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Jan Haft zeigt uns den Wald, wie wir ihn noch nicht gesehen haben – Ein neuer Blick des Autors von »Die Wiese« auf das Ökosystem Wald – Mit zahlreichen farbigen Abbildungen des Autors
Leuchtende Pilzmücken, dunkle Bienen, Spechte mit überraschenden Entdeckerfähigkeiten und Schmetterlinge, die Wölfen hinterherfliegen: Unsere Wälder sind voll prallem Leben, mehr als wir auf den ersten Blick wahrnehmen – und doch sind sie zugleich meist eintöniger, als sie es sein müssten. Dabei ist die Artenvielfalt oft besonders gering in Wäldern, die nicht genutzt und sich selbst überlassen werden.
Anschaulich beschreibt der Biologe und Naturfilmer Jan Haft, der mehrere Filme über den Wald gedreht hat, das faszinierende Netzwerk des Lebens im Wald und legt dar, welche der bei uns vorkommenden Waldarten dieses Netzwerk am stabilsten halten: Mittelwälder etwa oder die beinahe vergessenen Weidewälder, die eines gemeinsam haben – sie sind licht und artenreich.
Mit vielen eindrucksvollen Fotografien und Tipps für Waldbesuche
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Seitenzahl: 302
Veröffentlichungsjahr: 2024
Leuchtende Pilzmücken, dunkle Bienen, Spechte mit überraschenden Entdeckerfähigkeiten und Schmetterlinge, die Wölfen hinterherfliegen: Unsere Wälder sind voll prallem Leben, mehr als wir auf den ersten Blick wahrnehmen – und doch sind sie zugleich meist eintöniger, als sie es sein müssten. Dabei ist die Artenvielfalt oft besonders gering in Wäldern, die nicht genutzt und sich selbst überlassen werden.
Anschaulich beschreibt der Biologe und Naturfilmer Jan Haft, der mehrere Filme über den Wald gedreht hat, das faszinierende Netzwerk des Lebens im Wald und legt dar, welche der bei uns vorkommenden Waldarten dieses Netzwerk am stabilsten halten: Mittelwälder etwa oder die beinahe vergessenen Weidewälder, die eines gemeinsam haben – sie sind licht und artenreich.
Der Biologe Jan Haft, geboren 1967, ist ein vielfach ausgezeichneter Natur- und Tierfilmer, dessen Filme sowohl im Kino als auch im Fernsehen gezeigt werden. Er lebt mit seiner Frau und drei Kindern auf einem Bauernhof im Isental bei München. Sein erstes Buch Die Wiese. Lockruf in eine geheimnisvolle Welt erschien 2019 parallel zu seinem Kinofilm Die Wiese – ein Paradies nebenan, beide waren ein großer Erfolg. In seinem zweiten Buch Heimat Natur (2021; im Taschenbuch 2023 unter dem Titel Natur nebenan) lenkte er den Blick auf die Lebensräume, Tiere und Pflanzen vor unserer Haustür, mit Wildnis (2023) skizzierte er ein neues Verständnis von wilder Natur. Bei ARTE und im Ersten lief 2024 die neue dreiteilige Dokumentation Unsere Wälder mit beeindruckenden Aufnahmen zum Thema dieses Buches.
»Ein Buch, wie die Unterhaltung mit einem spannenden Gesprächspartner: ausgesprochen anregend, unterhaltsam, immer wieder überraschend. Unbedingt lesenswert. Nahrung für weitere Gedanken.« Norbert Schäffer, Vorsitzender, Landesbund für Vogelschutz, über Wildnis
www.penguin-verlag.de
JAN HAFT
Wie sie sind, wie sie sein könnten: Ein anderer Blick auf das Zusammenleben von Menschen, Tieren und Pflanzen
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Copyright © 2024 Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Bildbearbeitung: Lorenz+Zeller GmbH, Inning a. Ammersee
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt
Umschlagabbildungen: © Jan Haft
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-32056-0V002
www.penguin-verlag.de
All jenen in Forst und Naturschutz gewidmet, die bereit sind, manches neu zu denken, und die gemeinsam für eine lebenswerte Zukunft arbeiten.
Prolog
KAPITEL 1 Deutschlands schönster Wald
KAPITEL 2 Kleine Lämpchen
KAPITEL 3 Ungleiche Schwestern
KAPITEL 4 Wölfe und Schmetterlinge
KAPITEL 5 Speierling auf Partnersuche
KAPITEL 6 Zeitreise mit Pilz und Pollen
KAPITEL 7 Königin, wer eine Höhle hat
KAPITEL 8 Der brennende Wald
KAPITEL 9 Wunderbare Waldweide
KAPITEL 10 Gemütliche, drastische Maßnahmen
KAPITEL 11 Mitten im Mittelwald
KAPITEL 12 Ziemlich wilde Bienen
Epilog
Literaturverzeichnis
Bildteil
Eine gute Nachricht gleich zu Anfang: Dem deutschen Wald geht es gar nicht so schlecht, zumindest aus Sicht der Natur. Außerdem wird Wald immer mehr! Unsere Buchenwälder haben allein im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts um mehr als 100 000 Hektar zugenommen. Die Gesamtfläche der anderen Laubwälder legte sogar fast um das Doppelte zu. Gleichzeitig verschwanden zwar Fichten- und Kieferkulturen. Unter dem Strich ist die Waldfläche in Deutschland jedoch gewachsen, so wie in den Jahrzehnten davor auch. Das hört sich auf den ersten Blick gut an, es ist aber eine Medaille mit zwei Seiten, wie wir noch sehen werden.
Warum schreibt ein Naturfilmer ein Buch über den Wald? Sollte ich dafür nicht Forstwissenschaftler sein oder Forstwirt? Und warum überhaupt noch ein Waldbuch? Gibt es nicht genügend Bücher zum Thema mit grünem Einband und eingängigem Titel? In den folgenden Kapiteln geht es weder um Holz noch um Forstwirtschaft, die in unseren Wäldern meist die zentrale Rolle spielen, sondern um das Neben-, Gegen- und vor allem um das Miteinander all der verschiedenen Organismen, die in diesem Habitat leben, dem die Riesen der Pflanzenwelt das Gesicht verleihen. Ich möchte Sie, liebe Leserin, lieber Leser, auf eine Reise zu kleinen und großen Geheimnissen mitnehmen und dabei herausfinden, was »Wald« eigentlich ist. Die Antwort auf diese Frage ist nicht so eindeutig, wie man meinen könnte.
Von 3600 heimischen, höheren Pflanzenarten wachsen nach Auskunft von Professor Jörg Ewald, Vegetationskundler und Dekan der Fakultät Wald und Forstwirtschaft an der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf, etwa 250 Gewächse speziell im Wald. Das macht lediglich knapp sieben Prozent unserer Flora aus. Davon wiederum gehört nur ein Bruchteil zu den Bäumen. Die mächtigen Gehölze prägen unstrittig den Lebensraum Wald, aber die zahlenmäßig weit überlegenen Tiere tun es nicht minder, zumindest täten sie das, wenn man sie ließe. Von den fast 50 000 heimischen Tierarten sind zwar ebenfalls nicht einmal ein Zehntel sogenannte Waldarten. Unter dem Strich leben jedoch viel mehr verschiedene Tiere im Wald als Pflanzenarten. So kann man den Lebensraum Wald durchaus auch als ein Reich der Tiere verstehen, und betrachtet man die Vorgänge in ihm von dieser Warte aus, kommt man zu überraschenden Ergebnissen.
Im Laufe von mehr als 25 Jahren als Filmemacher habe ich mich immer wieder mit den Tieren, Pflanzen und auch den Pilzen des Waldes beschäftigt und viele von ihnen mit der Kamera festgehalten. Für eine mehrteilige Dokumentation über unsere Wälder, die 2024 zunächst auf ARTE und dann in der ARD ausgestrahlt wurde, war ich mit meinem Team über mehrere Jahre in vielen verschiedenen Waldgebieten unterwegs. Solche, die sich selbst überlassen sind und »wild« aussehen, und andere, in denen die Spuren menschlichen Wirtschaftens allgegenwärtig sind. Es ist ein sehr persönlicher Film geworden, denn das Thema bewegt mich zutiefst. Ich konnte Gebiete in den Vordergrund rücken, die in Ranglisten besonderer Wälder gar nicht erst auftauchen. Während der Dreharbeiten habe ich viele Menschen getroffen, die einen eigenen Blick auf den Wald haben, mal einen akademischen, mal einen praktischen, oftmals beides. Sie sollen in diesem Buch, das zur Diskussion über alte Vorstellungen und festgefahrene Narrative beitragen will, ebenfalls zu Wort kommen. Vor allem aber möchte ich für einen ganz bestimmten Wald werben, der noch viel mehr kann als die schönen und vielfältigen Wälder, die wir heute innerhalb und außerhalb unserer Naturschutzgebiete haben. Folgen Sie mir also auf eine Reise zu einigen der spannendsten Organismen unserer Wälder – früher, heute und morgen.
Es wäre einfach, an dieser Stelle einige Nationalparks zu nennen, also Waldgebiete aufzuzählen, die in den letzten Jahrzehnten aus der Nutzung genommen wurden und die sich dem Besucher als wild und ungezähmt präsentieren. Den Schwarzwald ganz im Südwesten vielleicht oder den Hainich im Herzen Deutschlands. Den Darßwald im Norden oder den Bayerischen Wald im Südosten.
Wenn im Frühling die Buchen austreiben und dazwischen dunkelgrüne Tannen stehen; der Boden übersät mit dem rotbraunen Buchenfalllaub, aus dem ein paar Farnwedel ragen – kein Gemälde könnte schöner sein. Wenn in der Herbstsonne der Spitzahorn, unser vielleicht farbenprächtigster Laubbaum, in Gelb, Orange, Grün und Lila zwischen den oft in Gesellschaft auftretenden, ewig grünen Eschen und Fichten aufleuchtet: schön sind sie alle, die Wälder unserer Naturschutzgebiete und Nationalparks. Aber nicht nur sie!
Wer ein besonderes Feuerwerk der Farben erleben will, dem sei ein herbstlicher Spaziergang durch den Exotenwald von Weinheim nördlich von Heidelberg ans Herz gelegt. Hier stehen auf 60 Hektar Baumarten aus aller Welt beisammen, darunter riesige Mammutbäume, die unsere heimischen Bäume weit überragen. Sicheltanne, Kuchenbaum, Gurken-Magnolie, Riesen-Lebensbaum, Zucker-Ahorn und Dutzende andere Exoten bieten in dem 1872 gegründeten Arboretum ein botanisches Schaulaufen der Blattformen und Laubfarben. Hier kann man auch eine Reihe von Baumarten bestaunen, die früher einmal bei uns heimisch waren und die im Laufe der Zeit aus Mitteleuropa verdrängt wurden.
Aber auch der Nullachtfünfzehn-Wirtschaftswald, der klassische Forst, kann schön und spannend sein. Ich bin im Münchner Osten aufgewachsen, am Rande des Ebersberger Forstes. Mit ihm verbinde ich zahllose Expeditionen als Kind, in eine geheimnisvolle Welt aus Moosen, Pilzen und Bäumen, in der es herrlich roch und wo es so vieles zu entdecken gab. Eulengewölle zum Beispiel, die ich mit Begeisterung suchte, um anschließend voller Neugierde nachzusehen, ob sie die Schädelknochen der zuvor vertilgten Kleinsäuger enthielten. Noch hundertmal habe ich eine Stelle aufgesucht, wo ich kurz hintereinander gleich zwei Abwurfstangen vom Reh gefunden hatte. (Dass es den Tatbestand der Wilderei erfüllte, als ich die beiden mitnahm und in meinen doppeltürigen Naturalien-Schaukasten packte, war mir damals nicht bewusst.) Dieser Wirtschaftswald war Bestandteil meiner glücklichen Kindheit. Schon deswegen ist er für mich schön, auch wenn er im Wesentlichen eine Holzplantage ist.
Mit einer Fläche von 90 Quadratkilometern ist der Ebersberger Forst eines der größten zusammenhängenden Waldgebiete Deutschlands. Ein Teppich aus wirtschaftlich wichtigen Baumarten, allen voran die Fichte. Gelegen auf den eiszeitlichen Schotterterrassen des Alpenvorlandes und erntegerecht unterteilt wie eine Schokoladentafel in symmetrisch angeordnete Quadrate. Zwischen diesen 200 Kilometern meist schnurgerader Forststraßen, die regelmäßig abgezogen und gekiest werden. Rechts und links Fichtenmonokulturen, die es hier bereits seit zwei Jahrhunderten gibt.
In den Jahrzehnten nach der Anpflanzung fraßen mehrmals in den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts kleine Schmetterlinge, namentlich Nonne und Kiefernspanner, Teile des Waldes auf; genauer gesagt deren Larven. Zeitzeugen berichten von meterbreiten Wanderzügen der Raupen, schildern umherwirbelnde Faltermassen, die einem Schneegestöber glichen, und bemerken, dass die Falter aus den Kahlfraßflächen bis nach München flogen, wo sie sich auf jedem Biergartenbaum, an den »Gascandelabern« und an Hauswänden bei »elektrischem Lichte« massenhaft niederließen. Alle Versuche, die Forstschädlinge zu vernichten, etwa mit Zinkfackeln oder dampfbetriebenen Staubsaugern, blieben erfolglos. Die Zeiten von Karate Forst flüssig und all den anderen heute im Waldbau eingesetzten Bioziden waren noch weit weg. Nachdem die Massenvermehrung der nadelfressenden Schmetterlinge abgeebbt war, begannen die Aufräumarbeiten. Zeitweise bevölkerten 3000 Holzhauer den Ebersberger Forst. Hunderttausende Tonnen Holz wurden auf eigens verlegten Eisenbahnschienen aus dem Gebiet zur Weiterverarbeitung abtransportiert. Die Wiederaufforstung der Kahlschläge mit neuen Monokulturen dauerte Jahrzehnte.
In jüngster Zeit und vor dem Hintergrund des Klimawandels werden Teile des Forstes in mutmaßlich widerstandsfähige Mischwälder umgebaut, was das Gesicht des Waldes erneut stark verändert. Betrachtet man Gegenwart und Geschichte dieses Waldes, wird klar, dass es sich beim Ebersberger Forst um ein durch und durch künstliches Gebilde handelt. Der Mensch bestimmt, was hier wächst und was nicht. Natürliche Prozesse, die die Landschaft gestalten, werden, so gut es geht, ferngehalten. Wie es hier natürlicherweise aussähe, weiß zwar niemand. Aber man kann in einer Art ökologischer Schnitzeljagd den zahlreichen Hinweisen nachgehen, die Pflanzen, Pilze und Tiere bereithalten. Aus vielen kleinen Puzzleteilen lässt sich zumindest ein ungefähres Bild des vollkommen wilden Waldes zusammensetzen.
Einen Versuch, dieses Puzzle zusammenzufügen, wollen wir in diesem Buch unternehmen.
Bei aller Liebe zur ungestörten, ungeordneten Natur verehre ich doch die Ästhetik der Kulturlandschaft. Mähwiesen mit ihrem gleichmäßigen Blütenflor, Kornfelder voller Mohn und anderen Beikräutern, von Stauden gesäumte Feldwege, all das schmeichelt dem Auge. Künstliche, vom Menschen gestaltete Lebensräume, die eine Vielzahl von Arten beherbergen, zumindest solange sie nicht zu intensiv bewirtschaftet und mit Chemikalien behandelt werden. Wie steht es mit unseren Wäldern? Der Ebersberger Forst ist, ich habe es schon gesagt, im Wesentlichen eine Anbaufläche für Holz, so wie ein Getreideacker eine Anbaufläche für Nahrungsmittel ist. Wie das Gerstenfeld hat für mich auch der Fichtenforst eine ihm innewohnende Schönheit. Es wirkt gefällig dank der Einheitlichkeit und Aufgeräumtheit, die doch immer wieder unterbrochen wird: im Feld eine blaue Kornblume im Meer der goldenen Getreideähren, im Wald eine lindgrün belaubte Heckenkirsche im Ozean der Nadelbäume.
Forst und Feld sind zwar Plantage, aber dennoch Heimat für viele Tiere. Ganz gleich wie monoton sich die eine oder die andere Anbaufläche präsentiert, im Frühling herrscht hier wie dort vielstimmiges Vogelkonzert. Und am Boden lassen sich schillernd bunte Laufkäfer, zyklopenäugige Weberknechte und andere Waldtiere entdecken.
Im hypothetischen Wald, wie er von Natur aus, also ohne die gestaltenden Kräfte des Menschen, existieren würde, wäre die Artenvielfalt wesentlich größer als im Wald, wie wir ihn für gewöhnlich in unseren Breiten erleben. Da uns der direkte Vergleich fehlt, halten wir für normal und richtig, was wir kennen und gewohnt sind, und geben uns damit zufrieden. Dabei lohnt der Versuch einer zunächst gedanklichen Rekonstruktion dessen, was von Natur aus wäre. Viele Fragen, die sich uns im Wald stellen, können dadurch beantwortet werden. Etwa auch, warum in naturgeschützten Wäldern, in denen der Mensch heute nicht mehr eingreift, die Artenvielfalt zurückgeht, statt zuzunehmen, wie man es annehmen könnte und wie es immer wieder behauptet wird.
Beginnen wir also, Puzzleteile zusammenzutragen. Ziel ist es, den aus Sicht der Biodiversität »besten« Wald zu finden. Einen Wald, in dem möglichst viele Pflanzen-, Pilz- und Tierarten leben, und zwar möglichst viele Individuen jener Arten, die unter natürlichen Bedingungen genau hier vorkommen würden. Es geht nicht um einen Artenrekord um seiner selbst willen, sondern um ein Maximum an Spezies und Variationen, die für unsere geografische Region von Natur aus »vorgesehen sind«. Ein Ansatz, der oft missverstanden wird. So hat mich auf einer meiner Reisen durch die deutschen Wälder ein Mitarbeiter eines Waldnationalparks im Herzen Deutschlands mit der Aussage verblüfft, es gehe beim Schutz der Natur im Nationalpark nicht vorrangig darum, einen Schutzraum für eine möglichst große Anzahl an Arten zu schaffen. Das Ziel sei vielmehr, der Natur die Möglichkeit zu geben, sich ohne den Einfluss des Menschen zu entwickeln. Sollte beides nicht untrennbar miteinander verbunden sein?
Ausgangspunkt war meine Frage gewesen, warum durch das Aus-der-Nutzung-Nehmen des betreffenden Waldgebietes gewissen Arten die Lebensgrundlage entzogen wird (was wir uns später noch genauer ansehen werden). Jedenfalls hatte ich in der freundschaftlichen, aber durchaus leidenschaftlichen Diskussion das Initiieren und Zulassen von Prozessen befürwortet, die den Wald öffnen, weil sonst viele lichtliebende Arten aus dem Schutzgebiet verschwinden. Die Reaktion klang fatalistisch: Dann sei das halt so, entgegnete mir der Mann vom Nationalpark. Es gehe, fuhr er fort, eben nicht darum, möglichst viele Arten zu erhalten, sondern den Wald in einen Zustand zu überführen, in dem er sich ohne menschliches Zutun so naturnah wie möglich entwickelt. Können wir aber wirklich von »naturnah« sprechen, wenn Luchs und Auerhahn aus einem Wald verschwinden, weil er ihnen nicht mehr das zum Leben bietet, was sie früher hier fanden?
Ich beharrte darauf, dass die Natur in einem Waldgebiet umso intakter ist, je mehr der potenziell beziehungsweise früher hier vorkommenden Arten vorhanden sind. Das wäre für mich vielleicht das wichtigste Kriterium bei der Kür der Kandidaten für den Titel »Deutschlands schönster Wald«. Ungestörtheit und Wildheit, als davon losgelöste Ziele für sich, genügen mir nicht. Was nicht heißt, dass es von Natur aus keine artenarmen Lebensräume gäbe. Die gibt es durchaus, man denke nur an das Hochmoor. Ungestörtheit führt heute nicht automatisch zu Artenreichtum. Andersherum wird unter Umständen dagegen ein Schuh draus: Es gibt Wälder, in denen die Tier- und Pflanzenwelt sehr vom menschlichen Wirken profitiert. Einen eindrücklichen Fall, wo eine besondere, intensive Form der Forstwirtschaft eine enorme Artenvielfalt hervorbringt, durfte ich kennenlernen, und dort kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Doch dazu später.
Welches unsere schönsten Wälder sind, liegt also im Auge des Betrachters. Die Einschätzung hängt vom Standpunkt, von unserer Erwartung ab. Waldbesitzerinnen und Waldbesitzer, die vom Holzertrag leben, sehen verständlicherweise gerne viele gesunde Bäume auf ihrem Land, nicht nur, weil die eine reiche Ernte versprechen. Stürme, Schwärme von Borkenkäfern oder gar Waldbrände sind für sie Katastrophen. Der Naturschützer, die Naturschützerin sollte einen anderen Blick auf den Wald haben. Sie müssten gerade jene Wälder als schön und wertvoll erachten, in denen viel Dynamik herrscht. Das bedeutet Krankheit, Sterben und Zusammenbruch bei den Bäumen. Verinnerlicht haben das jedoch die wenigsten von uns.
Nach wie vor wird vom Naturschutz der gesunde, dichte Mischwald auf den Schild gehoben, in dem freilich ein paar tote Bäume voller Pilzkonsolen am Boden liegen, der aber dennoch ein mehr oder weniger geschlossenes Kronendach aufweist, was die Mehrheit der potenziellen Mitlebewesen ausschließt. Nicht selten sehen sich die Abbildungen schöner Wälder in den Prospekten der Holzindustrie und den Gazetten der Naturschutzverbände zum Verwechseln ähnlich. Die Vorstellung, dass es gut und richtig ist, wenn im Wald die Bäume dicht beisammenstehen und Lücken im Ozean der Bäume die Ausnahme sind, haben nicht nur die Waldnutzer, sondern auch viele Naturschützer. Woher stammt dieses Bild? Verfolgt man konsequent den Gedanken, dass die Bäume im Einklang und Wechselspiel mit den anderen potenziellen Arten ihrer Region zusammenleben und Lücken im Wald nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind, entsteht ein anderes Waldbild.
Im Kern ist es meines Erachtens wichtig, dass die Bäume, genau wie jede andere systemische Organismengruppe in der Natur, ihre Widersacher haben und sich nicht ungehemmt vermehren. Wie wir noch sehen werden, ist es dabei zweitrangig, ob ihr Gegenspieler der Mensch ist oder ob es die Kräfte der Natur sind. Vereinzelte Waldlichtungen und viel Totholz im Schattenreich werden von uns allen als naturnah begrüßt. Warum nicht gleich der lückige Wald, bei dem die Offenflächen nicht hinter den dichten Baumbeständen zurücktreten? Derartige Wälder sind nämlich stets besonders reich an Organismen, ganz einfach, weil sie wesentlich mehr Arten, mit ihren jeweiligen Bedürfnissen, einen Lebensraum bieten als ein Wald voller, im wahrsten Sinne des Wortes kerngesunder, aufrecht und dicht beieinanderstehender Bäume. Das gilt für die Monokultur wie für den Mischwald. Auch für einen, in dem die Forsteinrichter auf viele unterschiedliche Arten und Altersklassen bei den Bäumen und auf das Vorhandensein von reichlich Totholz geachtet haben. Und für einen, in dem vielleicht zahlreiche Fledermaus- und Vogelnistkästen hängen, die davon zeugen, dass sich hier jemand um die Tierwelt sorgt.
Erst das ständige Stören, das Zurückdrängen, selbst wenn es nur periodisch oder gar unregelmäßig auftritt, sorgt für biologische Vielfalt. Sobald die »Katastrophe« über den Wald hereinbricht, explodiert das Leben. Dann werden die Lebensgrundlagen für ein Maximum an Arten geschaffen, nicht nur für jene, die wir gemeinhin als Waldarten bezeichnen. Die Ansprüche der Lebewesen an den optimalen Lebensraum sind oft komplex! Es gibt Moose, die ausschließlich auf Hirschkot wachsen; aber nur, wenn der Waldboden moorig und nicht zu schattig und viel Hirschkot vorhanden ist, wenn sich also viele Hirsche im Gebiet tummeln. Und das tun sie nur, wenn der Wald nicht zu dicht ist und sich zu seinen Füßen eine Vegetation aus Kräutern und Gräsern bilden kann.
Es gibt Käfer, die zum Überleben nicht nur ein bisschen Totholz, sondern massenhaft abgestorbene Nadelbäume brauchen und zudem einen bestimmten Pilz, der sich in und auf diesen Totholzbergen entwickelt. Manche Spechte vermehren sich besonders gut, wenn der Borkenkäfer eine Massenvermehrung erlebt; Käuze haben mitunter nur dann erfolgreich Nachwuchs, wenn es besonders viele Mäuse gibt. So könnte man lange fortfahren. Keine vermeintliche Katastrophe ohne Nutznießer! Jedes Ereignis, jede Katastrophe, die einen Wirtschaftswald negativ beeinflusst, fördert die Natur. Daraus können wir ableiten, dass ein Wald voller Prozesse, die das Wachsen und Schließen des Baumbestandes hemmen und im Zaum halten, viel natürlicher ist als ein Wald, in dem den Gehölzen kein Zweiglein gekrümmt wird. Ein Befund, der bei der vielfach leidenschaftlich geführten Diskussion »Wald vor Wild« eine große Rolle spielt.
Dass Schalenwild, also Paarhufer wie Reh und Rothirsch, bei häufigem Auftreten im Forst als Schädling gilt, ist verständlich. So wie der Star, der als Schwarm schon mal einen Kirschbaum abräumt, oder die Schnecken im Erdbeerbeet, die selbst die Tierliebe der Gutwilligsten welken lassen. Dabei ist der Kirschbaum »froh«, wenn all seine Früchte im Vogelschnabel auf Reisen gehen, denn dafür hat er sie ja gemacht. Wie die Kirsche hat auch die Erdbeere leuchtend rote Früchte, um Vögel auf sich aufmerksam zu machen. Die Erdbeersamen wandern durch den Vogeldarm, und so breitet sich die Erdbeerpflanze in der Natur aus. Der charakteristische Erdbeerduft indes ist dafür vorgesehen, um Schnecken anzulocken. Die harten Nüsschen überstehen Raspelzunge und Schneckenmagen und reisen auf silbrig schimmernden Straßen aus Schleim weg von der Mutterpflanze. Nicht im ursprünglichen Sinne von Kirschbaum und Erdbeerpflanze ist es hingegen, dass wir die Früchte ernten und die Samen auf eine Weise entsorgen, die ins Leere geht, ob sie nun durch unsere Mägen wandern oder im Komposteimer landen.
Wie verhält es sich mit den Bäumen im Wald, die von Hirsch und Reh angeknabbert werden? Der Ruf nach dem Jäger ist im Forst nachvollziehbar. Aber gilt das auch für die Natur außerhalb von Holzanbauflächen? Kann es sein, dass Gehölze und andere Pflanzen davon profitieren, ja überhaupt erst gedeihen können, wenn Pflanzenfresser durch den Wald streifen und das tun, was sie seit Jahrmillionen tun, nämlich Pflanzen fressen? In einem Waldgebiet, in dem ausschließlich die Gesetze der Natur herrschen, ist es kein »Verbissschaden«, wenn Tiere an der Baumrinde knabbern, an Zweigen und Knospen fressen oder Baumkeimlinge abweiden. Es ist eine gelebte, über ewige Zeiten ausgefeilte Lebensstrategie der Huftiere. Genauso, wie Mäuse einen Großteil der Bucheckern und Eicheln als Wintervorrat unter die Erde schaffen und im Winter nach und nach vertilgen. Das Ergebnis ist ein Ökosystem in einem schwankenden, aber dennoch stabilen Gleichgewicht, in dem alle einen Platz haben.
Wenn der Schwarzspecht die Haufen der Waldameisen plündert, schadet er der Ameisenpopulation im Wald nicht. Wenn der Sperber täglich zwei oder drei Waldvögel fängt und frisst, rottet er die kleinen Sänger nicht aus. Es ist überall dasselbe: Wenn der Hecht Weißfische frisst, ist das kein »Fischschaden«, es ist seine Art, sich zu ernähren, indem er den Überschuss abschöpft. Wenn eine Schwalbe am Tag 3000 Fluginsekten erbeutet, ist das kein Schaden an der Insektenbiomasse, es ist lebendige Schwalbenökologie. Wenn große Pflanzenfresser in einer Savanne Gräser und Kräuter abweiden, spricht niemand von Verbiss. Im Gegenteil, wir wissen ja, dass das Grasland als Ökosystem darauf angewiesen ist, dass es beweidet (oder ersatzweise gemäht) wird, sonst verschwindet es. Nur im Wald sprechen wir von Schaden, zumindest dann, wenn die gemessenen und gezählten Bäumchen, die dem Wild als Nahrung dienen, einen bestimmten Wert überschreiten. Der bemisst sich traditionell an einer ökonomischen Zielvorstellung, sprich an einer an den örtlichen Möglichkeiten ausgerichteten Wunschvorstellung hinsichtlich der Anzahl von Baumarten und Individuen.
Ein bisschen Forstmathematik: Werden auf einer 5000 Quadratmeter großen Kultur 1000 Bäumchen gepflanzt, möchte man, dass möglichst alle Bäumchen hochkommen. Wenn Reh und Hirsch 100 davon fressen, entsteht ein »Wildschaden«. Keimen in einem naturnahen Forst auf einer Fläche von derselben Größe von alleine 2000 Bäumchen und werden dann 500 davon aufgefuttert, entsteht kein Schaden. Die Anzahl der Keimlinge übersteigt nämlich bei Weitem die Menge der Bäume, die hier heranwachsen können. In einem Urwald andererseits, also einer baumbestandenen Landschaft, in der ausschließlich die Natur regiert und wo keine Gewinnabsichten bestehen, gibt es keine Zielvorstellung, keine anzustrebende Menge an Bäumen.
Der Gedanke, dass ein Wald dann gut ist, wenn er aus einer maximalen Anzahl gesunder Bäume gebildet wird, entspringt allein ökonomischen Überlegungen. Dass dieser Gedanke auch im Naturschutz Einzug gehalten hat, führt bis heute dazu, dass zahlreiche einst häufige Arten in unseren Waldlandschaften nicht mehr existieren können. Die grundlegenden Unterschiede zwischen einem effizienten Wirtschaftswald und einem effektiven Naturwald könnten nicht größer sein, obwohl beides als »Wald« bezeichnet wird. Ein Dilemma.
Hier stellen sich mir zwei Fragen. Zum einen fasziniert mich die Überlegung, wie sehr »gestört«, das heißt wie licht so ein Wald sein muss, damit er ein möglichst weitreichendes Abbild jenes Waldes darstellt, den wir an derselben Stelle vorfinden würden, wenn es den Menschen nie gegeben hätte. Eine genauere Vorstellung davon wäre hilfreich, weil sich dann Naturschutzmaßnahmen im Wald, dort wo sie gewünscht sind, leichter umsetzen ließen.
Auf der anderen Seite frage ich mich, ob wir als Gesellschaft einen biologisch reichen, aber von dynamischen Prozessen stark gestörten Wald als schön empfinden können. Ich erinnere mich an Zeiten, als der Waldnaturschutz noch in den Kinderschuhen steckte und für mehr Totholz im Wald warb. Es war noch vor ein paar Jahrzehnten gar nicht so leicht, zu vermitteln, dass auch tote Bäume im Wald eine wichtige Funktion haben, obwohl in fast jedem Garten hölzerne Vogelnistkästen hängen, die ja nichts anderes sind als ein Ersatz für natürliche Höhlen in geschwächten oder toten Bäumen.
Seit dieser Zeit, in den 1980er Jahren, hat sich unser Bild vom schönen Wald gewandelt. Die Monokulturen sind in Verruf geraten, obwohl sie nützlich für die Gesellschaft sind. Und ein Wald, in dem von Moosen und Pilzkonsolen überzogene Baumleichen am Boden liegen, wird als natürlich, gesund, gar als Urwald betrachtet. Und weil das Ursprüngliche aus unserem ansonsten geordneten mitteleuropäischen Menschenhabitat verschwunden ist, empfinden wir das Chaos des Naturwaldes nicht mehr wie einst als unübersichtlich und bedrohlich, sondern durchaus romantisierend als wild und deswegen schön. Wir haben so viele Filme dazu gesehen und Bücher und Artikel darüber gelesen, dass wir einen aufgelassenen Forst, in dem viele alte Bäume beisammenstehen und wo überall zusammengebrochene Riesen herumliegen, als die einzig wahre Natur empfinden, einen Wald also, der nicht mehr bewirtschaftet wird. Obwohl solche Wälder eher dunkel und kühl und daher stets artenarm sind; obwohl hier so viel weniger Pflanzenarten blühen als draußen im Offenland, so viel weniger Vögel singen und so viel weniger Insekten die Luft bevölkern.
Nur im Vorfrühling begegnen uns dort Blütenteppiche einiger weniger Arten, die die kurze, sonnenenergiereiche Zeitspanne nutzen und sich vermehren, solange die Bäume noch kein Laub ausgetrieben haben, das bald darauf einen Großteil des Sonnenlichtes schluckt.
Wie eingangs schon gesagt leben nach Auskunft der Fakultät Wald- und Forstwirtschaft der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf etwa 250 Arten höherer Pflanzen (das sind Gewächse, die im Gegensatz zu Moosen oder Algen ein Stützgewebe haben, etwa Farne, Gräser und natürlich die Bäume) ausschließlich im Wald, also nicht einmal ein Zehntel. Unsere Flora besteht aber aus 3600 höheren Pflanzenarten. Wenn der Urwald, wie wir ihn uns gemeinhin vorstellen, der Inbegriff von Natur ist und, wie man häufig lesen kann, von Natur aus unser Land bedecken würde, warum findet sich dann die überwältigende Mehrheit der Pflanzen, genauer 3350 Arten, im Offenland zumindest zurecht, wenn sie nicht sogar auf pralles Sonnenlicht angewiesen sind? Wo war ihr Biotop in den Jahrmillionen, während derer der Mensch noch keinen Einfluss auf die Landschaft nahm? Auf ein paar Inseln im Ozean der Bäume, wo nackter Fels, Wasser oder Feuer den Wald verhinderten?
Das ist vielleicht die wichtigste Frage von allen: Wie sähe es natürlicherweise bei uns aus? Heute sind alle unsere Wälder das Ergebnis menschlicher Planung. Noch vor wenigen Jahrzehnten waren alle Wälder unserer Nationalparks Forste, deren Hauptzweck die Holzproduktion war. Welche Baumarten gefördert und welche nicht weiter kultiviert wurden, entschied ein Mensch am Schreibtisch nach wirtschaftlichen Kriterien. Eine natürliche Entwicklung hat kein einziger unserer Wälder genommen, und so wird es wohl auch vorerst bleiben, nicht nur im Wirtschaftswald.
Die Försterinnen und Förster der jungen Generation sitzen gewissermaßen zwischen den Stühlen, weil sie einerseits für die Rohstoffproduktion zuständig sind, andererseits den Wald in seiner Rolle als Ökosystem unterstützen sollen, so steht es im Bundeswaldgesetz festgeschrieben. Wie wir aber nun gesehen haben, widersprechen sich diese beiden Ziele mitunter. Zumindest geht es nicht, ohne auf einer der beiden Seiten deutliche Abstriche zu machen. Für einen großen Teil unserer Fauna, Flora und selbst für viele Pilze ist der Wald erst dann ein brauchbarer Lebensraum, wenn er so stark durch Störungen beeinflusst und daher so licht ist, dass man ihn vielleicht gar nicht mehr als Wald bezeichnen möchte. Viele als »Urwaldbewohner« wahrgenommene Arten – dazu zählen etwa viele Insekten, Fledermäuse, aber auch Vögel wie Auerhahn und Habichtskauz oder auch der Luchs, profitieren von einem scheinbar »kaputten« Wald, der, durch die ökologische Brille betrachtet, freilich vielmehr vollständig ist. Hier finden sie alles, was sie zum Leben brauchen, insbesondere genügend zu fressen.
Manchen Arten reicht ein Loch im Kronendach. Andere besiedeln den Wald dagegen erst dann, wenn der Grad der Störung das Ausmaß einer Naturkatastrophe annimmt. Und das betrifft keineswegs nur die großen Vögel und Säugetiere. Im Jahr 1906 wurde zum letzten Mal ein Jagdkäfer der Art Peltis grossa gefunden, bevor die Art in Bayerischen Wald als ausgestorben galt. Mehr als 100 Jahre lang blieb der dunkelgraubraun gefärbte, fingernagelgroße Käfer verschollen, obwohl längst Deutschlands ältester Nationalpark eingerichtet worden war, mit dem Ziel, Wald zu Urwald werden zu lassen. Das Sich-selbst-Überlassen des Waldes alleine brachte den verschwundenen Käfer nicht zurück. Erst als das Waldsterben kam, als Stürme und Borkenkäfer wüteten (oder Wunder wirkten, je nach Sichtweise) und einen substanziellen Teil der Bäume im Nationalpark umwarfen, tauchte Peltis grossa wieder auf. Viele sterbende Fichten und viele Rotrandige Baumschwämme, eine Baumpilzart, die auf sterbenden Fichten wächst, sind die Lebensgrundlage für das seltene Urwaldinsekt. Ein bisschen liegen gelassenes Totholz im naturnah bewirtschafteten Wald genügt dem bedrohten Käfer hingegen nicht.
Auch das Gegenteil kommt vor: Arten, die sich nur dort wohlfühlen, wo der Wald dicht, schattig und feucht ist. Wo alte Bäume nicht durch rabiate Wetterereignisse umgeworfen, sondern ganz langsam von Pilzen dahingerafft werden. Die Gebirgs-Riesenholzmotte etwa. Sie ist wie der seltene Jagdkäfer ebenfalls im Nationalpark Bayerischer Wald anzutreffen. Stets im Waldesinneren, wo sie aus alten Zunderschwämmen schlüpft, einem Baumpilz, der gerne an älteren Laubbäumen gedeiht. Die schiere Existenz dieser Riesin unter den Kleinschmetterlingen beweist, dass es bei uns immer auch das Habitat »dichter Wald« gab. Allerdings sind solche Organismen die Ausnahme.
Vereinfacht könnte man sagen: Je mehr Bäume im Wald geschädigt sind, desto mehr seltene Arten leben darin. Und je gesünder und unbeeinträchtigter der Baumbestand heranwächst, desto artenärmer ist er auf der anderen Seite.
Bedeutet das, dass ein Wald, der aus welchen Gründen auch immer weder anfällig für Windwurf noch für Forstschädlinge ist, verarmt, ganz gleich ob es sich um einen Wirtschaftswald handelt oder um ein Naturschutzgebiet? Kann es sein, dass dem großen Netzwerk Wald einer der wichtigsten Tragpfeiler fehlt, nämlich die Kraft, die die Bäume daran hindert, die anderen Waldbewohner von der wichtigsten Energiequelle des Lebens abzuschneiden, dem Sonnenlicht? Diesen Gedanken wollen wir weiterverfolgen, nach Wäldern suchen, in denen es diese geheimnisvolle Kraft gibt, und uns anschauen, was sie im Einzelnen bewirkt.
Das bringt uns wieder zurück zu der Frage, welches unsere schönsten Wälder sind. Der Ebersberger Forst mit seinen schnurgeraden Kieswegen, die durch alte Fichtenbestände führen, ist für mich schön, weil er so symmetrisch ist. Der Buchenwald im Nationalpark Jasmund ist für mich schön, weil diese mehr oder weniger natürliche Monokultur der Buche, die dem Wald eine durchgehende Zweifarbigkeit aus Grün und Grau verleiht, ebenfalls ein »aufgeräumtes« Bild erzeugt, das unwillkürlich Wohlgefallen hervorruft. Auch wenn bei der Wuchsform alter Buchen, anders als bei der Fichte, von Gleichmaß keine Rede sein kann, beeindruckt doch die Einheitlichkeit des Lebensraumes, die vor allem darin begründet ist, dass in alten Buchenwäldern oft keine anderen Baumarten wachsen und auch keine Sträucher oder Stauden, die das Waldbild verwässern. Mit Chaos kann unser Auge wenig anfangen. Ebenmaß und Übersichtlichkeit tun ihm dagegen gut.
Bei der Arbeit als Kameramann ist es mir förmlich in Fleisch und Blut übergegangen, durch einen entsprechenden Umgang mit der Technik ästhetische Bilder zu erzeugen. Gerade bei Filmaufnahmen im Wald ist es ratsam, bestimmte Regeln der Bildgestaltung zu beachten, damit das Ergebnis ansprechend ausfällt. Hauptgegner im Kamerasucher ist das Chaos. Zu viele Strukturen und Formen machen das Bild unübersichtlich und »hässlich«. Ein Wirrwarr aus Baumstämmen und Ästen ist erst dann gefällig, wenn das Auge dank einer wie auch immer gearteten Ordnung schnell einen Überblick über das Gezeigte erlangt. Möglicherweise rührt das aus längst vergangenen Zeiten, als es überlebenswichtig war, Beute oder Feinde sofort zu erkennen und nicht etwa von einem Angriff überrascht zu werden. Jedenfalls fällt auf, dass das Übersichtliche im Unübersichtlichen wohltut.
Manchmal hilft die Natur und schickt Nebelschwaden durch den Wald. Die weißen Fahnen verschlucken den Hintergrund und heben das Geschehen im Vordergrund hervor. Obwohl der Nebel ja eine potenzielle, prähistorische Gefahr eher verschleiert, reagiert unser Gehirn positiv. Wir sehen die vorderste Baumreihe, während sich die dahinter wachsenden Buchen und Tannen im Dunst verlieren. Vielleicht, weil uns der Dunst ebenfalls versteckt und wir darin sicher sind. Im Idealfall zeichnet sich der Umriss eines Hirsches ab, der in zweiter Reihe steht. Wenn sich jetzt noch die Strahlen der Morgensonne Bahn brechen und das Laub der Bäume und den daran weidenden Hirsch von der Rückseite beleuchten und einen sogenannten Lichtsaum erzeugen, dann ist das Bild perfekt. Ein seltener Glücksmoment, auf den man in ähnlichen Situationen so oft hofft und den kein Kameramann jemals wieder vergisst, wenn er passiert.
Auch mir war es schon vergönnt, solche Momente einzufangen. Einmal stand ich zwischen uralten Buchen und Eichen in einem parkartigen Wald, in dem viele Hirsche leben. Es war ein kalter Oktobermorgen, und das Laub hatte nach den ersten Frösten in den Nächten zuvor gerade erst begonnen, sich zu verfärben. Ich war ganz langsam auf einen männlichen Rothirsch zugegangen, der im Morgenlicht im Wald stand. Immer wenn er sich entspannt zeigte, machte ich ein paar Schritte vorwärts, die Kamera im Standby-Modus auf dem Stativ an der Schulter. Morgennebel zog durch den Wald, und überall an Blättern und Halmen hingen Tautröpfchen, die sich in der kühlen Morgenluft gebildet hatten. Die Hirschbrunft hatte begonnen und aus den Tiefen des offenen, parkartigen Waldes hörte man das entfernte Röhren der männlichen Tiere.
Auch mein Hirsch blieb auf einmal stehen, hob den Kopf und schien sich für das unsichtbare, aber hörbare Treiben seiner Artgenossen zu interessieren. Nun öffnete sich der Vorhang der Wolken und die Morgensonne schickte goldene Lanzen aus Licht durch den nebligen Wald. Ein solcher Lichtstrahl, im Jargon der Naturfilmkameraleute gerne scherzhaft als »göttliche Taschenlampe« bezeichnet, traf den Hirsch von hinten und ließ das kurze Fell um Kopf und Vorderkörper an einer feinen, äußeren Linie aufleuchten. Und genau in dem Moment holte der Hirsch Luft, streckte den Hals durch und röhrte. Die dabei entweichende Atemluft kondensierte dank der Minusgrade im Wald und so entstiegen meinem Filmmotiv golden leuchtende Atemwölkchen. Ein Glücksmoment!
Eine andere Möglichkeit, die Bildästhetik bei schwierigen Motiven wie dem Waldesinneren zu verbessern, auch wenn kein Nebel für Übersichtlichkeit und Mystik sorgt, bietet die Kamera selbst, genauer das Objektiv. Wenn man die Blende öffnet, wird das Bild nicht nur heller, es verringert sich auch der Bereich, in dem das Bild scharfgezeichnet ist. Bildhintergrund und Bildvordergrund – etwa ins Bild ragende Zweige – werden unscharf. Das Motiv ist dadurch in der Bildkomposition freigestellt und lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich, weil das Auge stets das scharf Abgebildete sucht. Eine ähnliche Bedeutung kommt dem Licht zu. Wir wähnen im hell ausgeleuchteten Bildteil den Gegenstand, um den es geht. Deswegen freut sich jeder Kameramann, wenn ein Lichtstrahl im dunklen Wald sein Motiv trifft – so wie ich, als der Rothirsch ausgerechnet dann röhrte, als die Sonne ihn von hinten beschien.
Können wir diese bildästhetischen Überlegungen auch auf unser Erleben des Waldes übertragen, wenn keine Kamera die Realität vermittelt, wenn wir also nicht eine – wie kunstvoll auch immer – angefertigte Aufnahme betrachten, sondern den Wald draußen, in natura? Bringt uns unsere Neigung, visuelle Ordnung als ästhetisch ansprechend zu empfinden, bei der Suche nach dem schönsten Wald des Landes weiter? Oft wird diskutiert, dass Menschen immer dann Landschaften positiv bewerten, wenn sie in einer fernen Vergangenheit für das Überleben und die Fortpflanzung vorteilhaft gewesen seien. Das sind halboffene Räume, die einerseits gute Sichtverhältnisse für das Erspähen von Beute oder Gefahren aufweisen, andererseits bereichernde Elemente wie Gewässer, Einzelbäume oder Höhlen bieten. Ein Habitat für unsere Vorfahren, das Sicherheit und Nahrung verspricht.
Das ist wohl der Grund dafür, dass wir im Unterbewusstsein Parklandschaften attraktiv finden und dass um repräsentative Anwesen wie Schlösser, Villen oder Klöster selten Wälder gepflanzt, wohl aber Parks angelegt werden. In der Landschaftsgestaltung spielen stets Sichtachsen eine Rolle, die den Blick des Betrachters in die Tiefe lenken. Ein Prinzip, das wir auch in der Landschaftsmalerei finden. Und im Naturfilm! Bilder, die den Betrachter einladen, den Blick wandern zu lassen, sind tendenziell schön. Steckt dahinter ein universelles Prinzip, dass von Urzeiten herrührt und nach wie vor unser Empfinden bestimmt? Und können wir dann im Umkehrschluss folgern, dass die Landschaft, die uns einmal beherbergt hat, bevor wir begannen, sie zu verändern, ebenso aussah: halboffen, mit vielen Sichtachsen, voller Wild?
Das ist ziemlich spekulativ, obwohl ich überzeugt bin, dass darin das berühmte Körnchen Wahrheit steckt, das vielleicht sogar ein richtig großer Brocken ist. Zum Glück gibt es heute diverse Möglichkeiten, vergangene Ökosysteme zu rekonstruieren, weitere Puzzleteile zusammenzufügen und sich das einstige, natürliche Aussehen unserer Landschaften vor Augen zu führen. Die Frage ist, ob das, was dabei herauskommt, eher unser Bild vom dichten Urwald, der oft mit Wildnis gleichgesetzt wird, bestätigt. Oder ob nicht vielmehr die erwähnten Sichtachsen eine große Rolle spielten und spielen würden.