Heiliger Krieg oder Friede auf Erden - Hermann-Josef Frisch - E-Book

Heiliger Krieg oder Friede auf Erden E-Book

Hermann-Josef Frisch

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Beschreibung

Sind die Religionen Ursache von Krieg und Terror? Die Heiligen Schriften der Religionen ebenso wie ihre Praxis sind oftmals höchst irritierend. Die Spannbreite ihrer Botschaften reicht von brutalen Aufforderungen zur Gewalt bis hin zur Feindesliebe. Das Buch benennt das vielschichtige Problem, erkundet Ursachen der religiösen Gewalt und zeigt Perspektiven auf, wie sie überwunden werden kann. Der Band gliedert sich in drei Schritte: Sehen: Ein erster Schritt blickt auf die Realität, auf das, was ist: Von der Realität der Gewalt und der Liebe in den Religionen. Es werden Christentum, Islam, Judentum, Hinduismus und Buddhismus behandelt. Urteilen: Ein zweiter Schritt ist ein beurteilender Blick auf die Gründe von religiös begründeter Gewalt: Von den Ursachen der Gewalt im Kontrast zur Botschaft der Religionen. Genannt werden: Aggressivität, Angst, Abgrenzung und Ausgrenzung, Macht vom Himmel, Entwicklungsverweigerung; zudem wird auf die Darstellung von Gewalt in den Heiligen Schriften der Religionen (etwa Bibel, Koran) geblickt. Handeln: Und schließlich als Abschluss ein Blick auf das, was wir tun können, was erforderlich ist: Von der Überwindung der Gewalt durch den Dialog der Religionen. Ausgehend von sieben Friedensnobelpreisträgern wird ein tieferer Dialog der Relgionen gefordert; dabei ist die Frage nach dem Gottesbild zentral. Konkrete Ermunterungen zu einem Weg des Friedens beschließen den Band.

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Inhalt

Die Religionen gehören abgeschafft

Sehen

Von der Realität der Gewalt ... und der Liebe in den Religionen

Christentum

Islam

Judentum

Hinduismus

Buddhismus

Von der Realität der Liebe in den Religionen

Urteilen

Von den Ursachen der Gewalt ... im Kontrast zur Botschaft der Religionen

Aggressivität

Angst

Abgrenzung und Ausgrenzung

Macht vom Himmel

Entwicklungsverweigerung

Gewalt in den Heiligen Schriften

Handeln

Von der Überwindung der Gewalt ... durch den Dialog der Religionen

Sieben Friedensnobelpreisträger

Der Dialog der Religionen

Die Frage nach Gott

Die Gewalt beherrschen

»Heiliger Krieg oder Friede auf Erden«

Gefährten oder Tod

Die Religionen gehören abgeschafft ...

Die Religionen gehören abgeschafft ... weil sie nur Unheil bringen« – so der englische Musiker Elton John. Er klagte über religiös begründeten Terror, über Gewalt im Namen Gottes an vielen Stellen der Erde.

»Die Religionen gehören abgeschafft, weil sie die Gewalt zwischen Menschen fördern und deshalb wesentlich zum Unfrieden der Welt beitragen« – so denken viele Menschen. Sie tun dies keineswegs immer nur aus Hass gegenüber Gott und den Institutionen, die Menschen im Namen Gottes zusammenführen wie die christlichen Kirchen. Nein, manche sagen dies, weil sie zutiefst besorgt sind über das, was mitten unter uns passiert, was eine Bedrohung von Menschen darstellt, was Leid über die Völker und über viele Einzelne bringt. Sie sind besorgt über Gewalt, die aus dem Schoß der Religionen geboren wird, und zwar in besonderer Weise aus dem Schoß der drei Religionen, deren Ursprung im Vorderen Orient liegt: Christentum und Islam und in anderer Form auch Judentum.

Der 11. September 2001 war ein Fanal, der zweite Irakkrieg war und ist eine blutige Fortsetzung, der religiös geprägte Terror nicht nur im Vorderen Orient und in Nordafrika, sondern zunehmend auch in Europa – in unserer unmittelbaren Nachbarschaft – lässt inzwischen Menschen in allen Völkern zittern.

Was ist los mit den Religionen? Schreiben sie Frieden auf ihre Fahnen, aber bewirken sie Hass und Gewalt? Predigen sie Versöhnung, aber bewirken sie Trennung und Ausgliederung? Heiliger Krieg oder Friede auf Erden – was gilt?

Der Ägyptologe Jan Assmann fragt nach den Gründen für solche Gewalt und findet eine Spur im Ein-Gott-Glauben, der zur Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit führt, damit aber auch zur Ausgrenzung und Verfolgung Andersdenkender. Für ihn ist der Monotheismus, der Glaube an nur einen Gott, eine wesentliche Ursache dafür, dass Menschen zur Gewalt greifen: weil sie die Wahrheit ihres einen Gottes für die einzige und einzig richtige Wahrheit halten und weil sie alle Abweichungen von dieser Wahrheit bekämpfen, ja, ausmerzen wollen.

Für Assmann ergibt sich eine Linie von Mose, dem gewalttätigen Propheten am Beginn der Volkswerdung Israels, bis zu Mohammed, dem gewalttätigen Propheten am Beginn des Islam. Und Christen handeln ebenso wie Juden und Muslime gewalttätig, weil auch sie von der alleinigen Richtigkeit ihrer Religion und ihrer »einzig wahren Kirche« überzeugt sind. Ihre Gewalt können sie zwar in keiner Weise auf ihren Religionsstifter Jesus zurückführen – dies ist anders als bei Mose und Mohammed –, doch zeigt sich in der Christentumsgeschichte ebenso wie in der des Judentums und des Islam eine permanente Gewalt in vielerlei Formen – wir kommen darauf zurück. Führt also, so muss man von Assmann her fragen, der Ein-Gott-Glaube notwendigerweise zu Intoleranz und Gewalt zwischen den Menschen?

Manche forschen genauer nach den Gründen, warum religiös begründete Gewalt die Menschen bewegt. Sie erkennen, dass es immer ein Gemisch von Gründen ist, die zu solcher Gewalt hinführen. Dies sind vorrangig meist keine religiösen Gründe, sondern oft genug wirtschaftliche: Marginalisierung, Erfahrungen von Ausbeutung, Kolonialisierung, wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit, hoher Arbeitslosigkeit, Ausgegrenztsein von den – fragwürdigen – Verheißungen westlichen Wohlstands und überreichen Konsums.

Politische Gründe für Gewalt folgen meist in zweiter Linie; denn es geht um Macht und Einfluss, um willkürlich durch andere Mächte festgelegte Grenzen ohne Rücksicht auf die dort lebenden Völker, wie es vor allem in Afrika und in Asien am Ende der Kolonialzeit der Fall war. Heute geht es um Einflusszonen. War man nach dem Ende des kalten Krieges zwischen dem Westen und dem Ostblock davon überzeugt, dass nun ein Ende von Konflikten und damit auch der spannungsreichen Geschichte der Völker erreicht sei – so der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama in seinem Buch »Das Ende der Geschichte« (1992) –, so zeigt sich nun, dass neue Spannungen und Konflikte entstanden sind, die unermesslich hohe Opferzahlen herbeiführen (wie in Syrien) oder unlösbar erscheinen (wie im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern). Der große Weltkrieg zwischen den Supermächten blieb bislang aus, aber die vielen kleinen, oft unsymmetrischen Kriege nehmen in beunruhigendem Maß zu. Und in 2022 entstand durch den brutalen Angriffskrieg des »orthodox-christlichen« Russlands auf die ebenso »orthodox-christliche« Ukraine eine kaum vorstellbare Katastrophe mitten in Europa. Im Fernen Osten ist es China, das zunehmend Sorge macht, von Nordkorea ganz zu schweigen.

Aber es geht angesichts der zunehmenden Gewalt in unserer Welt auch – und augenscheinlich ebenfalls zunehmend – um Gewalt, die aus religiösen Gründen entsteht. Führt der Glaube an den einen Gott dazu, dass Trennungen, Absonderungen, Ausgrenzungen entstehen und in der Folge davon auch Hass, Gewalt, Krieg und Mord bis hin zum Völkermord? Die schwedische Dichterin Selma Lagerlöf hat nicht nur ein solch wunderbares Kinderbuch geschrieben wie »Die Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen«, sondern sich zeitlebens mit Gut und Böse, mit dem Wesen des Menschen und damit auch mit Fragen der Religion beschäftigt. Sie sagt nach einer Reise nach Jerusalem am Anfang des 20. Jahrhunderts: »Jeder hasst hier die Menschen zum Ruhme seines Gottes!«

Ist das wirklich so? Gibt es Krieg zwischen den Menschen unterschiedlicher Religion, Krieg in den Köpfen und Herzen und immer auch wieder in der Realität? Der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington hat bereits 1996 ein viel diskutiertes Buch geschrieben: »Clash of cultures«, zu deutsch überspitzt nicht »Zusammenprall«, sondern »Kampf der Kulturen« betitelt. Ist dieser Kampf, so können wir heute fragen, religiös bedingt? Und ist er unvermeidlich?

Um solche Fragen wird es in diesem Diskussionsbeitrag gehen, zwangsläufig in einer nicht umfangreichen Schrift vereinfacht und auf wesentliche Gedanken zugespitzt und deshalb angreifbar, weil nicht alle Aspekte differenziert genannt werden können. Aber vielleicht gerade deshalb regen die Gedanken dieses Buches zur Diskussion an. Im Vordergrund stehen zuerst die drei im Vorderen Orient entstandenen Religionen Judentum, Christentum und Islam, dann die weiter östlichen Religionen Hinduismus, Buddhismus. Alle zeigen ein äußerst kompliziertes Bild, denn alle haben ein doppeltes Gesicht:

Religionen bergen Gewaltpotential in sich – die Geschichte der Menschheit ist voller Beispiele dafür.

Religionen bergen Friedenspotential in sich – auch dazu gibt es in der Geschichte der Menschheit ausreichend Beispiele.

Dieser Band ist in die drei bewährten Schritte gegliedert, die aus der Arbeit der CAJ, der Christlichen Arbeiterjugend, stammen:

Sehen

Ein erster Schritt blickt auf die Realität, auf das, was ist:

Von der Realität der Gewalt ...

und der Liebe in den Religionen

Urteilen

Ein zweiter Schritt ist ein beurteilender Blick

auf die Gründe von religiös begründeter Gewalt:

Von den Ursachen der Gewalt ...

im Kontrast zur Botschaft der Religionen

Handeln

Und schließlich als Abschluss ein Blick auf das,

was wir tun können, was erforderlich ist:

Von der Überwindung der Gewalt ...

durch den Dialog der Religionen

Sehen

Von der Realität der Gewalt ... und der Liebe in den Religionen

Papst Benedikt XVI. ging am 12. September 2006 in seiner Vorlesung in Regensburg zum Verhältnis von Glaube und Vernunft in kritischer Weise auf den Islam ein. Seine Äußerung wurde von Vertretern des Islam als »Hasspredigt« qualifiziert; Ayatollah Chamenei, geistliches (und politisches) Oberhaupt Irans, brachte den Papst in Verbindung mit einem »Komplott eines Kreuzzuges gegen den Islam«; aufgebrachte Muslime protestierten überall in der arabischen Welt gegen den Papst.

Was hatte der Papst gesagt, dass es solch aufgebrachte Reaktionen bewirkte? Er hatte in seiner Rede den byzantinischen Kaiser Manuel II. Palaiologos (1350–1425) zitiert, der sich in einem Gespräch mit einem persischen (muslimischen) Gelehrten wie folgt äußerte: »Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten.« Kaiser Manuel – so zitierte Benedikt XVI. weiter, aber dies wurde in der Diskussion meist nicht beachtet – führte weiter aus, dass »Glaubensverbreitung durch Gewalt widersinnig ist. Sie steht im Widerspruch zum Wesen Gottes und zum Wesen der Seele. ›Gott hat kein Gefallen am Blut‹, sagt er, ›und nicht vernunftgemäß zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider‹. Der Glaube ist Frucht der Seele, nicht des Körpers. Wer also jemanden zum Glauben führen will, braucht die Fähigkeit zur guten Rede und ein rechtes Denken, nicht aber Gewalt und Drohung. Um eine vernünftige Seele zu überzeugen, braucht man nicht seinen Arm, nicht Schlagwerkzeuge noch sonst eines der Mittel, durch die man jemanden mit dem Tod bedrohen kann.«

Die Rede des Papstes und die wütenden Reaktionen darauf führten im folgenden Jahr am 13. Oktober 2007 zu einem Offenen Brief von 138 muslimischen Gelehrten aus allen muslimischen Ländern an Papst Benedikt und zudem an 27 weitere Oberhäupter christlicher Konfessionen, besonders der orthodoxen Kirche, aber auch reformierter Kirchen, mit dem Titel »Ein Gemeinsames Wort zwischen Uns und Euch«, in dem sie in beeindruckender Weise auf die Beziehungen zwischen Christentum und Islam eingehen und aus der gemeinsamen Gottesliebe auch den Anspruch zur Nächstenliebe ableiten und dies aus dem Heiligen Schriften des Korans und der Bibel belegen.

Die Gelehrten verweisen am Ende ihres Schreibens darauf, dass der Dialog zwischen den beiden größten Weltreligionen, zwischen Christentum und Islam, für das Überleben der ganzen Welt von höchster Bedeutung ist. Deshalb fordern sie ein gemeinsames Wort dieser beiden Religionen, das aus einem ehrlichen Dialog geboren ist: »So lasst unsere Verschiedenheiten nicht Hass und Unfrieden zwischen uns verursachen. Lasst uns nur in Rechtschaffenheit und guten Werken wettstreiten. Lasst uns einander respektieren, fair, gerecht und freundlich miteinander umgehen und miteinander in ehrlichem Frieden, Harmonie und gegenseitigem Wohlwollen leben.«

In dieser Auseinandersetzung und den Stellungnahmen sind bereits die Handlungsalternativen aufgezeigt, die Religionen haben (gleich, ob man das Wort von Kaiser Manuel zur Inhumanität Mohammeds akzeptiert oder nicht, ich tue es nicht): Es geht – zugespitzt – um die Alternative:

Heiliger Krieg:

Ausbreitung der eigenen Religion durch Gewalt und das Schwert, gewaltsames Durchsetzen der eigenen Auffassung und des eigenen Glaubens und zugleich brutale Unterdrückung anderer Meinungen und Glaubenssichten;

Friede auf Erden:

Dialog zwischen den Religionen und friedliches und harmonisches Zusammenleben zum Wohl aller Menschen, Gerechtigkeit und Fortschritt für alle und gegenseitiges Wohlwollen und gute Werke des Friedens.

Christentum

Betrachten wir die Realität in unserer Welt – und dies ist zuerst eine Realität alltäglich erlebter Gewalt in vielen Formen. Anders als Papst Benedikt XVI. beginnen wir dabei mit einem Blick auf das Christentum und damit auf die Religion der meisten Menschen in Europa (sofern sie sich überhaupt als religiös betrachten). Denn nur wenn man sich selber kritisch sieht, wenn man Fehlverhalten in der eigenen Religion kritisch in Korrelation setzt zu den Richtlinien der eigenen Religion und zu den Ansprüchen des Religionsstifters, gewinnt man im Dialog mit den anderen auch das Recht, Kritisches zum Verhalten anderer zu sagen.

Also: Was ist mit Christen und Gewalt? Wo doch die Botschaft Jesu so eindeutig ist – eine Botschaft der Gewaltlosigkeit und Liebe, die sogar zweitausend Jahre später den gewaltlosen Mahatma Gandhi zutiefst beeindruckt hat, sodass etwa die Bergpredigt zu einer seiner Lieblingslektüren zählte und er sich durch die Haltung Jesu zu Gewalt und Gewaltlosigkeit in seinem eigenen Handeln bestätigt sah.

»Unter diesem Zeichen wirst du siegen«, so erzählt die Legende von Kaiser Konstantin dem Großen (270–337 n. Chr.) und seinem Sieg im Jahr 312 an der Milvischen Brücke nördlich von Rom über seinen Konkurrenten und Mitkaiser Maxentius. Dies war ein Sieg unter dem Zeichen des christlichen Kreuzes, der die Welt veränderte und dem zu dieser Zeit noch heidnischen Konstantin zur Alleinherrschaft verhalf. Dies war auch ein Sieg unter dem Zeichen des christlichen Kreuzes, der die Stellung der christlichen Kirche im Römischen Reich entscheidend verbesserte und schließlich unter den Nachfolgern Konstantins zu einem christlich geprägten Reich führte. Die Zeit der Verfolgung und Unterdrückung der Christen im Römischen Reich ging zu Ende.

»Unter diesem Zeichen wirst du siegen«, das war aber nicht mehr der Weg christlicher Apostel und Missionare, die mit Wort und Vorbild, oft mit ihrem Leben den Glauben weitergaben, sondern jetzt ging es zunehmend um Macht und Herrschaft, um das Durchsetzen der »wahren« Religion gegen alle unchristlichen Heiden und Götzenanbeter, um die rechte Lehre: Schon im Jahr 325 berief Kaiser Konstantin, nicht der römische Bischof oder die Patriarchen und Bischöfe der östlichen Reichsgebiete, das erste Ökumenische Konzil nach Nizäa ein. Konstantin wollte eine einheitliche Kirche und Religion in einem einheitlichen Reich unter einem Kaiser – so wie es knapp fünfhundert Jahre später Karl der Große in ähnlicher Weise versuchte. Um der Einheit von Kaiser, Reich, Glaube und Kirche willen wollte Konstantin abgrenzen und Andersdenkende ausgrenzen – ein Denken, das in der Römischen Kurie und in fundamentalistischen christlichen Gruppierungen bis heute zu finden ist. Von Konstantin her werden nun christlicher Glaube und staatliche Macht verknüpft und zu einer machmal fruchtbaren, oft aber auch unheilvollen Allianz verbunden.

Dies stellt ein völlig neues Paradigma des Christentums dar: Aus der verfolgten, aber engagierten Minderheitenkirche des Anfangs wird nun zunehmend eine Staatskirche. Diese gewinnt im Jahr 330 n. Chr. nach der Verlagerung des kaiserlichen Regierungssitzes in den Ostteil des Reiches, in die Neugründung der alten griechischen Kolonie Byzanz (nunmehr nach dem Kaiser Konstantinopel genannt), im Westteil des Reiches zunehmend gesellschaftlichen und schließlich politischen Einfluss (allmähliche Entwicklung des Kirchenstaates). Dies verstärkt sich durch die Wirren der Völkerwanderung.

Ein neues Paradigma des Christentums, weil es nun auch nach außen hin in anderer Weise erscheint: »Unter diesem Zeichen wirst du siegen«, das bedeutete in der Konsequenz nunmehr auch, den Glauben nicht mit den Evangelien, sondern notfalls auch mit dem Schwert weiterzutragen. Es bedeutete zunehmend, die Zugehörigkeit zur Kirche nicht auf bewusste und freie Unterstützung des einzelnen Individuums, sondern auf den Druck, gar Zwang einer übermächtigen und übergriffigen Institution zu stützen.

Zu den Veränderungen, die sich an diesem Wendepunkt der Geschichte der Christen ergaben, nur wenige Beispiele:

Kaiser Karl der Große und seine Kriege gegen die Sachsen in der Zeit von 772–804 n. Chr. passen zu diesem neuen Paradigma christlichen Glaubens ebenso wie die Reconquista (= Rückeroberung) in Spanien, wo es vor allem vom 12. bis 15. Jahrhundert gegen Juden und Muslime ging.

Als man 1492 – im Jahr der »Entdeckung« Amerikas durch Columbus – endlich die letzte muslimische Festung in Spanien, Granada, unter die Gewalt der »Katholischen Könige« Ferdinand und Isabell gebracht hatte, ging das Bemühen um die Reinheit spanischen Blutes und des christlichen Glaubens in Spanien erst richtig los. Dies soll als Beispiel für viele andere Gewalt im Christentum etwas genauer dargelegt werden:

Nach dem Fall des muslimischen Al-Andalus traf es zuerst die Juden. Unter der muslimischen Herrschaft hatte es eine fruchtbare Symbiose zwischen Muslimen, Juden und Christen im südlichen Spanien gegeben, die zu hohen kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen führte. Al-Andalus war eine Brücke zwischen der arabisch-muslimischen Geisteswelt (etwa in Damaskus und Bagdad) und dem christlichen Europa. Die Juden in diesem muslimischen Reich waren wesentlich an dem Brückenschlag der Kulturen beteiligt. Die Zeit der muslimischen Herrschaft wird deshalb oft als »Goldenes Zeitalter« bezeichnet – für Muslime, für Juden und für Christen. Juden wirkten dort Herausragendes in Philosophie und Dichtung, in Medizin, Mathematik und Astronomie. Schriften der großen griechischen Philosophen (etwa Aristoteles) waren in Europa meist als »heidnische Schriftwerke« vernichtet worden, im muslimischen Bereich aber wurden sie in arabischer Sprache aufbewahrt. Juden übersetzten das antike Schrifttum nun im südlichen Spanien in die hebräische Sprache – darauf konnten die christlichen Mönche der mittelalterlichen Scholastik dann zurückgreifen und ihre philosophisch geprägte Theologie der Scholastik entwickeln.

Auch im christlichen Spanien, dessen Einzugsgebiet sich durch die Reconquista vergrößerte, gab es große jüdische Gemeinden – ein friedliches Zusammenleben (»Convivencia«) war durchaus möglich. Doch im 14. Jahrhundert zerbrach der Friede – die Juden wurden im katholischen Spanien diskriminiert. Im Jahr 1391 gab es im bereits wiedereroberten Sevilla ein blutiges Massaker unter den Juden, ein Pogrom, das den Juden für die Zukunft Angst machte. Viele konvertierten deshalb zum Christentum, doch schlug den »Conversos« erhebliches Misstrauen entgegen. Es begann eine Politik der »Blutreinheit« und »Glaubensreinheit«.

So wurde im königlichen Ordenamiento von Valladolid 1412 angeordnet, dass jüdische Männer und Frauen in einem ummauerten und nur mit einem Zugang versehenen Stadtteil wohnen durften – ein Ghetto. (Der Name Ghetto stammt allerdings aus dem Jahr 1595, wo im italienischen Venedig ein abgetrenntes jüdisches Viertel mit diesem Wort bezeichnet wurde.) Neben der räumlichen Trennung von Christen und Juden (später auch Muslimen) wurden den Juden die meisten Berufe und öffentliche Ämter verboten. Wegen der Angst vor Vergiftungen durften sie zudem keine Grundnahrungsmittel (Brot, Wein, Fleisch) verkaufen, das Mitwirken bei Festen war ebenso untersagt wie interreligiöse Hochzeiten. Juden durften auch keine Christen als Knechte und Mägde beschäftigen – Christen verstanden sich als Herren, nicht als Untergebene, zumal nicht der Juden, der »Gottesmörder«.

Auch mussten jüdische Männer und Frauen nun in Spanien einen »Judenfleck« an der Kleidung tragen – doch die Kennzeichnung von Andersgläubigen war nichts Neues: Bereits seit dem 11. Jahrhundert waren in manchen Teilen Europas gelbe Kennzeichen für Juden vorgeschrieben; mancherorts waren statt dessen gelbe oder rote spitze Judenhüte vorgesehen – auf Kunstdarstellungen dieser Zeit (etwa auf Bildern zum Lebensweg Jesu) findet man Gestalten mit Judenhüten häufig als Kontrast der ungläubigen Juden zu den gläubigen Jüngern. Der Judenfleck allerdings wurde ab 1492 in Portugal zum sechseckigen Stern, in Deutschland war es von 1530 bis 1790 in manchen Gebieten ein gelber Judenring als Kennzeichen der Fremden und »Andersgläubigen«.

Das alles kehrte im 20. Jahrhundert unter dem Nationalsozialismus in schrecklichster Weise wieder. Die Nazis haben also diese Form der Ausgrenzung keineswegs erfunden, sondern konnten sich auf »christliche Traditionen« berufen – haben diese dann aber perfekt organisiert.

Nach 1492 aber ging die Verfolgung in Al-Andalus erst richtig los. Gegen alle Abmachungen bei der Kapitulation mit dem letzten muslimischen König von Granada, Boabdil, wurden Juden enteignet. Drei Monate nach der Eroberung Granadas wurden die Juden vor die Entscheidung gestellt, sich taufen zu lassen oder das Land binnen vier Monaten ohne Mitnahme ihres Besitzes zu verlassen. Man schätzt, dass sich damals über 100 000 Juden auf den gefährlichen Fluchtweg über das Mittelmeer machten – eine Flüchtlingswelle, die der in unserer Zeit ähnelt, nur in umgekehrter Richtung und in diesem Fall durch eine »christliche« Regierung verursacht. Viele Juden starben auf der Flucht oder wurden ausgeraubt beziehungsweise von Schiffskapitänen als Sklaven nach Nordafrika verkauft – also von Schleppern ausgeplündert, wie es auch in unserer Zeit üblich ist.

Im Jahr 1502 traf das gleiche Los auch die verbliebenen Muslime in Spanien. Auch sie wurden zwangsgetauft oder ausgewiesen. Die Zwangstaufen vollzogen sich so, dass man große Zahlen von Mauren in Kirchen zusammentrieb, sie mit geweihtem Wasser besprengte und ihnen christliche Vornamen gab.

Doch gegenüber den so Zwangsgetauften, den Moriscos, blieb ein Misstrauen bestehen. Da sie nun christlich waren, konnte die kirchliche Inquisition auf sie zugreifen (die allein für Christen zuständig war, nicht für Juden und Muslime). Man unterstellte den Moriscos weiter eine verborgene Bindung an den Islam. Eine vor allem durch die Dominikaner aufgeputschte öffentliche Meinung, dazu einzelne christliche Fanatiker, die etwa alle maurischen Männer kastrieren wollten, führte zu einer Atmosphäre des Hasses auf die »Fremden«, die «Ausländer«, die »Ungläubigen«, die nicht richtig »Glaubenden«. Die Moriscos, christlich gewordene Mauren, wurden zwangsverschleppt und über ganz Spanien verteilt. Tausende wurden durch die Inquisition gefoltert und hingerichtet.

Diese Verfahren werden mit der kirchlichen Einrichtung der Inquisition in Verbindung gebracht. Bereits im 12. und 13. Jahrhundert gab es zuerst bischöfliches, dann auch päpstliches Vorgehen gegen Ketzer und Ungläubige (etwa gegen die Waldenser und Katharer). Offiziell als Bestandteil der Römischen Kurie wurde die Inquisition zwar erst 1542 gegründet, doch gab es vorher bereits in verschiedenen Ländern eigene Behörden zur Ketzerverfolgung, in Spanien ab 1478. Im Jahr 1908 wurde die römische Kurienbehörde »Sacra Congregatio Romanae et universalis Inquisitionis« in »Sanctum Officium« umbenannt; im Rahmen einer Kurienreform nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil dann 1965 in »Kongregation für die Glaubenslehre« (ab 2022: »Dikasterium für die Glaubenslehre« – von griechisch dikastērion »Gericht«). Heute gehören Exekutivstrafen wie Folter und Todesstrafe nicht mehr zum Instrumentarium dieser Behörde, weil die Kirche keine staatliche Macht mehr hat. Wohl aber gibt es – ebenso der christlichen Botschaft widersprechend – die Verfolgung unliebsamer Theologen mit der Auflage von Bußschweigen (keine Veröffentlichungen und Predigten mehr erlaubt), Entzug der Lehrbefugnis und anderem mehr. Es ist nicht abzuschätzen, wie viele Existenzen auf diese Weise in der Weltkirche zerstört wurden – Gewalt in der Kirche und dies im Namen Jesu von der obersten Kirchenleitung ausgehend.

Der Ursprung solcher Verfolgung Andersdenkender liegt im Christentum schon viel früher. Unmittelbar nach der Christenverfolgung im Römischen Reich geschah die Wende, dass nunmehr nach der Regentschaft Konstantins die nun herrschenden Christen umgekehrt die Anhänger der alten Religionen verfolgten. Dies wurde theologisch unterlegt:

Der nordafrikanische Bischof Augustinus von Hippo forderte im frühen 5. Jahrhundert während einer Auseinandersetzung mit Häretikern (Donatisten) strenge Strafen bis hin zur Todesstrafe (diese allerdings durch die weltliche Macht vollstreckt – der Staat als Arm der Kirche): »Wir möchten sie verbessert haben, nicht getötet; wir wünschen uns den Triumph der Kirchenzucht, nicht den Tod, den sie verdienen.«

Allerdings gab es kirchliche Gewalt keineswegs nur in den Mittelmeerländern. Ein erschreckendes Beispiel aus der mitteleuropäischen Geschichte ist das Schicksal von Jan (Johannes) Hus (1369–1415). Er war in Prag Theologe, Prediger und ab 1410 auch Reformator, für den die Bibel die einzige Autorität in Glaubensfragen war, und insofern eine Art Vorläufer von Martin Luther mit vergleichbaren Ansichten. Nach einem kirchlichen Prozess wurde er 1412 mit Exkommunikation kirchlicherseits (und damit automatisch mit dem staatlichen Bann) belegt. Jan Hus floh von Prag aus ins südböhmische Exil und schrieb dort sein Werk »De Ecclesia«, in dem er eine Kirche ohne Hierarchie (allein Christus ist das Haupt) und eine christliche Gemeinschaft des Dienstes forderte – ein Gedanke, der von Martin Luther, aber 550 Jahre später teilweise vom Zweiten Vatikanischen Konzil aufgegriffen wurde.

Vor dem ab 1414 in Konstanz tagenden Konzil sollte er seine Lehre rechtfertigen; dazu hatte man ihm durch einen Geleitbrief des Königs Sigismund freies Geleit zugesagt. Unter Bruch dieser Zusage wurde er in Konstanz eingekerkert und von der Konzilsversammlung am 6. Juli 1415 als Häretiker zum Feuertod verurteilt und noch am gleichen Tag hingerichtet und zusammen mit seinen Schriften verbrannt. Martin Luther beruft sich ein Jahrhundert später oft auf Jan Hus und auch auf den englischen Reformator John Wyclif (1330–1384), der 1377 ebenfalls vom Papst gebannt wurde, aber dem Feuertod entging. Doch das Konzil von Konstanz verurteilte ihn nach seinem Tod als Ketzer; Wyclifs Gebeine wurden im Anschluss an dieses Konzil ausgegraben und zusammen mit seinen Schriften verbrannt.

»Unter diesem Zeichen wirst du siegen« – die Reconquista in Spanien oder die Verfolgung Andersdenkender wie Jan Hus und John Wyclif sind markante Beispiele für Gewalt in der Kirche und ein unerträgliches Versagen der Kirche gegenüber dem Anspruch Jesu. Aber leider stellen diese Beispiele keineswegs die einzigen zu Gewalt in der 2000-jährigen Kirchengeschichte dar, viele weitere lassen sich anführen und zeigen ein Verhalten von Christen und Kirche auf, das schaudern lässt.

Christliche Gewalt – das war auch die gewaltsame Missionierung in ganz Lateinamerika durch Spanier und Portugiesen, aber ebenso – schon in der Neuzeit – in einem Gemisch von wirtschaftlichen und kolonialen Interessen Zwangsmissionierungen in Indien und China. Oder wenn dort nicht Missionierung mit Gewalt und Schwert, dann doch Missionierung mit Bestechung: Die sogenannten »Reischristen« in China stehen dafür: In den Hungersnöten des 19. Jahrhunderts in China wurde den Neugetauften nicht nur von evangelikalen Sekten, sondern auch von den Großkirchen ein Sack Reis zur Taufe versprochen. Es ging dabei weniger um Gesinnungsänderung durch eine Konversion, sondern um große Zahlen von Neugetauften, um in Europa und Amerika Spenden einzutreiben. Solchen Missionierungen war allerdings kein großer Erfolg beschieden. Manche Chinesen ließen sich auch – getrieben von Not, aber durchaus gutem Geschäftssinn – mehrfach taufen: in diesem Monat in dieser evangelikalen Gruppe ein Sack Reis, im nächsten Monat in einer anderen Kirche ein Sack Reis ...

»Unter diesem Zeichen wirst du siegen« – in dieser Linie stehen Inquisition und Verfolgung Andersdenkender, Scheiterhaufen, Ketzerverbrennungen und Denkverbote, Kampf gegen Ketzer oder auch nur gegen Theologen mit neuen, ungewohnten Gedanken durch Lehrverbote, Bußschweigen und Exkommunikationen. Barmherzigkeit, wie sie Papst Franziskus immer wieder fordert, hatte in diesem Denken und Handeln keinen Platz.

»Unter diesem Zeichen wirst du siegen« – das kehrt ebenso wieder in den Kreuzzügen, in denen es angeblich allein darum ging, die heiligen Stätten im heiligen Land von den unheiligen Muslimen, den Ungläubigen, zu befreien. Diese westeuropäischen Heere aber, wenn man schon einmal mit dem Schwert unterwegs war, verübten bereits auf dem Weg in Pogromen (russisch für »Zerstörung«) Massaker an den jüdischen Gemeinden (etwa in Mainz, Worms und Speyer anlässlich des »Deutschen Kreuzzugs« von 1096 und des zweiten Kreuzzugs von 1146).

Ebenso auf dem Weg wurde schließlich auch das orthodoxchristliche und damit zwar nicht ungläubige, doch »orthodoxketzerische« Konstantinopel erobert (1204 durch ein von Venedig ausgesandtes Kreuzfahrerheer) und ausgeplündert, die christlichen Brüder dort wurden massakriert. Und schließlich – gewissermaßen als Höhepunkt – folgten die Eroberung Jerusalems im Juli 1099 und der Kampf gegen die Muslime dort (zudem auch gegen die in Jerusalem wohnenden Juden) unter der Losung: »Tötet sie alle, Gott wird sie schon sortieren« – wahrlich eine »christliche« Losung.

Sieben solcher Kreuzzüge hat es offiziell gegeben, hinzu kommen mehr als ein Dutzend inoffizielle, nicht nur gegen die Muslime im Vorderen Orient, sondern auch gegen von der katholischen Kirche abgefallene christliche Gruppen etwa gegen die Glaubensgemeinschaft der Albigenser (Katharer) in Südfrankreich in den Jahren 1209–1229. Am perversesten war der Kinderkreuzzug von 1212, der in einem Fiasko endete: Unter anderem von Köln aus