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Lesen, was glücklich macht. Und das zum Sparpreis!
Seit Jahrzehnten erfreut sich das Genre des Heimat-Bergromans sehr großer Beliebtheit. Je hektischer unser Alltag ist, umso größer wird unsere Sehnsucht nach dem einfachen Leben, wo nur das Plätschern des Brunnens und der Gesang der Amsel die Feierabendstille unterbrechen.
Zwischenmenschliche Konflikte sind ebenso Thema wie Tradition, Bauernstolz und romantische heimliche Abenteuer. Ob es die schöne Magd ist oder der erfolgreiche Großbauer - die Liebe dieser Menschen wird von unseren beliebtesten und erfolgreichsten Autoren mit Gefühl und viel dramatischem Empfinden in Szene gesetzt.
Alle Geschichten werden mit solcher Intensität erzählt, dass sie niemanden unberührt lassen. Reisen Sie mit unseren Helden und Heldinnen in eine herrliche Bergwelt, die sich ihren Zauber bewahrt hat.
Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:
Alpengold 233: Niemals will ich mich verlieben
Bergkristall 314:
Der Bergdoktor 1823: Weil du mich gerettet hast
Der Bergdoktor 1824: Der Weiberfeind und das Geheimnis der Liebe
Das Berghotel 170: Das Glücksgeheimnis der Goldmarie
Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Seitenzahl: 615
Veröffentlichungsjahr: 2025
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben
Für die Originalausgaben:
Copyright © 2016/2017/2018 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Für diese Ausgabe:
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Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Covermotiv: © Shutterstock AI
ISBN: 978-3-7517-8118-3
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Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Alpengold 235
Ich erzähl dir ein Geheimnis …
Alpengold 236
… denn sie waren nicht Mann und Frau
Der Bergdoktor 1823
Weil du mich gerettet hast
Der Bergdoktor 1824
Der Weiberfeind und das Geheimnis der Liebe
Das Berghotel 170
Das Glücksgeheimnis der Goldmarie
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Contents
Ich erzähl dir ein Geheimnis …
Packender Roman um eine mutige Tat
Von Carolin Thanner
Seit vielen Jahre ist Angus Stadler Pfarrer der kleinen Gemeinde Hainzenberg im Zillertal. Er kennt seine »Schäfchen« in- und auswendig, weiß um ihre Fehler und Schwächen. Die Menschen sind nun mal nicht fehlerfrei, doch wer aufrichtig seine Sünden bereut, der findet bei ihm Vergebung.
Auch jetzt sitzt Angus Stadler auf seinem Platz im Beichtstuhl, als er auf der anderen Seite der vergitterten Öffnung leise Atemzüge hört. Doch diesmal wird ihm im Flüsterton weder von Neid und Missgunst noch von Zank und Ehebruch berichtet. Die Beichte der jungen Frau beginnt mit: »Ich hab ein Leben auf dem Gewissen, Herr Pfarrer!«
Dös ist a Kreuz mit dem Kreuz!
Ein Stöhnen rutschte Pfarrer Angus Stadler über die Lippen, als er sich nach der Morgenzeitung bückte. Warum hatte ihm das Blatt vom Kaffeetisch rutschen müssen?
Sein Rücken protestierte mit einem heftigen Stechen gegen die Bewegung. Er stemmte eine Hand auf die schmerzende Stelle und überlegte sich: Was könnte ich noch alles erledigen, wo ich schon mal hier unten bin? Unter der Eckbank haben sich allerhand Staubmäuse angesammelt. Ich sollte der Franzi Bescheid sagen, damit sie mal wieder zum Putzen rüberkommt.
Angus Stadler richtete sich schnaufend auf und legte die Zeitung zurück auf den Frühstückstisch. Seine Wangen waren warm geworden, und sein Ischias zwackte, als würde ein Brieföffner in seinem unteren Rücken stecken.
Er sehnte sich danach, sich auszustrecken und die Beine auf einem Stapel Kissen zu lagern. Das war die einzige Position, in der sich sein Rücken nicht anfühlte, als würde jemand den besagten Brieföffner herumdrehen. Doch von der nahen Dorfkirche mahnte die Kirchglocke die achte Stunde an. Es war Zeit für seine Stunde im Beichtstuhl!
Angus leerte den Kaffeebecher – koffeinfrei, weil der Arzt ihn erst letzte Woche wegen seines hohen Blutdrucks ermahnt hatte – und stapfte aus dem Pfarrhaus hinüber zur Kirche.
Das Gotteshaus stand im Zentrum der Gemeinde Hainzenberg im Zillertal. Die weißen Mauern schienen mit den beiden roten Zwiebeltürmen in der Frühlingssonne um die Wette zu leuchten. Links und rechts des Eingangs blühten Narzissen. Sie leuchteten golden, als hätten sich pure Sonnenstrahlen zu den Blüten geformt.
Angus Stadler betrat die Kirche und strebte dem Beichtstuhl zu. Das schrankartige, mit Schnitzwerk verzierte Möbelstück war in zwei Innenräume geteilt: einen für ihn selbst und einen für den Beichtenden. Der Pfarrer legte sich sorgsam seine Stola um, nahm auf dem Sitz Platz, welcher der Tür zugewandt war, und schob die Abdeckung der vergitterten Öffnung zurück. Auf der anderen Seite waren Atemzüge zu hören. Anscheinend war bereits jemand hier.
»Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen«, flüsterte eine Stimme auf der anderen Seite, von der unmöglich zu sagen war, zu wem sie gehörte. Es konnte jemand aus dem Dorf sein, aber auch ein Besucher von außerhalb. Das war nicht auszumachen.
»Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir Erkenntnis deiner Sünden und seine Barmherzigkeit«, sagte Angus sanft.
»Amen. Bitte vergeben Sie mir, denn ich habe gesündigt«, wisperte die Stimme.
»Erleichtere dein Herz, mein Kind. Was möchtest du beichten?«
»Ich habe ein Leben auf dem Gewissen, Herr Pfarrer!«
Das Geständnis kam unerwartet und ließ ihn zusammenzucken. Im Lauf der Jahre hatte er so manches gesehen und gehört. Im Beichtstuhl wurde von Neid und Missgunst berichtet, von Zank und Ehebruch und manchmal auch von Diebstahl. Aber ein Mord? Nein, das war ihm noch nicht untergekommen. Angus schluckte. Er wusste nicht, was er erwidern sollte, aber das schien sein Gegenüber auch nicht zu erwarten, denn der Besucher fuhr im Flüsterton fort.
»Genau genommen habe ich sogar zwei Leben genommen. Das zweite ist nur noch net erloschen.«
Angus faltete seine Hände.
»Gott, der Herr, ist Vergebung und Liebe, wenn wir ihm unser Herz öffnen und unsere Taten aufrichtig bereuen. Erzähl mir, was passiert ist.«
Auf der anderen Seite des Gitters herrschte unvermittelt Schweigen. Nur die tiefen Atemzüge waren noch zu hören. Was war passiert? Hatte den Besucher die Furcht vor möglichen Konsequenzen seines Geständnisses überkommen? Wog er ab, was er offenbaren durfte und was nicht?
»Dein Geheimnis ist bei mir sicher«, versicherte Angus ernst.
Er hatte kaum ausgesprochen, als er ein Rascheln hörte. Schritte hallten von den hohen Kirchenwänden wider. Offenbar war der Beichtende drauf und dran, sich zu entfernen. Aber was hatte es mit dem zweiten Leben auf sich, das er noch nicht genommen hatte? Wollte er etwa noch einen zweiten Mord begehen?
Dem Pfarrer rauschte das Blut in den Ohren. Wenn es in seiner Macht lag, musste er ein weiteres Unglück unbedingt verhindern!
Hastig stemmte er sich von der schmalen Bank hoch. Oh! Grundgütiger! Das Holz war so unbequem, dass sein Rücken mit einem scharfen Schmerz gegen die Unbequemlichkeit protestierte. Er kam kaum hoch!
Als er sich endlich auf die Füße gerappelt hatte, stürmte er, so schnell er konnte, aus dem Beichtstuhl, aber es war zu spät. Er sah nur noch, wie das schwere Kirchenportal zufiel. Wer auch immer hier gewesen war, war nun fort.
Doch Angus wollte nichts unversucht lassen. So schnell seine Soutane es zuließ, eilte er zur Tür, riss sie auf und spähte hinaus. Still lag die Dorfstraße im Licht der Morgensonne. Niemand war auf der Straße oder dem Bürgersteig unterwegs. Nur auf der gegenüberliegenden Seite war der Dachdecker zugange und nagelte gerade eine Schindel auf dem Dach fest.
»Grüß dich!«, rief Angus Stadler zu ihm hinauf.
»Grüß Gott, Herr Pfarrer!«, kam es zurück.
»Hast du gesehen, wer kurz vor mir aus der Kirche gekommen ist?«
»Na. Ich war mit der Arbeit beschäftigt. Tut mir leid.«
»Schon gut.« Ein Seufzen entfuhr ihm. Er hatte keine Möglichkeit mehr, herauszufinden, wer ihm gebeichtet hatte und um wen es dabei gegangen war. Grüblerisch rieb er sich das bärtige Kinn. Er hatte in den vergangenen Tagen von keinem Unglücksfall im Dorf gehört. War die Tat also im Verborgenen geschehen? Oder frisch und noch nicht entdeckt?
Ich werde die Augen und Ohren offenhalten, nahm er sich vor. Vielleicht gelang es ihm, das zweite Leben zu beschützen, von dem der Besucher gesprochen hatte.
Er verschränkte seine Hände ineinander, während er nachdachte. Wer mochte noch in Gefahr sein? Und warum?
Ratlos warf er einen Blick zum blauen Morgenhimmel.
Ach, Herr, was soll ich denn jetzt machen? Wie kann ich helfen, weiteres Leid zu verhindern?
***
Drei Wochen zuvor …
Pia Walser fuhr die Serpentinenstraße hinauf. Ihr Kleinwagen protestierte mit einem hörbaren Röhren gegen den steilen Anstieg. Die engen Kurven trieben ihr den Schweiß auf die Stirn, denn sie stellte sich unwillkürlich vor, was geschehen würde, wenn sie von der Fahrbahn abkam und den Abhang hinunterstürzte. Steil ging es da hinunter! Sie konnte gar nicht hinsehen!
Links und rechts der Fahrbahn blühten üppig die Frühlingswiesen. Hunderte Krokusse reckten ihre Blüten in den Himmel, aber sie würden einen Absturz ebenso wenig bremsen wie die spärlich wachsenden Fichten zu ihrer Rechten. Pia grub die Zähne in die Unterlippe und konzentrierte sich. Besser, sie hielt sich in der Fahrbahnmitte …
So weit war sie gerade mit ihren Gedanken gekommen, als vor ihr ein Bus auftauchte und ihr entgegenkam. Geistesgegenwärtig bremste sie und lenkte ihr Auto so weit nach rechts, wie es ging, ohne von der Straße abzukommen. Der Bus rauschte nur wenige Millimeter an ihrem Seitenspiegel vorbei! Ein tiefer Atemzug entfuhr ihr. Das war knapp!
Pias Ziel war Hainzenberg, eine Gemeinde südöstlich von Zell am Ziller und rund zwölf Kilometer von Mayrhofen entfernt. Der Frühling ließ die Wiesen und Hänge erblühen, und die Sonne erwärmte die Luft auf angenehme achtzehn Grad. Auf den Gipfeln leuchtete noch Schnee in der Sonne. Er würde sich gewiss bis in den Sommer halten, denn die Berge ragten hier zweitausend Meter auf – und noch mehr!
Das Herz der jungen Wildbiologin wurde weit. Für die nächsten Wochen würde das Tal ihr Zuhause sein. Sie wusste noch nicht genau, wie lange ihr Auftrag sie festhalten würde, aber sie war sich sicher, dass sie sich in den Bergen wie zu Hause fühlen würde.
Das Navigationsgerät lotste Pia zum alten Forsthaus. Es stand am Rand des Dorfes: ein zweigeschossiges Alpenhaus, über dessen Eingang ein mächtiges Geweih befestigt war. Über der Haustür stand mit Kreide geschrieben: C+M+B. Dahinter war die Jahreszahl notiert. Ein prächtiger Garten umgab das Haus. Es blühte und grünte, dass das Auge die Pracht kaum erfassen konnte. Schmetterlinge und wilde Bienen bevölkerten die Blüten.
Pia stellte ihr Auto vor dem Haus ab und war noch nicht ganz ausgestiegen, als die Haustür aufging und eine kleine, rundliche Frau herauskam. Ihre grauen Haare waren zu einem praktischen Knoten aufgesteckt, und in ihrem faltigen Gesicht leuchteten die türkisfarbenen Augen so lebhaft, als würden sie mit der Sonne um die Wette funkeln.
»Grüß Gott!«, rief sie munter und umarmte Pia ohne lange Umstände. »Ich bin die Prankl-Ida. Herzlich willkommen bei uns. Dein Zimmer ist schon bereit. Wo hast du dein Gepäck? Ich helfe dir beim Tragen.«
»Vielen Dank, aber das müssen Sie net.«
»Das mache ich gern. Und sag ruhig Ida und Du zu mir. Hier in den Bergen sind wir net so förmlich.« Ihre Vermieterin wartete, bis Pia den Kofferraum geöffnet hatte, dann nahm sie eine der beiden Reisetaschen und ging voraus ins Haus.
Pia lud sich die zweite Tasche sowie den Koffer mit ihrer Ausrüstung auf und folgte ihrer Vermieterin ins Haus. Das Innere war genauso gemütlich eingerichtet, wie sie es sich vorgestellt hatte. Holz und warme Farben dominierten die Einrichtung. Es duftete nach frisch gebackenem Kuchen. Und auf den Fensterbrettern blühten Zimmerpflanzen.
Ida führte sie die Treppe nach oben und stieß die Tür zu einem hübschen Gästezimmer auf.
»Das Badezimmer ist am Ende des Flurs. Ich habe frische Handtücher hingelegt. Der Raum steht dir allein zur Verfügung. Mein Mann und ich benutzen das Bad im Erdgeschoss. Du kannst also in aller Ruhe baden oder duschen, ganz wie du magst.«
»Das ist schön.« Pia stellte ihr Gepäck neben dem Bett ab, das mit karierter Wäsche bezogen war, trat ans Fenster und stieß es auf. Ihr Blick schweifte über die steilen Berggipfel und grünen Hänge, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Wow! Die Aussicht ist traumhaft. Daheim in München schaue ich in einen Hinterhof. Das ist net zu vergleichen.«
»Wir möchten, dass du dich wohl bei uns fühlst, also sag ruhig Bescheid, wenn du etwas brauchst. Du kannst die Küche mit uns benutzen. Ich habe dir Platz im Kühlschrank gemacht. Und heute Abend würden mein Mann und ich dich gern zum Essen einladen, wenn du noch nichts anderes vorhast. Ich habe einen Tafelspitz vorbereitet.«
»Sehr gern. Vielen Dank, Ida.«
Ihre Vermieterin nickte zufrieden und strich die weiße Schürze glatt, die sie über ihr Dirndl gezogen hatte.
»Ich lasse dich jetzt in Ruhe auspacken. Ich bin unten, wenn du Fragen hast oder einen Plausch halten möchtest.« Sie zwinkerte Pia zu und wirbelte herum. Wenig später fiel die Tür hinter ihr zu.
Pia drehte sich einmal um die eigene Achse.
Ihr Zimmer verfügte über einen Schreibtisch, eine Leseecke und einen Kamin, den sie abends gewiss ausprobieren würde, denn die Abende waren im Frühling noch empfindlich kühl. Der Holzfußboden war mit einem bunten Flickenteppich ausgestattet und ebenso blitzsauber wie der Rest des Raumes.
An den Wänden hingen hübsche Aquarelle mit Bergansichten und einige Geweihe, die Pia zum Stirnrunzeln veranlassten. Sie mochte die Geweihe lieber an den Tieren selbst, aber die Zierde gehörte in einem ehemaligen Forsthaus wohl dazu.
Sie machte sich daran, alles auszupacken. Ihre Garderobe kam in den hohen Zirbenschrank, der Laptop und ihre Unterlagen auf den Schreibtisch.
Pia hatte gerade ihre Waschsachen ins Badezimmer gebracht und sich die Hände gewaschen, als ihr Handy klingelte. Auf dem Display wurde die Nummer ihrer besten Freundin angezeigt. Sie hob es ans Ohr.
»Hallo, Cora!«
»Hey, du Weltenbummlerin«, sagte eine Frauenstimme am anderen Ende der Verbindung. »Bist du gut angekommen?«
»Bin ich. Die Fahrt war allerdings ein Abenteuer. Es führt nur eine steile Straße hier herauf. Unterwegs dachte ich mehr als einmal, dass ich gleich abstürze.«
»So ist das eben, wenn man ans Ende der Welt reist. Und hast du deine Schützlinge schon kennengelernt?«
»Noch net. Ich habe gerade erst ausgepackt, aber ich möchte sie nachher unbedingt noch besuchen. Ich freue mich so unbändig, dass es geklappt hat und ich den Auftrag bekommen habe, die Auswilderung der Steinböcke zu leiten.«
»Du bist eben die Beste auf dem Gebiet. Und du hast es verdient. Immerhin warst du verrückt genug, mitten im Winter und bei Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt zwei Wochen in einem Zelt zu hausen, um Steinböcke in ihrem natürlichen Lebensraum zu beobachten.«
»Das war Teil meiner Studienabschlussarbeit.«
»Trotzdem war es verrückt.« Ein Lächeln schwang in der Stimme der Freundin mit und verriet, dass sie stolz auf Pia war. »Und? Hast du schon einen netten Dorfbewohner kennengelernt?«
»Bisher nur meine Vermieterin. Warum fragst du?«
»Weil du dir auf keinen Fall den Kopf verdrehen lassen sollst. Ich brauche meine beste Freundin hier in München, sobald dein Auftrag erledigt ist. Also komm bloß wieder!«
»Das werde ich. Keine Sorge. Ich bin zum Arbeiten hier, net zum Ausgehen. Ich werde also gar keine Zeit haben, mich zu verabreden. Außerdem ist das so ziemlich das Letzte, woran ich denke.«
Pia presste die Lippen zusammen. Der Tod ihres Verlobten war drei Jahre her, aber es tat noch immer furchtbar weh zu wissen, dass er nie wieder zu ihr zurückkehren würde. Der Schmerz war zu ihrem ständigen Begleiter geworden, wie ein Schatten, der ihr überallhin folgte.
Im Hörer war plötzlich ein Wehlaut zu hören. Alarmiert fuhr sie zusammen.
»Cora? Was ist denn passiert?«
»Ich habe mir den Fingernagel an der Limo-Dose abgebrochen. Ausgerechnet jetzt! In einer halben Stunde treffe ich mich mit Björn. Das ist eine Katastrophe.«
Pia sah unwillkürlich ihre Hände an. Die Nägel waren kurz geschnitten und nicht lackiert. Ihre langen hellblonden Haare waren locker aufgesteckt. Und ihre Garderobe musste vor allem eines sein: praktisch. Ihr einziger Schmuck war eine Silberkette mit einem Medaillon, das Geschenk ihres Verlobten zu ihrem letzten gemeinsamen Weihnachtsfest.
»Ich muss Schluss machen und sehen, ob ich den Schaden reparieren kann«, sagte ihre Freundin seufzend. »Wir telefonieren bald wieder, ja?«
»Ist gut. Bis dann!« Pia legte ihr Handy zurück auf den Nachttisch und beschloss, einen Spaziergang zu machen. Sie wollte den fünf Steinböcken einen Besuch abstatten, die auf einer Weide hinter dem Dorf untergebracht waren und sich dort akklimatisieren sollten, ehe sie ausgewildert wurden.
Sie nahm eine Strickjacke mit und verließ ihr Quartier.
Das Dorf lag hoch über dem Talboden. Unten floss der Ziller, ein rechter Nebenfluss des Inn. Die Bundesstraße führte an seinem Ufer entlang. Von hier oben aus wirkten die Fahrzeuge wie Spielzeuge.
Pia kam an gepflegten Alpenhäusern vorbei, vor deren Fenstern Geranien blühten. Sie passierte eine Kirche mit zwei Zwiebeltürmen und gelangte zu einem Gemischtwarenladen, vor dem frisches Obst zum Kauf einlud. Sie überlegte gerade, eine Schale Erdbeeren zu kaufen, als die Ladentür aufgerissen wurde und ein Kind herausgestürmt kam.
Der Bub mochte etwa neun oder zehn Jahre zählen und hatte ein sommersprossiges Gesicht und zerzauste blonde Haare. Er stieß sie an und rannte sie beinahe um!
»Hoppla!« Pia streckte nach Halt suchend die Arme aus. Der Bub rannte weiter, bog um eine Ecke und war wenig später auf und davon.
»Hey! Komm zurück!« Ein untersetzter Mann kam aus dem Laden und schüttelte seine Faust. Er hatte eine Lederschürze vor seinen runden Bauch gebunden und blickte grimmig die Straße auf und ab. »Herrschaftszeiten! Hat mir der Bursche doch eine Schachtel Buntstifte gestohlen. Na, der Bub kann was erleben! Den Schaden muss mir sein Vater ersetzen.«
Pia neigte fragend den Kopf.
»Wer war denn das?«
»Das war Luis. Er ist ein ziemlicher Tunichtgut. Zusammen mit seinen Brüdern tanzt er seinem Vater auf der Nase herum. Man merkt, dass ihnen die Mutter fehlt.« Der Ladenbesitzer musterte Pia, und der Groll verschwand aus seinem Gesicht. »Sie müssen die Wildbiologin sein, die bei Ida und ihrem Mann untergekommen ist.«
»Das stimmt. Woher wissen Sie das?«
»In einem so kleinen Dorf bleibt nix lange geheim. Ich habe von dem Auswilderungsprojekt gehört. Das ist eine gute Sache. Endlich haben wir wieder Steinböcke in der Gegend. Mir ist lange keiner mehr vor die Flinte gekommen.« Er gluckste, als Pia entsetzt die Augen aufriss. »Das war ein Scherz. Ich könnte nie einem Tier ein Leid zufügen. Ich setze sogar die Spinnen ins Freie, wenn sie sich in mein Haus verirren.«
»Ein Glück.« Pia atmete auf.
»Wann ist es denn so weit, dass Sie die Tiere auswildern?«
»Das steht noch net fest. Ich möchte abwarten, wie sie sich hier einleben. Außerdem sollen sie eine Rangordnung untereinander festlegen. Das wird ihnen später helfen.«
»Verstehe.« Er schabte sich den Bart. »Sagen Sie mir Bescheid, wenn es so weit ist, ja? Ich wäre gern dabei.«
»Natürlich. Können Sie mir sagen, wo die Wiese am Wildbach ist? Die Steinböcke sind vorerst dort untergebracht.«
»Folgen Sie einfach der Straße, bis Sie zu einem Marterl kommen. Dort biegen Sie rechts ab in den Wald. Nach zehn Minuten müssten Sie die Tiere sehen.«
»Vielen Dank.« Pia verabschiedete sich und lief weiter.
Mit der Beschreibung des Ladenbesitzers im Hinterkopf fand sie die gesuchte Weide problemlos. Hinter dem Wäldchen erstreckte sich eine abgelegene Wiese, die von einem Weidezaun geschützt wurde. Eine Hütte bot den Tieren Schutz vor Unwettern. Und ein ausgehöhlter Stamm wurde über eine Quelle mit frischem Trinkwasser gefüllt.
Die Wildbiologin näherte sich der Wiese, auf der fünf Alpensteinböcke weideten. Es waren herrliche Tiere. Sie hatten goldbraunes Fell und bewegten sich so grazil, als würde der steile Hang sie gar nicht stören. Ihr Lebensraum lag zwischen der Wald- und Eisgrenze. Dabei konnten sie bis in Höhen von 3 500 Metern überleben.
Eine Herde bestand aus den Weibchen und den Jungtieren. Die Böcke lebten in Junggesellenherden zusammen oder streiften allein umher. Nur über den Winter blieb der Bock bei der Herde, danach verließ er sie.
In den vergangenen Jahrhunderten war die Anzahl der Tiere in der freien Natur gefährlich dezimiert worden, deshalb waren Auswilderungsprojekte von großer Bedeutung.
Pia konnte den Blick nicht von den herrlichen Tieren abwenden. Ihr Herz klopfte wild in ihrer Brust. Sie spürte, dass aufregende Wochen vor den Tieren lagen. Und vor ihr auch.
***
Ein Buntspecht saß auf dem Rand des Futterhäuschens und spähte hinein. Doch eine bittere Enttäuschung wartete auf ihn, denn es war leer. Nicht der kleinste Krümel war noch zu finden.
Hendrik Mosbacher schloss das Stalltor hinter sich. Er hatte ausgemistet und seine Kühe mit frischem Futter und Wasser versorgt. Nun bemerkte er, dass die Vögel vergeblich nach Nahrung suchten. Dabei hatte sein Sohn versprochen, das Futterhaus jeden Nachmittag aufzufüllen.
Wo steckte Finn eigentlich?
Der Landwirt drehte den Kopf, aber weder auf der Schaukel noch vor der Scheune war sein Sohn zu entdecken. Auch seine Brüder nicht. Lediglich die Gänse watschelten schnatternd über den Hof und zupften hungrig am Gras.
Wo waren die Kinder nur?
Sein Bauernhof stand auf einer Anhöhe über seinem Heimatdorf Hainzenberg. Hendrik war hier aufgewachsen und hatte das Gehöft vor acht Jahren von seinen Eltern übernommen. Sie waren nach Salzburg gezogen und lebten nun in einem Haus in der Nähe seiner Schwester.
Seine Mutter schwärmte bei ihren Anrufen von den Konzerten und Theaterstücken, die sie mit seinem Vater besuchte. Hendrik war früher hin und wieder in die Stadt gefahren, um auszugehen, aber das war lange her, und er vermisste es nicht. Seine Arbeit und seine Kinder füllten sein Leben aus.
Doch die Familie war nicht mehr komplett. Seine Frau war vor anderthalb Jahren gestorben und hatte eine Lücke hinterlassen, die sich nicht füllen mochte.
»Finn?« Hendrik ging ins Haus und rief nach seinem Sohn. »Finn!«
Aus dem Kinderzimmer in der ersten Etage kam ein unterdrückter Laut. Er lenkte seine Schritte dorthin und stutzte, denn der Raum wirkte auf den ersten Blick leer. Die Ritterburg stand ordentlich auf dem Regal, und das Bett war gemacht. Sogar die Schulsachen auf dem Schreibtisch waren geordnet.
»Finn?« Sein Blick fiel auf die halb offene Schranktür, und sein Herz verkrampfte sich. »Ach, Finn.« Er zog die Tür auf und entdeckte seinen Sohn.
Finn hatte sich zusammengerollt wie ein verletzter Igel. Tränen kullerten über seine Wangen. Seitdem seine Mutter fort war, hatte sich der Bub verändert. Still und scheu war er geworden, und er verkroch sich häufig irgendwo.
Hendrik zögerte kurz, dann kletterte er zu seinem Sohn in den Schrank und ignorierte die unbequeme Lage. Er legte dem Sechsjährigen einen Arm um die Schultern und fühlte sich hilflos, als sich Finn an ihn schmiegte und haltlos zitterte.
Für seine Kinder hätte er alles getan, aber gegen den Verlust, der sie getroffen hatte, war er machtlos. Und das war kein schönes Gefühl.
»Die Vögel haben Hunger«, erinnerte er Finn sanft. »Meister Buntspecht war gerade da und hat nach Körnern Ausschau gehalten.«
»Ich hab vergessen, sie zu füttern«, gab Finn leise zu.
»Dann solltest du das schleunigst nachholen. Hm?«
»Ist gut.« Finn kletterte über ihn hinweg aus dem Schrank. Dabei trat er Hendrik unsanft in die Magengrube, aber der Bauer ließ sich nichts anmerken. Sein Sohn eilte vor ihm die Treppe hinunter. Kurz darauf fiel die Haustür hinter ihm zu.
Finn liebte Tiere und hatte das Futterhäuschen im Garten mit Hilfe seines Vaters gebaut. Er streute den Vögeln jeden Tag Sonnenblumenkörner und Erdnussbruch hin. Gartenrotschwänze, Blaumeisen und Girlitze kamen, um sich zu stärken. Finn beobachtete sie gerne, und in diesen schönen Momenten wich der Kummer aus seinen Augen.
Hendrik lenkte seine Schritte in die Küche. Hier war sein ältester Sohn Paul dabei, die Spüle zu putzen. Er wischte und schrubbte, dass ihm der Schweiß über die Stirn lief.
»Was machst du denn da?«
»Desinfizieren«, gab Paul Auskunft. »Das ist wichtig. Hab ich gelesen.«
Der Bauer schluckte. Für seine zehn Jahre war sein Sohn auffallend ernst. Paul übernahm ungefragt Verantwortung und arbeitete auf dem Hof mit wie ein Großer. Dabei vergaß er ganz, dass er noch ein Kind war und spielen sollte. Wenn Hendrik versuchte, ihn daran zu erinnern, sah Paul ihn so verblüfft an, als wüsste er gar nicht mehr, was das war.
In seinem Alter sollte er herumtoben und sich mit Freunden treffen. Stattdessen war er schon erwachsen. Sorgenvoll schüttelte Hendrik den Kopf. Ach, Maria, ich wünschte, du wärst noch bei uns. Die Kinder vermissen dich so sehr. Und ich auch.
Mitten in seine Gedanken hinein schrillte die Türklingel.
»Ich gehe schon.« Hendrik eilte in den Flur und öffnete. Draußen stand Max Hofer. Der Besitzer des Gemischtwarenladens schnaufte, denn der Weg vom Dorf herauf zum Hof war lang und steil.
»Grüß dich, Hendrik. Hast du einen Moment Zeit?«
»Freilich. Komm doch rein.«
»Ich kann net. Muss gleich wieder los. Ich wollte nur Bescheid sagen, dass dein Sohn schon wieder lange Finger gemacht hat. Diesmal hat er eine Packung Buntstifte mitgehen lassen. Ich hab es zufällig beobachtet, aber ich war net schnell genug, um ihn aufzuhalten. So geht das net weiter. Ich muss ihm Ladenverbot erteilen, so leid es mir tut.«
Hendrik strich sich mit dem Handrücken über die Stirn. Sein Sohn hatte also gestohlen? Schon wieder? Erst letzte Woche hatte Max ihm berichtet, dass Luis versucht hatte, eine Schachtel Zigaretten zu entwenden. Das hatte der Ladenbesitzer vereitelt.
»Ich ersetze dir den Schaden natürlich.«
»Darum geht es mir net.« Der Besucher winkte ab. »Ich finde nur, du solltest es wissen und etwas unternehmen. Noch ist Zeit zu verhindern, dass der Bub auf die schiefe Bahn gerät. Aber er ist auf dem besten Weg dahin, weißt du?«
»Ich werde mit ihm reden. Danke, dass du extra raufgekommen bist.« Der sonnige Frühlingstag schien mit einem Mal dunkler und kälter zu sein. Hendrik schloss die Haustür und stieg zum Zimmer seines mittleren Sohnes hinauf.
Luis saß mit angewinkelten Beinen auf seinem Bett und hatte die Ohrhörer seines CD-Spielers eingestöpselt. Selbst quer durch das Zimmer war das Wummern der Bässe zu hören. Luis mochte Musik, von der sein Vater Ohrenbluten bekam.
»Mach das aus.« Hendrik deutete auf das Abspielgerät.
Mit mürrischer Miene kam sein Sohn der Bitte nach.
»Was ist denn?«
»Max war gerade da.« Hendrik zog sich einen Stuhl heran und legte die Hände auf die Knie.
»Hat er gepetzt?« Sein Sohn verzog das Gesicht, als hätte er einen schlechten Geruch in der Nase.
»Gepetzt ist wohl kaum das richtige Wort dafür. Er macht sich Sorgen um dich, Luis, und das tue ich auch.«
»Mir fehlt nichts.«
»Das sehe ich anders. Du hast eine Packung Buntstifte gestohlen und wirst sie zurückbringen.«
»Das kann ich net.«
»Doch, Luis, das musst du. Und du wirst dich bei Max entschuldigen und ihm versprechen, nie wieder etwas aus seinem Laden zu stehlen.«
»Ich hab die Stifte aber nimmer. Hab sie verschenkt.«
»Verschenkt?« Hendrik stutzte. »Wem denn?«
»Ist doch egal. Sie sind jedenfalls weg.« Sein Sohn trommelte mit den Fingern auf seine Oberschenkel. Er wirkte genervt, aber darauf konnte Hendrik keine Rücksicht nehmen.
»So geht das net weiter, Luis. Du stiehlst, erledigst deine Hausaufgaben entweder schlampig oder gar net und schwänzt die Schule. Ja, auch das weiß ich. Deine Lehrerin hat mich heute angerufen und gesagt, du wärst zwei Stunden früher heimgegangen, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Damit muss Schluss sein. Ich werde ab sofort jeden Nachmittag deine Schularbeiten kontrollieren. Außerdem wirst du mir im Stall helfen, sobald du damit fertig bist.«
»Aber dann habe ich ja keine freie Minute mehr!«
»Genau das ist auch der Plan.«
»Das kannst du net machen!«
»Außerdem hast du bis auf Weiteres Hausarrest. Am Wochenende bleibst du daheim, lernst und hilfst mir bei der Arbeit. Und zwar solange, bis du mich davon überzeugt hast, dass ich dir wieder vertrauen kann.«
Luis fuhr senkrecht in seinem Bett hoch und sprudelte einen Schwall aus Vorwürfen und Schimpfworten hervor, aber sein Vater blieb fest. Er spürte, dass Luis ihm mehr und mehr entglitt. So durfte es auf keinen Fall weitergehen.
»Räum dein Zimmer auf und komm anschließend runter. Wir essen in einer halben Stunde zu Abend.« Hendrik verließ das Kinderzimmer und spürte den Groll seines Sohnes beinahe wie eine körperliche Wunde.
Um sich abzulenken, ging er in den Garten, griff zur Schere und schnitt frische Kräuter. Dill, Petersilie und Schnittlauch wuchsen bereits hoch genug, um sie zu ernten. Zum Abendessen sollte es Pellkartoffeln mit frischem Kräuterquark geben. Den Quark hatte er selbst gemacht. Nun fehlte nur noch das Grün.
Während Hendrik die Kräuter schnitt und in ein Weidenkörbchen sammelte, war ihm das Herz schwer. Seine Frau und er hatten sich viele Kinder gewünscht, aber nun hatte er das Gefühl, auf der ganzen Linie zu versagen. Seine Kinder kämpften mit Problemen, gegen die er nicht ankam, ganz gleich, was er auch versuchte.
Er musste sich etwas einfallen lassen. Vielleicht wäre ein Ortswechsel gut für die drei. Andere Bilder und neue Eindrücke. Ein Urlaub könnte ihnen helfen, aber wie sollte er das anstellen? Er konnte den Hof net so lange allein lassen. Die Tiere mussten jeden Tag versorgt werden.
Nachdenklich grübelte er vor sich hin. Dabei entging ihm die junge Frau, die in Sportkleidung hinter seinem Gartenzaun auftauchte und mit angewinkelten Armen und gleichmäßigen Schritten joggte. Ihr hellblonder Pferdeschwanz wippte hin und her. Hendrik sah sie nicht gleich. Dafür aber sein Hund! Der Labrador nutzte das offene Gartentor, um der Fremden entgegenzustürmen und wedelnd an ihr hochzuspringen.
»Huch!« Sie stieß einen hellen Schrei aus.
Endlich wurde Hendrik aufmerksam.
»Leila! Aus!«
Die Hündin ließ von der Besucherin ab und kam wedelnd zurück. Ihre braunen Augen schienen zu fragen, was sie falsch gemacht hatte. Sie hatte die Besucherin doch nur begrüßt!
Die Fremde strich sich ein paar Krümel Erde von der eng sitzenden Laufhose, die von den Pfoten der Hündin stammten, und funkelte Hendrik vorwurfsvoll an.
»Können Sie Ihren Hund net unter Kontrolle halten?«
»Leila tut nichts. Sie wollte nur Hallo sagen.«
»Sie hat mich fast zu Tode erschreckt! Was, wenn sie ein Kind angefallen hätte? Sie sollten sie net frei herumlaufen lassen. Das ist ja lebensgefährlich!«
Lebensgefährlich? Plötzlich regte sich Ärger in ihm.
»Meine Hündin könnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Es tut mir leid, dass sie Sie erschreckt hat, aber Sie waren keine Sekunde lang in Gefahr.«
»Das können Sie net wissen. Oder lesen Sie etwa die Gedanken Ihrer Hündin?«
»Natürlich net, aber ich kenne Leila. Sie ist sanft wie ein Lamm.« Genau genommen fürchtete sich die Hündin vor allem, was laut oder unbekannt war. Es war ungewöhnlich, dass sie der Fremden entgegengelaufen war. Im Gegensatz zu ihm schien sie die Frau zu mögen.
Die Läuferin trug teuer aussehende Technik am Körper: einen Pulsmesser am Arm und einen IPod, den sie in die Ohren gestöpselt hatte. Ihre Sportschuhe waren von einer bekannten Marke ebenso wie das eng anliegende korallenfarbene Trikot, das ihren wohlgeformten Körper betonte. Ihre hellblonden Haare waren gesträhnt. Entweder hielt sie sich oft im Freien auf, oder sie ging zu einem Friseur, der sein Handwerk verstand.
Hendrik biss die Kiefer so fest aufeinander, dass es knirschte. Die Fremde war hübsch, das musste er zugeben, aber offenbar auch verwöhnt. Eine verwöhnte Städterin, wenn ihn sein Gefühl nicht trog.
Ihr Handy klingelte und enthob ihn der Notwendigkeit, das Gespräch fortzusetzen, denn sie holte es aus der Gürteltasche und meldete sich.
»Pia Walser.«
Hendrik runzelte die Stirn. Wo hatte er den Namen schon gehört? Ach, richtig, im Laden. Ida hatte ihm von der Wildbiologin erzählt, die bei ihr Quartier nehmen würde. Pia war für die Steinböcke verantwortlich, die aus dem Zoo Innsbruck hergebracht worden waren.
Das war sie also? Er kratzte sich am Kopf. Sie machte nicht den Eindruck, als hätte sie ein Händchen für Tiere. Es würde ihn nicht wundern, wenn sie Ärger im Gepäck hatte!
***
Was für ein unfreundlicher Eigenbrötler!
Pia konnte nicht fassen, wie unfreundlich der Bauer war. Ihr saß der Schreck noch in allen Knochen, nachdem die Hündin ohne Vorwarnung an ihr hochgesprungen war und sie geglaubt hatte, jede Sekunde die spitzen Zähne in ihrer Kehle zu spüren. So ein Schreck brachte das Herz auf Trab. Womöglich war die Hündin wirklich so gutmütig, wie der Landwirt behauptete, aber das war nicht abzusehen gewesen.
Nachdenklich duschte Pia und zog sich für das Abendessen um. Sie war nach dem Anruf ihres Chefs zum alten Forsthaus zurückgekehrt. Er hatte sich nach dem Stand der Dinge erkundigt und sie gebeten, ihn täglich über den Fortgang des Auswilderns auf dem Laufenden zu halten. Das hatte sie ihm versprochen. Nun schlüpfte sie in ein zitronengelbes Kleid und einen Bolero. Dann ging sie zum Abendessen hinunter.
Aus der Küche drang ein würziger Duft. Ihre Vermieterin stand am Herd und rührte einen dampfenden Topf um. Der Küchentisch war bereits liebevoll gedeckt mit Steingutgeschirr, Gläsern und einer Vase mit leuchtend gelben Narzissen.
Hier saß ein drahtiger Mann Mitte sechzig, mit einem gepflegten grau melierten Bart und einer Lesebrille auf der Nase, über die er Pia nun neugierig musterte.
»Pia, da bist du ja!« Ida deutete einladend auf die Eckbank. »Setz dich ruhig schon. Das Essen ist gleich fertig. Meinen Mann kennst du noch net. Sein Name ist Anton, und er beißt net, auch wenn er gern so tut.«
»So.« Pia reichte ihm die Hand.
»Hör net auf meine Frau«, brummte er. »Ihre Zunge ist spitzer als die Dornen an unseren Rosen draußen im Garten.«
»Woher weißt du das denn?«, konterte Ida. »Du drückst dich doch alleweil ums Gießen.«
»Schmarrn. Ich gehe nur net damit hausieren wie du.«
»Ich stelle mein Licht halt net gern unter den Scheffel.« Ida lächelte breit und schaufelte Kartoffeln und Möhren in zwei Schüsseln, die sie auf den Tisch stellte. Anschließend holte sie das Rindfleisch aus der Brühe und schnitt es in fingerdicke Scheiben. Zum Schluss kam die Meerrettichsoße. »Möchtest du ein Glas Weißwein, Pia?«
»Gern.« Pia nickte dankbar, als Anton Prankl ihr Glas füllte.
Ida ermunterte sie, sich tüchtig den Teller zu füllen. Sie beteten und begannen mit dem Essen.
»Schon wieder Tafelspitz«, murrte Anton und stocherte auf seinem Teller herum. »Den hatten wir erst am Wochenende. Kannst du net mal etwas Neues kochen, Ida?«
»Was möchtest du denn gern essen?«
»Weiß ich auch net, nur net alleweil dieselben Speisen.«
Seine Frau wurde eine Spur blasser und schaute unsicher zwischen den Schüsseln hin und her.
Pia kostete das Fleisch und verdrehte vor Behagen die Augen, denn es war butterweich.
»Das schmeckt köstlich, Ida.«
»Wirklich?« Die Augen der Zweiundsechzigjährigen leuchteten auf.
»Und ob. Wie bei meiner Mutter. Ich bekomme das Fleisch nie so zart hin. Bei mir weiß man nie, ob ich net versehentlich meine alte Ledertasche gekocht habe.«
»Das Geheimnis ist die Geduld. Das Fleisch braucht beim Kochen seine Zeit. Wie viele Dinge im Leben.«
Während des Essens unterhielten sie sich über das herrliche Frühlingswetter, die Schneeschmelze, die viele Flüsse hatte über die Ufer treten lassen, und natürlich über die Steinböcke, die auf ihre Freilassung warteten.
Im Nu waren die Teller leer, und Pia trank ihr Glas aus. Sie fühlte sich geborgen. Und sie spürte trotz des Wortwechsels, wie vertraut sich das Ehepaar war. Es musste wunderbar sein, so viel Zeit mit einer anderen Person zu verbringen und sie so gut zu kennen wie sich selbst.
Pia vermisste diese innige Vertrautheit. Seitdem ihr Verlobter nicht mehr da war, hatte sie niemanden mehr so nah an sich herangelassen, dass sie Gefahr lief, verletzt zu werden. Als sie Ida und Anton nun miteinander sah, musste sie sich fragen: Wären ihr Schatz und sie sich eines Tages auch so nah gewesen?
Zum Nachtisch hatte Ida einen Topfenstrudel vorbereitet.
»Mein Vater war früher der Förster im Dorf«, erzählte sie. »Als Kind war ich öfter im Wald als irgendwo sonst. Ich bin mit den Tieren groß geworden. Mein Vater hat mich alles gelehrt, was er wusste.«
Ein Kranz aus Lachfältchen grub sich um ihre Augen ein, als sie lächelte.
»Schöne Zeiten waren das«, fuhr sie fort. »Noch net so hektisch wie heute. Die Menschen hatten Zeit, sich an den Geschenken der Natur zu erfreuen. An einem schönen Sonnenuntergang oder einem Rudel Rehe auf einer Wiese.«
»Oh, darüber freue ich mich heute auch, wenn ich das Glück habe, es sehen zu dürfen.«
»Hast du schon andere Dorfbewohner kennengelernt?«
»Ein paar. Den Ladenbesitzer und einen Buben. Und einen Landwirt mit einem höchst unberechenbaren Hund.«
»Wen meinst du denn?«
»Ich weiß net, wie er heißt, aber er wohnt dort drüben auf der Anhöhe. Auf dem Hof mit dem Ziehbrunnen im Garten.«
»Ah, du meinst den Hof der Mosbachers. Ja, die Leila tut gern gefährlich, aber sie kann keiner Fliege etwas zuleide tun. Du musst dich net vor ihr fürchten. Sie hat mehr Angst als du.«
»Das hat der Bauer auch gesagt.«
»Hendrik ist ein anständiger Mann. Er zieht seine drei Söhne allein groß, seitdem seine Frau nimmer da ist. Die drei tanzen ihm gehörig auf der Nase herum.«
»Er wirkte ziemlich unfreundlich. Kein Wunder, dass sie ihn verlassen hat.«
»Sie hat ihn net verlassen.« Ida schüttelte ernst den Kopf. »Sie ist gestorben. Krebs. Es war hart für ihn und die Kinder. Sie war eine wirklich nette Frau.«
»Mei, das wusste ich net.« Pia bedauerte ihre harten Worte.
»Er tut, was er kann, aber es ist net einfach, seine Arbeit und die Erziehung der Kinder unter einen Hut zu bringen. Jedes kämpft mit eigenen Problemen. Finn ist todtraurig. Paul ist weit über seine zehn Jahre hinaus. Und Luis … nun …« Ida stockte.
»Ihn habe ich vorhin gesehen. Der Ladenbesitzer war aufgebracht, weil er im Laden lange Finger gemacht hat.«
»Schon wieder?« Ida schlug die Hände vor der Brust zusammen, und ihr Mann zog eine finstere Miene.
»Der Bursche ist ein Strolch«, brummte er.
»Er braucht nur wieder eine Mutter«, begütigte seine Frau.
»Wenn du mich fragst, braucht er etwas ganz anderes.« Anton ballte eine Hand zur Faust. Dann stemmte er sich von seinem Stuhl hoch. »Ich muss noch arbeiten. War nett, mit dir zu reden, Pia. Wir sehen uns ja noch.«
»Natürlich.« Sie räumte ihren Teller in die Spüle. »Ich würde mich gern erkenntlich zeigen und den Abwasch erledigen.«
»So weit kommt das noch!«, wehrte Ida entsetzt ab. »Du bist unser Gast und musst net abwaschen. Das mache ich. Und Anton kann später abtrocknen.«
Ihr Mann brummelte etwas, das nicht zu verstehen war, und verließ die Küche.
Pia beschloss, einen Abendspaziergang zu machen. Die Sonne ging gerade unter und ließ den Abendhimmel rotgolden schimmern. Das sah so zauberhaft aus, dass sie unbedingt noch einmal hinaus wollte.
Sie brach zu einem Spaziergang auf und schlenderte durch das Dorf. Ein grau gestromter Kater huschte vor ihr über den Bürgersteig und verschwand in einer dichten Hecke. Er war bestimmt auf der Suche nach seinem Abendessen.
Vor der Kirche stand der Pfarrer und schmauchte ein Pfeifchen. Er winkte ihr freundlich zu, und sie erwiderte den Gruß, überrascht, wie herzlich die Menschen hier waren.
Wenig später gelangte Pia zu der Weide, auf der die Steinböcke grasten. Friedlich standen die Tiere beieinander. Sie schienen sich bereits an die Höhe gewöhnt zu haben.
Ein Mann mit einem dichten schwarzen Schnurrbart und einer kräftigen Statur stand am Zaun. Er beugte sich vor und ließ die Tiere nicht aus den Augen.
»Grüß Gott«, sprach Pia ihn an.
Daraufhin drehte sich der Hüne zu ihr um. Er hatte die fünfzig bereits überschritten. Seine Hände waren kräftig und schwielig von der Landarbeit. Er musterte sie flüchtig.
»Bist du die Aushilfe, die sich um die Viecher kümmert?«
»Ich bin Pia Walser, Wildbiologin.«
Er nickte, als hätte sie seine Worte bestätigt. Dann schob er die Hände in die Hosentaschen, wandte sich um und stapfte davon, ohne sie noch eines Blickes zu würdigen.
Verblüfft schaute Pia ihm nach. Was hatte das denn zu bedeuten? Warum war er so unfreundlich zu ihr?
»Mach dir nichts draus«, tröstete eine freundliche Männerstimme sie. Ein dunkelhaariger Mann kam aus dem Wald. Er trug Stiefel, eine grüne Hose und ein kariertes Hemd, das an den Ärmeln aufgekrempelt war. Neben ihm lief ein Setter an der Leine. »Josef Meindl«, stellte er sich vor.
»Herr Meindl? Dann sind Sie der Förster, nicht wahr? Wir haben schon miteinander telefoniert.«
»Das ist richtig. Herzlich willkommen, Pia. Ist es dir recht, wenn wir Du zueinander sagen? Wir sind hier net so förmlich.«
»Das habe ich schon gehört«, entgegnete sie lächelnd. »Und ich habe auch nichts dagegen.«
»Gut. Vor dem Zwicknagel-Franz solltest du dich allerdings in Acht nehmen.«
»Franz … War das der Bauer eben?«
»Ja. Der Franz greift gern zur Flinte. Dabei hält er sich net an Schonzeiten, aber ich konnte ihm noch nichts nachweisen. Er kennt die Gegend gut und weiß genau, wann er unbeobachtet schießen kann, aber eines Tages werde ich ihn erwischen. Ein halbes Dutzend Gämsen hat er uns schon weggeschossen, daran zweifle ich net. Von dem Rotwild ganz zu schweigen.« Der Förster kniff zornig die Lippen zusammen.
»Würde er etwa auch auf Steinböcke schießen?«
»Auf jeden Fall. Das wäre eine Trophäe, die er noch net besitzt. Ich bin mir sicher, er poliert schon sein Gewehr und zählt die Tage, bis wir die Tiere auswildern.«
»Aber sie sollen den Bestand aufstocken und sich vermehren. Sie sind gerade erst dabei, ein Rudel zu bilden. Es wäre eine Katastrophe, wenn er eines der Tiere erschießen würde!«, rief Pia erschrocken. »Wie können wir das verhindern?«
»Verhindern? Wenn Franz es darauf anlegt?«, gab der Förster düster zurück. »Gar net!«
***
Pia nutzte den Tag, um eine Kiste mit Ausrüstung zur Weide zu bringen und in der Scheune zu verstauen. In dem Behälter befanden sich mehrere Sender, mit denen sie die Tiere ausstatten wollte. Damit sollte nach dem Auswildern ihr Verhalten beobachtet werden. Pia erhoffte sich von den Daten spannende Aufschlüsse über die Lebensweise der Tiere.
Das Auswildern der Steinböcke war ihr Herzensprojekt. Sie hatte jahrelang darauf hingearbeitet, Fördermittel und Sponsoren gesucht und die Zusammenarbeit mit der Universität München in die Wege geleitet, die ihre wissenschaftliche Untersuchung begleiten würde. Zu guter Letzt war der Zoo Innsbruck mit ins Boot gekommen und hatte sich bereit erklärt, fünf Tiere für ihr Projekt zur Verfügung zu stellen.
Pia baute ihren Arbeitsplatz hinter dem Weidezaun auf. Sie wollte die Tiere beobachten und herausfinden, ob sie schon eine Rangordnung untereinander festgelegt hatten.
Sie legte ihr Schreibzeug zurecht, um ihre Erkenntnisse schriftlich festzuhalten. Ein Sonnenschirm würde sie vor der Sonneneinstrahlung schützen. Jetzt im Frühling hatte die Sonne noch nicht so viel Kraft wie im Sommer, aber gerade in den Höhenlagen war ihr Einfluss nicht zu unterschätzen.
Pia hatte es sich gerade bequem gemacht, als sie Schritte hinter sich im Gras rascheln hörte.
»Sie sind wunderschön!«, sagte eine Kinderstimme.
Pia wandte sich um und sah drei Kinder vor dem Zaun stehen.
Aufgereiht wie die Orgelpfeifen schauten die Buben zu den Steinböcken, die friedlich grasten. Es mussten die Kinder vom Mosbacher-Hof sein, denn sie erkannte Luis, den Bub aus dem Gemischtwarenladen. Seine Brüder hatten dieselben blonden Haare wie er, nur nicht so viele Sommersprossen im Gesicht. Doch die Ähnlichkeit war unverkennbar.
»Hallo, ihr drei.« Pia versuchte, sich an die Namen der Kinder zu erinnern. Der Kleine mit den traurigen Augen musste Finn sein. Und der Größte Paul. »Ihr habt Tiere wohl sehr gern, wenn ihr extra den Weg hierher macht, um sie zu besuchen?«
»Und ob!« Die drei nickten lebhaft.
An diesem Mittag wirkte Luis weder aufsässig noch frech. In der Gesellschaft seiner beiden Brüder machte er sogar einen scheuen Eindruck. Er blickte mit leuchtenden Augen zu den Steinböcken hinüber.
»Wie lange bleiben sie hier?«, fragte er.
»Das weiß ich noch net genau. Sie sollen sich erst einmal hier einleben und an die Höhe gewöhnen, bevor wir sie in die Freiheit entlassen. Ein paar Tage stehen sie gewiss noch hier.«
»Dann können wir sie noch mal besuchen.« Luis zog einen Apfel aus seiner Tasche. »Dürfen wir ihnen Obst geben?«
»Freilich. Am besten teilen wir den Apfel, dann bekommt jedes Tier etwas ab.« Pia holte ein Taschenmesser hervor und zerlegte den Apfel in mehrere Spalten. Davon gab sie jedem Kind zwei und zeigte ihnen, wie sie den Tieren das Obst auf der flachen Hand anbieten konnten.
Die Brüder hielten den Steinböcken den Leckerbissen hin.
Luis und Paul glucksten, als die Tiere das Obst nahmen. Nur Finn verließ in letzter Minute der Mut. Er ließ die Apfelschnitze ins Gras fallen, aber das störte die Tiere nicht. Sie klaubten das Obst auf und zermalmten es. Dann schauten sie erwartungsvoll herüber.
»Die wollen noch mehr.« Luis stülpte bedauernd seine Hosentaschen um. »Ich hab leider nichts mehr.«
»Wir bringen morgen wieder Obst mit«, versprach Paul.
»Haben die Steinböcke Namen?«, piepste Finn.
»Noch net.« Pia dachte daran, dass die Steinböcke vom Zoo auf Nummer eins bis fünf getauft worden waren. Das hatte sich bisher als ausreichend erwiesen, aber die Kinder würden das gewiss anders sehen. »Möchtet ihr ihnen Namen geben?«
»Ehrlich? Dürfen wir?« Finn machte kugelrunde Augen.
»Aber natürlich. Sucht euch jeder ein Tier aus und überlegt euch, wie es heißen könnte.«
Sekundenlang schauten die Kinder stumm zur Weide.
»Das große, braune Tier dort drüben, ist das ein Bock?«, fragte Luis schließlich lebhaft. »Dann würde ich ihn Herkules nennen. Weil er so stark ist.«
»Sehr gut«, lobte Pia. »Jetzt du, Paul.«
»Die kleine Geiß da, mit den weißen Flecken, darf ich sie Söckchen taufen?«
»Sie sieht tatsächlich so aus, als würde sie Strümpfe tragen. Der Name passt zu ihr. Und was denkst du, Finn?«
»Ich mag die dunkle Geiß da drüben«, wisperte der Bub. »Sie guckt so lieb wie meine Omi Rosali.«
»Dann nennen wir sie so.« Die Buben strahlten.
»Du musst auch einen Steinbock taufen«, fand Luis.
Pia schaute zu den beiden Tieren, die noch keinen Namen hatten. Einer der beiden Steinböcke hatte braunes Fell mit einem weißen Muster, das sie an die Blüte eines Gänseblümchens erinnerte.
»Daisy«, sagte sie leise.
»Dürfen wir sie streicheln?«, fragte Paul. Bevor Pia etwas erwidern konnte, erklang eine dunkle Stimme hinter ihnen.
»Ihr kommt jetzt sofort mit nach Hause, Kinder!«
Erschrocken wirbelten die drei herum, und auch Pia zuckte zusammen. Als sie den Kopf drehte, sah sie Hendrik Mosbacher auf sich zustapfen. Das Gesicht des Landwirts war gerötet.
»Was habt ihr euch eigentlich gedacht, Kinder?«, polterte er. »Ich warte daheim mit dem Mittagessen auf euch, und ihr kommt und kommt einfach net!«
Die Brüder tauschten erschrockene Blicke.
»Ich habe alle Hände voll zu tun und keine Zeit, euch zu suchen. Gleich kommt der Tierarzt, um nach einer trächtigen Kuh zu schauen. Ich muss ihn reinlassen, sonst geht er wieder, und ich weiß net, wann er wieder Zeit für uns haben wird.«
»Es tut uns leid, Papa«, stammelte Finn und zog den Kopf ein.
»Es ist meine Schuld«, übernahm Paul die Verantwortung. »Ich habe net nachgedacht.«
»Das habt ihr alle drei net«, schnaufte der Bauer.
»Die Kinder wollten die Steinböcke besuchen. Sie haben nichts Unrechtes getan«, schaltete sich Pia ein.
»Das macht es net besser. Ich habe mir Sorgen gemacht. In den Bergen kann ihnen alles Mögliche zustoßen. Was, wenn sie unter einen Traktor geraten? Oder irgendwo abstürzen?«
»Papa?« Finn deutete zur Wiese. »Du darfst dem Steinbock da drüben einen Namen geben.«
»Was für einen Namen denn?«, brummte der Landwirt.
»Irgendeinen, der dir gefällt.«
»Für solchen Firlefanz habe ich keine Zeit.« Er starrte Pia grimmig an. »Sie sind erwachsen und sollten klüger sein als die Kinder. Sie hätten sie nach Hause schicken müssen!«
»Es ist aber net meine Aufgabe, auf sie aufzupassen, sondern Ihre«, erwiderte Pia. Was bildete sich der Bauer eigentlich ein? Schob ihr die Schuld dafür zu, dass er seine Kinder nicht im Auge behalten konnte? Sie hatte von Anfang an recht gehabt: Er war wirklich ein unfreundlicher Eigenbrötler!
Sie maßen einander mit vorwurfsvollen Blicken.
»Papa?« Finn zupfte an seinem Hemd, legte den Kopf in den Nacken und blickte ungeduldig zu ihm hoch. »Der Name!«
»Es ist net meine Aufgabe, die Viecher zu taufen«, murrte der Bauer, hob aber resignierend die Hände, als seine Söhne protestierten. »Schon gut. Dann überlege ich mir halt einen Namen.« Er schaute den Steinbock nachdenklich an.
Pia legte Finn und Luis einen Arm um die Schultern. Gemeinsam warteten sie ab, was dem Bauern einfallen würde.
»Porthos«, entschied er. »Wie einer der drei Musketiere aus dem gleichnamigen Buch.«
Die Kinder kicherten.
Irritiert sah der Bauer Pia an.
»Was haben die drei denn?«
»Porthos ist ein Name für ein männliches Tier, aber das dort drüben ist eine Steingeiß.«
»Oh. Wie wäre es dann mit Fee? Sie ist zart und bewegt sich so leicht über die steile Wiese, als würde sie schweben.«
»Fee?« Pia krauste die Stirn, aber die Kinder jubelten.
»Fee ist schön«, fand Finn.
»Der Name passt zu ihr«, lobte Paul.
Und auch Luis nickte beipflichtend.
»Gut. Dann haben wir jetzt also Herkules, Söckchen, Rosalie, Daisy und Fee«, wiederholte Pia die Namen der Tiere.
Die Kinder strahlten. Ihr Vater zog jedoch weiterhin eine grimmige Miene, als hätte er sich soeben auf die Zunge gebissen.
»Ab nach Hause, Kinder. Luis, mit dir muss ich noch ein ernstes Wort reden. Deine Lehrerin war vorhin da und hat mir erzählt, dass du ihren Autoschlüssel aus ihrer Tasche gestohlen hast. Ist das wahr?«
Luis starrte zu Boden und schwieg.
Daraufhin stemmte Hendrik die Hände in die Hüften.
»Warum hast du das getan, Luis?«
Der Neunjährige hob die Schultern und ließ sie fallen.
»Luis!« Der Vater wartete noch eine Weile auf eine Antwort, ehe er es aufgab. »Also schön. Geht nach Hause, Kinder. Ich komme gleich nach. Und lauft direkt heim. Keine Umwege. Verstanden?«
»Verstanden.« Die drei wirkten sichtlich zerknirscht, als sie den Steinböcken winkten und davontrotteten. Ihr Vater ließ die Schultern sinken, als würde jegliche Kraft aus seinem Körper weichen. Mit einem Mal empfand Pia eine unerwartete Zuneigung zu ihm. Er hatte es sicherlich nicht immer einfach mit den drei Wirbelwinden. Und er tat sein Bestes, das verrieten seine bekümmerten Augen.
Plötzlich versteifte er sich. Pia folgte seinem Blick und erkannte den Grund für seine Anspannung. Franz Zwicknagel stand auf der anderen Seite der Weide! Der Bauer blickte die Steinböcke an, als wären es Leckerbissen auf einem Büfett. Der passionierte Jäger schien in Gedanken schon auf sie anzulegen. Rechnete er sich bereits aus, welchen Steinbock er zuerst schießen wollte?
Pia wurde es himmelangst. Der Förster hatte ihr gesagt, dass er nichts gegen den Schützen unternehmen konnte, solange er diesem nichts nachweisen konnte. Doch wenn es so weit war, würde es vermutlich zu spät sein!
In der Ferne grollte es plötzlich. Unwetterwolken zogen von Westen auf. Wie die Warnung vor einer nahenden Gefahr!
***
»Nein!« Mit einem Aufschrei wachte Pia frühmorgens auf und fuhr in ihrem Bett hoch, als wäre sie von einer wilden Biene gestochen worden. Ihre Haut war mit kaltem Schweiß bedeckt, und ihr Herz wummerte mit der Wucht eines Vorschlaghammers gegen ihre Rippen. Nur mühsam fand sie ins Hier und Jetzt zurück. Sie hatte geträumt!
Deutlich sah sie noch das blasse Gesicht ihres Verlobten vor sich. An seinem letzten Morgen hatte er ihr gesagt, dass er sie liebte, und sie gebeten, nicht der Vergangenheit nachzuhängen, sondern ihr Herz wieder zu verschenken. Wenig später hatte er sie für immer verlassen. Dieser eine Moment hatte ihre Welt in den Grundfesten erschüttert.
Pia fühlte sich so verloren ohne ihn, und dieses Gefühl begleitete sie auf Schritt und Tritt. Ohne Philipp war sie nicht mehr komplett. Damals hatte sie sich nicht vorstellen können, dass es noch einmal einen Mann geben könnte, den sie lieben konnte. Und auch jetzt, drei Jahre später, glaubte sie nicht, dass sie dem Schicksal noch einmal vertrauen und ihr Herz verschenken könnte. Das Leben war unberechenbar. Diese Lektion hatte sie auf die allerbitterste Art lernen müssen.
Sie schob die Zudecke zurück und stand auf. Ihre Beine fühlten sich nicht ganz sicher an, als sie zum Bad wankte und sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte. Aus dem Spiegel blickte ihr ein blasses Gesicht entgegen, mit großen dunklen Augen, in denen eine bange Frage stand: Warum? Warum hatte das Schicksal ihr den Liebsten genommen? Warum?
Diese Frage hatte sie schon oft in den Himmel gerufen, aber nie eine Antwort erhalten.
Pia duschte und zog sich an. In der unteren Etage war die Wasserspülung zu hören. Offenbar war sie nicht als Einzige schon wach.
Sie beschloss, vor dem Frühstück nach den Steinböcken zu sehen. Sie wollte sich vergewissern, dass es ihnen gut ging und dass sie das Unwetter unbeschadet überstanden hatten.
Ein kühler Wind wehte, als Pia das Haus verließ. Sie schloss den Reißverschluss ihrer Wetterjacke und strebte die Dorfstraße hinauf. Zahlreiche Pfützen bedeckten den Gehweg, und auch die Straße war noch feucht vom Regen. Wolken bedeckten den Himmel und deuteten weitere Regenfälle an.
Ein Molkereiwagen röhrte an Pia vorbei und verschwand in einer Hofeinfahrt. Die Wildbiologin ging an dem Laden vorüber, der noch geschlossen war. Anschließend folgte sie dem Weg durch den Wald und sog die kühle Morgenluft ein. Es roch nach feuchtem Moos und Holz. Dunst waberte zwischen den Bäumen, aber die ersten Insekten waren bereits unterwegs und summten über dem Grün.
Nach einer Weile lichtete sich der Wald vor Pia und gab den Blick auf die Weide mit den Steinböcken frei.
»Guten Morgen, ihr fünf!« Pia trat an den Zaun und schaute lächelnd zu, wie eine Geiß mit Bocksprüngen über die Wiese sprang. Ihre Gefährten waren ebenfalls bereits auf den Hufen und zupften an dem frischen Gras. Oh ja, den Tieren ging es gut, das war nicht zu übersehen.
Eine Weile schaute Pia zu, wie die Steinböcke fraßen. Sie schienen sich der Höhenlage bereits angepasst zu haben, denn sie stillten ihren Hunger und machten nicht den Eindruck, sich unwohl zu fühlen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie in die Freiheit entlassen werden konnten.
Pia nahm sich vor, nach dem Frühstück damit zu beginnen, sie zu besendern. Das war keine Kleinigkeit. Die Tiere waren wild, trotz allem, und sie würden sich net leicht einfangen und mit einem Sender ausstatten lassen.
»Pia?« Hendrik Mosbacher kam den Weg herauf und geradewegs auf sie zu. Er trug seine Wetterjacke offen, trotzdem waren seine Wangen gerötet und erhitzt. Anscheinend war er gerannt. Merkwürdig.
»Guten Morgen.« Beunruhigt blickte Pia ihm entgegen.
»Haben Sie zufällig meinen Sohn gesehen? Den Luis?«
»Heute noch net. Warum fragen Sie?«
»Weil er net in seinem Bett lag, als ich ihn wecken wollte. Er muss in einer halben Stunde zur Schule, aber ich kann ihn nirgendwo finden! Ich habe schon das ganze Haus und den Hof nach ihm abgesucht. Vergeblich! Er ist verschwunden!«
»Verschwunden?« Pia riss die Augen. »Wie lange ist er denn schon weg?«
»Sein Bettzeug war noch warm. Er kann noch net lange fort sein, aber ich habe keine Ahnung, wo er stecken könnte.«
»Haben Sie schon seine Freunde angerufen?«
»Das ist net so einfach.« Der Bauer rieb sich das Kinn. »Luis ist seit Kurzem mit Jungs zusammen, die ich kaum kenne. Er mag sie mir net vorstellen, und ich habe das leider auch net mit genügend Nachdruck verlangt. Ich habe keine Ahnung, wen ich anrufen könnte.«
»Das ist schlimm. Gab es einen Zank zwischen Ihnen?«
»Ich habe ihm Hausarrest gegeben. Außerdem soll er mir neben der Schule auf dem Hof helfen, weil er im Laden gestohlen hat. Das konnte ich net straflos durchgehen lassen, aber anscheinend hat ihn das dazu getrieben wegzulaufen.«
Pia hörte die Panik in der Stimme des Landwirts und konnte ihm nachfühlen, welche Sorgen er sich machte. Trotzdem bemühte sie sich, ruhig zu überlegen.
»Hat Luis etwas mitgenommen? Kleidung? Lebensmittel? Oder Geld?«
»Nein. Nur seinen Anorak. Alles andere war noch da, zumindest glaube ich das.« Hendrik fuhr sich durch die Haare, die völlig zerzaust waren. Offenbar tat er das nicht zum ersten Mal. »Sie müssen mich für einen furchtbaren Vater halten.«
»Warum glauben Sie das?«
»Weil ich mein Leben net im Griff habe. Meine Jungs sind unglücklich. Sie vermissen ihre Mutter. Ich versuche, sie den Verlust net spüren zu lassen, aber genauso gut könnte ich versuchen, ein leckgeschlagenes Boot mit meinen bloßen Händen über Wasser zu halten.« Er ließ den Kopf hängen. »Ich habe das Gefühl, auf der ganzen Linie zu versagen.«
»Sie tun Ihr Bestes. Mehr kann niemand von Ihnen verlangen.«
»Das ist net einmal annähernd genug, aber ich danke Ihnen für den Versuch, mich aufzumuntern. Ich weiß, wie schwer Ihnen das gefallen sein muss. Sie halten mich für einen Widerling, nicht wahr?«
»So würde ich das net formulieren«, erwiderte Pia diplomatisch.
»Ich kenne meine Fehler.« Er winkte ab. »Ich urteile manchmal voreilig. Auch über Sie. Es tut mir leid.«
Seine Worte klangen aufrichtig. Es verblüffte Pia, dass er sie zerknirscht ansah.
»Ist schon gut«, sagte sie und meinte es auch so. »Ich mache das auch hin und wieder.«
Hendrik sah sie sekundenlang schweigend an. Dann reichte er ihr die Hand.
»Frieden?«
»Frieden.« Sie schlug ein. »Nun sollten wir nicht länger herumstehen, sondern versuchen, Ihren Sohn zu finden. Haben Sie eine Idee, wohin er gegangen sein könnte?«
»Ich hatte gehofft, er wäre hier bei den Steinböcken. Er liebt Tiere, auch wenn er das net so zeigt.«
»Leider ist er hier net aufgetaucht. Zumindest net in der letzten Viertelstunde.« Pia hob bedauernd die Hände.
»Ich weiß net, was ich mit ihm machen soll.«
»Ihr Sohn hat einen herben Verlust erlitten, den kein Kind erleben sollte. Geben Sie ihm Zeit, sich zu fangen, und seien Sie für ihn da. Wenn er spürt, dass er geliebt wird, wird er sich wieder fangen. Er ist ein guter Bub.«
»Ja, das ist er, allerdings halten ihn die meisten Dorfbewohner für einen Strolch.«
»Jungen müssen hin und wieder auch mal Unfug machen. Aus ihren Fehlern und Erfahrungen lernen sie.«
»Ich wünschte, ich könnte etwas tun, um ihm zu helfen.«
»Es gibt Wunden, die sich niemals schließen, und der Verlust eines geliebten Menschen gehört dazu. Aber man lernt, damit zu leben. Sie lieben Ihre Kinder. Darauf kommt es an.«
»Wenn das doch nur genug wäre«, murmelte er.
»Hören Sie«, Pia schaute sich um, »ich werde Ihnen helfen, Luis zu suchen.«
»Das nehme ich gern an. Könnten Sie im Dorf nach ihm fragen? Vielleicht hat ihn jemand gesehen. Und ich werde mich im Wald umschauen. Es gibt eine Futterraufe net weit von hier. Luis kennt sie. Vielleicht ist er dorthin gegangen. Treffen wir beide uns in einer halben Stunde an der Kirche?«
»Einverstanden.« Pia nickte bereitwillig und wollte sich gerade auf den Weg zurück ins Dorf machen, als in der Nähe etwas krachte. Ein Schwarm Krähen stob vom Feld auf.
Erschrocken sah Pia den Landwirt an und entdeckte in seinen Augen dieselbe bange Frage, die auch sie umtrieb.
War das eben etwa ein Schuss gewesen?!
***
Das war ein Schuss!
Da war sich Hendrik absolut sicher. Sein Großvater war früher gern auf die Jagd gegangen. Als Bub hatte er ihn manchmal begleitet. Er kannte das Geräusch, das ein Schuss verursachte. Normalerweise hätte er sich nicht weiter darum gekümmert, aber dann geschah etwas, das ihn bewog, in die Richtung zu eilen, aus der er den dumpfen Knall gehört hatte. Ein Kind schrie auf!
Luis!, dachte er erschrocken und verkrampfte sich. Was war dem Buben zugestoßen? Warum hatte er geschrien? Die Furcht kroch durch seine Adern wie eine zähe, kalte Masse.
Er rannte los – und Pia folgte ihm.
Sie stürmten die Anhöhe hinauf und weiter durch den Wald, bis sie zu einer Lichtung gelangten. Hier bot sich ihnen ein Bild des Schreckens. Luis kniete neben einem Tier, das reglos im Gras lag und eine blutige Wunde über seinem linken Vorderlauf hatte. Der Bub tastete zittrig nach der Wunde, als könnte er sie mit bloßen Händen verschließen. Er schluchzte haltlos und zitterte am ganzen Leib.
»Eine Gams!« Pias Stimme war nur ein Stöhnen.
Hendrik nickte grimmig. In der Tat. Jemand hatte eine Gämse erschossen. Das war nicht zu übersehen. Doch das war noch nicht alles. Neben der Gämse stand ein kleineres Tier auf zittrigen und viel zu dünnen Beinen und stupste seine tote Mutter mit verzweifelten Lauten an. Ihr Junges!
»Wer macht denn so etwas?« Pia war fassungslos. »Wer schießt auf ein Muttertier?«
»Das ist eine gute Frage«, knurrte Hendrik, in dem die kalte Wut aufstieg. Was für ein Mensch brachte eine Gämse um, die ein Junges hatte? Das wollte ihm nicht in den Kopf.
»Papa!« Luis blickte flehend hoch. »Bitte, bitte, hilf ihr.«
Das hätte er liebend gern getan, aber hier war nichts mehr zu machen. Die Zunge hing der großen Gams aus dem Maul, und ihr gebrochener Blick verriet, dass jede Hilfe zu spät kam. Doch was war mit ihrem Kitz? Vielleicht konnten sie das retten? Es konnte nicht älter als wenige Tage sein und wurde gewiss noch gesäugt. War es überhaupt möglich, ihm zu helfen?
»Ich war das net«, stammelte Luis.
»Natürlich net.« Hendrik legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm. »Hast du gesehen, wer geschossen hat?«
Sein Sohn schüttelte den Kopf.
»Ich hab nur das Krachen gehört und das Junge gefunden.«
Die klagenden Laute des Kitzes zerrissen dem Landwirt fast das Herz. Sie konnten es auf keinen Fall hierlassen, wo sein Schicksal besiegelt war. Sie mussten wenigstens versuchen, ihm zu helfen!
»Wir werden es mitnehmen«, entschied er und holte sein Taschenmesser hervor.
Dann schnitt er einige Zweige und Äste ab und deckte die Gämse zu. Pia und Luis halfen ihm. Als das getan war, zog er seine Jacke aus und wickelte das Junge darin ein. Es klagte, sträubte sich aber nicht. Vielleicht spürte es, dass sie ihm helfen wollten.
»Mehr können wir net tun«, grollte Hendrik. »Ich werde dem Förster Bescheid sagen, sobald wir wieder im Tal sind. Er muss sich um die Gämse kümmern. Vielleicht gelingt es ihm herauszufinden, wer auf sie geschossen hat.«
»Ich weiß, wer das war«, murmelte Pia düster.
Hendrik sah sie fragend an. Dann dämmerte ihm, wen sie meinte.