Heimat Natur - Jan Haft - E-Book
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Heimat Natur E-Book

Jan Haft

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Beschreibung

Warum die heimische Natur so wichtig für uns ist

Ein Waldstück, das wir gut kennen, eine Wiese in der Marsch, ein kristallklarer Bergsee, ein Apfelbaum, an dem wir immer wieder vorbeilaufen. Natur berührt uns, ist Teil unseres Lebens und lässt uns heimisch fühlen. Unser Land besteht zu drei Vierteln aus Feldern, Wäldern, Wiesen, aus einer Vielfalt mehr oder weniger natürlicher Lebensräume zwischen Küste und Bergen. Je besser wir die Landschaften und ihre pflanzlichen und tierischen Bewohner kennen, je deutlicher wir uns unserer Verbindung zu ihnen bewusst werden, desto besser können wir sie auch schätzen und schützen. Der Biologe und preisgekrönte Naturfilmer Jan Haft lenkt unseren Blick auf das unscheinbare Detail genauso wie auf das große Ganze der heimischen Natur und führt uns ihren Wert, ihre Schönheit und ihre Gefährdung vor Augen.

Gedruckt nach dem Cradle-to-Cradle-Verfahren auf höchstem ökologischen Niveau.

Filmstart von »Heimat Natur« am 15. Juli

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Seitenzahl: 376

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Buch

Ein Waldstück, das wir gut kennen, eine Wiese in der Marsch, ein kristallklarer Bergsee, ein Apfelbaum, an dem wir immer wieder vorbeilaufen. Natur berührt uns, ist Teil unseres Lebens und lässt uns heimisch fühlen. Unser Land besteht zu drei Vierteln aus Feldern, Wäldern, Wiesen, aus einer Vielfalt mehr oder weniger natürlicher Lebensräume zwischen Küste und Bergen. Je besser wir die Landschaften und ihre pflanzlichen und tierischen Bewohner kennen, je deutlicher wir uns unserer Verbindung zu ihnen bewusst werden, desto besser können wir sie auch schätzen und schützen. Der Biologe und preisgekrönte Naturfilmer Jan Haft lenkt unseren Blick auf das unscheinbare Detail genauso wie auf das große Ganze der heimischen Natur und führt uns ihren Wert, ihre Schönheit und ihre Gefährdung vor Augen.

Autor

Der Biologe Jan Haft, geboren 1967, ist ein vielfach ausgezeichneter Natur- und Tierfilmer. Er lebt mit seiner Frau und drei Kindern auf einem Bauernhof im Isental bei München. Sein erstes Buch »Die Wiese. Lockruf in eine geheimnisvolle Welt« erschien 2019 parallel zu seinem Kinofilm »Die Wiese – ein Paradies nebenan«, beide waren ein großer Erfolg.

JANHAFT

Heimat Natur

Eine Entdeckungsreise durch unsere schönsten Lebensräume von den Alpen bis zur See

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Copyright © 2021 by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
ISBN 978-3-641-26958-6V003
www.penguin-verlag.de

inhalt

Kapitel 1 Was ist Heimat?

Kapitel 2 Grüne Regenwürmer

Kapitel 3 Lebensraum Alpen

Kapitel 4 Das Phantom

Kapitel 5 Lebensraum Wald

Kapitel 6 Pfirsichblütenfische

Kapitel 7 Lebensraum Fluss

Kapitel 8 Expedition Feldweg

Kapitel 9 Lebensraum Feldflur

Kapitel 10 Feuerkröten

Kapitel 11 Lebensraum Heide

Kapitel 12 Zombiebäume

Kapitel 13 Lebensraum Moor

Kapitel 14 Die fabelhafte Welt der Käfer

Kapitel 15 Lebensraum Küste

Kapitel 16 Achtzig Prozent

DANK

LITERATUR

REGISTER

BILDTEIL

Lebensraum Alpen

Lebensraum Wald

Lebensraum Fluss

Lebensraum feldflur

Lebensraum Heide

Lebensraum Moor

Lebensraum Küste

Großtiere

   KAPITEL 1   Was ist Heimat?

Die Wege, die wir in unserem täglichen Leben draußen zurücklegen, sind gesäumt von zahllosen Dingen, denen wir wenig Beachtung schenken. Sie gehören zur Ausstattung unseres Lebensraumes. Nehmen wir als Beispiel einen alten, krumm gewachsenen Baum, an dem wir auf dem Weg zur Arbeit oder zum Einkaufen häufig vorbeifahren. Ein Apfelbaum, der dort vielleicht schon seit 100 Jahren steht. Seitdem wir denken können, sehen wir ihn im Frühjahr weißrosa blühen. Im Sommer fallen uns die unzähligen kleinen grünen Kugeln auf, die an ihm hängen. Später, im Herbst, prangen Hunderte farbenfrohe Äpfel an seinen knorrigen Ästen, und man möchte am liebsten anhalten und einen davon pflücken und reinbeißen; so rotbackig und appetitlich, wie sie da hängen. Das Jahr schreitet voran, und der alte Baum bekommt buntes Laub. Die Vielfalt der Farben, die jetzt auftauchen, ist noch größer! Neben unzähligen Grün- und Rottönen kommen auch Orange und Violett in allen möglichen Nuancen zum Vorschein. Worüber wir uns angesichts dieses Kaleidoskops meist keine Gedanken machen, ist der Grund für die herbstliche Farbenpracht. Wie viele andere Baumarten auch zieht der Apfel das wertvolle, aufwendig von ihm produzierte Chlorophyll aus den Blättern ab, bevor er sie abstößt. Übrig bleiben einfacher herzustellende Karotinoide und Anthocyane, die als Schutz für das Blatt vor den ultravioletten Anteilen der Sonnenstrahlen dienen und jetzt für die Herbstfärbung des Laubes verantwortlich sind. Mit den ersten Frösten werden sie samt Blatt abgeworfen und vergehen im Falllaub. Die Herbstfarben waren also die ganze Zeit da, aber wir konnten sie wegen des dominanten Blattgrüns nicht sehen. Eines der unzähligen kleinen Naturwunder am Wegesrand. Wenn unser Apfelbaum im nächsten Frühjahr schließlich neu austreibt, wiederholt sich das Wechselspiel der Farben. Wenn er denn neu austreibt.

Eines Tages liegt der alte Baum in Stücke gesägt am Boden. Die Blätter welk, die Äste abgebrochen und wie hilflos ins Leere greifende Arme in die Höhe gereckt. Wir fahren an ihm vorbei, und uns beschleicht das traurige Gefühl, etwas verloren zu haben. Für diese Art subtiler Trauer ist nicht der Verstand verantwortlich, mit dessen Hilfe man sich zuvor vielleicht für den Erhalt des alten Baums eingesetzt hätte. Da fiele einem einiges ein! Etwa dass so ein Baum Insekten und Singvögeln einen wertvollen Lebensraum bietet. Oder dass man Respekt haben sollte vor einem Geschöpf, das vielleicht viel älter ist als jede(r) Einzelne von uns. Auch dass der Baum mit seiner rosa-weißen Blütenpracht, dem Behang aus rot­backigen Äpfeln oder dem violett-orangen Herbstlaub einfach schön ist, wäre ein Argument. Dann vielleicht noch, dass er eine Verbindung zur Geschichte darstellt, weil er uns daran erinnert, dass die Lebensmittel aus der Region einmal unsere Lebensgrundlage waren. Uns missfällt das Sterben der vertrauten Baumgestalt aber nicht, weil wir ökologische oder gesellschaftliche Konsequenzen befürchten. Es missfällt uns, weil es hier geschieht. Unsere Heimat ist so ein klein wenig ärmer geworden.

Was ist Heimat überhaupt? Der Ausdruck steckt in Begriffen wie »Heimatliebe«, »Heimatabend« und »Heimattümelei«. In Deutschland gibt es nach Zahlen des Instituts für Museumsforschung mehr als 2800 Volks- und Heimatkundemuseen, die meisten davon in Baden-Württemberg, gefolgt von Bayern. Das ist fast die Hälfte aller Museen im Land! Diese erstaunliche Zahl verrät zweierlei. Zum einen belegt sie, dass sich die Heimat fortlaufend verändert und es einen Bedarf gibt, das Alte, Verschwindende zu dokumentieren und exemplarisch zu erhalten. Zum anderen gibt es offensichtlich viele verschiedene Arten von Heimat. Ansonsten würde ja am Ende ein einziges Deutsches Heimatmuseum genügen. Heimat ist vielen von uns also irgendwie wichtig. Was aber noch nicht erklärt, was eine Heimat genau ist und wo das Gefühl für sie herkommt.

Hirnforscher sagen, dass das Heimatgefühl nicht mehr und nicht weniger ist als ein »Engramm«, eine Inschrift im Kopf. Alles, was wir erleben, was wir sehen, hören oder riechen, bewirkt nämlich Strukturänderungen in unserem Gehirn. Es hinterlässt Gedächtnisspuren, die sich im Nachhinein abrufen lassen. Den Ort, an dem wir heimisch sind, nehmen wir besonders oft und als besonders wichtig wahr. Die »Heimat« besteht genau genommen aus unzähligen Engrammen, die wiederum zusammen mit Millionen und Milliarden anderer Inschriften unser Gedächtnis darstellen. Auch der alte Apfelbaum am Wegrand ist unzählige Male in unseren grauen Zellen abgespeichert worden. Blühend, fruchtend, im Herbstkleid, winterkahl. Je mehr Engramme im Gehirn eingeschrieben werden und je öfter wir sie abrufen, desto stärker ist etwas verankert. Je schöner und emotionaler die Umstände eines Erlebens sind, umso nachhaltiger wird es als Erinnerungspfad im Gehirn abgelegt. Besonders leicht und tief prägen sich bei Kindern die meist positiv besetzten Erfahrungen in der heimatlichen Umgebung ein. Was aber nicht heißt, dass es nur darauf ankommt. Bereits das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm definierte 1877 Heimat als »das Land oder auch nur den Landstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden Aufenthalt hat«. Man legte also Wert auf die Feststellung, dass man eine Heimat auch aktiv annehmen kann. Eine vergleichsweise moderne Definition. In der Folgezeit wurde der Heimatbegriff zu oft untrennbar mit dem Ort verknüpft, an dem man geboren wurde. Die Zeiten, in denen »Heimat« politisch missbraucht wurde, sind hinlänglich bekannt. Die modernen Sozialwissenschaften gehen davon aus, dass man sich seine Heimat suchen kann. Wer lange an einem Ort lebt, sich dort gut zurechtfindet und sich wohlfühlt, entwickelt in der Regel auch ein Heimatgefühl. Ob da nun alte Apfelbäume stehen oder betagte Palmen.

Ein Bekannter ist vor einem halben Jahrhundert nach Australien ausgewandert. Gunther lebt bei Brisbane, im Osten des riesigen Landes, und beschäftigt sich intensiv mit den Fischen und Reptilien seiner Wahl-Heimat. Ich konnte ihn dort mehrmals besuchen, und unsere gemeinsamen »Bushing«-Touren durch das australische Outback habe ich als spektakulär in Erinnerung. Nie mehr in meinem Leben bin ich so vielen apart gezeichneten Geckoarten in so kurzer Zeit begegnet. Gunther hat schon Tierarten entdeckt, die der Wissenschaft zuvor unbekannt waren, und viele Spezies zum ersten Mal fotografiert und über sie in Aufsätzen und Büchern veröffentlicht. Er liebt die Reptilien seines Landes, und für ihn ist die australische Wasseragame vielleicht das, was für mich die Zauneidechse ist. Ein heimisches Tier, dem man gelegentlich begegnet und das jedes Mal das Herz höher schlagen lässt. Beide Echsenarten gehören für uns zur Ausstattung unserer jeweiligen Lebenswelten, sind Bestandteile unserer jeweiligen Heimat. Mein Bekannter von »Down Under« ebenso wie ich hier in Deutschland – beide würden wir uns jederzeit für »unsere« Echse einsetzen, sollte ihr Vorkommen bedroht sein. Gunther spricht noch Deutsch und interessiert sich für Deutschland. Er würde aber wohl keine Sekunde zögern, Australien (und Queensland und Brisbane) als seine Heimat zu bezeichnen. Bei mir ist es Deutschland (und Bayern und das Isental). Trotz Altersunterschied ticken er und ich ganz ähnlich. Wir beide knüpfen den Heimatbegriff im Kern nicht an den Geburtsort, aber dennoch an geografische Koordinaten. Heimat ist der Platz, an dem wir schon immer – oder eben ab irgendwann zu Hause waren. Es ist auch die Sprache, die wir täglich sprechen, und es sind die Gesetze, die unser Miteinander (und das Miteinander von Mensch und Natur) regeln. Wohl jeder Mensch kann, ohne lange darüber nachzudenken, sagen, wo seine Heimat ist. Für die meisten hat sie einen unbedingten Ortsbezug, und dazu gehört auch die Natur. Nun könnte man meinen, dass das nur gilt, wenn man draußen, auf dem Land wohnt. Dem ist aber keineswegs so! Sowieso dürften die meisten von uns die Grenzen der Heimat weit außerhalb der Ansiedlung ziehen, in der sie leben. Auch dann, wenn es sich um eine sehr große Ansiedlung, also eine Stadt, handelt. Dank Industriebrachen, Parks und Baustellen haben Großstädte heute ohnehin oft mehr Artenvielfalt zu bieten, als es die Kulturlandschaft vor den Toren der Stadt tut. Natur, so viel steht fest, gibt es überall!

Was genau »Natur« wiederum ist, darüber diskutieren Naturwissenschaftler und Philosophen seit der Antike. Klar ist, dass der Begriff impliziert, etwas sei nicht menschengemacht. Wobei die Abgrenzung natürlich dennoch schwammig ist. Ein Kartoffelacker ist selbstredend Menschenwerk. Die Vorfahren der Kartoffelpflanze mit ihren komplexen Stoffwechselvorgängen, die Regenwürmer und Bakterien im Boden und der Regen, der die Pflanzen mit den unterirdischen Stärkeknollen versorgt, sind es nicht. Wohl deswegen bezeichnen wir gerne alles jenseits der Stadtgrenze als Natur. Ganz falsch ist das ja auch nicht. Würde man nur Natur nennen, was in gar keiner Weise vom Homo sapiens beeinflusst wurde, bräuchten wir den Begriff kaum noch. Ursprüngliche, zudem großflächige Natur existiert hierzulande schlechterdings nicht mehr. Für unsere Zwecke ist also ein pragmatischer Naturbegriff sinnvoll. Denn die Kräfte der Evolution wirken überall, und die Umwelt, in der wir unsere Heimat haben, ist ohne unser Zutun entstanden: Die Landschaft ist entweder eben oder hügelig, vielleicht gebirgig. Das Klima ist mild oder rau, feucht oder trocken. Je nachdem gibt es mehr Nadel- oder mehr Laubbäume. In Senken und Tälern glitzern Seen und Tümpel oder auch rauschende Bäche. Der Boden ist gelblich, rötlich oder schwarz – je nach Entstehungsgeschichte und Zusammensetzung. Wir können die Natur also, so wie Heimat auch, in einem engeren Rahmen betrachten oder in einem weiteren. Aber man verlöre sich in unendlich vielen Details, würde man die regionalen Unterschiede zu sehr in den Vordergrund rücken. Und wäre allzu oberflächlich, wenn der Bezugsraum für Natur und Heimat ganz Europa oder gar die ganze Erde ist. Also versuchen wir es mit einem Mittelweg: mit der Natur Deutschlands und den wichtigsten, grundsätzlichen Lebensräumen zwischen den Gipfeln der Alpen und den Untiefen von Ost- und Nordsee. Dabei ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Das Bundesamt für Naturschutz (BfN) hat jüngst den Erhaltungszustand der heimischen Lebensraumtypen untersucht. Es kommt zu dem Ergebnis, dass nur ein Fünftel unserer Lebensräume außerhalb der Alpen in einem günstigen Erhaltungszustand ist. Das bedeutet, dass viele Habitate geschädigt sind. Kein Wunder, dass von den etwa 10 000 verschiedenen Pflanzen- und ungefähr 50 000 Tierarten je ein Drittel auf der Roten Liste der bedrohten Spezies steht. Hinzu kommt ein Fünftel aller Pilzarten. Und die Liste wird immer länger. Besonders schwerwiegend ist das Insektensterben, das nicht nur einzelne Arten betrifft, sondern die schiere Menge. Wo aber die Kerbtier-Biomasse fehlt, werden Singvögel, Fledermäuse und Eidechsen nicht mehr satt. Dadurch wird unsere Heimat, wie auch immer wir sie definieren und wo auch immer wir die Grenzen ziehen, immer ärmer. Gerade kleine Tiere wie die Käfer sind meist auf ganz bestimmte Bedingungen angewiesen. An spezielle Bodenbeschaffenheiten etwa oder gewisse Temperatur- und Feuchtigkeitsverhältnisse. Oder auf das Vorhandensein bestimmter Pflanzen, Pilze oder anderer Tiere. Ist also die heimische Biodiversität irreparabel geschädigt? Dagegen spricht, dass in den vergangenen Jahrzehnten viele bereits ausgerottete oder seltene Arten zurückkehrten. In meiner Kindheit gab es hierzulande keine Wölfe. Heute sind es wieder mehr als 1000 Exemplare. Einige Zehntausend Biber bereichern unsere fließenden und stehenden Gewässer. In den Wäldern brüten mit 1000 gezählten Horsten zehnmal so viele Schwarzstörche wie vor 50 Jahren. Auch Fischotter, Kranich, Wildkatze, Adler, Seehund und andere Arten vermehren sich wieder erfreulich und legen damit nahe, dass unsere Umwelt wieder ein Stück intakter geworden ist. Oder waren lediglich die intensiven Schutzbemühungen um diese Flaggschiffarten erfolgreich? Es fällt zumindest auf, dass all diese Rückkehrer einer intensiven Verfolgung durch den Menschen ausgesetzt waren. Sprich: so lange gejagt und getötet wurden, bis es irgendwann keine oder kaum mehr Vertreter dieser Spezies bei uns gab. Ob Biber oder Seeadler, Kegelrobbe oder Wolf – als das Schießen, Vergiften und Fallenstellen beendet war, begannen sich die Bestände der betreffenden Arten langsam zu erholen.

Selbst Elch und Wisent sind drauf und dran, von ganz alleine ihr angestammtes Territorium bei uns zurückzu­erobern. Nachdem vor 250 Jahren der letzte Wisent in Deutschland geschossen worden war, kam 2017 ein Bulle über die deutsch-polnische Grenze gewandert. Er stammte aus einer Population im Verwaltungsbezirk Westpommern, der auf deutscher Seite an Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg grenzt. 300 Wisente leben dort in Freiheit. Der Bulle von 2017, der noch an dem Tag, als er über die Grenze zu uns kam, auf behördliche Anweisung abgeschossen wurde, war wohl nur ein erster Vorgeschmack. Denn der westpommersche Wisentbestand wächst und beansprucht immer mehr Raum. Eine baldige Ausbreitung der Halbtonner nach Deutschland halten viele Experten für so gut wie sicher. Deswegen fördert die EU seit 2019 ein länderübergreifendes Projekt namens »LosBonasus – Crossing«, das die natürliche Wiederausbreitung von Elch und Wisent nach Deutschland begleitet und fördert. Es ist jedoch wichtig, das Augenmerk nicht nur auf einzelne bedrohte Großtiere, sondern auf ganze Ökosysteme zu richten, sie zu schützen und dort natürliche Prozesse zu ermöglichen. Nur so genießen kleine und große, auffällige wie unscheinbare Arten gleichermaßen den Schutz, den sie verdienen.

Am Ende der »UN-Dekade Biologische Vielfalt« (2010 – 2020) treten wir also eine Reise durch Deutschland an. Stichpunktartig und anekdotisch wollen wir in den folgenden Kapiteln einen Blick auf unsere wichtigsten Großlebensräume werfen, vom Gebirge bis zum Wattenmeer. Wir wollen fragen, wie es den verschiedenen Ökosystemen geht; was zurzeit gut läuft und was nicht so gut. Und da sich kaum eine Landschaft in unserer Heimat nicht massiv durch den Menschen verändert hat, ist in vielen Fällen ein Rückblick auf die oft spannende Entstehungsgeschichte des jeweiligen Naturraumes geboten.

Eines sei vorweggeschickt. Nicht jeder Befund, nicht jede Prognose ist erbaulich. Wir lernen die Auswirkungen einer kaum bekannten Kraft kennen, die sich fast überall und zunehmend schädlich bemerkbar macht. Wir werden sehen, welchen Schaden moderne Technologien angerichtet haben. Aber auch, welch hoffnungsvoller Segen in ihnen liegen kann! Es kommt nicht darauf an, das Rad der Zeit zurückzudrehen. Es kommt darauf an, den Karren in die richtige Richtung zu lenken. Auch das will dieses Buch verdeutlichen. Selbst wenn wir Menschen gerade nachweislich dabei sind, das sechste Massenaussterben in der Geschichte der Erde herbeizuführen, an dessen Ende auch wir selbst betroffen sein könnten: Das Anthropozän, das Zeitalter des Menschen, muss keineswegs in eine Katastrophe münden!

Noch stehen viele alte Apfelbäume am Wegesrand und blühen im Frühling und fruchten im Sommer und verfärben sich im Herbst knallbunt. Noch dienen genügend von ihnen als Lebensraum, als Denkmal und als Schmuckstück in der Landschaft. Noch gibt es da draußen eine wunderbare Vielfalt, und es blüht und zwitschert und summt. Noch ist es für unsere Heimat Natur nicht zu spät.

   KAPITEL 2   Grüne Regenwürmer

In unserer Umwelt leben zahlreiche Organismen, von denen viele von uns noch nie gehört haben. Obwohl ich quasi beruflich mit der Artenvielfalt zu tun habe, staune ich immer wieder, welche Kuriositäten in der Schatzkammer der hei­mischen Natur darauf warten, entdeckt und gefilmt zu werden.

Jeder kennt den Regenwurm. Seine Rolle bei der Beseiti­gung von Falllaub und anderem organischem Abfall ist legendär. Gartenbesitzer freuen sich über zusammengerollte Blätter, die nach dem Laubfall überall senkrecht im Boden stecken. Die nächste Regenwurmmahlzeit! Ein Dutzend Blätter zieht so ein Wurm jede Nacht in sein Gangsystem, wartet, bis Pilze und Bakterien das Laub vorverdaut haben, und macht sich dann über sie her. Irgendwann sind alle herabgefallenen Blätter unter dem Apfelbaum im Garten verschwunden. Regenwürmer sind Meister in Sachen Kompostierung und Bodenfruchtbarkeit. Sie graben um, durchlüften, verteilen Nährstoffe. Unsere Wertschätzung und Dankbarkeit diesen blinden, tauben und stummen Mitbewohnern gegenüber müssten eigentlich unendlich groß sein. Aber darum soll es hier nicht gehen, sondern um das Staunen über die Mannigfaltigkeit der Natur.

Die meisten Naturliebhaber können sich durchaus vorstellen, dass es mehrere heimische Regenwurmarten gibt. Die wenigsten machen sich jedoch Gedanken darüber, wie verschieden sie aussehen und leben. Wer kennt schon Eiseniella tetraedra, den vierkantigen Wasserregenwurm? Er bewohnt den Uferbereich und Gewässergrund von Bächen, Flüssen und Seen. Und sein Körperquerschnitt ist tatsächlich viereckig. So kann er sich unter Wasser, im reißend durchströmten Kiesbett, zwischen Kieseln und rundgeschliffenem Gestein besser festhalten und droht nicht so schnell fortgerissen und zur Mahlzeit für die nächstbeste Forelle zu werden.

Wer hat von Lumbricus badensis gehört, dem Badischen Riesenregenwurm? Der größte Regenwurm Europas bewohnt ein winziges Areal im Südschwarzwald, wo er im sauren Boden von Fichtenwäldern lebt. Kein anderer Regenwurm fühlt sich hier wohl. Der mehr als einen halben Meter lange Riesenregenwurm jedoch gleitet durch sein von ihm selbst austapeziertes Wohnlabyrinth und frisst Fichtennadeln. Diese Kost scheint ihm gutzutun. Riesenregenwürmer werden mit 20 Jahren Lebenserwartung älter als alle anderen der 40 heimischen Regenwurmarten.

Das für mich größte Bonbon aus der Regenwurmverwandtschaft lebt in den Bayerischen Alpen. Aporrectodea smaragdina, der Smaragdgrüne Regenwurm. Ich hatte von dem wundersamen Wurm erstmals vor 20 Jahren gehört, als ich einen Job als studentische Hilfskraft in der Zoologischen Staatssammlung München hatte und die Art beim Mittagessen auf den Tisch kam. Als Gesprächsthema, versteht sich. Dass ich zwei Jahrzehnte später am azurblauen Königssee den smaragdgrünen Wenigborster suchen, finden und filmen würde, konnte ich damals nicht ahnen. Aber es kam so. Im Frühjahr 2021 führte uns eine Mitarbeiterin des Nationalparks Berchtesgaden zu einem Ort, von dem aus wir einen guten Blick auf einen Steinadlerhorst hatten, in dem ein bereits großer, voll befiederter Jungvogel saß. Dank Fahrgenehmigung konnten wir mit der schweren Filmausrüstung kilometerlange steile Serpentinen einer Forststraße hinauffahren. Den Rest erledigten die Adlerfachfrau, meine beiden Kameraassistenten und ich zu Fuß. An der Kamera am Steilhang war aber nur einer von uns vonnöten. Das Teleobjektiv mit 1000 Millimetern Brennweite auf das Nest gerichtet, ging es darum, in aller Ruhe auszulösen, wenn der Altvogel mit Nahrung angeflogen kam. »In aller Ruhe« deswegen, weil viele digitale Filmkameras über einen Zwischenspeicher verfügen, der ununterbrochen vorne das Geschehen aufzeichnet, während hinten schon wieder gelöscht wird. Drückt der Kameramann auf den Auslöser, bleibt das bis dahin auf dem Zwischenspeicher aufgezeichnete Bild erhalten, und die Kamera zeichnet ab sofort alles auf, was neu dazukommt. Deswegen genügt es, den roten Knopf zu drücken, wenn der Adler bereits am Nest landet. Die Sekunden davor sind dank der »Ringbuffer-Technik« auch noch drauf. Während also einer meiner Mitarbeiter den Adlerhorst in der Felswand gegenüber im Blick behielt, machten unser Azubi Jonas und ich eine Exkursion und erkundeten den Bergwald. Seit 1978, dem Gründungsjahr des Nationalparks, ist hier kein Baum mehr gefällt worden. Was nicht heißt, dass kein Baum am Boden liegt. Ganz im Gegenteil. Überall liegen die Stämme von Fichten herum. Eine der Baumleichen zog unsere Aufmerksamkeit auf sich. Ein dicker Stamm, der sicher schon einige Jahre lang den Gang alles Irdischen geht – also hier verrottet. Offensichtlich hatte ein Specht viel Zeit damit verbracht, das vom Pilz verdaute, weiche Holz auseinanderzupflücken, um möglichst viele der zahlreichen Bewohner des rotfaulen Nadelholzes zu vertilgen. Aus meiner Zeit im Münchner Käferverein wusste ich, was es hier alles zu finden gab. Tolle Schnellkäfer mit karminroten Flügel­decken. Oder kleine Hirschkäfer wie den Rindenschröter. Der ist zwar viel kleiner als sein bekannter großer Verwandter, der im Flachland an alten, sonnenbeschienenen Eichen lebt. Aber auch der Rindenschröter hat kleine geweihartige Kieferzangen (mit denen er ordentlich kneifen kann). Neugierig und vorsichtig drehten wir ein paar der losen Holzstücke um. Und siehe da, vor Jonas und mir tauchten gleich zwei Smaragdgrüne Regenwürmer auf! Das war die Gelegenheit, diese sicher nicht seltene, aber schwer zu findende Regenwurmrarität auf Film zu bannen.

Eine weitere unvergessliche Begegnung mit Regenwürmern hatte ich nur einen Steinwurf weit weg, in der Salzgrabenhöhle. Sie gehört mit neun Kilometern erforschter Länge zu den längsten Höhlen Deutschlands. Der Nationalpark selbst hatte uns beauftragt, für ein geplantes Infozentrum die unterschiedlichen Gewässertypen im Park zu dokumentieren. Da durfte die Höhle nicht fehlen. Denn durch sie strömt das Wasser von höher gelegenen Gebirgsseen, namentlich von Grünsee und Funtensee. Etwa einen Kilometer weit drin, im Bauch des Simetsbergs, gibt es sogar einen richtigen Wasserfall, und den wollten wir unbedingt filmen. Der Höhlenforscher Benjamin Menne, mit dem wir schon mehrere spannende Filmtouren in die Welt unter Tage durchgeführt hatten, hatte sich bereit erklärt, uns beim Befahren und bei den Dreharbeiten in der Salzgrabenhöhle zu begleiten und zu besagtem Wasserfall zu führen. So verbrachten wir einen ganzen Tag im ewigen Dunkel und hörten das Hallen der Tropfen und das Rauschen des Karstwassers. Die einzigen Lebewesen, die wir hier unten antrafen, waren Regenwürmer. Sie gehören zur Art Octolasium croaticum, einer von vielen, die keinen deutschen Namen haben. Sie kriechen bei wenigen Grad über null und wassergesättigter Luft einfach auf dem nassen Karstgestein umher. Je weiter wir in die Höhle vordrangen, desto mehr Regenwürmer waren zu sehen. Schon weil wir einige Zeit für die Filmaufnahmen an dem schwer zugänglichen Wasserfall in der Höhle brauchten, konnten wir deren hinterste Regionen nicht besuchen. Dort soll es vor Höhlenregenwürmern nur so wimmeln. Höhlenforscher Benjamin erzählte, dass es Bereiche gebe, die sogar nach den Wenigborstern benannt wurden, wie der »Regenwurmkamin« oder der »Würmsee«. So häufig sollen sie dort sein: mehrere Kilometer tief drin im Berg, unter einer etwa 700 Meter dicken Kalksteindecke. Wie und warum die Höhlenregenwürmer in so großer Zahl hierherkommen und von was sie sich ernähren, ist bis heute ein Rätsel.

Die Alpen stellen unseren wildesten und vielleicht am wenigsten erforschten Naturraum dar, in dem es noch Vieles zu entdecken gibt. Hier warten noch jede Menge Überraschungen. Werfen wir also einen Blick auf die heimische Bergwelt und gehen auf Entdeckungsreise im Gebirge.

   KAPITEL 3   Lebensraum Alpen

Der Wind weht sanft und warm vom Tal herauf. Dabei nimmt er den harzigen Duft uralter Fichten mit, die weiter unten am Berghang stehen. Je nachdem, welcher Luftwirbel gerade an mir vorbeizieht, riecht es bald nach Bergwald, bald nach Honig. Vereinzelt erklingen die dumpfen Klänge der Kuhglocken mit einem leichten Hall vom Waldrand. Und eine Kakophonie von Insektenrufen dringt an meine Ohren. Allen voran das schnelle Zrrr-zrrr-zrrr der Warzenbeißer, einer Laubheuschreckenart. Die Almwiese um mich herum steht in voller Blüte: Ochsenauge, Berg-Flockenblume, Sterndolde, Alpen-Milchlattich, Meisterwurz, Eisenhut, Weißer Germer und viele andere. Im Gegenlicht schwirrend, leuchten die Flügel zahlloser Fliegen und Hautflügler, die auf der Almwiese dem uralten Tauschhandel nachgehen: Nektar gegen Bestäubung. Was mich betört, ist das süße und dann wieder herbe Aroma, das mir um die Nase spielt, und der Anblick des Insektengewimmels in der Luft. Wo ich auch hinschaue, sehe ich Schmetterlinge hangaufwärts flattern oder hangabwärts gleiten: Mohrenfalter, Gelblinge, Schwalbenschwänze, Perlmuttfalter und meine Favoriten, die Roten Apollos. Die Sonne heizt den Südhang an diesem Julitag auf, und die Flugbewegungen der Falter werden schneller. Die Bergwiese, genau genommen die Almweide, ist in Teilen von den Rindern kurzgefressen, so dass die Sonnenstrahlen den Boden stark aufheizen können. So entsteht ein Hitzeflimmern, in dem, aus niedriger Perspektive und gegen den Berg betrachtet, die Abertausende vielfarbiger Kräuterblüten und die zahlreichen bunten Schmetterlinge zu einer wabernden Schicht verschwimmen. Ein impressionistisches Kunstwerk, geschaffen von der größten Künstlerin von allen, der Natur.

In den vergangenen 15 Jahren war ich oft in den Bergen, sehr oft. Schon als Kind ging ich mit meinen Eltern immer wieder bergsteigen, meist nicht ganz freiwillig. Erst die Arbeit mit der Kamera hat mir das schweißtreibende Bergauf und Bergab richtig nahegebracht, obwohl es beladen mit Filmausrüstung eigentlich kein Vergnügen ist, stundenlang entgegen der Schwerkraft einen Berg hinaufzusteigen. Aber Aufnahmen von mühsam erarbeiteten Motiven mit nach Hause zu bringen ist doppelt so schön. Kaum jemand hat so viele verschiedene Wandersteige in den Berchtesgadener Alpen beschritten wie mein Filmteam und ich. Kaum jemand hat allerdings so regelmäßig auf halber Strecke wieder kehrtgemacht. Das liegt jedoch nicht an fehlendem Willen, sondern an den Protagonisten unserer Filme. Die sind ja nur vereinzelt in der Umgebung der Gipfelkreuze zu finden. Meist haben die Tiere und Pflanzen, die wir uns ins Drehbuch geschrieben haben, ihr Zuhause auf halber Strecke, irgendwo an den Flanken des Watzmanns und seiner Nachbarberge. Mit 30 Kilogramm Kameragepäck auf dem Rücken kommt man aber auch weit unterhalb der Bergspitze in einen Zustand, der zwischen Erschöpfung und Euphorie hin- und herpendelt. Die kühle Bergluft, angereichert mit Abertausenden Aromen aus den Blüten der Bergblumen, von Moos und Falllaub und von den Zweigen der Bäume, an denen wir entlangstreifen, ist wie ein magisches Parfüm. Ein Geruch, der uns in die Nase steigt, im limbischen System Emotionen erzeugt und uns positive Schwingungen beschert. Der Geruchssinn ist viel ursprüng­licher und »primitiver« als etwa Sehsinn oder Gehör. Die Wirkung von Düften auf unser Befinden viel unmittelbarer als andere Sinneseindrücke. Zwar hängt die durch einen Geruch erzeugte Emotion von zuvor Erlebtem und Erlerntem ab. Aber wenn es einen Duft gibt, der bei den wenigsten Menschen auf Ablehnung stoßen dürfte, dann jener von üppig blühenden Bergwiesen. Und wer genau »hinriecht«, der entdeckt sogar ganz spezielle und besonders angenehme Gerüche, die es nur hier gibt.

So wächst auf den mageren Wiesen oberhalb der Baumgrenze, wo mal ein eisiger Bergwind durch die niedrige Vegetation bläst und dann wieder die sengende Sommersonne alles zu verbrennen scheint, ein Blümchen, das für mich zu den tollsten Gewächsen der Heimat gehört. Es ist klein, unscheinbar vom Laub her, besticht aber durch einen kompakten dunkelroten Blütenstand, der in Form und Farbe im Reich der heimischen Blütenpflanzen einmalig ist: das Kohlröschen, ein Vertreter der Orchideen. Als schwarzrote Kleckse springen die Kohlröschen im alpinen Trockenrasen ins Auge. Aber die optische Erscheinung ist nicht das Beste an diesen kleinen Pflanzen. Es ist ihr Duft. Wer sich mit dem Riechkolben zum Magerrasen bückt, der kann ein unver­gleich­liches Parfüm wahrnehmen. Ein Bukett von Schokolade, Kakao und Vanille. Man möchte hineinbeißen in die kleine (streng geschützte!) Orchidee; aber natürlich unterlässt man das. Kühe, die mit Heu von Kohlröschenwiesen gefüttert werden, bekommen in der Folge angeblich blaue Milch. Dies dürfte heute jedoch kaum mehr zu überprüfen sein; das Kohlröschen gilt als besonders empfindlich gegenüber Düngung. Seine Bestände auf den meisten Wirtschaftswiesen sind längst erloschen. Auf alpinen Matten wiederum, wo es noch vorkommt und keine Kühe grasen, sondern Gämsen und Steinböcke, wird kein Heu gemacht. Und ob deren Milch infolge des Kohlröschenverzehrs blau gefärbt ist, weiß nur der Wind.

In den Alpen wachsen noch mehr Pflanzen, die mit ungewöhnlichen Duftnoten Bestäuber anlocken. Das Buchsblättrige Kreuzkraut wirbt mit einer Pfirsichnote, die zartrosa Mehlprimel riecht nach Pferdeschweiß, und das berühmte Edelweiß lockt mit einem schweren Honigduft Fliegen als Bestäuber an. Die blendend weißen Blattzacken, die die Edelweißblüte bekränzen, sind dabei geruchlos, es sind ja auch nicht die eigentlichen Blüten. Die sind klein und gelb und sitzen in der Mitte. Aber auch der Stern aus filzig behaarten Hochblättern hat eine wichtige Funktion: Unzählige kleine Luftbläschen hängen im krausen Haar und reflektieren das Sonnenlicht, bringen die Blüte förmlich zum Leuchten und machen Insekten auf das Nektarangebot aufmerksam. Darüber hinaus schützt der Filz vor Hitze und Kälte auf 2000 oder mehr Metern Höhe über dem Meer. Und er hat noch eine weitere bemerkenswerte Funktion. Die weiße Haarschicht reflektiert durch ihre besondere Beschaffenheit ultraviolette Strahlen stärker als andere Wellenlängen im Lichtspektrum. Die einzelnen Härchen auf den Hochblättern haben einen Durchmesser von exakt 0,18 Mikrometern. Das entspricht in etwa der Wellenlänge ultravioletter Strahlung, die in dem Naturfaser-Wirrwarr abgelenkt und dadurch entschärft wird. So kann das Edelweiß unbeschadet die sengende Hochgebirgssonne als Energiequelle nutzen und ist dennoch vor den aggressiven Anteilen des Lichtes geschützt. Das Leben in besonderen Lebensräumen erfordert besondere Anpassungen!

Die Alpen ragen auf einem Zwanzigstel der Landesfläche empor. Sie sind ein erdgeschichtlich junges Hochgebirge, das »erst« vor etwa 130 Millionen Jahren entstand, als die Afrikanische Kontinentalplatte nach Norden driftete und mit der Europäischen Platte zusammenstieß. Beim Zusammenprall verzahnten sich die beiden so sehr ineinander, dass der Boden regelrecht gefaltet wurde; ein Vorgang, verursacht durch schier unvorstellbare Kräfte. In einer späteren Phase wiederholte sich dieser massive Druck aus dem Zusammenstoß der Kontinente. Dabei wurde das zuvor gefaltete Gestein in die Höhe geschoben. So weit, bis die Alpen das höchste Gebirge Europas waren. Und sie wachsen noch immer! In einem rund 1200 Kilometer langen und 200 Kilometer breiten Bogen erstrecken sie sich vom Ligurischen Meer im Westen bis zum Pannonischen Becken im Osten; eine Fläche von rund 200 000 Quadratkilometern. Das Gebirge liegt im Herzen Europas und ist eine bedeutende Wetter- und Klimascheide. Es trennt das vom Atlantik und seinem milden und feuchten Klima beeinflusste Mitteleuropa vom Mittelmeerraum, der Hitze und Trockenheit bringt.

Nicht nur für das Klima, auch für die Wasserversorgung haben die Alpen eine zentrale Funktion, denn hier entspringen große Flüsse wie der Rhein und zahlreiche Nebenflüsse der Donau. Mehr als fünf Millionen Menschen sind über die Trinkwasserversorgung aus dem Bodensee vom Gebirgswasser der Alpen abhängig. Großstädte wie München beziehen ihr Trinkwasser fast vollständig aus den Alpen. Die hohen Niederschläge in den berühmten Staulagen, wo sich die Wolken abregnen, sorgen dafür, dass im Voralpenland Wasser immer zur Verfügung steht. Zum Vergleich: Die jährliche Niederschlagsmenge am Südrand der Republik beträgt um die 2000 Millimeter. Im Großteil der Republik sind es dagegen unter 800, und je weiter man nach Osten kommt, desto weniger.

Im Eis der großen Gletscher in den Zentralalpen sind – zumindest derzeit noch – riesige Mengen Süßwasser gespeichert. Infolge des Klimawandels schwindet dieses Wasserreservoir allerdings allmählich dahin. Der Anstieg der Temperaturen in den Alpen betrug im vergangenen Jahrhundert knapp zwei Grad Celsius, beinahe doppelt so viel wie im globalen Durchschnitt. Klimatologen sagen einen Anstieg von weiteren zwei Grad für die nächsten 40 Jahre voraus. Nach Angaben der »Gesellschaft für Ökologische Forschung« verloren die Eismassen seit der massiv einsetzenden Industrialisierung im 19. Jahrhundert bis zum Jahr 1980 etwa ein Drittel ihrer Fläche und die Hälfte ihrer Masse. Seitdem schmolzen weitere 20 bis 30 Prozent des Eisvolumens ab. Schweizer Wissenschaftler rechnen mit dem Verlust von drei Vierteln der heutigen Alpengletscher bis zum Jahr 2050. Die Gletscher auf deutschem Staatsgebiet geben ein besonders dürftiges Bild ab, sie liegen sozusagen in ihren letzten Zügen. Fünf Stück sind es noch, drei an der Zugspitze und zwei in den Berchtesgadener Alpen. Allesamt Winzlinge im Vergleich zu jenen Gletschern, wie sie einst das Land formten und sich heute noch in schwindender, aber dennoch beeindruckender Dimension durch die Hochgebirgslandschaften Österreichs und der Schweiz winden.

An und neben den sterbenden Gletschern lassen sich faszinierende Bewohner dieser inselhaften Kältewüsten beobachten. Hier blühen Kräuter wie der Gletscher-Hahnenfuß oder der Gletscher-Petersbart, echte Spezialisten für die eisigen Geröllhalden am Rande der Eismassen. Als Schutz gegen Steinschlag hüllt sich der Petersbart in seine abgestorbenen Blätter, die wie ein polsterndes Kissen die lebenden Teile der Pflanze vor Verletzungen bewahren. Der Gletscher-Hahnenfuß wiederum gehört zu den kälteresistentesten Pflanzen überhaupt. In den Alpen gedeiht er noch in einer Höhe von über 4000 Metern. Damit ist er die am höchsten aufsteigende Blütenpflanze Europas! Alle diese Gewächse bringen Leben und Farbe in diese scheinbar unwirtliche Landschaft.

Zwischen den bunten Blumen leben Schneeammer und Schneehuhn und hoch spezialisierte Gliedertiere. Der Gletscherfloh etwa entwickelt sich sogar im Bauch der Eispanzer und verbringt hier sein ganzes Leben. Seine Körperflüssigkeit enthält Zucker und verschiedene Alkohole, die sie zu einem natürlichen Frostschutzmittel machen. Damit können die Winzlinge problemlos Temperaturen von bis zu – 20° C überstehen. Die »Wohlfühltemperatur« dieses Vertreters der Springschwänze liegt allerdings um den Gefrierpunkt. Ab 12° C stirbt das Tier an Überhitzung. Das spielt auch kaum eine Rolle, denn schon vorher flutet Schmelzwasser seine Höhlen und zwingt den Gletscherfloh an die Oberfläche. Dort lauern Fressfeinde wie der Gletscherweberknecht, selbst ein schneeliebendes Eiszeitrelikt.

Gletscher sterben unablässig, schon weil die Sonne ihre Oberfläche antaut und der Druck im Inneren das Eis schmilzt. Das flüssige Wasser läuft zusammen und verlässt den Eiskörper als Gletscherbach. An seinem Ursprung, dem Gletschertor, beträgt die Temperatur des Wassers weniger als 1° C. Diese extrem niedrige Wassertemperatur erträgt nur ein einziges Insekt: die Gletscherbachzuckmücke. Um zu überleben, haben ihre Larven besondere Anpassungen: kleine, kompakte Körper mit Stummelbeinen und großen Krallen, mit denen sie sich auch bei starker Strömung an Eis und Stein festhalten können. Sie besiedeln die Gletscherbäche vor allem im Winter, wenn der Wasserstand am niedrigsten ist. Im Frühjahr schlüpfen die geschlechtsreifen Insekten und verlassen den Bach, bevor er zu viel Schmelzwasser führt und reißend wird. Mehrere Tausend Larven leben bis dahin in einem Kubikmeter Gletscherwasser. Steigt die Wassertemperatur jedoch nur um ein paar Zehntelgrad, wird die Gletscherbachzuckmücke sogleich seltener.

Auch der Winterhaft ist an Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt hervorragend angepasst und spaziert munter über das Eis, auf der Suche nach einem Geschlechtspartner. Fliegen kann das merkwürdige Insekt nicht. Es hat lange Beine, lange Fühler und einen lang gestreckten Kopf, der aussieht wie der einer Figur aus einem düsteren Science-Fiction-Film. Wird es gestört, kann es einen drittel Meter weit springen. Obwohl flugunfähig, braucht das Männchen seine verkümmerten Flügel dennoch: Sie sind zu Klammerorganen geworden, die dazu dienen, das Weibchen bei der Hochzeit auf dem Eis festzuhalten. Auf einer Gletscherzunge vielleicht, die aussieht, als habe jemand Himbeersirup verschüttet. Denn wo das ganze Jahr über Schnee liegt, färben manchmal merkwürdige Minipflanzen die Eislandschaft bunt. »Blutschnee« liegt dann auf den Gletscherzungen. Verursacher des roten Schnees sind einzellige Schneealgen. Die rote Pigmentierung in ihren Zellen dient dem Schutz vor der starken UV-Strahlung auf der Gletscheroberfläche.

Die steigenden Temperaturen führen in den Alpen aber zu noch mehr Veränderungen, als dass »nur« das Eis abschmilzt. Aus Tieflagen dringen immer mehr Flachlandarten in alpine Regionen und machen den Gewächsen der Berge den Lebensraum streitig. Ein Fünftel der Alpenpflanzen steht dadurch heute unter einem Konkurrenzdruck, den sie letztlich uns Menschen zu verdanken haben. Bis zum Jahr 2100, schätzen Botaniker, werden sich die Verbreitungsgebiete von etwa 150 Alpenpflanzen halbieren. Besonders betroffen sind solche Arten, die nur in einem kleinen Areal existieren. Ihr Lebensraum schrumpft noch stärker. Gleiches gilt für die Tiere der Bergwelt. Arten, die es kühl brauchen, werden nach oben gedrängt. Und dabei schnell an die Wand. Der Alpensalamander ist so ein Kandidat. Er braucht hohe Luftfeuchtigkeit und niedrige Temperaturen. Schon ab 4° C wird er munter, oft erst weit nach Mitternacht. Am meisten sagen dem Alpensalamander felsige Almweiden als Wohnort zu. Hier leben 20-mal so viele Individuen wie im Bergwald. Steigende Durchschnittstemperaturen machen sich hier jedoch bemerkbar, indem die sengende Sonne den Boden immer mehr aufheizt. In der Folge zieht sich der schwarze Lurch in höhere Lagen zurück. Dieses Schicksal teilen viele Gebirgstiere: ob Schneemaus, Bergpieper oder Gletscherweberknecht. Sie alle müssen nach oben ausweichen, wenn es wärmer wird. Bis es nicht mehr weiter geht.

Die Klimaerwärmung ist nicht das Einzige, womit wir den Alpen den Stempel des Anthropozäns aufdrücken. Wenn wir genau hinsehen, erkennen wir: Die Bergwelt ist keine unberührte Natur. Seitdem vor rund 7000 Jahren die ersten Bauern die Berge besiedelten, verändert der Mensch den alpinen Naturraum nachhaltig. Der Homo sapiens drang in alle Alpentäler und selbst in die Hochlagen vor. Er schuf Bauwerke vom kleinen Heustadel bis hin zur riesigen Autobahnbrücke. Er legte Wege vom schmalen Bergpfad bis zur sechsspurigen Schnellstraße an. Und er prägte das Gesicht der alpinen Landschaft und ihrer Pflanzen- und Tierwelt auch abseits der Verkehrsachsen. In puncto Tierwelt bedeutete dies vor allem die Ausrottung der größeren Arten. Ähnlich wie im Flachland verschwanden im Zuge der Besiedelung durch den Menschen die großen Säugetiere und Vögel. Das Verschwinden oder auch nur Seltenwerden grasender und blätterfressender Säuger hat wiederum große Auswirkungen auf die Vegetation. Nur wenn ausreichend Pflanzenfresser da sind, gibt es dauerhaft Bergwiesen. Ganz einfach deswegen, weil dann hungrige Mäuler den Jungwuchs der Sträucher und Bäume in Schach halten. So bleiben die Freiflächen als Lebensraum für Murmeltier, Birkhuhn, Apollofalter oder Kohlröschen erhalten. Verschwinden die Pflanzenfresser, ergreift früher oder später der Bergwald Besitz von der Lichtung, schluckt das Licht und raubt den Bergwiesenbewohnern die Lebensgrundlage.

Niemand weiß, wie es hier oben aussehen würde, hätte es den Menschen und seinen Erfindergeist nicht gegeben. Als Modell für diese hypothetische ursprüngliche Alpennatur könnte die letzte Warmzeit dienen, das Eem, das von 126 000 bis 115 000 Jahre vor unserer Zeit dauerte. Damals lebten zwar bereits Menschen in Gestalt des Neandertalers in Europa und im Alpenraum. Allerdings in mutmaßlich so geringer Bevölkerungsdichte, dass ihr Einfluss auf Natur und Landschaft noch nicht so gravierend gewesen sein dürfte. Die großen Tiere, die es im Eem im Gebiet des heutigen Deutschlands gab, sind von Ausgrabungen weitgehend bekannt. Und ihre potenzielle Bedeutung als Landschaftsgestalter wird zunehmend erkannt. Welche Arten in welchem Ausmaß jedoch die Hochlagen der Alpen besiedelten und wie groß ihr Einfluss auf die Landschaft letztlich war, bleibt wohl für immer Gegenstand von Spekulationen.

Um die Natur der Alpen, wie wir sie heute vorfinden, zu verstehen, werfen wir am besten einen Blick noch etwas weiter zurück in die Vergangenheit. Vor rund 1,2 Millionen Jahren setzten die ersten Menschen ihre Füße auf den europäischen Subkontinent. Die frühesten menschlichen Funde in den Alpen haben ein Alter von rund einer Million Jahre. Sie wurden nahe Menton in Höhlen der französischen Seealpen am Mittelmeer entdeckt. Seit dieser Zeit wechselten sich in Europa mehrfach kürzere Warmzeiten mit längeren Kaltzeiten ab. Die Menschen lebten damals ja – so wie wir heute noch – im Eiszeitalter. Während der Warmzeiten drangen Jäger und Sammler bis in die höchsten Gebirgsregionen vor, da die waldfreien Matten im Sommer besonders reich an Jagdwild waren. Wahrscheinlich folgten die Menschen, vom Alpenrand im Winter zu den Hochlagen der Berge im Sommer, den großräumigen Weidewechseln der Tiere: verschiedener Hirscharten, Wildrinder und in den weniger steilen Lagen sicher auch Elefanten, Nashörner und anderer. Dass selbst zu Zeiten größter Vergletscherung menschliche Jäger in den Alpen unterwegs waren, belegen Funde von Steinwerkzeugen, die mehrere Zehntausend Jahre alt sind. Zahlreiche Knochenfunde aus Höhlen wie dem »Drachenloch«, dem »Wildenmannlisloch« oder dem »Wildkirchli« in der Schweiz sprechen Bände. Sicher jagten die Menschen aber bevorzugt in den eisfreien Regionen im Alpenvorland.

Nach dem letzten Rückzug der Gletscher, ab etwa 8000 vor der Zeitenwende, drangen die Jäger und Sammler wieder von allen Seiten – dem Wild folgend – in das Kerngebiet der Alpen vor. Es waren aber nicht mehr so viele für die Jagd attraktive Arten da. In dieser Zeit erfand der Mensch im Vorderen Orient Ackerbau und Viehwirtschaft, die geradezu revolutionäre Wirtschaftsweise des Bauerntums. Diese neue Lebensart der Landwirtschaft erreichte den Alpenraum um etwa 6500 v. d. Z.

Das Zeitalter war ideal dafür, denn es brach eine milde Klimaperiode an, die etwa 4000 Jahre andauern sollte. In Deutschland breiteten sich in dieser Zeit wärmeliebende Tier- und Pflanzenarten aus, die wir heute noch in »Wärmeinseln« finden, wie Weinhähnchen, Smaragdeidechse, Flaumeiche und viele andere. In dieser Zeit waren die Berge der Alpen gletscherfrei, und dank des milden Klimas war noch in einer Höhe von 1500 Metern der Anbau von Getreide möglich. Forscher konnten für diese Periode auch die Spuren der ältesten Brandrodungen im Almbereich nachweisen. Die bäuerliche Kultur drang also schon relativ früh von zwei Seiten in die Bergwelt vor: zum einen mit der Viehwirtschaft in das Stockwerk der Almen, zum anderen mit dem Ackerbau in die tieferen Tallagen. Mit der Zeit entwickelten die frühen Bauern des Alpenraums auch die Transhumanz, eine Wanderweidewirtschaft, bei der die Tiere den Sommer in der Höhe und den Winter im Tal verbringen. Schafe und Ziegen überstanden einen sommerlichen Kälteeinbruch mit Schneefall meist unbeschadet. Anders die altertümlichen Getreidesorten: Da sie im warmen und trockenen Klima des Vorderen Orients entstanden waren, reagierten sie sehr empfindlich auf Nässe und Kälte. Der kühle und feuchtere Nordrand der Alpen blieb daher länger von der Bauernkultur unberührt, weil die Tallagen für den Ackerbau nicht so gut geeignet waren. Die Nordalpen wurden zum Rückzugsgebiet von Jägern und Sammlern, die ihrerseits von den »modernen« Bauern aus den klimatisch günstigeren Gebieten verdrängt wurden. Die im gesamten nördlichen Alpenraum verbreiteten Sagen von »Wildleuten« könnten ein Hinweis auf diesen uralten Konflikt sein.

Insgesamt führte die Entwicklung der Menschen im Laufe der Jahrtausende zu einer starken Veränderung der ursprünglichen Naturlandschaft der Alpen: Jäger und Sammler beeinflussten Pflanzenbestände direkt oder indirekt durch das Bejagen des Wildes, dessen Einfluss auf die Vegetation immer mehr abnahm. Die bäuerliche Nutzung bedeutete einen fundamentalen Eingriff in die natürlichen Gegebenheiten. Um Ackerbau betreiben sowie Gärten und Siedlungen anlegen zu können, musste der Wald gerodet werden. Für die Viehwirtschaft wurden Weiden angelegt. Als Schutz vor Lawinen, Murenabgängen, Steinschlag und Hochwasser ließ man den Wald in bestimmten Lagen als »Bannwald« stehen. So entstand auf den oberen Berghängen ein Mosaik aus Wald- und Offenflächen.

Von circa 3800 bis etwa 2000 v. d. Z. herrschte in den Alpen die »Kupfersteinzeit«. Damals verfügten die Bewohner der Alpen bereits über erste Kenntnisse in der Metallverarbeitung. Am Fuß des Hochkönigs, in den Berchtesgadener Alpen, wurde schon seit rund 5000 Jahren Kupferbergbau betrieben, was sage und schreibe bis in das Jahr 1977 andauerte. In der »Kupfersteinzeit« lebte auch der wohl berühmteste Alpenbewohner dieses Zeitalters: »Ötzi«, dessen Gletschermumie auf eine schon erstaunlich weit entwickelte Gesellschaft und Wirtschaft deutet. Während der nun folgenden »Bronzezeit«, die von 2000 bis 750 v. d. Z. dauerte, wurde der Abbau von Kupfererzen intensiviert, oft sogar in Höhen von 2000 Metern und mehr. Auch die Landwirtschaft wurde in dieser Zeit immer mehr ausgeweitet, und zwar bis in die entlegensten Täler, in denen Kupfererz abgebaut wurde. Viele hoch gelegene Seitentäler wurden zum ersten Mal durch »Bergwerkssiedlungen« erschlossen. Es folgt eine erste Blütezeit der Almwirtschaft mit ihren nur während der Sommersaison genutzten Hochweiden. In der folgenden »Eisenzeit«, ab 750 v. d. Z., kam der Abbau von Eisenerz auf. Gleichzeitig erreichte die Salzgewinnung immer mehr an Bedeutung. Im Jahr 1734 stürzte in einem Hohlraum im Salzbergwerk von Hallstatt (im oberösterreichischen Salzkammergut) die Decke ein. Dabei fanden Bergleute einen durch Salz und Luftabschluss mumifizierten Kollegen, der wahrscheinlich bei einer Katastrophe im Jahr 350 v. d. Z. ums Leben kam – ein früher Zeuge des Salzabbaus in den Berchtesgadener Alpen. Kurz vor der Zeitenwende endete die »Eisenzeit« in den Alpen. Die Römer eroberten den gesamten Alpenraum und integrierten ihn in das Römische Reich. Während der nun anbrechenden, 500 Jahre währenden Friedenszeit, der »Pax Romana«, blühte die Wirtschaft auf. Um den südlichen Alpenraum mit dem nördlichen zu verbinden, legten die Römer quer durch die Alpen führende Straßen an, auf denen Handelsgüter und die römische Reichspost transportiert wurden. Die Via Claudia Augusta war eine der wichtigsten Römerstraßen: Sie verband Norditalien mit dem süddeutschen Raum, führte vom Po bis an die Donau und bot damit bereits in der Antike eine Möglichkeit zur Überquerung der Alpen. Mit dem Ausbau der Via Raetia, die über den Brennerpass führte, verlor die Via Claudia ab dem zweiten Jahrhundert n. d. Z. ihre Bedeutung als Alpenübergang. Trotzdem war sie ein bis ins Mittelalter bestehender Verkehrsweg. In den Alpentälern errichteten die Römer Militärlager und Reisestationen, was zur Gründung von alpinen Städten wie zum Beispiel Partenkirchen (Partanum), Füssen (Foetes), Rosenheim (Pons Aeni) oder Bad Reichenhall (Ad Salinas) führte.

Die römischen Städte bezogen im großen Stil Nahrungsmittel wie Käse oder Fleisch aus den Alpen. Aus den hoch gelegenen Bergregionen holten die Römer sogar Eis, um die Lebensmittel zu kühlen. So mancher Bauer gab damals die Landwirtschaft auf, um den lukrativeren Beruf eines Händlers zu ergreifen.

Mit dem Untergang des Weströmischen Reiches im 5. Jahrhundert endete die Präsenz der Römer im Alpenraum, und die Bergregionen entvölkerten sich. Jetzt drangen alemannische und bairische Stämme von Norden aus in die Berge vor. Sie siedelten sich in den kühlen und feuchten Nord­alpen an, die zuvor nur dünn besiedelt waren. Da die germanischen Stämme lediglich in begrenztem Umfang Ackerbau und hauptsächlich Viehwirtschaft betrieben, konnten sie diese Region der Alpen erfolgreich nutzen. Die Unterschiede in der Wirtschaftsweise nördlich und südlich der Alpen hinterließen bis heute ihre Spuren: Im germanischen Raum dominiert die Viehzucht, im romanischen Raum dagegen der Ackerbau. So entstanden unterschiedliche Ernährungsweisen und regionale Küchen sowie Familien- und Siedlungsstrukturen.