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Ein leidenschaftliches Plädoyer für eine neue Medizin: persönlich erzählt, mit vielen Patientenbeispielen
Die Schulmedizin grenzt die Naturheilkunde noch immer aus, dabei hat sich unsere Gesellschaft längst entschieden: Denn zwei Drittel aller Patienten wollen naturheilkundlich behandelt werden.
Das seien doch Hausmittelchen, ohne wissenschaftliche Basis, glauben viele Ärzte. »Falsch«, sagt Andreas Michalsen, Professor an der Charité Berlin: »Die moderne Naturheilkunde ist wissenschaftlich fundiert, und sie ist die einzige Antwort auf die steigende Zahl chronischer Leiden.« In den USA wird die naturheilkundliche Medizin mit 250 Millionen Dollar jährlich staatlich unterstützt, in Deutschland ist Andreas Michalsen einer der Pioniere, die tradiertes Heilwissen und modernste Forschung auf innovative Weise miteinander verbinden.
Massive Nebenwirkungen und mangelndes Vertrauen – die Medikamenten-Medizin steckt in einer Sackgasse. Immer mehr Forscher interessieren sich deshalb für die Wirkprinzipien traditioneller Heilverfahren. Der Professor für Klinische Naturheilkunde und Chefarzt am Immanuel Krankenhaus in Berlin erzählt, warum er den konventionellen Pfad der Medizin verlassen hat und welches Potenzial der Natur er mit seinen Patienten täglich neu entdeckt.
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Seitenzahl: 502
Veröffentlichungsjahr: 2025
Prof. Dr. Andreas Michalsen
Heilen mit der Kraft der Natur
unter Mitarbeit vonDr. Petra Thorbrietz
herausgegeben vonFriedrich-Karl Sandmann
Insel Verlag
Plädoyer für eine neue Medizin
Vorwort
Entscheidung für die »Zuwendungsmedizin«
Mein Weg zur Naturheilkunde
Die Grundprinzipien der Naturheilkunde
Selbstheilungskräfte stärken durch Reiz und Reaktion
Antike Therapien neu entdeckt
Blutegel, Schröpfen und Aderlass
Wasser als Heilmedium
Die Hydrotherapie
Wertvoller Verzicht
Fasten als Impuls der Selbstheilung
Der Schlüssel zur Gesundheit
Essen ist Medizin
Stillstand macht krank
Die Bedeutung der Bewegung
Waldmedizin
Die heilende Begegnung mit der Natur
Der Klimawandel macht uns krank
Wie wir durch unsere Ernährung das Klima retten können
Yoga, Meditation und Achtsamkeit
Mind-Body-Medizin
Globale Medizin
Ayurveda, Akupunktur und die Heilkraft der Pflanzen
Meine Behandlungspläne
Zehn häufige chronische Erkrankungenerfolgreich behandeln
Strategien für ein gesundes Leben
Wie Sie Ihren eigenen Weg finden
Die Zukunft der Medizin
Was sich ändern muss
Anhang
Index, Auswahl der wichtigsten Literatur und Danksagung
Vorwort
Seit Erscheinen der ersten Auflage dieses Buches hat sich vieles in der Medizin verändert. Neue Medikamente wie die Spritzen gegen Adipositas wurden entwickelt. Gesunde Ernährung und gesunder Lebensstil sind beherrschende Themen in den Medien und der Gesellschaft geworden. Dazu kam die Corona-Pandemie, die 2020 für fast zwei Jahre die Welt in Atem hielt, und weiterhin ist der Klimawandel ein ungelöstes Problem mit stetig zunehmenden medizinischen Konsequenzen.
Das Hauptproblem für die Gesundheit von uns Menschen und der medizinischen Versorgung ist jedoch geblieben und hat sich noch deutlich weiter verschärft: Die chronischen Erkrankungen sind unaufhaltsam auf dem Vormarsch. Immer mehr Menschen in Deutschland und weltweit leiden unter Bluthochdruck, Arthrose, Rheuma und weiteren Autoimmunerkrankungen, unter Rücken- und Nackenschmerzen, Diabetes, Krebs, Depression, Demenz, unter chronischen Darmstörungen oder Erschöpfungssyndromen. Das hat vor allem mit unserem ungesunden Lebensstil und dem Stress des modernen Lebens zu tun, ist aber auch eine Folge der gestiegenen Lebenserwartung. Der Großteil der Menschen in der Altersgruppe über 65 Jahre leidet heutzutage an mehreren chronischen Krankheiten gleichzeitig. Die Wartezimmer bei Orthopäden, Kardiologen, Diabetologen, Neurologen und anderen Facharztgruppen sind übervoll und eine Handvoll Tabletten zum Frühstück einzunehmen, ist der Normalfall geworden. Das heißt: Unsere Lebenserwartung ist gestiegen, die Anzahl unserer gesunden Lebensjahre aber nicht. Das muss aber kein unabänderliches Schicksal sein.
Hier kommt der Kern der Naturheilkunde ins Spiel. Sei es durch Fasten und die richtige Ernährung, durch Heilpflanzen, Bewegung, Kneipp-Anwendungen und Sauna, durch Yoga und Meditation, Ayurveda oder chinesische Medizin – immer stellt die Naturheilkunde die Kunst des Gesundbleibens oder das wieder Gesundwerden durch die richtigen natürlichen Heilmethoden in den Vordergrund.
Wann wäre ein besserer Zeitpunkt, Argumente für die moderne Naturheilkunde zu nennen, als jetzt? Die medizinische und biologische Forschung liefert immer mehr Erkenntnisse, die in die Richtung einer komplexen, ganzheitlich orientierten Medizin weisen, einer Heilkunst, die nicht nur den Organismus behandelt, sondern auch sein Umfeld mit einbezieht. Die sich nicht nur um Krankheiten kümmert, sondern vor allem auch um die Grundlage der Gesundheit. Die Menschen nicht nur als Patienten sieht, sondern als eigenverantwortliche Partner im Umgang mit unseren lebenswichtigen Ressourcen.
Und hier eben zeigt sich, dass die Ansätze der Naturheilkunde so aktuell sind wie nie zuvor. Vertieft wurde deshalb in diesem Buch das Kapitel über die Heilwirkungen, die man beim Eintauchen in die Natur und den Wald – bei der Naturmedizin und dem Waldbaden – erfahren kann. Der Aufenthalt im Grünen lindert sofort spürbar Stress, entspannt das Herz-Kreislauf-System, reinigt die Atemwege und stärkt die Immunabwehr. Und auch bei wichtigen naturheilkundlichen Therapiemethoden wie dem Intervallfasten und Heilfasten, der Ernährungstherapie und Bewegungstherapie gibt es zahlreiche neue Forschungsarbeiten und wichtige sich daraus ableitende Erkenntnisse, die ich weitergeben möchte. Es wird deutlich, dass wir der sich verschärfenden Gesundheitskrise nicht hilflos ausgeliefert sind, sondern die Werkzeuge für unsere Gesundheit über alle Altersphasen zu einem großen Teil selbst in der Hand haben. Es ist aus der wissenschaftlichen Sicht und meiner persönlichen jahrzehntelangen ärztlichen Erfahrung völlig unverständlich, dass die Naturheilkunde in der Prävention wie auch im Umgang mit chronischen Erkrankungen im Medizinsystem so sträflich vernachlässigt wurde und noch immer wird. Der renommierte amerikanische Kardiologe und ehemalige Präsident der amerikanischen Gesellschaft für Kardiologie, Prof. Kim A. Williams, hat die übliche Strategie der modernen Medizin im Umgang mit den chronischen Erkrankungen so beschrieben: »Wenn ein Waschbecken bei voll aufgedrehtem Wasserhahn überläuft, gibt es zwei Möglichkeiten, Schlimmeres zu verhindern: Man kann mit Mopp und Eimer beginnen aufzuwischen – Symptome lindern. Oder man dreht den Wasserhahn zu: Das ist Ursachenbekämpfung.« Bei Bluthochdruck verordnen wir blutdrucksenkende Medikamente, die wirkungsvoll den Blutdruck senken, aber die eigentlichen Ursachen – Fehlernährung, Bewegungsmangel und Stress – tangieren wir nicht. Für Diabetes mellitus Typ 2 wurden in den vergangenen Jahren einige wirkungsvolle und teure Medikamente entwickelt – aber die Ursachen der Erkrankung, Übergewicht, Fehlernährung und Bewegungsmangel, werden genauso wenig beeinflusst, wie die Nebenwirkungen der Medikamente gelindert werden. Eine »Volkskrankheit« sind auch erhöhte Cholesterinwerte, die wir hervorragend mit Statinen absenken, wieder ohne die eigentlichen Ursachen in den Blick zu nehmen. Ähnlich sieht es bei Rückenschmerzen, Arthrose, Fettleber oder Depressionen aus. Um im Bild des Waschbeckens zu bleiben: Wir sind superschnelle Aufwischexperten geworden. Spezialisten wurden geschult, neue saugfähige Materialien und sogar Aufwischroboter entwickelt. Das Wirksamste aber wäre, den Wasserhahn zuzudrehen. Die Ursache unseres Tunnelblicks ist, dass unser ganzes Krankenhaus- und Medizinsystem auf die akute Versorgung ausgerichtet ist. Hier leistet es Hervorragendes und Segensreiches, aber dieses System lässt sich nicht sinnvoll auf die Behandlung chronischer Erkrankungen und komplexer biologischer Zusammenhänge übertragen. Die reine Reparaturmedizin verhilft letztlich nicht zu einer nachhaltigen guten Lebensqualität. Und: Ein solches Medizinsystem ist auch nicht mehr bezahlbar.
Mit der Taschenbuchausgabe möchte ich also erneut, mit weiteren Argumenten und aktuellen Forschungsergebnissen, deutlich machen: Wir brauchen eine neue Medizin, die Hightech und Naturheilkunde verbindet. Die Errungenschaften der technischen und pharmakologischen Medizin sollten da, wo sie notwendig sind, gezielt zum Einsatz kommen. Die Naturheilkunde jedoch ist eine Lebensstil-Medizin, die nicht nur im Einklang mit der Natur steht, sondern auch die Grundlagen unserer Gesundheit schützt – im ganz normalen Alltag. Die Wertschätzung unserer Ressourcen, der individuellen wie auch die unserer Erde, könnte viel Leid und Geld sparen. Es wird jetzt viel von Zeitenwende gesprochen. Es wird höchste Zeit auch für die Medizinwende, die Integration der Naturheilkunde in die moderne Medizin. Jetzt.
Prof. Dr. med. Andreas Michalsen
Mein Weg zur Naturheilkunde
Ich stamme aus einer Arztfamilie. Schlimmer noch: aus einer Naturheilkunde-Arztfamilie. Patienten finden meine Therapierichtung meistens gut, aber unter Medizinern ist es immer noch riskant, sich auf diese Weise zu outen. Häufig bekommt man zu hören, man wende »Hausmittelchen« an, ohne wissenschaftliche Basis. Die meisten meiner Kollegen wissen gar nicht, wie viel Forschung es schon zur Wirkung von Naturheilverfahren gibt und dass sie in den USA, Trendsetter in der Medizin, mit erheblichen Mitteln staatlich gefördert und unterstützt werden. Oft wird auch »übersehen«, dass es in Deutschland bereits mehrere Professuren für Naturheilkunde gibt und ihre Grundlagen verpflichtender Bestandteil der Ausbildung zum Mediziner sind.
Verdrängt wird aber auch, dass die sogenannte Schulmedizin an vielen Punkten in einer Sackgasse angelangt ist. In der Akutmedizin leistet sie Phänomenales, dort, wo es um Leben oder Tod geht, auf der Intensivstation oder im Operationssaal. Doch der größte Teil der Patienten sucht heutzutage den Arzt auf, weil eine oder mehrere chronische Krankheiten Beschwerden verursachen und die Lebensqualität stark einschränken. Und da hat die Schulmedizin nicht viel zu bieten, weil sie ganzheitliche Zusammenhänge vernachlässigt und sich stattdessen auf immer kleinteiligere Fachdisziplinen hoch spezialisiert hat. Ihre Vertreter behandeln dann jeweils aus ihrer Sicht viele einzelne Aspekte mit Medikamenten, was meist nur kurzfristig Symptome lindert, langfristig aber neue Probleme schafft – Nebenwirkungen, Überdiagnose, Übertherapie oder Behandlungsfehler. Das große Ganze, der mögliche gemeinsame Nenner, die oft in den Prospekten von Krankenhäusern und Praxen beschworene »Ganzheitlichkeit« haben in diesem System letztlich keine Chance.
80 Prozent aller Patienten suchen nach alternativen Heilmethoden und sind offen für die Naturheilkunde.
Dennoch hat das die Medizin bisher nicht genügend veranlasst, sich kritisch mit ihrer eigenen Begrenztheit auseinanderzusetzen. Oder vielleicht einmal zu überlegen, wie Heilverfahren Jahrtausende überdauern konnten, während die arzneimittelfokussierte Medizin – denn nichts anderes ist der Schwerpunkt der »modernen« Medizin – schon nach rund hundert Jahren manchmal ziemlich ratlos ist. Naturheilkundliche Therapien haben das Ziel, die Selbstheilungskräfte der Patienten zu stärken. Wenn das gelingt und es den Kranken besser geht, bezeichnen das viele meiner Kollegen herablassend als Placeboeffekt – und sie meinen damit, es handele sich um »Einbildung«. Nur weil den Patienten etwas gelungen ist, was die technische Medizin selbst nicht geschafft hat. Das ist typisch für eine Medizin, die allein auf Krankheiten schaut, aber nicht genügend auf die Menschen, die sie erleiden.
Bei uns in der Familie standen nie die Krankheiten im Mittelpunkt, sondern immer die Ressourcen der Patienten. Das fing bei meinem Großvater an, der als praktischer Arzt eine Praxis in Bad Wörishofen hatte, dem Ort im bayerischen Schwaben, an dem Sebastian Kneipp (1821–1897) die Hydrotherapie berühmt gemacht hatte. Schon damals, in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts, hatten sich Menschen durch die Folgen der Industrialisierung und der größer und enger werdenden Städte körperlich überfordert und krank gefühlt. Der »Wasserpfarrer« zeigte ihnen, was sie selbst tun konnten, um wieder ein inneres Gleichgewicht und mehr Gesundheit zu finden. Sein Vertrauen in die Selbstheilungskräfte – heute würde man sagen, in die körperlichen und seelischen Ressourcen – der Patienten hatte meinen Großvater so sehr fasziniert, dass er beschloss, Arzt zu werden.
Sein Sohn, Peter Michalsen, setzte die Tradition fort. Nach seiner Ausbildung in Würzburg, Wörishofen und seiner Klinikzeit am damals für seine Förderung der Naturheilkunde und Homöopathie bekannten Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart wurde mein Vater zu einem der ersten Ärzte in Württemberg, der die offizielle, von der Ärztekammer vergebene Zusatzbezeichnung »Naturheilverfahren« erwarb. Außerdem erhielt er als Erster die Befugnis, andere Ärzte in diesem Bereich weiterzubilden. Er war, kann ich nur stolz sagen, ein Pionier. Als »überzeugter Anhänger von Naturheilverfahren«, wie es heute auf der Webseite des Kneippvereins Bad Waldsee heißt, wurde er 1955 der »Badearzt« in dem nicht weit vom Bodensee gelegenen kleinen Kurort. Sechs Jahre später wurde ich dort geboren.
Als kleines Kind fand ich es toll, dass es bei uns zu Hause Fußbadewannen fürs Kneippen gab und einen Schlauch, mit dem man unter der Dusche kalte Güsse machen konnte. Nicht so toll fand ich, dass ich mit sieben Jahren trotz aller »Abhärtung« an einer hartnäckigen Bronchitis erkrankte. Die Naturheilmittel zu Hause reichten nicht aus, und mein Vater verfrachtete mich an die Nordsee, auf die Insel Sylt, wo ich in einer Heilanstalt jeden Tag Salzwasserinhalationen bekam, mit Salzwasser gurgeln und sogar ein kleines Glas Salzwasser trinken musste. Am schlimmsten waren für mich als Kind die Meerwasser-Nasenspülungen – furchtbar. Aber die Bronchitis verschwand. Das war die erste naturheilkundliche »Umstimmung«, die ich am eigenen Leib erfuhr.
Meine erste naturheilkundliche »Umstimmung« brachte mir das Reizklima der Nordsee.
Immer freitags machte mein Vater einen Haferschleim- oder Weizenkeimtag und aß nichts anderes. Mittags saß er mit uns am Tisch und erzählte viel von seinen Patienten, wer woran litt und was er tat, um zu helfen. Das hat mich sehr beeindruckt und geprägt, vor allem die Tatsache, dass hinter den Diagnosen ganz unterschiedliche Lebensgeschichten steckten, denen mein Vater in seinen Gesprächen mit den Patienten nachforschte und die seine Therapien beeinflussten.
Trotz vieler Erfolge – und in Bad Waldsee wird vom dortigen Kneippverein noch heute liebevoll an seine Arbeit gedacht – musste mein Vater sehr kämpfen. Die anderen Ärzte rümpften die Nase und gaben oft zu verstehen, dass sie das, »was er da mache«, für puren Unsinn hielten. Bad Waldsee war eine Kleinstadt mit 10000 Einwohnern, und damals luden sich die Ärzte gegenseitig von Zeit zu Zeit ein. Alle paar Monate also kamen sie zu uns, alles »beinharte Schulmediziner«, und ich erinnere mich, dass mein Vater manchmal Mühe hatte, die Fassung zu bewahren, weil sie ihn nicht wirklich ernst nahmen. Er fühlte sich immer aufgefordert, zu beweisen, dass auch er ein »richtiger« Mediziner war. Vielleicht waren die lieben Kollegen aber nur ein wenig neidisch, denn von den Patienten bekam mein Vater große Anerkennung. Viele Patienten reisten sogar von weit her an, um sich mit seinen Naturheilmethoden behandeln zu lassen. Meine Mutter hatte die Hände voll zu tun, ihn bei der Organisation zu unterstützen.
Die Patienten suchen nach individueller Zuwendung der Medizin, ganzheitlicher Betrachtung, Verständnis und Kommunikation.
An diesem Missverhältnis hat sich bis heute nicht viel verändert: Die Nachfrage und der Wunsch der Patienten nach Naturheilkunde standen lange im umgekehrten Verhältnis zur Anerkennung der medizinischen Kollegen. Als ich 2006 an der Universität Duisburg-Essen habilitierte, also meine universitäre Lehrbefähigung als Privatdozent erwarb, schrieb der frühere Dekan der medizinischen Fakultät noch einen Brief an alle Fakultätsmitglieder, die über meinen Lehrauftrag zu befinden hatten: »Ich entnehme dem Protokoll mit Erstaunen, dass der Fachbereichsrat der Eröffnung des Habilitationsverfahrens von Herrn Dr. Andreas Michalsen zugestimmt hat. Der Kollege stammt aus der ›Klinik für Naturheilkunde und integrative Medizin‹ – hat sich die Fakultät kundig gemacht, was dort eigentlich betrieben wird? Ich wünschte, dass meine alte Fakultät sich der Problematik dieser Außenseitermedizin bewusst ist und sie nicht durch Einbindung akademisch aufwertet.« Es fielen auch Ausdrücke wie »tönende Phraseologie« oder »Scharlatanerie«. Aber: Der Wind hat sich gedreht: Heute findet die Naturheilkunde auch an renommierten Universitätskliniken wie der Charité Anerkennung.
Zuerst hatte ich ja Volkswirtschaft und Philosophie studiert – die Frage nach dem Warum, den größeren Zusammenhang der Dinge zu begreifen, das hat mich schon immer beschäftigt und nie losgelassen. Aber im Gegensatz zu anderen Fächern schien die Medizin etwas, wo man die Theorie unmittelbar in ein Tun umsetzen konnte, ganz praktisch. Und wie viele junge Menschen, die Arzt werden wollen oder in einen sozialen Beruf streben, wollte ich gerne anderen »helfen«. Aber vielleicht hatte mich doch einfach auch die Familientradition voll im Griff, jedenfalls endete ich immer wieder in den Biologie-Vorlesungen und stellte fest, dass ich mich dort viel wohler fühlte. Also doch Medizin.
Der menschliche Körper aktiviert in jeder Sekunde seine Zellen zur Selbstreparatur.
Die Ignoranz gegenüber der Naturheilkunde habe ich schon als Student womöglich mit einer gewissen Arroganz quittiert – ich hatte durch mein Zuhause ja real einiges erfahren, mir war klar, wovon meine Professoren und Lehrer letztlich keine Ahnung hatten. Durch diese Einstellung habe ich mir bis heute meine innere Unabhängigkeit bewahrt. Außerdem hatte ich Jean-Jacques Rousseau gelesen und Hermann Hesse, Adalbert Stifter und Henry David Thoreau, Bücher über die Reformbewegungen, die in der Natur die Richtschnur für ein gutes und gesundes Leben sahen. Diese sicher romantischen Vorstellungen haben mich jedenfalls viel mehr beeinflusst als René Descartes, dessen Mensch-Maschine-Modell mir – wie vielen anderen Naturheilkundlern – kein geeignetes Abbild des unglaublich komplexen und um sich selbst kümmernden Körpers schien. Zumindest habe ich es bis jetzt nicht erlebt, dass sich ein Auto oder ein Fahrrad selbst reparieren kann – im Gegensatz zum menschlichen Körper, der in jeder Sekunde unzählige Selbstreparaturmechanismen in einer unglaublichen Komplexität gezielt steuert.
Zu Hause hatte ich also gesehen, welche Kämpfe mein Vater mitunter zu kämpfen hatte, aber ich erinnere mich auch noch gut an die Blumensträuße und Pralinenschachteln, die dankbare Patienten bei uns abgaben. Mir wurde vor Augen geführt, dass die Naturheilkunde eine wirksame Medizin ist – sie aber nicht die Anerkennung bekam, die ihr eigentlich zustand. Das hat vielleicht auch den Kampfgeist in mir geweckt, den Trotz und den Widerspruchsgeist.
Ärger und Angst machen die Arterien eng – die Blutgerinnung wird gefördert, was gefährliche Gerinnsel auslösen kann.
Inzwischen hat sich die Medizin weiterentwickelt und verändert, gerade die Molekularbiologie hat überraschenderweise den Blick geweitet. Aber damals, in den Achtzigerjahren, als ich studierte, war das Weltbild der Wissenschaftler noch extrem mechanistisch. Heute wirkt das geradezu absurd. Ich erinnere mich beispielsweise, wie ich in der wöchentlichen Fortbildungsrunde während meiner Ausbildung zum Internisten eine Studie vorstellte, wonach psychischer Stress einen Herzinfarkt auslösen kann. Als Ergebnis wurde ich ausgelacht: »Wie stellen Sie sich das denn vor, Michalsen?«, wurde demonstrativ spöttisch gefragt. »Der Ärger macht dann ein Blutgerinnsel, oder wie soll das gehen?« Seitdem ist durch unzählige Studien belegt, dass Ärger und Angst tatsächlich die Arterien eng machen, die Blutgerinnung und damit die gefährlichen Gerinnsel, die einem Herzinfarkt zugrunde liegen, mit auslösen können.
Als ich Mediziner wurde, wandelte sich gerade die sogenannte eminenzbasierte in die evidenzbasierte Medizin – eine Forderung, die von dem Kanadier David Sackett aufgestellt worden war und die sich dann international durchsetzte. Eben noch hatte der »Halbgott« Arzt, die Eminenz, das tun können, was er selbst für richtig hielt (und hatte es in eigenen Lehrbüchern verbreitet). Plötzlich aber wurde von ihm verlangt, durch Studien und gut und systematisch dokumentierte klinische Praxis zu beweisen, dass seine Therapien auch wirklich halfen. Einerseits hat das mehr Rationalität in ärztliches Handeln gebracht, andererseits aber dazu geführt, dass die Medizin ganz einfache Erkenntnisse und Weisheiten zu ignorieren begann, wenn denn keine Studie dazu vorlag. Zum Beispiel die Tatsache, dass man mit warmen Füßen besser einschläft als mit kalten. Eigentlich wusste auch jeder Arzt aus der Praxis, dass Trauer oder Ärger ein »gebrochenes Herz« machen können, aber weil man den Mechanismus nicht erklären konnte, hat man diese Erfahrungen einfach ignoriert. Später wurde zudem klar, dass vor allem das erforscht wird, wo es einen »Return on Investment« gibt, also patentierbare Medikamente. Mit heißen Fußbädern oder Fasten lässt sich wenig Geld verdienen, also ist es entsprechend schwer, eine Studienfinanzierung zu bekommen.
Kranke Menschen nehmen oft viel zu viele Medikamente ein. Es ist immer zu prüfen, welchen Nutzen jede Pille wirklich hat.
Mein damaliger Chef Walter Thimme war allerdings immer offen für neue Erkenntnisse. Er war ein sehr erfahrener und auch sehr wissenschaftsorientierter Professor, der bei der Visite die Behandlung jedes Patienten zur Prüfung machte. Außerdem war er einer der Herausgeber der pharmakritischen Zeitung Der Arzneimittelbrief und brachte mir bei, dass vor allem chronisch erkrankte Menschen viel zu viele Medikamente nehmen und immer zu prüfen ist, welchen Nutzen der Patient von jeder einzelnen Pille wirklich hat. Wir hatten sehr konstruktive Auseinandersetzungen, und immer öfter ist er auf meine Argumente eingegangen, hat sie kritisch kommentiert und dann vorgeschlagen: »Schreiben Sie doch mal einen Artikel über…« So konnte ich die Wirkung von Heilpflanzen oder die Rolle der Ernährung schildern. Zu seiner Verabschiedung 2001 bat er mich, einen Vortrag über Komplementärmedizin in der Kardiologie zu halten. Das waren sehr positive Erfahrungen im Diskurs mit der Schulmedizin. Sie haben mich überzeugt, dass wir auf einem guten Weg sind und es sich lohnt, mit der Naturheilkunde weiterzumachen.
In meinem Studium gab es niemanden, der wie ich aus einem traditionellen naturheilkundlichen Haus kam, aber wir hatten eine Arbeitsgruppe, in der wir uns mit der Arbeit von Viktor von Weizsäcker befassten, einem Onkel von Richard von Weizsäcker und Mitbegründer der psychosomatischen Medizin. Er vertrat einen anthropologisch-biografischen Ansatz der Anamnese – es ging ihm darum, den Menschen in seinem gesamten Lebensentwurf zu erfassen, wenn es um seine Behandlung geht. Diese Arbeitsgruppe war eine bunte Mischung aus angehenden Internisten, Neurologen und Psychiatern – mit einigen halte ich heute noch engen Kontakt; alles Menschen, die bemüht waren, das Ganze und nicht nur die Teile zu sehen.
Traditionelles Wissen und moderne Medizin müssen kein Gegensatz sein, sondern ergänzen sich idealerweise.
Außerdem hatte ich auch immer schon die Vorstellung, dass traditionelles Wissen und die moderne Medizin kein Gegensatz sein müssen, sondern sich idealerweise ergänzen. Die internistisch-kardiologische Abteilung, in der ich im Humboldt-Klinikum Berlin gelernt habe, war riesig – 120 Betten, Notarztwagen, Intensivstation – und faszinierend, mit all den Möglichkeiten, die die Medizin bot. Gleichzeitig hatte unser Professor einen hohen wissenschaftlichen Anspruch, jeden Montag mussten wir die neuesten relevanten Aufsätze aus dem New England Journal of Medicine gelesen haben und in der Konferenz diskutieren. Diesen wissenschaftlichen Anspruch fand ich wunderbar. In unserer Abteilung wurde eine sehr anspruchsvolle Schulmedizin, aber gleichzeitig auch reduzierte Medizin praktiziert – nicht alle, die ASS als Blutverdünner nahmen, bekamen gleich noch ein Magenmittel aufs Auge gedrückt. Und nicht jeder mit Brustschmerzen wurde sofort ins Herzkatheterlabor einbestellt. Stattdessen wurde wissenschaftlich objektiv argumentiert, aber individuell, subjektiv überprüft.
Leider hat sich die Kardiologie von diesen sachlichen Standards weit entfernt. Weil die Kliniken Geld damit machen, werden in Deutschland heute schnell Herzkatheter geschoben, etwa 900000 pro Jahr. Dabei werden pro 100000Einwohner inzwischen mehr als 450Eingriffe mit Stenteinlage in den Herzkranzgefäßen vorgenommen. In anderen Ländern in Europa geschieht dies nur 258-mal. Parallel nimmt die Anzahl der Herzkatheter-Labore in Deutschland Jahr für Jahr zu. Werden wir Deutsche vielleicht besser versorgt als in vergleichbaren Ländern? Nicht in diesem Punkt – denn die Statistik zeigt auch, dass die Lebenserwartung durch einen Kathetereingriff im statistischen Mittel nicht unbedingt steigt. Bei einem akuten Herzanfall kann die Weitung eines Herzkranzgefäßes Leben retten – aber nicht, wenn sie, wie so häufig, »prophylaktisch« bei chronischen stabilen Gefäßverengungen durchgeführt wird. Eine Gruppe deutscher Kardiologen machte 2020 im Deutschen Ärzteblatt endlich auf diesen Missstand aufmerksam und formulierte, dass diese Praxis bis auf wenige Ausnahmen für den Patienten nachteilig ist. Warum also wird dieser Eingriff gemacht, der den Patienten zudem suggeriert, ihre Blutgefäße ließen sich reparieren wie andere Leitungen auch und sie müssten nichts an ihren Belastungsfaktoren ändern? Das Geld, das die Krankenkassen dafür ausgeben, wäre an anderer Stelle viel sinnvoller eingesetzt.
Jeder Patient sucht für sich nach einem Grund, warum es ihm schlechtgeht. Darüber wird ineinem normalen Arztgespräch meist nicht gesprochen.
Auf der kardiologischen Intensivstation und im Katheterlabor lernte ich schon als junger Arzt, Fragen wie diese zu stellen: Welche therapeutische Konsequenz hat eine Behandlung für einen Patienten? Das ist keine selbstverständliche Frage, denn die spezialisierte Hochleistungsmedizin kümmert sich in erster Linie um die Beseitigung aktueller Symptome. Ob der Mensch von einer Behandlung mittel- oder längerfristig profitiert, steht nicht im Fokus.
Viel lernte ich auch in der »Schleuse«, in der die Patienten nach dem Katheterisieren noch etwa zehn bis fünfzehn Minuten lagen. Es war üblich, dass der den Herzkatheter legende Arzt nach dem Entfernen des Gefäßschlauchs noch jene zehn bis fünfzehn Minuten persönlich die Arterie in der Leiste abdrückte, damit es später nicht zu Blutungen kam. Die Patienten waren glücklich, dass sie den Eingriff unbeschadet überstanden hatten, und froh, mit jemandem reden zu können. Meistens habe ich sie gefragt, was sie denn selbst dachten, warum sie Herzprobleme hätten – man nennt das »subjektive Krankheitseinschätzung«. Jeder Mensch sucht für sich nach einem Grund, warum es ihm schlechtgeht: »Ich hatte viel Stress«, »Ich bin schon länger arbeitslos«, »Das liegt bei uns in der Familie« oder Ähnliches. Auch wenn solche Einschätzungen aus medizinischer Sicht oft nur zum Teil richtig sind, dennoch kommen dabei bedeutsame Details heraus, über die in einem normalen Arztgespräch, in dem der Patient vor allem zuhören muss, nie gesprochen worden wäre.
Vor meiner Lehrzeit in der Kardiologie hatte ich an der Freien Universität Berlin als Assistent am Lehrstuhl für Naturheilkunde gearbeitet. Der Lehrstuhlinhaber war Malte Bühring, der sich als Mediziner damals schon für die Integration der traditionellen Heilkunden in die Schulmedizin einsetzte und den vorherrschenden Streit, der selbst die Naturheilkundler separierte, aus tiefstem Herzen ablehnte. An eine seiner Vorlesungen erinnere ich mich noch besonders deutlich. Er erzählte von einer Studie, veröffentlicht in einem hochrangigen Journal, in der beschrieben wurde, dass Menschen, die eine sehr tiefe Ohrläppchenfalte haben, eher zu Herzkrankheiten neigen. Das war Anästhesiepflegern aufgefallen, die während einer OP zum Teil über Stunden auf den Kopf von Patienten fokussiert sind. Menschen, die herzkrank sind, haben aber nicht nur abweichende Ohrmerkmale, sondern oft auch Rückenschmerzen, Verspannungen im Brustwirbelbereich oder Schmerzen an den Rippen, die das Herz schützen. Alle diese Areale werden von denselben aus der Brustwirbelsäule austretenden Nerven versorgt. Ebenso ist die Zunge bei Patienten mit Herzbeschwerden oder Bluthochdruck häufig farblich verändert: Sie ist an der Spitze rot oder trägt kleine rote Punkte auf der Oberfläche. Das ist in der Traditionellen Chinesischen wie in der indischen Ayurveda-Medizin nur zu gut bekannt.
Schon ab drei Medikamenten haben wir im Prinzip keine Ahnung mehr, zu welchen Wechselwirkungen es dadurch kommt.
In der Kardiologie habe ich später immer wieder versucht, mein Wissen aus der Naturheilkunde einzubringen und die Patienten von der häufig übertriebenen Pharmakomedizin wegzubringen. Von Walter Thimme, meinem arzneimittelkritischen Chef am Humboldt-Klinikum, wurde ich darin bestärkt. Gerade ältere Menschen schlucken durchschnittlich täglich acht bis zehn unterschiedliche Präparate für chronische Krankheiten. Schon ab drei Medikamenten haben wir im Prinzip keine Ahnung mehr, zu welchen Wechselwirkungen es dadurch kommt.
Aus Umfragen wissen wir heute, dass es vor allem die Angst vor Nebenwirkungen von Medikamenten ist, die viele Patienten veranlasst, sich für Naturheilkunde zu interessieren. Die meisten Menschen sehen diese Welten nicht getrennt, sondern möchten am liebsten eine Kombination aus der molekularbiologischen Medizin und den ganzheitlichen Heiltraditionen (High Tech/High Touch), die die persönlichen Ressourcen einer Person im Blick haben. Denn sie wollen selbst etwas tun, damit es ihnen besser geht – aber sie wissen nicht, was sie selbst beitragen können.
Die Angst vor Nebenwirkungen von Medikamenten ist es, die viele Patienten veranlasst, sich für die Naturheilkunde zu interessieren.
Es stimmt: Medikamente haben die großen Infektionskrankheiten als Killer weitgehend besiegt. Viel Leid konnte zum Beispiel in der Kardiologie, Rheumatologie und anderen Fächern gelindert werden. Auch haben die diagnostischen Möglichkeiten der modernen Wissenschaft und Technik mit dazu beigetragen, dass wir eine Menge über unseren Körper gelernt haben. Doch dass sich die Lebenserwartung in den vergangenen 150 Jahren bei uns in Europa fast verdoppelt hat, geht zum größten Teil auf verbesserte Hygiene, frische Lebensmittel, eine lange Phase ohne Kriege und einen steigenden Wohlstand zurück. Und natürlich auf die gute Akut- und Unfallmedizin, die zum Beispiel die Risiken, bei einem Unfall an einem Herzinfarkt oder Schlaganfall zu sterben, deutlich verringert hat.
Der Preis, den wir für diesen Fortschritt zahlen, sind allerdings die chronischen Krankheiten. Sie sind eine Folge der längeren Lebenserwartung, unseres hektischen und ungesunden Lebensstils, aber sicher ebenso der Überdiagnostik und Falschmedikamentierung, die in allen wohlhabenderen Medizinsystemen einen Teil des Fortschritts wieder zunichtemacht. Arthrose, Demenz, Schmerzsyndrome, Diabetes und Krebs sind in dieser Fülle eine völlig neue Herausforderung für die Medizin.
In den konkreten therapeutischen Strategien spiegelt sich diese dramatische Dimension aber noch nicht wider. Die Schulmedizin behandelt weiter die Symptome statt den chronisch Erkrankten: Deshalb stehen auf den Frühstückstischen vieler Menschen immer noch die Tablettenspender mit den acht oder zehn bunten Pillen.
Chronische Krankheiten sind der Preis für unser modernes Leben, nicht selten resultieren sie aus Falschmedikamentierung.
Malte Bühring zeigte in seinen Vorlesungen sehr anschaulich, was es bringen kann, wenn ein Mediziner den ganzen Mensch im Blick hat. Gleichzeitig war er das, was man heute einen »integrativen« Mediziner nennen würde: Naturheilkunde war für ihn keine Alternative zur modernen Medizin, sondern eine sinnvolle Ergänzung. Damals, 1989, war sein Lehrstuhl, den ich heute innehabe, die erste wissenschaftliche Institution dieser Art nach dem Krieg. Doch die wissenschaftliche Basis des Fachs Naturheilkunde ließ Anfang der Neunzigerjahre noch sehr zu wünschen übrig. Dass die Naturheilkunde, die bis dahin vor allem eine Erfahrungsheilkunde war, plötzlich Wissenschaft auf Englisch publizieren sollte, hielten manche ihrer Vertreter für ein lästiges Übergangsphänomen. Die meisten wissenschaftlichen Artikel zur Naturheilkunde waren in Deutsch geschrieben, die Schulmediziner publizierten überwiegend schon damals in Englisch. Die einzelnen Schulen der Naturheilkunde waren zudem untereinander zerstritten, da wurden eher Ideologien gepflegt als der freie Meinungsaustausch. Bühring selbst hatte den Ehrgeiz, der Humoralpathologie mit ihrer Säftelehre zur Erklärung körperlicher Vorgänge, die die antiken griechischen und römischen Ärzte etablierten, wieder zu ihrem Recht zu verhelfen – bei den Visiten wurde reichlich darüber diskutiert, was die Patienten essen sollten und welche Lebensmittel »kühlend« oder »erhitzend« wirkten. Mich hatte das nie überzeugt, denn im Gegensatz zur Traditionellen Chinesischen oder ayurvedischen Medizin ist das, was wir an Überlieferung aus der europäischen Antike hatten, relativ grob und ungenau.
Ich habe gelernt, keiner Information zu glauben, deren Quelle ich nicht selbst recherchiert habe.
Dass ich bis zum Professor durchgehalten habe und heute selbst unterrichte, daran ist einer meiner Schullehrer schuld. Er hatte mir – noch im Gymnasium und im Geschichtsunterricht – beigebracht, keiner Information zu glauben, deren Quelle ich nicht selbst recherchiert hatte. Während andere Lehrer uns zwangen, Bücher auswendig zu lernen, wollte er, dass man Wissen kritisch hinterfragte. Ich verbrachte also schon als Schüler viel Zeit in Bibliotheken, um nach Originalquellen zu suchen. Mein erster Buchbeitrag wurde dann eine historische Beschreibung der Hexenverbrennungen im mittelalterlichen Bad Waldsee. Ich war fasziniert davon, die Urteile der »Richter« über die »Ketzer« im Original zu lesen – und davon, dass Menschen damals von etwas absolut und mörderisch überzeugt waren, das aus heutiger Sicht völlig absurd anmutet. Frauen, die sich in Pflanzenheilkunde auskannten, wurden nicht selten als Hexen gebrandmarkt, unter anderem zum Beispiel die Mutter von Johannes Kepler, dem berühmten Astronomen. Sie war in Württemberg angeklagt worden und starb 1622 an den Folgen einer Kerkerhaft.
Die Hexenprozesse waren ein Beispiel dafür, wie stark die Psyche Menschen beherrschen konnte, etwas, was mir später auch immer wieder in der Medizin begegnen sollte. Gleichzeitig lernte ich, dass es unterschiedliche Perspektiven gab, unter denen man einen Tatbestand sehen konnte. Das war wie in der Naturheilkunde, die neben der biochemischen Erklärung für ein Symptom noch andere Ebenen betrachtet, etwa die Konstitution, die Psyche, die Biografie oder den Lebensstil. Solche Vielfalt der Bezüge wird in der modernen Medizin leider völlig vernachlässigt. Geschichte oder Philosophie kommen in der Ausbildung nicht vor, und später führt die starke Spezialisierung dazu, dass die wenigsten Ärzte Fakten oder Forschung außerhalb ihres eigenen Fachgebiets kennen.
Heute muss auch die Naturheilkunde »Evidenz« nachweisen – allerdings ist das nicht in jedem Fall leicht, weil das Geld von potenten Pharmafirmen dazu fehlt. In Deutschland werden etwa 90Prozent der Forschung von der Industrie finanziert, und die interessiert sich wenig für Naturheilkunde, an der sich kaum etwas verdienen lässt. In den USA hingegen gibt es ein Institut im Rahmen der staatlichen Gesundheitsbehörde NIH, das sich eigens um Qualitätssicherung und Forschung im Bereich der Komplementärmedizin bemüht. Dieser Bereich erhält jährlich rund 250 Millionen US-Dollar für Forschung aus öffentlichen Mitteln. Die entsprechende Forschung in Deutschland ist dagegen zum größten Teil auf Stiftungen angewiesen, wie etwa die Karl und Veronica Carstens-Stiftung, deren Vorstandsvorsitzender ich heute bin. Die Frau des ehemaligen Bundespräsidenten, selbst Ärztin, setzte stets mit großer Freundlichkeit, beeindruckender Klarheit und sehr vehement durch, was sie in der Medizin für unterstützenswert und zu wenig beachtet hielt. Sie ist ein großes Vorbild.
So viel ich auch gelernt hatte und bereits erfolgreich anwenden konnte, blieb trotzdem manchmal eine gewisse Unzufriedenheit: Die Naturheilkunde bot noch wenig wissenschaftlichen Anreiz, und in der Kardiologie wollte ich nicht weiter bleiben, weil das übliche Vorgehen, das ständige Hantieren mit Kathetern und Stents, die damals gerade groß in Mode kamen, mich nicht überzeugte. Ja, dachte ich, wenn ich einmal einen Herzinfarkt habe, dann möchte ich bitte auch einen Stent – und bitte schnell –, aber ich möchte diese Dinger nicht den ganzen Tag und den Rest meines Lebens in gekachelten fensterlosen Räumen unter Röntgenschirmen selber setzen müssen. Doch ich habe Freunde, für die diese wirkungsvolle Technik bis heute nichts von ihrer Faszination verlorenhat.
Da passte es gut, dass man mir 1999 im sächsischen Bad Elster in einer neu gegründeten und innovativ ausgerichteten Spezialklinik für chronische Erkrankungen eine Stelle als leitender Oberarzt anbot. Neuer Chefarzt dort war Gustav Dobos, einer der Pioniere der modernen Integrativen Medizin in Deutschland, ein Nephrologe und Intensivmediziner, der einige Zeit in China verbracht hatte und dort einen tiefen Einblick in die Traditionelle Chinesische Medizin gewinnen konnte. Er war sehr offen und interessiert an der Naturheilkunde, und war habilitiert – ihm fehlte jedoch ein sachkundiges Team, um seine Vorstellungen umzusetzen. Dieter Melchart, der später Lehrstuhlinhaber für Naturheilkunde an der Technischen Universität München wurde, war der wissenschaftliche Leiter. Plötzlich kristallisierte sich in Bad Elster, am äußersten Rand der Republik, ein interdisziplinäres Team heraus, das alles, was ich bis dahin gesehen und gelernt hatte, in eine moderne Therapiestruktur goss. In ihrem Mittelpunkt standen der Patient und seine Fähigkeit, selbst aktiv zu seiner Gesundung beizutragen – ein Konzept, wie es in dieser Geschlossenheit in Deutschland zuvor noch keines gegeben hatte.
Schon nach etwas mehr als einem Jahr präsentierte uns Gustav Dobos ein sehr vielversprechendes neues Projekt – eine Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin an den Kliniken Essen-Mitte, eine Modelleinrichtung des Landes Nordrhein-Westfalen mit dem Schwerpunkt der Behandlung schwer chronisch Erkrankter. Die Herausforderung war so interessant, dass ihm fast das gesamte Kernteam aus Bad Elster ins Ruhrgebiet folgte.
Die Zeit in Essen war eine echte Pionierphase – sie war aufregend und unglaublich kreativ. Wir waren ein Dream-Team, was unsere Fähigkeiten und Mentalitäten betraf. Prägend war vor allem eine gemeinsame Ausbildung an der Harvard Medical School bei Herbert Benson, einem US-amerikanischen Kardiologen, der schon seit vielen Jahren systematisch Methoden zur Stressminderung entwickelt und wissenschaftlich untersucht hatte. Wenig später hatten wir Jon Kabat-Zinn zu Gast, einen Molekularbiologen aus den USA und Erfinder eines meditationsbasierten Anti-Stress-Programms, der Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR). Heute ist Kabat-Zinn ein Star, sein Meditationsprogramm ist nicht nur weltweit in der Medizin, sondern auch in Psychologie und Wirtschaft etabliert.
All das waren besondere Menschen, die einen völlig anderen Blick auf die Heilkunde warfen. Wir suchten nach den Wurzeln der Gesundheit und der Widerstandskräfte und nicht nach den Krankheiten. Und trotz anfänglicher Anfeindungen von Gegnern der Naturheilkunde war die Klinik auch rasch erfolgreich. Ich wurde Oberarzt in Essen und begann, an meiner Habilitation zu arbeiten. Das Thema: »Lebensstilveränderungen bei Herz-Kreislauf-Krankheiten«. Als Malte Bühring dann aus gesundheitlichen Gründen frühzeitig in den Ruhestand ging, sah es zunächst so aus, als würde der Lehrstuhl in Berlin nicht mehr neu besetzt werden, und den neu geschaffenen Lehrstuhl in Duisburg-Essen hatte in der Zwischenzeit Gustav Dobos verdient erhalten. Aber dann gelang es dem Humanmediziner Stefan Willich, nicht nur die eine historische, sondern noch zwei neue Professuren für Naturheilkunde zu installieren. Die Charité wurde wieder zur Keimzelle der Naturheilkunde.
2009 erhielt ich den Ruf auf die Stiftungsprofessur für klinische Naturheilkunde der Charité und wurde Chefarzt der Abteilung für Naturheilkunde am Berliner Immanuel Krankenhaus, einer Spezialklinik für chronische und rheumatische Erkrankungen, die einst auch Malte Bühring geleitet hatte. Dort traf ich auf Rainer Stange, den Komissarischen Leiter der Abteilung, und zusammen bildeten wir ein schlagkräftiges Team. Heute haben wir dort 60 stationäre Betten, eine Hochschulambulanz für Naturheilkunde der Charité sowie eine Tagesklinik, in der spezialisierte Therapeuten und Psychologen gemeinsam mit den Ärzten Stressreduktion, Meditation, Bewegung, Ernährung und naturheilkundliche Selbsthilfe in einem intensiven Schulungsprogramm für chronisch Erkranktevermitteln.
Wir suchen nach den Wurzeln der Gesundheit und den Widerstandskräften der Patienten, nicht nach den Krankheiten.
Im Rahmen meiner Professur konnte ich mir zudem einen Traum erfüllen und zusammen mit meinem Oberarzt Christian Kessler eine Forschungsabteilung für Ayurvedische Medizin eröffnen. Viele der heute bedeutenden Naturheilmethoden haben ihren Ursprung in Indien: Ayurveda, Yoga, Meditation. Ich meditiere schon seit vielen Jahren, und in Essen hatte ich mit Yoga begonnen. Doch nach Indien kam ich erst 2006. Ich muss sagen: Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich fühlte mich sofort zu Hause, trotz der vielen Unwägbarkeiten und Andersartigkeiten, die Indien nun mal so mit sich bringt. Heute arbeiten in meiner Abteilung Indologen und Ärzte mit Ayurveda-Ausbildung, Ayurveda-Therapeuten und Yoga-Lehrer Hand in Hand. Stolz bin ich auch darauf, dass wir als erste medizinisch-wissenschaftliche Institution in Deutschland im Rahmen einer Forschungskooperation eine finanzielle Förderung von der indischen Regierung bekommen haben, um die bislang größte Studie zur Wirksamkeit von Ayurveda außerhalb Indiens durchzuführen. Dabei half wohl auch unser Berliner Standort: Die damals zuständige Ministerin jedenfalls fing bei unserem Gespräch in Delhi plötzlich an, von der Charité zu schwärmen: »Die gehört doch zur Humboldt-Universität? Die haben die beste Indologie der Welt!« Und wir hatten die Forschungsfinanzierung für die große Ayurveda-Studie.
