Heilung für eine verstörte Republik - Helmut Brandstätter - E-Book

Heilung für eine verstörte Republik E-Book

Helmut Brandstätter

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Beschreibung

Die Politik verwundet Menschen. Und Menschen, die die Politik nur als ihr persönliches Spielfeld verstehen, verwunden das ihnen anvertraute Land und die Wähler*innen, die sie einst ins Amt brachten. Die Jahre, in denen die Gruppe um Sebastian Kurz Österreich dominierte, haben das Land und Institutionen wie Justiz, Verwaltung, Parlament und Medien nachhaltig verletzt und die Bürger*innen ausgerechnet in Krisenzeiten gespalten. Eine unsichere Gesellschaft sucht Heilung. Österreich, das – nicht zum ersten Mal – auf einen großen Blender hereingefallen ist, braucht Orientierung, gerade jetzt, wo ein Krieg ganz Europa bedroht. Die türkise Regierungszeit kann im Idealfall eine Zäsur darstellen: Schluss mit persönlichen Abhängigkeiten, mit der Korruption, mit der Zerstörung von Institutionen. Helmut Brandstätter wagt einen Blick zurück in die politische Geschichte Österreichs und reflektiert persönliche Erlebnisse, um zu zeigen, was in Zukunft geboten ist, um verlorenes Vertrauen in Politiker*innen wiederherzustellen. Denn Show-Politik bereitet das Land auf kommende Krisen nicht vor – und Neutralität allein garantiert keine Sicherheit. "Wir müssen verstehen lernen, wie sehr das Vertrauen der Menschen in Österreich missbraucht wurde, und vor allem: Wie es dazu kommen konnte, dass sich so viele so lange täuschen ließen."

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Helmut Brandstätter – HEILUNG für eine verstörte Republik

Helmut Brandstätter

HEILUNG für eine VERSTÖRTE REPUBLIK

Dieses Buch ist allen Personen gewidmet,die sich politisch engagieren, in der Gemeinde,Schule oder Uni, einer NGO oder einem Parlament.Und dabei mehr auf die Anliegen der Gemeinschaftals auf ihr Ego achten.

INHALT

Vorwort

Die Suche nach dem Ausgleich in der Gesellschaft

Die Stärkung der staatlichen Institutionen

Ein Parlamentarismus, den alle ernst nehmen

Die Justiz darf wieder in Ruhe arbeiten

Die Medien werden als unabhängige Kontrollinstanz akzeptiert

Politik wird ein Beruf mit Ideen und Verantwortung

Freiheit und Eigen- verantwortung sind zentrale Werte der Demokratie

Wir finden einen Ausgleich zwischen Jung und Alt

Österreich bekennt sich zu einer Sicherheitsstrategie

Verteilung und Teilhabe – die großen Fragen des Zusammenlebens

Danksagung

 

 

 

’s ist möglich, dass in Sachsen und beim Rhein

Es Leute gibt, die mehr in Bücher lasen;

Allein, was nottut und was Gott gefällt,

Der klare Blick, der offne, richtge Sinn,

Da tritt der Österreicher hin vor jeden,

Denkt sich sein Teil und lässt die andern reden!

Franz Grillparzer

König Ottokars Glück und Ende

 

 

 

VORWORT

Die Politik verwundet Menschen. Wie tief das gehen kann, erleben wir bei fast jedem Rücktritt. Der Verlust eines Amtes, das mit Ansehen und Autorität verbunden ist, schmerzt umso mehr, weil er vor den Augen der Öffentlichkeit stattfindet. Beim Aufstieg hat die Aufmerksamkeit motiviert, doch leider gehört sie beim Abstieg genauso dazu – und kann quälend sein. Die Betroffenen müssen sich dann selbst um die Heilung ihrer Wunden bemühen, was Jahre dauern kann.

Die Jahre, in denen Sebastian Kurz die Republik Österreich „umbauen“, mit einem „neuen Stil“ und „gegen das System“ regieren wollte, haben Verwundungen bei vielen hinterlassen, Verstörung und Zerstörung über das Land, aber auch über Menschen gebracht. Die einen sind verstört, weil sie sich täuschen ließen. Von einem Mann, der die Politik aus den täglichen Mühen des Kompromisses und den alten Methoden des Proporzes herauszuheben versprach, dann aber tief in diese eintauchte und in ihrer Perfidie noch einmal verfeinerte, ausschließlich zum eigenen Vorteil. Dabei wurden Mitläufer*innen missbraucht und sogar Profiteur*innen geschädigt, denen Übersicht, Kaltblütigkeit und Brutalität fehlten, die zu einem solchen Verhalten gehören. Am Ende standen einige zerstörte Existenzen, Wegbegleiter*innen ließen sich bis zur Peinlichkeit missbrauchen.

Gegner wiederum wurden zu Feinden deklariert. Das System Kurz brauchte, wie alle populistischen Konstruktionen, Feinde. Diese wurden auf verschiedenen Ebenen ausgemacht und öffentlich attackiert. Die ÖVP sollte als türkise Führerbewegung eine Art „FPÖ light“ werden, also gegen alles Fremde agitieren, im Zweifel auch gegen die Europäische Union und gegen Nachbarländer, aber mit dem freundlichen Gesicht eines jungen Mannes. Feind wurde, wer nicht bereit war, sich zu unterwerfen. Ich habe das als Chefredakteur des KURIER erlebt, ganz ausdrücklich am 19. Juni 2017, als mir der eben erst gewählte 17. Obmann der ÖVP bei einem Abendessen erklärte: „Du kannst nur mein Freund oder mein Feind sein.“ Unter seinen 16 Vorgängern waren sehr unterschiedliche Persönlichkeiten, historische Figuren wie Leopold Figl oder Josef Klaus, der 1966 die absolute Mehrheit schaffte, visionäre Europäer wie Alois Mock oder Intellektuelle wie Erhard Busek. Keiner hätte einen solchen Satz gegenüber einem Journalisten formuliert. Es hätte auch keiner diese Forderung erhoben, die Kurz kaltblütig aussprach: „Ich erwarte die Unterstützung des KURIER bei der Nationalratswahl.“ Wenn ich dazu nicht bereit sei, dann wäre für ihn offensichtlich, dass ich sein Feind sein werde. Freund oder Feind. So klar, so einfach. Der Hinweis, dass ich mich in meinem Vertrag mit dem KURIER dazu verpflichtet habe, eine unabhängige Tageszeitung zu machen, ihn also gar nicht unterstützen dürfe, interessierte ihn nicht. Warum habe ich dieses Gespräch nicht sofort öffentlich gemacht? Ich fühlte mich zwar bedroht, gar erpresst, aber nach meinem Gefühl saß da ein unsicherer junger Mann, kein abgezockter Polit-Funktionär. Er konnte seine Brutalität hinter einem freundlichen Gesicht gut verbergen. Und er hatte seine Leute für die schmutzige Arbeit und Leute fürs Denken.

Vermutlich kannte Kurz den Staatsrechtler Carl Schmitt nicht, der schon vor seinem Engagement für die Nazis in seinem 1932 erschienenen Buch „Der Begriff des Politischen“ erklärt hatte, dass Politik ein Kampf zwischen Freund und Feind sein müsse, sowohl im Verhältnis zwischen Staaten, aber auch innerhalb eines Staates. Dennoch handelten Kurz und die Seinen konsequent nach diesem Freund/Feind-Schema.

Später, als im Sommer 2019 meine Kandidatur auf der Liste der NEOS bekannt wurde, formulierte ein Kurz-Vertrauter im kleinen Kreis: „Den fohr ma nieder und sei Oide gleich dazu.“ Sippenhaftung gehörte also auch zum System Kurz. Und während des Ibiza-Ausschusses, wo ich mehreren seiner Leute unangenehme Fragen stellte, ließ mir eine Vertrauensperson von Kurz ausrichten: „Du wirst zerstört.“ Wenn es um ihre Macht ging, kannte die Kurz-Partie keine Grenzen.

„Bitte schau, dass deine Auseinandersetzung mit dem Kurz nicht persönlich wirkt“, lautete der Ratschlag durchaus gut Gesinnter. Aber nicht ich, sondern Kurz hat sie zu einer persönlichen gemacht, und ich war nicht der Einzige, die er so „überzeugen“ oder bei Widerspruch aus ihren Funktionen beseitigen wollte. Deshalb ist es so wichtig, diese Ereignisse anzusprechen und das dahintersteckende Denken zu entlarven, als Warnung für künftige Generationen. Der Politiker wollte nicht zur Kenntnis nehmen, dass sich der Journalist nicht unter Druck setzen lässt – das war er nicht gewohnt. Später, im Parlament, bei seiner ersten Vernehmung im Ibiza-Untersuchungsausschuss, fühlte er sich dann so überlegen, dass er auf meine Fragen ganz sicher die Unwahrheit sagte.

Denn natürlich war der Bundeskanzler in die Besetzung von Thomas Schmid als Chef der ÖBAG eingebunden, was er unter Wahrheitspflicht leugnete. Das ist inzwischen durch unzählige WhatsApp-Chats bewiesen. Ob es auch den im Strafgesetzbuch verlangten Vorsatz gab und die Falschaussage strafrechtlich relevant ist, hat ein Gericht zu beurteilen.

Wer Wahrhaftigkeit bei anderen einfordert, muss sie selbst leben, also ist dort über Persönliches zu berichten, wo es das Politische erklärt. Im Übrigen diene ich nur als Beispiel für die Analyse eines Systems, das ganz bewusst Feinde als solche deklariert und bekämpft hat, um allen anderen Beteiligten zu zeigen: „Schau, das kann dir auch passieren.“ So funktioniert die organisierte Politik des schamlosen Populismus, die Feinde braucht, um inhaltliche Leere zu übertünchen. Druck wurde auch auf andere Personen in den Medien, in der Wirtschaft und in der Wissenschaft ausgeübt. Hier war es besonders fatal, weil in der Covid-Zeit auch Expert*innen bedeutet wurde, was sie besser nicht öffentlich sagen sollten, weil es zu den Slogans der Kurz-PR-Maschinerie gerade nicht passte.

Wo aber waren die politischen Überzeugungen dieser Zeit? Sebastian Kurz und seine Umgebung haben in der ersten Zeit im Staatssekretariat für Integration durchaus an politischen Lösungen gearbeitet. Später ging es nur um Umfragen, Fotos und das Erscheinungsbild in den Medien. Letztlich scheiterte er genau daran – an gekauften Umfragen und einem liebedienerischen Boulevardmedium, das ihn für Geld bejubelte. Ein beachtlicher dramaturgischer Bogen einer politischen und menschlichen Tragödie mit Auswirkungen auf ein ganzes Land. Welche Rolle Kurz bei den Inseratendeals rund um die frühere Ministerin Sophie Karmasin und die Meinungsforscherin Sabine Beinschab mit der Tageszeitung Österreich gespielt hat, werden Gerichte klären. Dass er der Profiteur dieser Deals war, ist klar. Die Zusammenlegung der Sozialversicherungen wird als einzig erfolgreiche Reform für die türkis-blaue Zeit genannt. Versprochen war eine „Patientenmilliarde statt der Funktionärsmilliarde“, wieder ein falsches Versprechen. Damals verhielt sich der oberösterreichische Landeshauptmann Thomas Stelzer ruhig, jetzt sagt er: „Es ist kein Geheimnis, dass ich einige große Entscheidungen skeptisch gesehen habe, Stichwort Zentralisierung der Gebietskrankenkassen, die sich jetzt nicht so darstellt, wie manche geglaubt haben, dass sie wirkt.“ Das erklärte Stelzer nicht, als das beschlossen wurde, sondern im Mai 2022 in den Salzburger Nachrichten. Manche entdecken Mut und Einsicht halt erst etwas später. Der Rechnungshof hat Anfang Juli 2022 im Detail berechnet, dass nicht eine Milliarde eingespart wurde, sondern die Zusammenlegung der Kassen rund 215 Millionen gekostet hat.

Die Skandale, die das System Kurz begleiteten, sind nicht vergleichbar mit den vielen Korruptionsaffären der vergangenen Jahrzehnte. Da ging es um Machtmissbrauch und Bereicherung, schlimm genug. In den Jahren zwischen 2016 und 2021 aber sollte die Republik umgebaut werden, rund um eine einzige Person, nicht für eine Idee, sondern für die umfassende und anhaltende Erhaltung der Macht. Zunächst übernahm die Kurz-Partie – „Partie“ im Gegensatz zu Partei – die ÖVP, die zur Bewegung von uniformen und türkisen „Jüngern“ werden sollte, dann das Land, dann einzelne Institutionen, und schließlich wollte diese kleine Truppe auch das Denken vieler Menschen formen. „In einem ist Sebastian Kurz gut gewesen: im Verführen“, fasst die dänische Zeitung Politiken die Jahre zusammen, als es vorbei war. Am Ende reichte das Verführen nicht, die Partie hatte sich übernommen und scheiterte letztlich an sich selbst – und an den Methoden, die die ewige Macht hätten absichern sollen, an der Message Control und der Inseratenkorruption, beides finanziert mit vielen Millionen an Steuergeld.

Das Versagen bei der Bekämpfung der Pandemie war eine logische Konsequenz des Systems Kurz. Wer alle Botschaften rund um eine Person platziert, wer nur Bilder und Geschichten verkaufen, aber nicht managen kann, der kann in einer Krise weder konzise noch flexibel reagieren. Zum System Kurz gehörte eine perfekt organisierte Einwegkommunikation, in der Krise muss es aber zu einem Informationsaustausch mit der Bevölkerung kommen. Und während sich die Regierung um eine gezielte Impfkampagne hätte kümmern müssen, war die Kurz-Partie mit dem erschreckenden Bild immer aufs Neue bekannt werdender WhatsApp-Messages und einem Bericht der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft beschäftigt. Am 9. Oktober 2021 musste Sebastian Kurz auf Druck des grünen Koalitionspartners das Kanzleramt verlassen, einige Mitarbeiter ebenso, am 2. Dezember trat er von allen Funktionen zurück, also auch als Obmann der Partei, aus der er eine „Bewegung“ mit „Jüngern“ gemacht hatte, so die interne Bezeichnung, und die dadurch nun völlig orientierungslos war. Die einst mächtigen Landeshauptleute, die im Frühjahr 2017 hilflos ihre Macht abgegeben hatten, ergriffen sie vier Jahre später wieder dankbar, ohne dass sie über ihr eigenes Versagen in diesen Jahren reden wollten. Am Ende gab es auch in der ÖVP viele Verwundungen, die ebenfalls noch lange nicht geheilt sind. Diese jetzt zu verdrängen wäre zwar typisch für Österreich, aber sicherlich der falsche Weg.

So muss im 77. Jahr des Bestehens der Zweiten Republik ein Prozess der Heilung beginnen. Die Verwundungen, die vielen Institutionen von der Justiz bis zum Parlament angetan wurden, gehören dabei ebenso aufgezeigt wie die Verwundungen vieler Menschen. Meine persönlichen sind geheilt. Am größten waren die Enttäuschungen, die sich aus mangelnder Loyalität ergaben – ein Phänomen nicht nur der Politik, sondern auch des Journalismus. Aber ich bekam die Chance auf eine neue Betätigung: den aktiven Einblick und die Mitarbeit in der Politik. Auch an dieser Stelle ein klares Wort: Es ist um vieles einfacher, die Politik zu beobachten und zu kommentieren, als selbst Entscheidungen zu treffen, oft Freiwild für Beschimpfungen in den sozialen Medien und Ziel von Lügen politischer Gegner zu werden. Und noch ein Rat: Wenn Sebastian Kurz klug ist, beschäftigt er sich mit seinen Verwundungen etwas ehrlicher als beim Rücktritt, da beklagte er sich noch, dass er „gejagt wurde“. Von wem, außer von seinem Ehrgeiz? Der ehemalige Höchstrichter und Justizminister der Regierung Bierlein, Clemens Jabloner, erklärte Anfang Juli 2022 bei einem Symposium der Boltzmann-Gesellschaft: „Die Art, wie unter Kurz 1 regiert wurde, war ein erster Weg in eine andere Staatsform.“ Und nachher meinte er noch: „Irgendjemand muss das ja sagen.“ Ja, die österreichischen Eliten waren sehr zurückhaltend oder sie wollten nicht wahrhaben, wie sehr Kurz in Richtung eines autoritären Staates marschierte.

Das Land Österreich muss seinen Heilungsprozess beginnen. Dazu gehört eine Analyse der Entwicklungen der letzten Jahre, gefolgt von konkreten Ideen, wie wir im schnellen Wandel der Digitalisierung mit ihren neuen Medien als offene und demokratische Gesellschaft bestehen, die nicht von Propaganda gesteuert wird und dem nächsten Verführer nachläuft. Dazu werden hier viele Ideen präsentiert, die unser Land und seine Institutionen grundsätzlich verbessern würden, und damit auch das Leben der Menschen in Österreich. Wir müssen zu mehr Teilhabe der Menschen in unserer sich ständig verändernden Gesellschaft kommen. Denn wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst, die Inflation aber steigt, tauchen vermeintlich neue, aber in Wirklichkeit alte Fragen von Verteilungsgerechtigkeit auf, denen sich die Politik zu stellen hat. Erinnern wir uns: Die vielen Kundgebungen gegen die Corona-Maßnahmen wurden zum Teil politisch missbraucht. Sie zeigten aber auch Ängste auf und völliges Misstrauen der Teilnehmer*innen gegenüber „Mächtigen“. Diese Ängste sind nicht so leicht identifizierbar, daher bieten sie einen idealen Nährboden für Verschwörungen aller Art. Eine unsichere, verletzte Gesellschaft sucht Heilung; eine Gesellschaft, die – nicht zum ersten Mal – auf einen großen Blender hereingefallen ist, braucht Orientierung.

Der im März 2022 verstorbene frühere ÖVP-Obmann Erhard Busek berichtet im Vorwort zu meinem Buch „Kurz und Kickl“ von einer Diskussion mit dem damaligen Innenminister Herbert Kickl, wo dieser meinte, die Politik müsse Angst machen, um etwas zu verändern. Busek widersprach, aber heute erleben wir, dass die Angst, die die Politik in den letzten Jahren verbreitet hat, massiv auf die Gesellschaft drückt und in der anhaltenden Krise den sozialen Ausgleich noch schwieriger macht, zuerst in der Pandemie und jetzt bei den rasant steigenden Preisen. Gerade jetzt müssen wir Rücksicht auf diejenigen nehmen, die sich zunehmend ausgeschlossen fühlen, und zwar materiell, durch finanzielle Hilfe, solange die Inflation anhält. Außerdem kann nur ehrliche und offene Kommunikation auf Augenhöhe Angst nehmen. Die hat leider in den letzten Jahren bewusst nicht stattgefunden.

Der Psychiater Erwin Ringel (1921–1994) ist einer der besten Analytiker der „österreichischen Seele“, wie auch eines seiner Bücher heißt. Die Neurosen der Österreicher hängen für ihn stark mit der verwundeten Kinderseele zusammen, weil es von jeher nur drei Erziehungsziele gebe: „Gehorsamkeit, Höflichkeit und Sparsamkeit.“ Dazu kommt „die Bereitschaft des Österreichers zu devotem Dienen“, wie Ringel schreibt. Eine Mischung, die ständig Angst erzeugt, umso mehr, weil die Menschen in Österreich nach 1945 sehr viel erreicht haben und deshalb auch sehr viel verlieren können, wie ja auch vergangene Generationen Niederlagen und Abstiege erlebten. Und so ist Angst auch ein beständiger Faktor der österreichischen Innenpolitik. In Grillparzers „König Ottokars Glück und Ende“ wird die berühmte Rede Ottokar von Horneks an Rudolf von Habsburg zu einem zwiespältigen Lob für die Österreicher.

„Der Österreicher denkt sich sein Teil und lässt die andern reden.“ Für diese Stelle gibt es im Burgtheater gerne Szenenapplaus. Feigheit als bürgerliche Tugend? Sicher ist: Wenig ausgeprägter Mut und mangelnde Ehrlichkeit haben in Österreich in der politischen Debatte Tradition. Aber warum ist das so? Da hilft ein genauer Blick in ein Standardwerk unserer Geschichte: „Der Kampf um die österreichische Identität“ von Friedrich Heer. Der 1983 verstorbene Historiker ist der Vorzeigeintellektuelle, der Begeisterung für die vielfältige, widersprüchliche Geschichte unseres Landes persönlich leidend mit schmerzhafter Kritik verbindet. Er war ein Katholik, der an seiner Kirche litt und ein Patriot, der um die richtige Sicht seiner Heimat stritt. Allein diese These Heers beweist die Komplexität unserer Existenz: „Es gibt kein historisches Gebilde in Europa, das so sehr außengesteuert ist wie Österreich.“ Andere Länder „erlebten mannigfache Einwirkungen von außen, aber keine ‚Invasionen‘ von außen, die ihre Identitätserfahrung zutiefst treffen, verletzen, spalten, verändern wie in den österreichischen Landen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert.“ Heer beschäftigt sich auch mit der Rolle der Religionen. Auf der einen Seite steht der „Glaube an das Heil aus der deutschen Sprache, aus der Sprache Luthers …“ Auf der anderen Seite steht das Credo, das uns heute noch formt: „Der andere Glaube, an die österreichische Nation, artikuliert sich nur schwer: Katholische ‚Sprachlosigkeit‘, katholische Spracharmut und eine bäuerliche Schwierigkeit, sich in einer Schriftsprache ‚auszudrücken‘.“ Luthers Religion des Wortes hat sich in Österreich nur in Enklaven durchgesetzt, erfolgreich war hingegen eine andere Religion, die Heer so beschreibt: „Die Kultur der Sinne und der Sinnlichkeit, des Theaters und des großen Festspiels, der Prozessionen und der Predigt.“ Nein, Sebastian Kurz hat weder Heer gekannt, noch hätte er diese These verstanden. Aber er hat eine Zeit lang gut davon gelebt, auf Image und Inszenierung statt auf Inhalte zu setzen.

In einer Krise spüren wir die Abhängigkeit von bildhaften Symbolen und unsere wenig gefestigte Identität, an der so oft und so lange gezweifelt wurde, besonders. Beim Krieg Putins, den er am 24. Februar 2022 gegen die Ukraine begonnen hat, wurde sofort klar, dass der Mythos rund um die Neutralität Österreichs jede rationale Diskussion unmöglich macht. Dabei geht es der ÖVP schon wieder nur um Umfragen. Dass Putin die bündnisfreie Ukraine bombardieren ließ, änderte nichts an der Zustimmung zur Neutralität in Österreich und an der Illusion, durch diese einseitige Erklärung aus dem Jahr 1955 geschützt zu sein. Die Neutralität war notwendig, um im Mai 1955 den Staatsvertrag und damit die Unabhängigkeit zu erlangen. Aber seither hat sich die politische Weltlage zweimal grundlegend verändert: Zunächst durch den Fall der Mauer im November 1989, die darauffolgende Auflösung der Sowjetunion und die Erweiterung der EU und der NATO. Und dann, am 24. Februar 2022, als Putin nicht nur zum zweiten Mal nach 2014 die Ukraine überfiel, sondern auch noch dem Westen mit Atomkrieg drohte.

Immerhin trat die Europäische Union geeint auf, Sanktionen gegen Russland wurden mit den USA, aber auch mit Großbritannien und der neutralen Schweiz abgestimmt. Die kommenden Herausforderungen wird Europa jedoch nur bestehen, wenn die wirtschaftlich starke EU ein politischer Faktor wird, der auch militärisch geeint auftritt und wenn wir uns gemeinsam kommenden Herausforderungen stellen. Frieden und Freiheit sind in Europa auf einmal nicht mehr selbstverständlich. Darauf müssen wir uns in Österreich einstellen, mit einer offenen Debatte, wie die Sicherheit der Menschen gewährleistet wird. Ein Mythos allein wird das nicht schaffen. Hier hat die Politik die Verpflichtung, über Fakten zu reden und nicht schon wieder ängstlich auf Umfragen zu starren. Darüber hinaus schadet die Aufteilung – hier unser Heimatland, dort die EU mit den „Bürokraten der Kommission“ –, wie sie in vielen Ländern bei innenpolitischen, nationalistisch geprägten Debatten vorkommt, uns allen. Leider ist auch Bundeskanzler Karl Nehammer bei der Diskussion über ein Embargo für Öl und Gas in diese populistische Diktion verfallen. Putins Aggression beweist uns jeden Tag, dass uns liberalen Gesellschaften der EU ein großes Interesse eint, nämlich in Frieden und Freiheit zu leben.

Die Regierungszeit Kurz kann im Idealfall eine Zäsur darstellen. Schluss mit persönlichen Abhängigkeiten, Schluss mit der kleinen und der großen Korruption, mit der Zerstörung von Institutionen, mit dem Missbrauch von Medien durch Inseratenkorruption. Missstände gab es schon davor, aber Kurz‘ System hat alles so zugespitzt, dass niemand mehr wegschauen kann, und so viel zerstört, dass wir einen grundlegenden Wiederaufbau unserer demokratischen Institutionen brauchen. Wir müssen hinschauen, damit sich die vergangenen Irrwege, die zu Verstörung geführt haben, nicht wiederholen. Wir müssen Fragen zulassen und Antworten darauf suchen, warum es sich viele Menschen in Österreich gefallen ließen, als Wegbereiter eines zunehmend autoritären Systems und als Diener einer hohlen Führerfigur missbraucht zu werden. Die Österreicher*innen müssen lernen, sich nicht nur ihr „Teil zu denken“, wie es bei Grillparzer heißt, sondern auch Missstände anzusprechen. Und unsere Gesellschaft muss wieder stärker zusammenwachsen, Ausgleich finden, statt Spaltung und Feinde zu suchen. Aus all diesen Gründen ist das Vertrauen so niedrig wie nie zuvor. Claus Pándi sieht als Ursache dafür „die unaufhörliche Scharlatanerie in der hiesigen Politik“. Nun trifft uns die größte Wirtschaftskrise der Zweiten Republik, die sich zu einer schweren Gefährdung des sozialen Friedens auswachsen kann, in folgendem Zustand: verstört durch eine verantwortungslose Politik, wo durch Scharlatanerie auch noch jedes Vertrauen zerstört ist. Da hilft nur eine ehrliche Analyse, ein Eingeständnis der Fehler durch die Regierung und ein offener Dialog, wie die Gesellschaft zusammengehalten werden kann. Wer in den letzten Jahren von Wachstum und Globalisierung profitiert hat, kann etwas abgeben, wer sich das Leben nicht mehr leisten kann, muss unterstützt werden. Ganz grundsätzlich hat das Erhard Busek noch vor der Krise angesprochen. Busek regte an, „in einen Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern einzutreten, was wir wirklich für ein auskömmliches Leben brauchen.“ Busek spricht auch von „Maßhalten, sich selber Grenzen setzen.“ Damit sind wir bei der ökologischen Herausforderung, unser Leben so zu verändern, damit Leben auf der Erde überhaupt möglich bleibt. Nach den Jahrzehnten des Wachstums und den Jahren der Egozentrik in der Politik ist das die große Herausforderung – im Dialog mit der Bevölkerung zu gemeinsamen Änderungen unseres Verhaltens zu kommen. Die „Suche nach dem Ausgleich in der Gesellschaft“ ist nur der erste von zehn Punkten, die zur Heilung unserer verstörten Republik beitragen sollen.

DIE SUCHE NACH DEM AUSGLEICH IN DER GESELLSCHAFT