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Jan Haft

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Beschreibung

Was bedeutet eigentlich Wildnis? Der preisgekrönte Naturfilmer Jan Haft über einen Sehnsuchtsort für Naturliebhaber und ein wichtiges Konzept des Naturschutzes

Ein unberührter Wald voller alter, majestätischer, auch umgestürzter Bäume, eine Landschaft ohne Spuren von Zivilisation – so stellen wir uns Wildnis vor. Aber stimmt das Bild? Erhalten wir eine intakte, artenreiche Wildnis, wenn wir die Natur sich selbst überlassen? In nicht mehr bewirtschafteten Wäldern etwa lebt heute trotzdem nur ein Bruchteil der heimischen Tiere, Pflanzen und Pilze. Warum ist das so? Der Biologe und vielfach ausgezeichnete Naturfilmer Jan Haft hinterfragt in seinem neuen Buch unser Verständnis von Wildnis und entwirft einen neuen Wildnisbegriff. Am Ende steht die Botschaft, dass eine lebenswerte und klimafreundliche Landschaft mit großer Artenvielfalt einfach zu haben wäre, wenn wir es wollten: Wir brauchen wieder große Pflanzenfresser wie Pferde, Kühe und Wasserbüffel auf »wilden Weiden«.

Nominiert von »Bild der Wissenschaft« für das Wissensbuch des Jahres 2023

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Was bedeutet eigentlich Wildnis? Der preisgekrönte ­Naturfilmer Jan Haft über einen Sehnsuchtsort für Naturliebhaber und ein wichtiges Konzept des Naturschutzes

Ein Wald voller alter und toter Bäume – so stellen wir uns Wildnis vor. Eine Landschaft ohne Spuren von Zivilisation, weil sich Mensch und ursprüngliche Natur ausschließen. Aber stimmt das Bild? Wildnis bedeutet immer eine Art Tauziehen zwischen den natürlichen Kräften. Wo wir Menschen dieses Gleichgewicht stören, können natürliche Prozesse nicht mehr ablaufen. Was bleibt, ist verarmte Natur und keine Wildnis, selbst wenn wir die Natur sich selbst überlassen. In nicht mehr bewirtschafteten Wäldern etwa lebt heute trotzdem nur ein Bruchteil der heimischen Tiere, Pflanzen und Pilze. Warum ist das so? Der Biologe und Naturfilmer Jan Haft hinterfragt in seinem neuen Buch unser Verständnis von Wildnis und skizziert einen neuen Wildnisbegriff. Am Ende steht die Botschaft, dass eine lebenswerte und klimafreundliche Landschaft voller Artenvielfalt leicht und billig zu haben wäre, wenn wir nur wollten.

www.penguin-verlag.de

JAN HAFT

WILDNIS

Unser Traum von unberührter Natur

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Copyright © 2023 Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Coverabbildungen: © Shutterstock; © iStock

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN978-3-641-29764-0V002

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INHALT

Wildnis

Dank

Ausgewählte Literatur

Über Den Autor

WILDNIS

Wenn man zu Fuß in einem Wildreservat in Afrika unterwegs ist oder durch einen amerikanischen Nationalpark wandert, erlebt man das Gefühl, der Na­­tur bis zu einem gewissen Grad ausgeliefert zu sein: die Weite, in der man sich verlaufen und verlieren könnte; die Absenz vertrauter Zeichen von Zivilisation (vor allem fehlender Mobilfunkempfang); die Möglichkeit, dass einem plötzlich ein großes Raubtier über den Weg läuft oder dass ein Gewitter heraufzieht, vor dem man sich nicht so einfach in Sicherheit bringen kann. In der Wildnis werden wir uns rasch unserer Grenzen bewusst, erahnen das große Ganze der Natur und spüren, dass wir – so auf uns alleine gestellt – nicht mehr als ein Staubkorn im Universum sind.

Um die Natur als groß und uns selbst als kleines, aber zum Bild gehörendes Puzzleteil der Natur zu erleben, müssen wir jedoch nicht unbedingt weit reisen. Eine Bergtour durch ein abgelegenes Alpental oder eine Wattwanderung an der Nordsee können denselben Effekt haben. Und wenn wir uns erst richtig auf die Natur einlassen und genau hinschauen, genügt auch ein Streifzug durch eine Wiese, einen Wald, ein Moor oder das Verweilen im eigenen Garten. Auch hier können wir in das mannigfaltige Beziehungsgeflecht der Natur eintauchen und die großen und kleinen Wunder erleben, die die Evolution im Lauf der Erdgeschichte hervorgebracht hat.

Ob in der Fremde oder in heimischen Gefilden, uns erfasst schnell das Staunen darüber, wie viele Arten da ihren eigenen Weg gehen, wie sie mit der belebten und unbelebten Umwelt in Beziehung treten und so ihren Lebensraum beeinflussen. Sie folgen Gesetzmäßigkeiten, die nicht von uns Menschen gemacht wurden, und erinnern uns daran, dass das Leben auf der Erde ohne uns entstanden ist und ohne uns zurechtkommt.

Wo allein die Gesetze der Natur regieren, da herrscht Wildnis. Ganz im Gegensatz zu jenen Orten, an denen wir Menschen die natürlichen Abläufe bestimmen. Die Savanne der Serengeti in Ostafrika, wo Abertausende Lebensformen sich das Land teilen und nach Jahrmillionen alten Regeln zusammenleben, ist offenkundig Wildnis. Und was ist bei uns?

Der Volksmund bezeichnet ungepflegte Gärten als »verwildert« und ungemähte Vegetation als »Wildwuchs«. Ist vielleicht ein wenig Wildnis überall dort, wo die Natur ungestört ihre Kräfte entfalten kann, wenigstens auf kleinstem Raum? Wo all jene Organismen, die eben da sind, auf ihre Mit- und Gegenspieler treffen und mittels ihrer im Laufe der Evolution erworbenen Strategien interagieren, und seien es nur die Blattläuse und Marienkäfer im Rosenstrauch vor der Terrasse?

Welche Kräfte und wie viele Prozesse sind unentbehrlich, damit ein Gebiet die Bezeichnung Wildnis verdient?

Was fasziniert uns überhaupt daran, warum träumen viele Menschen von unberührter Wildnis als idealer Landschaft? Haben wir ein schlechtes Gewissen aufgrund unserer gar nicht mehr so intakten Umwelt, die die einen als Produkt einer schier unüberschaubar komplexen Evolution betrachten und die anderen schlicht als Schöpfung? Unberührte, ursprüngliche Natur gibt es bei uns nicht mehr, denn hierzulande ist praktisch das gesamte Land vom Menschen überformt. Bedeutet das im Umkehrschluss, dass Wildnis entsteht, wenn wir ein ausgewähltes Gebiet sich selbst überlassen und aufhören zu bestimmen, was dort fortan passiert? Dieser entscheidenden Frage wollen wir in diesem Buch auf den Grund gehen. Was also ist Wildnis?

Wildlebende Tiere, Pilze und Pflanzen werden weltweit weniger, auch bei uns. Darüber kann nicht hinwegtäuschen, dass vereinzelt große Tiere in unsere Landschaften zurückkehren. Biber, Wolf und Seeadler sind wieder häufig anzutreffen, weil wir ihnen nicht mehr hemmungslos nachstellen. Wie andere Rückkehrer auch, gehören sie alle zu jenen Spezies, die nicht viele Ansprüche an ihren Lebensraum stellen, einst im ganzen Land zu Hause waren, jedoch aus unterschiedlichen Gründen fast bis zur Ausrottung bejagt wurden.

Die Mehrheit der bedrohten Arten stellt dagegen sehr wohl Ansprüche an ihren Lebensraum. Ansprüche, die unsere industrialisierte und für unsere Zwecke optimierte Landschaft immer weniger erfüllt. Während einige wenige Arten in unserer modernen Kulturlandschaft gut zurechtkommen, brauchen die meisten Organismen einen Lebensraum, der ursprünglicher Natur zumindest nahekommt. Wenn nur wenige Prozent unserer Landschaften so wären, wie sie waren, bevor sich der Mensch die Erde untertan machte, hätten wohl alle bedrohten Arten einen sicheren Hafen. Fragt sich nur, wie es bei uns einmal aussah. Und die nächste, vielleicht viel wichtigere Frage ist: Wie müssten neu geschaffene Wildnisgebiete heute am besten aussehen, damit wir den Artenschwund aufhalten können?

Hinter uns liegt die »UN-Dekade Biologische Vielfalt«. Sie wurde 2010 von den Vereinten Nationen ausgerufen, um zur Bewahrung der auf der ganzen Erde bedrohten biologischen Vielfalt zu werben. Im Hinblick auf diese weltweite Kampagne hatte die Bundesregierung 2007 beschlossen, dass zwei Prozent der Fläche Deutschlands Wildnis werden sollen. Die UN-Dekade verstrich, ohne dass viel passiert ist. Damals wie heute gelten nicht mehr als 0,6 Prozent der Fläche Deutschlands offiziell als Wildnis. Und: Können diese Gebiete die zentrale Aufgabe, die biologische Vielfalt zu sichern, überhaupt erfüllen? Laufen dort genügend natürliche Prozesse ab, um dem Begriff Wildnis wirklich gerecht zu werden?

Sieht man einmal vom Meer und dem Hochgebirge ab, sind unsere Naturschutzgebiete und Nationalparks überwiegend bewaldet. Wenn wir auf geräumten und beschilderten Wegen durch diese geschützten Wälder spazieren, sehen wir rechts und links abgestorbene Bäume. Sie stehen da als hölzerne Gerippe, liegen flach auf dem Boden oder sind kreuz und quer übereinander getürmt. Je nachdem von welchen Baumarten es stammt und wie feucht das tote Holz ist, ragen unterschiedliche Pilzkonsolen – die flachen, harten Fruchtkörper der Baumpilze – aus den Baumleichen. Aus liegenden Stämmen wachsen junge Nadelbäumchen. Sie waren als nackte, aber geflügelte Samen hier gelandet, nach der ersten und letzten Reise ihres Lebens. Der Wind hat sie aus den Baumkronen herabgeweht, und nun stehen sie für den Rest ihrer Zeit an diesem Ort.

Was für ein Glücksfall! Pilze und Mikroorganismen zerlegen das abgestorbene Holz nach und nach in seine Bestandteile. In den Fraßgängen von Insekten sammeln sich deren Hinterlassenschaften und anderer Abfall. All diese freiwerdenden Nährstoffe lösen sich im Wasser, das der morsche Stamm nach jedem Regen aufsaugt. Die Baumleiche wird zu einem riesigen Powerriegel, und die Bäumchen obenauf können aus dem Vollen schöpfen. Zudem haben die Keimlinge hier gute Chancen, auf einen passenden Pilz zu treffen, der sich mit ihnen über die Wurzeln verbindet und im besten Fall eine lebenslange Symbiose eingeht. Vier Fünftel aller Gewächse leben in einer solchen Partnerschaft mit den Pilz-Wesen, die weder Tier noch Pflanze sind. Auf dem leicht erhabenen, modernden Holzkörper ist es außerdem etwas wärmer als auf dem Boden ringsum, was den Bäumchen ebenfalls zugutekommt. Das jahrzehntelange Vergehen des darniederliegenden Pflanzenriesen steht also nicht nur im übertragenen Sinne für Erneuerung und Wachstum, sondern es schafft dafür auch nahrhaften Boden.

Wie viele kleine Bäume aus morschen Stämmen emporwachsen, ja wie viele Sprösslinge der Bäume überhaupt im Wald stehen, hängt aber nicht nur von dem Angebot an lebensnotwendigen Nährstoffen ab. Auch das verfügbare Sonnenlicht spielt eine große Rolle. Manche Baumarten vertragen in ihrer Jugend Schatten gut, andere überhaupt nicht, was zu dem bemerkenswerten Umstand führt, dass eine Art wie die Eiche in einem durchschnittlichen Wald ohne Förster auf Dauer nicht überleben kann. Auch wenn eine ausgewachsene Eiche noch jahrhundertelang in einem dichten, schattigen Wald gedeiht; ihr Nachwuchs hat hier wegen des Lichtmangels und der Konkurrenz durch schneller wachsende Gehölze keine Chance emporzukommen.

Begegnen wir einem abgestorbenen Baum, aus dem jede Menge Pilzkonsolen ragen, erschaudern wir bei dem Gedanken, dass er vielleicht zweihundert Jahre lang wuchs, dass er seit einem Jahrzehnt hier als Baumleiche steht, bis er irgendwann umfällt und anschließend ein halbes Jahrhundert lang am Boden vergeht. Was für Zeiträume!

Für uns Naturliebhaber liegt ein großer Zauber darin, wenn auf einem Fleckchen Erde der Mensch keinen Einfluss mehr nimmt und die Natur nur noch ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorcht. Der Plural »Gesetzmäßigkeiten« weist darauf hin, dass es viele verschiedene sind. Diese Naturgesetze äußern sich in unterschiedlichen Prozessen wie Feuer, Sturm, Hochwasser oder der Massenvermehrung von sogenannten Forstschädlingen, die ihre Wirkung auf Landschaft und Vegetation frei entfalten dürfen. Dort, wo sie ungehindert ablaufen, ist Wildnis, das haben wir eingangs bereits festgestellt. »Prozessschutz« heißt daher das offizielle Schlüsselwort für Schutzgebiete, in denen der Mensch nicht oder nicht mehr eingreift.

Die Fachleute sind sich in einem einig, und wohl kaum jemand würde ihnen da widersprechen: Jeder Quadratmeter Mitteleuropas ist von uns verändert, bepflanzt, gerodet oder bebaut. Kann man sich bei Ost- und Nordsee oder dem Alpenkamm noch über das Ausmaß der Veränderungen streiten, ist es keine Frage, dass das Land dazwischen extremen Umformungen unterworfen war. Das gilt auch für unsere Schutzgebiete. Sie umfassen meist Flächen, die irgendwann aus der Nutzung genommen wurden. Oftmals weil sich eine Bewirtschaftung ohnehin nicht mehr lohnte, immer jedoch mit dem Ziel, der Natur Raum zur Entfaltung zu geben.

So verhält es sich auch bei unseren großen Waldnationalparks, etwa dem Hainich in Thüringen. Ein aufgelassener Wirtschaftswald, der bis vor fünfundzwanzig Jahren forstlich genutzt wurde und der gerade erst anfängt, eine vom Menschen nicht mehr direkt beeinflusste Entwicklung zu nehmen. Über Jahrhunderte hatten Förster bestimmt, welche Bäume hier wachsen, nicht die Natur. Gleiches gilt für den Nationalpark Bayerischer Wald, der kürzlich sein fünfzigjähriges Bestehen feiern durfte. Ein Alter, in dem Bäume noch nicht einmal »erwachsen« sind. Auch dieser Waldnationalpark emanzipiert sich gerade erst davon, ein Forst zu sein, in dem die formgebenden Prozesse vom Menschen bestimmt waren. Wie im Hainich gilt auch hier, zumindest in der Kernzone: Natürliche Prozesse sollen ungestört ablaufen. »Natur Natur sein lassen«, so lautet das Motto.

Das betrifft auch die großflächigen Windwurfflächen, die etwa Orkan »Kyrill« im Jahr 2007 hinterlassen hat. Tausende entwurzelte oder abgebrochene Fichten blieben einfach liegen. Selbst dort, wo sich der Erzfeind des Försters, der Borkenkäfer, breitmacht, greift der Mensch nicht ein. Sturm und Käfer haben bewirkt, dass große Bereiche im Inneren des Nationalparks offen und sonnendurchflutet sind und sich gleichzeitig totes Holz auftürmt. Flächen, auf denen das Leben explodiert!

Geschwächte Bäume sind Futterberge für holzzernagende Insekten. Im Schutzgebiet tragen sie nicht das Etikett »Schädling«. Eine Kategorie, die es in der Natur nicht gibt. Die schiere Masse der wenige Millimeter langen Buchdrucker, des wichtigsten Vertreters der Borkenkäfer und ihrer Larven, versorgt ein Heer an Raubinsekten, Spechten, Kröten, Waldeidechsen, Fledermäusen und vielen anderen Insektenfressern mit Nahrung. Die kleinen Käfer sind nicht die alleinige Nahrungsquelle, die jetzt üppig sprudelt! Die blühenden Stauden und Kräuter, die sich im nährenden Licht der Sonne wohlfühlen, bieten Nektar und Pollen im Überfluss. Ein paar Jahre lang, nachdem Sturm und Käferbefall gewütet hatten, kann man den lichten Wald getrost als Schlaraffenland bezeichnen. Jede Art, die sich in dem darniederliegenden Forst ansiedelt, zieht weitere nach sich. Doch was hier entsteht, ist eine Artengemeinschaft auf Zeit. Was passiert, wenn unzählige Baumsamen heransegeln und auf der Käfer- oder Windwurffläche landen?

Langfristig hat der vom Menschen gewährte Prozessschutz, also das Unterlassen jeglicher Eingriffe, zur Folge, dass ein stabiler, hierzulande meist von Buchen dominierter Mischwald heranwächst, der weniger anfällig ist für Sturm und Käferbefall als der Wirtschaftsforst, der vorher da war. Klingt zunächst nach gesunder, nach wilder Natur. Allerdings entwickelt sich der neue Wald als dichter Baumbestand, der das Sonnenlicht irgendwann weitgehend abschirmt. Im Waldesinneren leben dann ungleich weniger Arten als in den ersten Jahren, nachdem Sturm und Käfer gewütet haben.

Für viele Jungbäume im Unterwuchs wird es unter diesen Umständen zu dunkel, so auch für die bereits erwähnten jungen Eichen. Sie überleben im Halbdunkel nicht. Andere Bäume wachsen ganz langsam und verharren in einer Art Lauerstellung. Wenn irgendwann einer der Alten zusammenbricht, reißt er eine Lücke in das geschlossene Walddach und raubt dem Nachwuchs nicht länger das für Ernährung und Wachstum notwendige Sonnenlicht. Dann schießen die Jungbäume schlagartig empor und drängen, so schnell es einem Baum möglich ist, in die entstandene Lücke.

So stellte man sich lange den Urwald vor, der einst Mitteleuropa bedeckt haben soll. Grund dafür war die simple Erkenntnis, dass selbst offene und völlig baumfreie Landschaften am Ende alle dieselbe Entwicklung nehmen: Zuerst verwandeln sie sich in Buschland voller Stauden und Sträucher. Pionier­gehölze nennen Botaniker jene Bäume, die als Erste auftauchen. Auch sie kommen meist mit dem Wind angeflogen. Weiden und Pappeln haben winzige Samen, die an langen Haaren befestigt sind. Diese geniale Konstruktion ist federleicht und von der Evolution über Jahrmillionen auf den einen, großen Moment hin optimiert worden. »Fliegende Bäume«, die schon beim leisesten Lüftchen weite Strecken zurücklegen und Flüsse, Berge und andere natürliche Grenzen überwinden.

Ihnen folgen weitere Baumarten, mit schwereren Samen. Manche von ihnen ebenfalls durch die Luft, aber über viel kürzere Strecken. So wie der Ahorn, dessen Samen auch bei einem kräftigen Herbststurm in der Umgebung des Mutterbaumes niedergehen. Oder aber sie keimen in vergessenen Vorratskammern. Rabenvögel, Hörnchen, Mäuse und andere Tiere verstecken im Herbst große Mengen Baumsamen als Wintervorrat und finden viele davon nicht wieder. Plötzlich wachsen fernab vom Mutterbaum aus flugunfähigen Eicheln kleine Eichen. Mit der Zeit entsteht auf der ehemaligen Freifläche ein dichter Mischwald, in dem immer wieder mal ein alter Baum zusammenbricht, dessen Platz dann die Jungen einnehmen, die im Unterwuchs auf ihre Chance gewartet hatten. »Urwald« eben.

Lediglich ganz extreme Standorte mit felsigen, salzigen, nassen oder moorigen Böden bleiben dauerhaft baumfrei. Abseits dieser Gebiete mit speziellen Böden wird alles unweigerlich zu Wald, wenn der Mensch nicht eingreift. Zwar gibt es Naturgewalten wie Waldbrände, Überflutungen oder Erdrutsche, die den Wald vereinzelt und in unregelmäßigen Abständen auflichten. Aber ganz grundsätzlich entsteht da, wo der Mensch sich zurückzieht, Wald. Diese Beobachtung führte zu der Vorstellung, dass Mitteleuropa von Natur aus einmal dicht bewaldet war. Dass wir also Wald mit Wildnis gleichsetzen können. Ein Dogma, das gerade dabei ist, sich in Luft aufzulösen. Allerdings ebenso langsam wie vieles andere im Wald auch.