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Die Kraft der Wahrheit. Frank Money hat den Koreakrieg überlebt – als Einziger von drei Freiwilligen aus seinem Heimatort Lotus, Georgia. Die Stadt ist ein rassistisches Höllenloch, in das er nie mehr zurückwill. Doch auch andernorts erlebt Frank die Segregation der Fünfzigerjahre: getrennte Restaurants, Hotels, Waschräume. Dann erreicht Frank die Nachricht, dass seine Schwester Cee in Gefahr ist – er muss zurück nach Lotus, zum Elternhaus und zu einem Geheimnis aus der Kindheit, dem er bis zu seiner bitteren Enthüllung nachgeht.
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Seitenzahl: 172
Veröffentlichungsjahr: 2024
Toni Morrison
Roman
Die Kraft der Wahrheit.
Frank Money hat den Koreakrieg überlebt – als einziger von drei Freiwilligen aus seinem Heimatort Lotus, Georgia. Die Stadt ist ein rassistisches Höllenloch, in das er nie mehr zurück will. Doch auch andernorts erlebt Frank die Segregation der Fünfzigerjahre: getrennte Restaurants, Hotels, Waschräume. Dann erreicht Frank die Nachricht, dass seine Schwester Cee in Gefahr ist – er muss zurück nach Lotus, zum Elternhaus und zu einem Geheimnis aus der Kindheit, dem er bis zu seiner bitteren Enthüllung nachgeht.
«Heimkehr» setzt den mit «Jazz» begonnenen Zyklus fort, in dem Morrison die Situation der Schwarzen in einem jeweils anderen Jahrzehnt beleuchtet. In unvergesslichen Szenen schildert die Nobelpreisträgerin einen langen Kampf um Gerechtigkeit. Ein engagierter Roman über das Widerstehen, die Würde des Menschen und die Kraft der Wahrheit.
«Alle großen Themen der Nobelpreisträgerin sind hier vereint, prägnant und eindringlich.» The Washington Post
«Das gefühlvollste Buch von Morrison.» The New York Review of Books
«Hätte Amerika eine Nationalschriftstellerin, so wäre es Toni Morrison.» The New York Times
Toni Morrison wurde 1931 in Lorain, Ohio, geboren. Sie studierte an der renommierten Cornell University Anglistik und hatte an der Princeton University eine Professur für afroamerikanische Literatur inne. Zu ihren bedeutendsten Werken zählen «Sehr blaue Augen», «Solomons Lied», «Menschenkind», «Jazz», «Paradies» und diverse Essaysammlungen. Sie war Mitglied des National Council on the Arts und der American Academy of Arts and Letters. Ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen, u.a. mit dem National Book Critics' Circle Award und dem American-Academy-and-Institute-of-Arts-and-Letters Award für Erzählliteratur. 1993 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur, und 2012 zeichnete Barack Obama sie mit der Presidential Medal of Freedom aus. Toni Morrison starb am 5. August 2019.
Thomas Piltz, geboren 1949 in München, ist freier Fotograf und Übersetzer. Er übertrug unter anderem Werke von Thomas Pynchon, Jonathan Franzen und John Updike ins Deutsche. Ausgezeichnet mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis.
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel «Home» im Verlag Alfred A. Knopf, New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2024
Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Home» Copyright © 2012 by Toni Morrison
Covergestaltung any.way, Hamburg, nach einem Entwurf von ANZINGER WÜSCHNER RASP, München
Coverabbildung Alexa Garbarino/Trevillion Images
ISBN 978-3-644-02237-9
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Slade
Wessen Nacht hält das Licht fern
Hier drinnen?
Sag, wem gehört dieses Haus?
Meins ist es nicht.
Ich hab von einem anderen geträumt, wohnlicher, heller,
Mit einem Blick auf Seen, befahren in bunten Booten,
Auf Felder, weit wie Arme, ausgebreitet für mich.
Dieses Haus ist fremd.
Seine Schatten lügen.
Sie erhoben sich wie Männer. Wir sahen sie. Wie Männer standen sie da.
Wir hätten überhaupt nicht in die Nähe kommen dürfen. Wie fast das ganze Farmland rund um Lotus, Georgia, war auch diese Weide von Warnschildern umgeben, die einem Angst machten. Ungefähr alle fünfzig Fuß hing eine Drohung an dem Maschendrahtzaun, der zwischen Holzpfählen gespannt war. Aber als wir eine Kriechspur sahen, die irgendein Tier, vielleicht ein Kojote oder ein Jagdhund, drunter durch gegraben hatte, konnten wir nicht widerstehen. Wir waren eben nur Kinder. Das Gras reichte ihr bis zur Schulter und mir bis zur Hüfte, also krochen wir bäuchlings weiter, immer auf der Hut vor Schlangen. Der Lohn wog die Schmerzen auf, die der Grassaft und Wolken von Stechmücken unseren Augen bereiteten, denn da, genau vor uns, keine fünfzig Meter entfernt, standen sie aufrecht wie Männer. Ihre erhobenen Hufe schlugen und prallten gegeneinander, ihre Mähnen flogen über wilden, weißen Augen. Sie konnten zubeißen wie Hunde, aber als sie so dastanden, hoch auf der Hinterhand, die Vorderhufe um den Rist des anderen gelegt, hielten wir den Atem an vor Ehrfurcht. Eines war rostfarben, das andere tiefschwarz, und beide voller Sonnenglanz vor Schweiß. Das Wiehern war nicht so furchteinflößend wie die Stille, die einem Schlag der Hinterhufe in die hochgezogenen Lippen des Gegners folgte. In der Nähe knabberten Fohlen und Mutterstuten gleichgültig an Halmen oder sahen weg. Dann war es vorbei. Der Rostfarbene senkte den Kopf und scharrte mit den Hufen, während der Sieger in einem weiten Bogen davontrabte und seine Stuten vor sich hertrieb.
Als wir, auf die Ellbogen gestützt, durch das Gras zurückkrochen und die unterhöhlte Stelle suchten und uns vor den weiter draußen abgestellten Trucks wegduckten, verloren wir unsere Spur. Es dauerte ewig, bis wir den Zaun wieder zu Gesicht bekamen, aber trotzdem geriet keiner von uns in Panik, bis wir Stimmen hörten, dringlich aber gedämpft. Ich packte sie am Arm und legte einen Finger an meine Lippen. Ohne die Köpfe zu heben, spähten wir durch das Gras und sahen, wie ein Körper von einem Schubkarren gezerrt und in eine bereits wartende Grube geworfen wurde. Ein Fuß ragte noch über den Rand und zitterte, als könne er sich befreien, als könne er mit ein wenig Anstrengung die Erde aufbrechen, die über ihn geschaufelt wurde. Die Gesichter der Männer mit den Schaufeln konnten wir nicht sehen, nur ihre Hosenbeine und die Kante eines Spatens, der den zuckenden Fuß nach unten stieß zu all dem anderen. Als sie sah, wie dieser schwarze Fuß mit seiner weichen, rosigen, von Schmutz geäderten Sohle in das Grab geprügelt wurde, begann sie am ganzen Leib zu schlottern. Ich packte sie fest bei den Schultern und versuchte, ihr Zittern an mich zu ziehen, weil ich, der vier Jahre ältere Bruder, damit fertigzuwerden glaubte. Die Männer waren längst verschwunden und der Mond war eine Melone, als wir uns sicher genug fühlten, auch nur einen einzigen Grashalm erzittern zu lassen und uns bäuchlings weiterzuschieben zu der ausgebuddelten Stelle unter dem Zaun. Als wir nach Hause kamen, rechneten wir mit der Peitsche oder zumindest einem Tadel dafür, so spät noch draußen gewesen zu sein, aber die Erwachsenen nahmen keine Notiz von uns. Es war irgendetwas vorgefallen, dem ihre Aufmerksamkeit galt.
Du willst meine Geschichte erzählen, also lass dir, was du auch denkst und was du auch schreibst, eins sagen: Das Vergraben der Leiche hab ich tatsächlich vergessen. Erinnert habe ich mich nur an die Pferde. Sie waren so schön. So brutal. Und sie standen da wie Männer.
Atmen. Wie atmen, wenn keiner merken sollte, dass er wach war? Ein tiefes, gleichförmiges Schnarchen vortäuschen, die Unterlippe hängen lassen. Die Augenlider reglos, das war das Wichtigste, der Herzschlag gleichmäßig, die Hände schlaff. Um zwei in der Nacht, wenn sie kontrollierten, ob er noch eine Spritze zur Ruhigstellung brauchte, würden sie den Patienten in Zimmer 17 im ersten Stock in einem tiefen Morphiumdämmer vorfinden. Wenn es überzeugend war, ließen sie die Injektion vielleicht ausfallen, lockerten vielleicht die Handfesseln, sodass er frisches Blut in die Finger bekam. Der Trick beim Vortäuschen eines Quasi-Komas bestand, genau wie beim Sichtotstellen im Schlamm eines Schlachtfelds, darin, die Gedanken auf einen einzelnen, nichtssagenden Gegenstand zu konzentrieren. Auf etwas, das jede zufällige Regung von Leben erstarren ließ. Eis, dachte er. Ein Eiswürfel, ein Eiszapfen, ein zugefrorener Teich, eine vereiste Landschaft. Nein. Eisbedeckte Hügel rührten zu viele Gefühle auf. Und Feuer? Ausgeschlossen. Zu lebendig. Er brauchte etwas, das keine Empfindung weckte, keine Erinnerungen wachrief, ob süß oder bitter. Schon die Suche nach einem solchen Objekt war aufwühlend. Alles erinnerte ihn an irgendeinen Vorfall voller Schmerz. Die Vorstellung eines leeren Blatts Papier lenkte seine Gedanken zu dem Brief, den er erhalten hatte – dem Brief, der ihm die Kehle zuschnürte: «Komm schnell. Sie wird tot sein, wenn du trödelst.» Schließlich entschied er sich, den Stuhl in der Zimmerecke als sein nichtssagendes Objekt zu wählen. Holz. Eiche. Lasiert oder fleckig. Wie viele Leisten in der Lehne? Die Sitzfläche eben oder einem Hintern angepasst? Tischlerarbeit oder Industrieprodukt? Und wenn es Tischlerarbeit war – wo stand die Werkstatt, wo kam das Holz her? Aussichtslos. Der Stuhl warf Fragen auf, statt leere Gleichgültigkeit zu erzeugen. Was wäre mit einem Ozean, vom Oberdeck eines Truppentransporters aus gesehen, an einem wolkigen Tag – kein Horizont, keine Hoffnung auf einen Horizont? Nein. Das nicht, denn unter den Leichen, die irgendwo unten kühl gehalten wurden, befanden sich vielleicht auch Kumpel von zu Hause. Er musste sich auf etwas anderes konzentrieren – einen Nachthimmel ohne Sterne oder, besser, auf Bahngleise. Keine Landschaft, keine Züge, nur endlos, endlos die Gleise.
Sie hatten ihm das Hemd und die Schnürstiefel abgenommen, aber seine Hose und die Uniformjacke, beides kaum für einen Selbstmord zu gebrauchen, hingen im Spind. Er brauchte nur den Flur hinunterzugehen, zur Tür nach draußen, die nicht mehr abgeschlossen wurde, seit es auf diesem Stockwerk zu einem Brand gekommen war, der einer Krankenschwester und zwei Patienten das Leben gekostet hatte. Das war jedenfalls die Geschichte, die Crane, der geschwätzige Pfleger, kaugummikauend erzählt hatte, während er ihm die Achselhöhlen wusch. Wahrscheinlich war das erfunden, sollte nur bemänteln, dass das Personal zum Rauchen rausgehen wollte. Sein erster Fluchtplan begann damit, dass er Crane k. o. schlug, wenn der reinkam, um seinen Eimer auszuleeren. Aber dazu hätte er seine Handfesseln lockern müssen, und das kam ihm zu riskant vor, sodass er nun eine andere Strategie verfolgte.
Zwei Tage zuvor, als er in Handschellen auf den Rücksitz des Streifenwagens gezerrt wurde, hatte er sich fast den Hals ausgerenkt, um mitzukriegen, wo er sich befand und wo es hinging. In diesem Viertel war er noch nie gewesen. Sein Revier war die Innenstadt. Er sah nichts Bemerkenswertes, abgesehen vom grellen Neonschriftzug eines Diners und einem großen Schild mit der Aufschrift AME Zion, das auf eine kleine Kirche der African Methodist Episcopal Church hinwies. Wenn es ihm gelang, durch den Notausgang zu entwischen, würde er sich dorthin wenden: an Zion. Aber vor einer Flucht musste er sich Schuhe besorgen, irgendwo, irgendwie. Im Winter ohne Schuhe draußen herumzulaufen, würde garantiert zu seiner Festnahme und geradewegs zurück in diese geschlossene Abteilung führen, bis er wegen Landstreicherei verurteilt werden konnte. Interessant, dieses Gesetz gegen Landstreicherei, womit Herumstehen im Freien oder zielloses Umhergehen gemeint war. Ein Buch in der Hand zu halten, würde schon helfen, aber fehlende Schuhe waren mit zielgerichtetem Gehen schwer vereinbar und still zu stehen konnte eine Anzeige wegen Herumlungerns zur Folge haben. Er wusste besser als die meisten, dass man sich nicht im Freien aufhalten musste, um rechtmäßig oder unrechtmäßig behelligt zu werden. Man konnte drinnen sein, im eigenen Haus, in dem man seit Jahren mit der Familie lebte, und dennoch tauchten Männer mit oder ohne Dienstmarken, aber immer mit Schusswaffen, auf und zwangen einen samt Angehörigen, samt Nachbarn, zusammenzupacken und zu verschwinden, ob mit Schuhen oder ohne. Vor zwanzig Jahren, als Vierjähriger, hatte er ein Paar besessen, einer der Schuhe hatte eine lockere Sohle, die bei jedem Schritt schlackerte. Die Bewohner von fünfzehn Häusern waren damals aus ihrem kleinen Quartier am Ortsrand vertrieben worden. Vierundzwanzig Stunden, hatte man ihnen gesagt, sonst … Das «Sonst» bedeutete «Tod». Es war früh am Morgen, als die Warnung kam, sodass der ganze Tag letztlich nur aus Verwirrung, Wut und Packen bestand. Als die Nacht hereinbrach, machten sich die meisten auf den Weg – auf Rädern, wenn vorhanden, zu Fuß, wenn nicht. Aber trotz der Drohungen der Männer, von denen manche Kapuzen trugen und andere nicht, und trotz des Drängens der Nachbarn blieb ein Alter namens Crawford auf den Stufen seiner Veranda sitzen und wollte nicht weg. Die Ellbogen auf die Knie gestützt, die Hände verschränkt, Tabakblätter kauend wartete er die ganze Nacht durch. Kurz nach Tagesanbruch, in der vierundzwanzigsten Stunde, wurde er mit Rohren und Gewehrkolben totgeprügelt und an die älteste Magnolie des Countys gebunden – nämlich die, die in seinem Garten wuchs. Vielleicht war es die Liebe zu diesem Baum gewesen – der, wie er oft prahlte, von seiner Urgroßmutter gepflanzt worden war –, die ihn so halsstarrig gemacht hatte. Im Dunkel der Nacht schlichen einige der fliehenden Nachbarn zurück, um ihn loszubinden und unter seiner geliebten Magnolie zu begraben. Einer, der dabei war, erzählte jedem, der ihm zuhörte, dass Mr. Crawfords Augen ausgestochen worden waren.
Schuhe hatte der Patient also keine, obwohl sie unabdingbar waren für die Flucht. Um vier Uhr morgens, vor Sonnenaufgang, gelang es ihm, die Leinengurte der Handfesseln zu lockern, herauszuschlüpfen und sich das Krankenhaushemd vom Leib zu reißen. Er zog seine Armyhose und die Jacke an und schlich ohne Schuhe durch den Flur. In dem Raum neben dem Notausgang weinte jemand, sonst war alles still – kein Quietschen von den Schuhsohlen eines Pflegers, kein unterdrücktes Kichern, auch kein Geruch nach Zigarettenrauch. Die Scharniere ächzten, als er die Tür öffnete, und die Kälte traf ihn wie ein Hammer.
Das eiskalte Eisen der Feuertreppe war so schmerzhaft, dass er über das Geländer sprang, um seine Füße im wärmeren Schnee auf dem Boden versinken zu lassen. Ein manischer Mond vertrat abwesende Sterne und glich sich seiner verzweifelten Erregung an, leuchtete auf seine zusammengezogenen Schultern, auf seine Fußstapfen im Schnee. Er hatte seine Dienstmedaille in der Tasche, aber kein Kleingeld, also kam er gar nicht auf den Gedanken, eine Telefonzelle zu suchen, um Lily anzurufen. Er hätte sie sowieso nicht angerufen, nicht nur wegen des frostigen Abschieds, sondern weil es ihn demütigen würde, jetzt auf sie angewiesen zu sein – als barfüßiger Flüchtling aus der Klapsmühle. Er zog den Kragen eng um seinen Hals und lief – nicht auf dem geräumten Bürgersteig, sondern im Schnee an der Bordsteinkante – so schnell, wie es die Reste der Beruhigungsmittel in seinem Blut erlaubten, sechs Querstraßen weit zum Pfarramt der Zionskirche, einem kleinen, zweigeschossigen Holzhaus. Die Stufen, die zur Veranda führten, waren sorgfältig vom Schnee befreit worden, aber drinnen war alles dunkel. Er klopfte – kräftig, fand er, gemessen an der Kältestarre seiner Finger, aber nicht bedrohlich wie das Bumm-Bumm einer Bürgerwehr oder eines Mobs oder der Polizei. Beharrlichkeit führte zum Ziel, ein Licht ging an, und die Tür öffnete sich einen Spaltbreit und dann weiter und enthüllte einen grauhaarigen Mann in einem Morgenrock aus Flanell, der seine Brille in der Hand hielt und die Stirn runzelte angesichts der Unverschämtheit dieses nächtlichen Besuchers.
Der wollte «Guten Morgen» oder «Bitte entschuldigen Sie die Störung» sagen, aber sein Körper schlotterte, als wäre er vom Veitstanz befallen, und seine Zähne schlugen so unkontrollierbar aufeinander, dass er kein Wort herausbrachte. Der Mann in der Tür musterte seinen zitternden Besucher von Kopf bis Fuß, dann trat er zurück, um ihn einzulassen.
«Jean! Jean!» Er wandte sich um, damit seine Stimme ins obere Stockwerk drang, und bedeutete dem Besucher, dass er eintreten solle. «Herr im Himmel», murmelte er, während er die Tür zudrückte. «Du siehst vielleicht aus.»
Der Besucher versuchte ein Lächeln, was ihm misslang.
«Mein Name ist Locke, Reverend John Locke. Und du heißt?»
«Frank, Sir. Frank Money.»
«Kommst du von dort unten, vom Krankenhaus?»
Frank nickte, während er von einem Fuß auf den anderen trat und wieder Leben in seine Finger zu reiben versuchte.
Reverend Locke stöhnte. «Setz dich hin», sagte er, dann fügte er mit einem Kopfschütteln hinzu: «Du hast Glück, Bruder Money. Dort unten werden eine Menge Leichen verkauft.»
«Leichen?» Frank ließ sich auf das Sofa sinken, ohne sich zu fragen oder groß Gedanken zu machen, wovon der Mann eigentlich redete.
«M-hm. An die medizinische Fakultät.»
«Man verkauft tote Menschen? Wozu?»
«Na ja, Ärzte müssen an toten Habenichtsen üben, damit sie die lebenden Reichen heilen können.»
«John, hör auf.» Jean Locke kam die Treppe herunter, zog noch den Gürtel ihres Morgenmantels fest. «Das ist dummes Zeug.»
«Meine Frau», sagte Locke. «Süß wie Honig, aber oft im Irrtum.»
«Guten Morgen, Ma’am. Es tut mir leid, dass ich –» Noch immer zitternd, stand Frank auf.
Sie fiel ihm ins Wort. «Nur keine Umstände. Bleib sitzen», sagte sie und verschwand in der Küche.
Frank tat wie geheißen. Davon abgesehen, dass kein Wind blies, war es im Haus kaum weniger frostig als draußen, und die straff über das Sofa gezogene Plastikfolie wärmte auch nicht.
«Tut mir leid, wenn es dir im Haus zu kalt ist.» Locke bemerkte Franks zitternde Lippen. «Wir rechnen hier mit Regen, nicht mit Schnee. Wo kommst du eigentlich her?»
«Innenstadt.»
Locke ächzte, als wäre damit alles erklärt. «Willst du dorthin zurück?»
«Nein, Sir. Ich bin auf dem Weg nach Süden.»
«Und wie kommt’s, dass du im Krankenhaus gelandet bist statt im Gefängnis? Die meisten, die ohne Schuhe und nur halbwegs bekleidet rumlaufen, werden eingebuchtet.»
«Wahrscheinlich lag’s am Blut. Ich hatte viel Blut im Gesicht.»
«Und wie kam das dahin?»
«Keine Ahnung.»
«Du kannst dich nicht erinnern?»
«Nein. Nur an den Lärm. Laut. Wirklich laut.» Frank rieb sich die Stirn. «Vielleicht eine Schlägerei?» Sein Tonfall war fragend, als könnte der Reverend wissen, warum man ihn zwei Tage lang gefesselt und mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt hatte.
Reverend Locke warf ihm einen besorgten Blick zu. Nicht ängstlich, nur besorgt. «Man muss dich für gefährlich gehalten haben. Wäre es dir nur schlecht gegangen, hätte man dich nicht da reingelassen. Wo willst du denn nun genau hin, Bruder?» Er stand noch immer, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.
«Nach Georgia, Sir. Wenn ich es schaffe.»
«Was du nicht sagst. Ganz schöne Strecke. Kann Bruder Money denn seinem Namen Ehre machen?» Locke lächelte über sein eigenes Wortspiel.
«Ein bisschen Geld hatte ich, als ich aufgegriffen wurde», antwortete Frank. Jetzt hatte er nichts in den Taschen seiner Hose, nur die Dienstmedaille. Und er konnte sich nicht erinnern, wie viel Lily ihm gegeben hatte, er erinnerte sich nur an ihre heruntergezogenen Lippen, ihren unversöhnlichen Blick.
«Aber jetzt ist alles weg, stimmt’s?» Locke kniff die Augen zusammen. «Ist die Polizei hinter dir her?»
«Nein», sagte Frank. «Nein, Sir. Die haben mich nur einkassiert und in diese Irrenstation gesteckt.» Er wölbte die Hände vor seinem Mund und hauchte hinein. «Ich glaube nicht, dass sie mir irgendwas zur Last legen können.»
«Und wenn doch, dann hättest du es nicht erfahren.»
Jean Locke erschien mit einer Schüssel voller kaltem Wasser. «Steck deine Füße hier rein, mein Sohn. Es ist kalt, denn du solltest sie nicht zu schnell erwärmen.»
Frank tauchte seine Füße in das Wasser und stöhnte auf. «Danke.»
«Wofür haben sie ihn eingebuchtet? Ich meine, die Polizei?» Jean richtete die Frage an ihren Mann, der die Achseln zuckte.
Allerdings – wofür? Außer diesem Bombergebrüll war alles, was ihn der Polizei auffällig gemacht hatte, längst versunken. Er konnte es sich selbst nicht erklären, geschweige einem gütigen Ehepaar, das ihm Hilfe anbot. Wenn er nicht in eine Schlägerei verwickelt gewesen war, hatte er dann vielleicht auf den Bürgersteig gepinkelt? Irgendwelchen Passanten oder Schulkindern Flüche nachgerufen? Seinen Kopf gegen eine Mauer gerannt oder sich in irgendeinem Hinterhof hinter Büschen versteckt?
