskitzeln der Selbstheilungskraft: Sie will den Organismus dazu anregen, seine Gesundheit aus eigener Kraft wiederzuerlangen.

Das erfordert Umwege und auch etwas mehr Zeit: Durch die Verarbeitung gezielter und wohldosierter Reize wird der Körper quasi wachgerüttelt, seine Aufgaben zu erfüllen. Dafür braucht der Patient Geduld – zum Beispiel muss er das Fieber aushalten (solange es sich in Grenzen hält) und seinem Immunsystem damit die Chance geben, die Erreger selbst zu bekämpfen. Vielleicht trinken Sie sogar einen Lindenblütentee, der schweißtreibend ist. Und statt eines Antibiotikums, das ohnehin nicht gegen Viren hilft, und Vitamintabletten essen Sie eine langsam gekochte Gemüsebrühe und trinken einen Ingwer-Gelbwurz-Smoothie. Beides enthält die besten Mikronährstoffe in ihrer natürlichen Form, deshalb sind sie weit effektiver als Pillen. Wenn das nicht ausreicht, stehen zahlreiche wirksame Arzneipflanzen wie Thymian, Efeu, Salbei, Zistrose oder Geranie zur Verfügung.

Wie dieses einfache Beispiel vielleicht schon klarmacht, kommt es sehr darauf an, dass die richtigen Reize in der richtigen Stärke gesetzt werden. Bei einem gesunden Kind ist Fieber ein wichtiges Training für das Immunsystem, bei einem älteren, herzkranken Menschen kann es gefährlich werden. Wie viel Dosis wie viel Wirkung erzielt, ist unter dem Begriff Hormesis (griech. = Anregung, Anstoß) ein Thema aktueller internationaler Forschung geworden. Schon im 16. Jahrhundert hatte Paracelsus, einer der ersten Pharmakologen der Neuzeit, erkannt, dass eine geringe Dosis einer Substanz, die sonst giftig wirkt, positive Wirkung ausüben kann – weil der Körper den negativen Reiz (Noxe) kennenlernt und Abwehrmechanismen entwickelt. Das Prinzip ist bekannt bei der Radioaktivität, wo Niedrigstrahlung bis zu einem bestimmten Grad sogar positive Effekte auf den Organismus entwickeln kann.

Allerdings gibt es noch viel zu wenige Daten über die genauen Dosis-Wirkungs-Beziehungen unspezifischer Reize, sodass auch hier deutlich wird, wie bedeutsam die praktische Erfahrung in der Naturheilkunde ist. So bleiben die wichtigsten Fragen bei einer naturheilkundlichen Therapie immer noch: Haben Sie die Brühe oder den Saftcocktail gut vertragen und verdaut? Oder: Werden die Füße denn schnell warm, wenn Sie im Wickel liegen? Ist beides nicht der Fall, stimmt die Dosis oder Therapie nicht – Studie hin oder her.

Die Konstitution des Patienten erkennen

Welche Reize in der Naturheilkunde gesetzt werden, hängt – typisch für unsere Sichtweise – also weniger von der Erkrankung ab, sondern vorwiegend von der Person, die davon betroffen ist, von ihrer Konstitution. Viele unserer Patienten haben schon in irgendeiner Zeitschrift getestet, ob sie Vata, Kapha oder Pitta sind, doch solche Grundtypen gibt es nicht nur im Ayurveda, sondern in allen traditionellen Medizinschulen, selbst in der klassischen europäischen Naturheilkunde. Dahinter verbirgt sich die Erkenntnis, dass Körperbau, Psyche und Körperregulation in einer Beziehung zueinander stehen, die bestimmte Symptome und Krankheiten hervorbringen kann. Diese erahnt man vom Typ her, noch bevor die Patienten ihre Probleme schildern konnten, geschweige man denn irgendeinen Laborbefund in der Hand hat. Solche Typisierungen können dann hilfreich sein, wenn man sie als Anhaltspunkt nimmt, sich aber bewusst ist, dass im wirklichen Leben vor allem Mischformen bestehen. So hat nicht jeder Übergewichtige mit einem runden Bauch (»Pykniker«) Diabetes Typ 2, und nicht jeder überschlanke Mensch mit blasser Haut leidet unter Depressionen.

Also würde ich auch nie jemandem, dem Hitze generell unangenehm ist, eine kraftvolle Überwärmungsbehandlung (zum Beispiel mit einer Infrarot-Hyperthermie) verordnen, selbst wenn die betreffende Person unter Weichteilrheuma (Fibromyalgie) leidet, wo das häufig – aber eben nicht immer – hilft. Und umgekehrt nützt der Aufenthalt in einer Kältekammer – zwei bis drei Minuten bei minus 110 Grad Celsius! – solchen Rheuma-Patienten wenig, die trotz ihrer Entzündungsneigung dauernd frieren.

Die richtige Dosierung – am Beispiel der Sonne

Temperaturreize lassen sich natürlich ebenso draußen in der Natur nutzen, am besten kombiniert mit Bewegung. In der Evolution waren zwei Dinge für das Überleben extrem wichtig: das Licht der Sonne und die Temperatur. Wie abhängig wir immer noch von solchen Reizen sind, merken wir sofort, wenn die Tage dunkler und die Nächte kälter werden. Viele Menschen werden dann schneller müde. Es gibt sogar jahreszeitliche Depressionen, die in den kühlen dunklen Wintermonaten auftreten und sich durch die Bestrahlung mit einem speziell hellen Licht sofort bessern. Die Sonne ist für uns Sinnbild für das Positive, Heitere und Schöne im Leben. Kleine Kinder malen sie mit ihren wärmenden Strahlen. Im Frühjahr strecken wir sehnsüchtig unsere Gesichter zum Himmel.

Die Sonne ist zugleich hervorragendes Beispiel für die Hormesis, für die Frage, welche Dosis gut ist und wann ihre Wirkung sich ins Gegenteil verkehrt. Hautärzte erkannten vor einigen Jahrzehnten, das Risiko für bestimmte Formen von Hautkrebs, vor allem für den weißen Hautkrebs (Basaliom), durch das Ultraviolettlicht der Sonne steigt – ebenfalls das Risiko für ein Melanom, den gefürchteten schwarzen Hautkrebs. Wobei hier inzwischen eindeutig belegt ist, dass es nicht das Sonnenbaden an sich ist, sondern die Anzahl der erlittenen Sonnenbrände, die diesen gefährlichen Krebs auslösen. Rätselhaft ist aber noch, warum das Melanom häufig an Körperstellen auftritt, die kaum oder fast gar nicht der Sonne ausgesetzt sind, wie etwa den Fußsohlen. Neue Theorien gehen davon aus, dass möglicherweise die Haut immer und überall mit der Abwehr von Melanom-Krebszellen zu tun hat, dann aber durch einen Sonnenbrand derart beschäftigt wird, dass an einer anderen Stelle ein solcher Krebs nicht mehr genügend abgewehrt werden kann.

Die Epoche der Sonnenstudios geht jedenfalls ihrem Ende entgegen, denn dass Sonnenlicht die Hautalterung fördert und damit Falten und das Krebsrisiko, ist unbestritten. Doch wissenschaftliche Studien belegen auch, dass Sonnenlicht glücklicher macht und das Wohlbefinden steigert. Dazu reicht schon das Bräunen auf UVA-Sonnenliegen. Besser noch sind UVB-Sonnenliegen, die es aber in üblichen Sonnenstudios nicht gibt. Früher wurden Sonnenbäder bei Tuberkulosekranken (nachzulesen in Thomas Manns Der Zauberberg) medizinisch eingesetzt oder bei Menschen, die unter Tage arbeiten mussten. Seit 1980 weiß man, dass Sonnenlicht selbst bei sehr ernsthaften Erkrankungen positiv wirkt: Cedric Garland, Epidemiologe an der University of California, zeigte in einer Studie auf, dass viele Krebsarten weitaus seltener in Regionen waren, in denen häufiger die Sonne schien. Später haben internationale Bevölkerungsstudien diesen auffälligen Zusammenhang bestätigt.

Viele Autoimmunerkrankungen wie Multiple Sklerose oder rheumatoide Arthritis, aber auch Herzinfarkte, einige Krebsarten sowie Diabetes treten viel häufiger in Landstrichen auf, die nördlicher und weiter weg vom Äquator sind. Berechnet man weitere Faktoren ein, eine andere Ernährung oder andere Sozialsysteme, besteht kaum ein Zweifel, dass die Migration der Urmenschen vor etwa 40 ‌000 Jahren in den Norden mit einem Mehr an chronischen Erkrankungen bezahlt wird.

Das Sonnenlicht ist auch deshalb so wichtig, weil es dazu beiträgt, dass in unserer Haut ein Vitamin gebildet wird, das viele zentrale Funktionen hat: Das Vitamin D reguliert unseren Knochenstoffwechsel, verhindert Osteoporose, kann aber auch in gewissem Maße vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Depression und Autoimmunerkrankungen schützen. Studien des Robert Koch-Instituts zufolge haben etwa 60 Prozent der Deutschen einen zu niedrigen Vitamin-D-Spiegel – dieser Mangel ist so eklatant, dass man vernünftigerweise aktuell daran zu zweifeln beginnt, ob die Normwerte nicht zu hoch angesetzt sind. Problematisch ist ein Vitamin-D-Mangel vor allem im höheren Lebensalter, da die Synthesefähigkeit im Körper dann abnimmt. Dies ist insbesondere deshalb kritisch, da in dieser Lebensphase Krebs und viele andere chronische Erkrankungen häufiger auftreten und außerdem ein wichtiger Faktor für die Mobilität im Alter, die Muskelkraft, abnimmt. Es hat also seinen Sinn, wenn die Naturheilkunde darauf pocht, dass es wichtig ist, »an die Luft« zu gehen. Dort tanken wir selbst bei bedecktem Himmel Sonnenenergie. Die Nahrung deckt im Übrigen nur rund fünf Prozent des Vitamin-D-Bedarfs ab. Die Vorstellung, sich mit einer besonderen Speisekarte die Aktivität an der frischen Luft ersparen zu können, ist also schlicht falsch.

Die Sonne ist somit ein klassisches Beispiel für die Frage nach der richtigen Dosierung von Reizen, denn wir stehen hier vor einem Dilemma. Einerseits kann zu viel Sonne zu weißem Hautkrebs und Hautalterung führen, andererseits brauchen wir ihr Licht für unser Wohlbefinden und die Prävention chronischer Erkrankungen und von Krebs. Wir werden also nach einem Kompromiss suchen müssen.

Im Einklang mit der Natur leben

Naturheilkunde bedeutet, mit der Natur und nicht gegen sie zu leben. Auch hier zeigen neue Studien, dass hinter dieser Empfehlung nicht einfach romantische Sehnsucht steckt, sondern eine körperliche Gegebenheit. Die evolutionär geprägte Verbundenheit unseres Körpers mit der Natur hat dazu geführt, dass seine Biorhythmen sich den Jahreszeiten anpassen. In einer viel beachteten Studie konnten Forscher aus Cambridge und München 2014 nachweisen, dass die Genaktivität von den Jahreszeiten abhängt – zumindest stellte man das an über 4000 RNA-Genen in Blutzellen und im Fettgewebe fest. (RNA-Gene sind nicht direkt an der Herstellung von Proteinen beteiligt, sondern übernehmen Steuerfunktionen.) Etwa ein Viertel unserer Gene reagiert auf das Klima und geografische Merkmale, schon bei Säuglingen konnte das festgestellt werden. Die Natur hat unseren Körper mit der Fähigkeit ausgestattet, sich flexibel an seine Umwelt anzupassen – ein wichtiger Teil der Erfolgsgeschichte des Menschen.

Wieder existiert hier ein sensibles Gleichgewicht zwischen Schutzreaktionen und Belastungsfaktoren: So neigt unser Organismus im Winter häufiger zu Entzündungen – wahrscheinlich, um gegen die erhöhte Zahl an Keimen und Bakterien zu dieser Jahreszeit anzukämpfen. Dadurch steigt ebenso die Gefahr für Herzinfarkt, Rheuma und Diabetes. Ein bestimmtes Steuerungsgen, ARNTL, ist jedoch dafür da, Entzündungen im Körper zu bremsen und hält sich hierbei im Winter zurück. Es reguliert aber auch die Körpertemperatur und das Schlafverhalten. So erklärt sich, dass wir, werden die Tage kürzer, gerne länger schlafen und träger sind als im Sommer, auch wenn wir nicht wie viele Tiere in den Winterschlaf gehen können. Insgesamt ist es immer eine Balance, die unser Immunsystem zwischen den Einflüssen der Jahreszeiten zu halten hat.

Wenn wir nun an die Hydrotherapie zurückdenken – bis wohin ist die Kälte ein positiver Reiz und ab wann ist sie ungesund? Können wir die Kälteempfindlichkeit und das Frieren abtrainieren? »Jein«, lautet die Antwort. Im Verhältnis zu den Möglichkeiten, einen Muskel zu trainieren oder unser Herz-Kreislauf-System belastbarer zu machen, sind unsere Anpassungsmöglichkeiten an Wärme und Kälte eher bescheiden. Besonders spüren wir das im Sommer, denn mit hohen Temperaturen kommen wir auf Dauer schlecht zurecht. Trägt man bereits wenig Kleidung und schwitzt schon ordentlich, bleiben nicht mehr viele natürliche Regulationsalternativen, da hilft nur noch die Klimaanlage. Daher spüren wir auch zunehmend das für uns Bedrohliche der Klimakrise. Im Winter können wir selbstverständlich durch unsere zweite Haut, die Kleidung, die Körperwärme besser isolieren und speichern. Studien zeigen allerdings, dass, je größer die Menschen werden (durch zu viel und vor allem zu proteinreiche Nahrung), sie über die erweiterte Oberfläche auch mehr Wärme verlieren und sich deshalb wärmer anziehen müssen.

Grundsätzlich haben wir mehrere Vorgehensweisen, um die Temperatur in unserem Körper zu regulieren. Das Schwitzen ist davon der kraftvollste Mechanismus: Dabei entwickeln wir eine Kühl-Power wie ein Eisschrank. Da der Schweiß rasch verdunstet, können wir bei einer »Leistung« von bis zu 2500 Watt an die 3,5 Liter Flüssigkeit pro Stunde verlieren. Befinden wir uns mehrere Wochen lang in einer heißen Umgebung, verdoppelt sich sogar noch unsere Schwitzfähigkeit. Schwitzen hat zudem den Vorteil, dass Salz verloren geht. Wer sich salzreich ernährt, was fast alle Europäer tun, hat auf diese Weise einen schönen Ausgleich und kann dann auch mal eine salzige Butterbrezel mit Genuss essen. Menschen, die kaum schwitzen, sollten sich beim Salzstreuer zurückhalten und die Sesam-Butterbrezel wählen.

Auf große Kälte reagieren wir hingegen mit Zittern. Zuerst ziehen sich die Muskeln der winzigen Hautgefäße zusammen: Das reduziert den Blutzufluss an die Oberfläche, der Wärmeverlust wird minimiert. Wir spüren das besonders an kalten Händen oder Füßen. Die inneren Organe werden hingegen stärker durchblutet, wobei die Kerntemperatur des Körpers konstant gehalten wird. Bleibt all dies erfolglos, spannen sich die Muskeln unter der Haut an. Diese Bewegung erzeugt Wärme. Ab einem bestimmten Grad der Anspannung beginnen zusätzlich die Muskeln zu zittern. Der Körper versucht durch stärkere Kontraktion, eine Art Zusatzheizung einzuschalten. Schließlich reagiert der Organismus auf Temperaturreize noch mit einer Veränderung der Isolationsschicht: In einer japanischen Studie wurden Frauen gebeten, während des Winters entweder kurze oder lange Röcke zu tragen. Mittels Kernspintomografie konnte gezeigt werden, dass am Ende des Winters die Frauen, die durch ihre kurze Kleidung mehr gefroren hatten, auch mehr Fett an den Beinen angesetzt hatten.

Die Kraft der Kälte- und Wärmereize

In gewissem Maße können wir also die eigene Wärmeproduktion beeinflussen und uns eine geringere Anfälligkeit für Kälte antrainieren. Deshalb hatte bereits Sebastian Kneipp dazu geraten, sich nicht immer in gut und gleichmäßig beheizten Räumen aufzuhalten, sondern uns eher kühleren Temperaturen von 18 bis 19 Grad Celsius auszusetzen. Auch Kältereize wie kalte Güsse, Wasser- oder Schneetreten sowie kalte Bäder nach einer Sauna können Signale an den Körper geben, seine Eigenproduktion an Wärme zu steigern. Wir alle kennen aus unserer Kindheit das Phänomen glühender Hände nach einer Schneeballschlacht, wenn man wieder im Warmen war. Der Körper öffnet seine Gefäße. Dieses Wechselspiel aus sogenannter Vasokonstriktion (in der Kälte) und Vasodilatation (im Warmen) ist eines der Grundprinzipien der Kneipp-Therapien und lässt sich trainieren.

Allerdings gilt es dabei, achtsam für die Reaktionen des Körpers zu bleiben. In meinem Wohnort Berlin gibt es, ähnlich wie einst Kneipp es war, besonders abgehärtete Eisbader, die selbst im Winter kurze Bäder nehmen – in zugefrorenen Seen bei vier Grad Wassertemperatur. Dabei ist es jedoch wichtig, den Körper keinem Schock auszusetzen, sondern seine Anpassungsfähigkeit langsam und systematisch zu trainieren – also erst nur ganz kurz ins Wasser zu gehen und dann langsam die Zeiten zu verlängern.

Zu Beginn jeder Kältetherapie muss zunächst ein stabiles Wärmegefühl vorhanden sein – zum Beispiel sollen die Füße warm sein, bevor die Beine kalte Güsse erhalten. Darauf achten wir am Immanuel Krankenhaus Berlin ebenso bei der Kältekammer, in der Temperaturen von minus 110 Grad vorherrschen. Die Patienten werden auch hier durch eine »wärmere« Kammer geschickt, um den Körper an das Temperaturmaximum (bzw. -minimum) zu gewöhnen. Dabei tragen sie – ansonsten unbekleidet – Mützen, Handschuhe und warme Socken. Zum Schluss stehen sie für maximal drei Minuten in dieser unfassbaren Kälte. Die Effekte sind beeindruckend. Schmerzen verschwinden, Entzündungen werden für Stunden oder sogar Tage gedämpft. Und für mich besonders auffällig: Die Stimmung verbessert sich nach einem solchen überstandenen Kälteabenteuer merklich.