Heimweh nach dir - Vanessa Hußmann - E-Book

Heimweh nach dir E-Book

Vanessa Hußmann

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Beschreibung

Sie erkannten etwas in mir, das ich verloren hatte … Das Leben kann ziemlich mies sein, wenn dein Bruder im Gefängnis sitzt und du selbst nach einem missglückten Diebstahl zu Sozialstunden verdonnert wurdest. Und das ausgerechnet auch noch auf einer Pferderanch! Der 17-jährige Riley hat die Nase gestrichen voll – vor allem von Menschen, die ihm angeblich helfen wollen. Bei der Arbeit begegnet er allerdings Jules, der Tochter des Ranchbesitzers. Durch sie verändert sich sein Blick auf die Welt und er lernt langsam, anderen wieder zu vertrauen. Doch ausgerechnet als Jules und er sich näherkommen, wird sein Bruder aus dem Gefängnis entlassen. Und dessen Pläne könnten alles zerstören, was Riley sich gerade mühsam aufzubauen versucht. Sogar seine Liebe zu Jules.

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Heimweh nach dir

VANESSA HUSSMANN

Copyright © 2022 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

https://www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Mira Manger – Herzgestein

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout Ebook: Stephan Bellem

Umschlagdesign: Schattmaier Design

Bildmaterial: Shutterstock

Illustration: Maike Höppler

ISBN 978-3-95991-114-6

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Playlist

1. Jules

2. Riley

3. Jules

4. Riley

5. Jules

6. Riley

7. Jules

8. Riley

9. Jules

10. Riley

11. Jules

12. Riley

13. Jules

14. Riley

15. Riley

16. Jules

17. Riley

18. Riley

19. Jules

20. Riley

21. Riley

22. Riley

23. Jules

24. Riley

25. Jules

26. Riley

27. Jules

28. Jules

29. Riley

30. Jules

31. Riley

32. Jules

33. Riley

34. Jules

35. Riley

36. Riley

37. Jules

38. Riley

39. Riley

40. Jules

Riley

Danksagung

Drachenpost

Liebe Leser*innen,

bitte beachtet, dass Heimweh nach dir Inhalte enthält, die triggern können. Diese sind:

Drogenhandel, Verlust, Tod

Bitte passt auf euch auf und achtet darauf, dass es euch gut geht.

Ich wünsche euch das bestmögliche Leseerlebnis.

Eure Vanessa

Für alle Rileys dieser Welt.

Es ist okay, nicht okay zu sein.

BTS – Spring Day

BTS – Your eyes tell

Daughter – Flaws

Daughter – Numbers

One Direction – 18

Sia – Breathe me

Steve Jablonsky – Tessa

New Empire – A little braver

José González – Heartbeats

MIIA – Dynasty

The Honorary Title – Stay away

Siddhartha Khosla – Jack’s Theme Pt. 2 (Three Sentences)

Chord Overstreet – Hold on

RAIGN – Knocking on Heavens door

NF – Paralyzed

V – Sweet Night

Studio Curiosity – Impressive Day

Studio Curiosity – Truth Game

Aron Wright – Home

The Cinematic Orchestra, Patrick Watson – To build a home

KAPITEL1

Jules

Es war der letzte Sommer, bevor mein erstes Collegesemester anfing, und ich wünschte mir schon jetzt, dass er ewig anhalten würde. Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus war zwar mein Traumstudium, aber ich hatte auch großen Respekt vor den Anforderungen. Deshalb wollte ich die kommenden drei Monate genießen.

Die Hitzewelle, die über Illinois herrschte, war kaum auszuhalten, weshalb ich am liebsten den ganzen Tag in meinem Zimmer blieb, die Nase in Bücher steckte oder mich meinen Tagträumen hingab. Zumindest wenn es nach mir ging. Das Leben auf einer Ranch bedeutete eigentlich, dass es immer etwas zu tun gab und es deshalb nie langweilig wurde. Die Blossom-Grove-Ranch war der ganze Stolz meiner Eltern – in Blossom Grove und besonders in den Bundesstaaten, die an den Michigansee grenzten, war sie für die erfolgreiche Mustang-Zucht meines Dads bekannt. Der Geruch von Heu und Stroh erinnerte mich stets an meine Kindheit, Lagerfeuer und an Stockbrot mit meinen Eltern und an meine ältere Schwester Rooney. Vor allem aber, wenn die Sonne kurz vorm Untergehen stand, der Himmel sich in sanfte Pastelltöne aus Lila und Blau färbte, die Grillen zirpten und der Duft der Felder von überallher in die Nase strömte – dann sprühte ich nur so vor Kreativität. Zusammen mit meinem Laptop verbrachte ich abends Stunden am See hinter der Ranch und ging meiner größten Leidenschaft nach: dem Schreiben. Ich sprach nur ungern darüber, aber ich träumte davon, irgendwann mein eigenes Buch in den Händen zu halten.

Während meine beste Freundin Emory den Sommer mit ihrem Freund Finn verbrachte, entwickelte ich eine innige Beziehung zu meinen Charakteren, und dabei war es nebensächlich, dass diese fiktiv waren. Manchmal lebte es sich eben leichter in Romanen. Zum Glück blieben mir die Sommerferien, in denen ich mich in meiner eigenen Welt verbarrikadieren konnte. Wenn da nicht …

»Jules, los, komm schon! Raus aus den Federn!«

Wenn da nicht die Verantwortung des realen Lebens wäre, mit der ich mich ab und zu doch beschäftigen musste. Dads tiefe Stimme hallte durch das Haus und ließ mir keine andere Wahl, als mich aufzurichten. Ich übernahm gern gewisse Aufgaben auf der Ranch, wie zum Beispiel die Pferde und Hühner zu versorgen. Aber der Nachteil, wenn ich mir bis drei Uhr morgens die Nächte um die Ohren schlug und vor dem Schreibtisch saß, war definitiv der Schlafmangel.

Es war halb sechs, die Sonne ging auf und von draußen waren die Tiere zu hören, die nach ihrem Futter verlangten. Morgendlicher Nebel verschleierte den See hinter dem Grundstück, und ich konnte es kaum erwarten, mich heute Abend von der Ruhe dort inspirieren zu lassen. Sosehr ich das Leben auf der Ranch auch liebte, auf das frühe Aufstehen konnte ich verzichten. Gähnend streckte ich mich und warf einen Blick auf mein Handy. Moment mal? Heute war Montag, richtig? Hatten Mom und Dad nicht etwas von einem Praktikanten erzählt, der für die nächsten Monate hier arbeiten würde und mir damit das frühe Aufstehen ersparen sollte?

Mit schweren Gliedern zog ich mir einen alten Hoodie und Leggings über. Danach wusch ich mir flüchtig das Gesicht, putzte die Zähne und band die blonde Mähne ungekämmt in einem Dutt zusammen. Sofort sah ich Emorys Augenrollen vor mir. Sie konnte es absolut nicht ausstehen, wenn ich mich so gehen ließ. Für einen kurzen Moment begutachtete ich mein Spiegelbild und zuckte dann mit den Schultern.

»Ich habe Ferien und treffe mich sowieso mit niemandem. Du hast Finn und …« Mein Herz zog sich stechend zusammen und ich verwarf den Gedanken.

Die Müdigkeit verflog, sobald ich nach unten kam, in die abgetretenen Gummistiefel stieg, einen Fuß vor die Tür setzte und die frische Luft einatmete. Die ersten Sonnenstrahlen fielen auf die Weide. Dad hatte schon ein paar der Pferde rausgelassen, die aufgeregt über die Wiese galoppierten und den Morgen willkommen hießen.

Zur Begrüßung schenkte er mir sein typisches schiefes Grinsen und deutete auf die mit Wasser befüllten Eimer.

»Wie du siehst, habe ich schon ein bisschen für dich vorgearbeitet«, sagte er.

Fragend sah ich mich um. »Sollte heute nicht der Praktikant kommen? Ich habe mich schon gefreut, für die nächsten Wochen meinen Schönheitsschlaf zu bekommen.«

»Hast du nicht zugehört, als wir darüber gesprochen haben?« Dad musterte mich verdutzt. »Der junge Mann, der hier arbeiten wird, ist kein Praktikant. Er leistet Sozialstunden ab. Und nein, er ist noch nicht hier.«

Ich versuchte mich an das Gespräch zu erinnern, doch anscheinend war ich in dem Moment wieder einmal zu sehr in meiner eigenen Welt versunken gewesen.

»Sozialstunden also?«, hakte ich irritiert nach und nahm die beiden Wassereimer in die Hände. »Halten Mom und du das für eine gute Idee? Was hat er denn verbrochen?«

»Ich würde es dir ja erzählen, aber da du bereits voller Vorurteile bist, wirst du es selbst herausfinden müssen, Jules.«

Da hatte er recht. Ich zog manchmal zu voreilig meine eigenen Schlüsse, anstatt abzuwarten. Es war wie ein Schutzmechanismus, der mich davor bewahrte, zu viel von jemandem zu erwarten, um am Ende nicht enttäuscht zu werden.

Dad zwinkerte mir zu und lief voran zu den Hühnern, die sofort gackerten, als sie uns erblickten.

»Glaubst du, dass er noch kommen wird? Am ersten Tag zu spät zu sein macht nie einen guten Eindruck, und das hat nichts mit Vorurteilen zu tun. Das ist ein Fakt, Dad.«

Nachdenklich warf er einen Blick über seine Schulter, direkt zu der Baustelle, die vor Monaten hätte fertig werden sollen. Doch dann hatte ein Sturm den Traum von einem Ferienhaus auf der Ranch vorerst zerstört.

»Ich hoffe.« Er seufzte laut. »Zusätzliche Hilfe würde uns entlasten, damit wir wie geplant für die Herbstsaison öffnen können.«

Nachdenklich musterte ich ihn und verkniff mir im letzten Augenblick einen weiteren Kommentar. Oder die Frage, warum wir nicht zusätzlich einen weiteren Arbeiter einstellten, anstelle von jemandem, der Sozialstunden ableisten musste und offensichtlich unzuverlässig war.

Wenn auch Dad Zweifel hatte, so ließ er sie sich nicht anmerken. Er versuchte zunächst immer, das Gute im Menschen zu sehen. »Wir werden für die Herbstsaison eröffnen können. Das Ferienhaus wird perfekt werden«, sagte er mit Nachdruck.

Das hoffte ich. Wir hatten so viel Arbeit in den Aufbau gesteckt, und jetzt wieder von vorn anzufangen war ein frustrierender Prozess.

Nachdem wir die Tiere versorgt hatten, roch es schon vom Hof aus nach köstlichen Pancakes. Die offene Küche war wie das Herz des Hauses. Hängende Deckenlampen spendeten warmes Licht, überall standen große Topfpflanzen in den Ecken und der alte Holzboden knarzte, sobald man ihn betrat. Hier kamen wir alle täglich zusammen, spielten abends Gesellschaftsspiele, obwohl Gia längst im Bett sein müsste. Außerdem kannte ich niemanden, der so darauf achtete, dass die Küche sauber blieb, wie meine Eltern. Es passierte wirklich selten, dass sich auf den marmorierten Arbeitsflächen das Geschirr stapelte.

Eigentlich war Mom erpicht darauf, mit einem gesunden und vollwertigen Frühstück in den Tag zu starten, doch offenbar hatte Gia sie zu ihrem Lieblingsfrühstück überredet. Dafür liebte ich sie. Mein Niedlichkeitsfaktor war schon lange verschwunden, aber Gia brauchte nur zu lächeln und wickelte alle um den Finger.

Mir hing der Magen bis zu den Kniekehlen, als ich mich mit schweren Gliedern auf den Platz neben ihr niederließ und mir dabei einfiel, dass ich die Blumen vergessen hatte.

»Guten Morgen, Schatz«, begrüßte Mom mich. Sie stellte den Haufen Pancakes auf den Tisch und sah sich um. »Wo hast du deinen Dad gelassen?«

»Der wartet immer noch auf den … ähm …«

»Meinst du etwa Riley James? Ist er nicht da?«

Ich schüttelte den Kopf, lud mir drei Pancakes auf den Teller und goss eine ordentliche Ladung Ahornsirup darüber.

»Nicht alle stehen gern so früh auf«, meinte ich trocken. »Vielleicht hat er es vergessen.«

»Das denke ich nicht«, antwortete Mom nur und begutachtete den Haufen auf meinem Teller. »Lass etwas für deinen Dad übrig.« Mit einem Lächeln setzte sie sich mir gegenüber. »Hast du noch besondere Pläne für die Ferien?«

Beinahe verschluckte ich mich und hustete. Eigentlich wollte ich nur Zeit schinden. Meine Eltern wussten nicht, wie wichtig mir das Schreiben war und wie viel Zeit ich damit verbrachte, meinen Traum vom eigenen Buch zu verwirklichen. Für sie war es oftmals unverständlich, warum ich so gern Zeit allein verbrachte, anstatt mich mit Emory und Finn zu treffen. Seit die beiden ein Paar waren, vermied ich es, sie zu sehen. Außer ich wollte mir jedes Mal freiwillig Dolche ins Herz dafür stechen lassen, wenn sie sich küssten.

Und das taten sie oft.

»Wenn Riley gedenkt aufzutauchen«, ich betonte den Namen extra, »dann würde ich den Morgen nutzen und noch etwas schlafen. Ansonsten gibt es sehr viele Bücher, die ich lesen möchte.«

Mom versuchte ihre Verwunderung über meine Aussage zu verbergen, aber ihr Blick sprach Bände. Sie würde es nie laut aussprechen, denn sie wusste über die Problematik mit Emory und Finn Bescheid, doch ihr war die Sorge anzusehen. Die letzten Monate hatte ich mich zurückgezogen, blieb noch mehr für mich als ohnehin schon, und das hatte nichts mit dem Schreiben zu tun, sondern weil der Liebeskummer drohte, mich von innen aufzufressen. In den Freund der besten Freundin verliebt zu sein, war ein gängiges Klischee in fast allen Romanen, die ich las, und ich hasste es, selbst zu einem geworden zu sein. Wir waren schon so lange befreundet, und ich wünschte mir seit Jahren, dass meine Gefühle sich endlich abschalteten. Dass ich morgens aufwachte und sie fort waren, damit es nicht mehr so sehr schmerzte.

Innerlich seufzte ich.

Vielleicht sollte ich zumindest ansatzweise den Versuch starten, in den kommenden Wochen so zu tun, als wäre ich eine normale Achtzehnjährige, die in der Realität lebte anstatt in ihrer eigenen Welt.

Am Vormittag tauschte ich meinen Hoodie und die Gummistiefel gegen ein luftiges Sommerkleid und pflückte ein paar Blumen für Gia.

Hier war es leicht, nicht an den Liebeskummer zu denken, den Finn mir bereitete. Emory wusste nichts von meinen Gefühlen für ihn, und sie verdiente es, glücklich zu sein. Ich würde schon über den Herzschmerz hinwegkommen. Irgendwann, mit genügend Abstand. Emory und ich waren wie Schwestern – immer füreinander da, und nichts würde das jemals ändern.

An Tagen wie diesen, wenn es so schlagartig schwülwarm wurde und Dad immer etwas fand, woran er werkeln konnte, stahl ich mich gern heimlich davon.

Von diesem Riley war den Vormittag über keine Spur zu sehen gewesen, und ich bezweifelte, dass er noch auftauchen würde. Am meisten tat es mir für Dad leid. Er wollte diesem Typen eine Chance geben und wurde enttäuscht.

Ich pflückte Gia ein paar Dahlien, nahm mir noch ein bisschen Schleierkraut aus Moms Garten mit und machte mich dann wieder auf den Weg zum Haus. Wenigstens konnte ich meiner Schwester so eine Freude machen.

Mein Weg führte mich quer über das großflächig angelegte Grundstück zurück durch die Pferdeställe, die bei diesem schönen Wetter größtenteils leer standen. Hier herrschte eine beruhigende Stille.

Allerdings war etwas anders. So ganz anders. Eine Gänsehaut breitete sich auf meiner Haut aus. Es war, als hätte sich die beruhigende Atmosphäre in Luft aufgelöst. Ich spürte einen Blick auf mir liegen und nahm den Geruch von Zigarettenrauch wahr. Als ich mich umdrehte, sah ich einen Typen an der Stalltür angelehnt stehen. Ich wusste nicht, was mich mehr irritierte – das auffällig gefärbte blonde Haar oder dass er sich nicht um das absolute Rauchverbot scherte, das hier überall herrschte.

Ihn dort mit der Zigarette stehen zu sehen, ließ sofort Wut in mir aufkochen, und ich ging mit strammen Schritten auf ihn zu.

»Hey, hier wird nicht geraucht!«

Er drehte sich zu mir um, ich blieb auf halber Strecke stehen und hielt den Atem an. Sein rechtes Auge war blau unterlaufen und angeschwollen, die Lippe aufgeplatzt.

Aber das war es nicht, was unmittelbar meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Sondern die mandelförmigen, fast schwarzen Augen, die in so einem starken Kontrast zu den blond gefärbten Haaren standen. Sein Anblick ließ mein Herz für einen Moment stolpern. Er wirkte verschlossen, beinahe verbittert, und schien irgendetwas zu verbergen, das sah ich sofort. Meine Neugier wurde geweckt, und ich wollte herausfinden, was es mit ihm auf sich hatte. Der Fremde verzog keine Miene, sondern nahm provozierend langsam einen weiteren Zug von der Zigarette.

Ich umklammerte die Blumen fester und musste aufpassen, sie nicht zu zerdrücken, so sehr brodelte ich innerlich.

»Bist du Riley?«

Er musterte mich, als wäre ihm alles auf der Welt egal, und trieb mich damit an den Rand der Weißglut. Ich atmete durch und wagte einen Schritt auf ihn zu. Mein Herz klopfte schneller. Ich war noch nie besonders schlagfertig gewesen, und irgendetwas sagte mir, dass es für ihn kein Problem sein würde, diese Schwäche im Nu zu erkennen. Deshalb versuchte ich es mit einem Lächeln, blieb direkt vor ihm stehen und setzte erneut an.

»Okay. Rauchen.« Ich deutete mit dem Finger auf das Schild neben uns, das hinter mir hing. »Ist. Hier. Verboten.«

Seine Ausstrahlung schüchterte mich ein, und doch war ich fasziniert von ihr. Auch wenn mich die dunklen Augen und sein Auftreten irritierten, so ließ es sich nicht leugnen, dass ich ihn attraktiv fand.

Er grinste und ich wurde rot. Der Typ wusste offenbar genau, wie er auf andere wirkte und spielte damit. Unruhig verlagerte ich das Gewicht von einem Fuß auf den anderen und rieb mir über den Unterarm, als er einen Schritt auf mich zu machte.

Dann zog er noch mal an der Zigarette und pustete mir den Rauch direkt ins Gesicht. Mir klappte der Mund auf und ich wich zurück.

Gerade als ich meinem Ärger endgültig Luft verschaffen wollte, ertönten Schritte im Hintergrund und meine Eltern bogen um die Ecke. Plötzlich ließ er die Zigarette fallen, trat sie mit dem Fuß aus und beugte sich nach unten, um sie aufzuheben, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. Dabei grinste er süffisant.

Meine Wangen glühten vor Wut. Zu blöd, dass ich nur die Blumen in der Hand hielt und nicht etwas, das ich ihm an den Kopf werfen konnte. Anschließend zuckten seine Mundwinkel nach oben und ein kleines Grinsen kam zum Vorschein.

Dieser Mistkerl!

»Riley, da bist du ja! Wir haben dich schon gesucht.«

Sein Grinsen wurde noch ein Stückchen breiter und er lupfte provozierend die Augenbrauen. Wenn meine Eltern nur einen Moment glaubten, dass ich diesem Typen hier eine Chance gab, dann hatten sie sich geschnitten. Bevor sie das Wort ebenfalls an mich richteten, ließ ich die Blumen fallen, drehte mich um und lief davon.

KAPITEL2

Riley

Ich hatte ihm zwar von Anfang an nicht zugehört, aber Chris’ Brüllen war schwer zu ignorieren. Warum gab er es nicht endlich auf, so zu tun, als würde er sich um mich sorgen? Es war verschwendete Zeit und führte am Ende nur zu Enttäuschungen.

Aber bitte, wenn er es unbedingt darauf anlegte.

Gelangweilt starrte ich aus dem Fenster, beobachtete im Seitenspiegel, wie ich das Drecksloch hinter mir ließ, das seit drei Monaten mein Zuhause war, aber sich nie danach angefühlt hatte. Die Autofahrt kam mir vor wie ein Ritt in die Hölle. Die Skyline von Chicago wurde kleiner, bis sie irgendwann ganz verschwand. Stattdessen zeigten sich nun schicke Vororte, gepflegte Straßen und teure Häuser, die ich selbst in meinen kühnsten Träumen niemals besitzen würde. Von draußen drang Landluft in das Auto und ich rümpfte die Nase.

Mit jeder Meile, die Chris und ich hinter uns ließen, verkrampfte sich mein Magen mehr. Ich fühlte mich wie ein Außenseiter, den man nach Blossom Grove verfrachtete und darauf hoffte, dass er zur Besinnung komme.

Blossom Grove.

Ich hatte den Ort googeln müssen, um überhaupt zu wissen, dass er existierte. Mit dem Auto lag er vierzig Minuten von Chicago entfernt und gab nicht viel her außer endlos weite Ackerfelder und Wiesen.

»Ich fasse es einfach nicht, dass du dich eine Nacht vor dem Antritt deiner Sozialstunden prügeln musstest! Verdammt, Riley.«

Chris war ehrlich enttäuscht. Vielleicht hätte ich ein schlechtes Gewissen haben müssen, aber ich empfand nichts als innere Leere. Mein Sozialarbeiter aus der Wohngruppe, in der ich derzeit lebte, gab sich sichtlich Mühe, sich zu beherrschen. Chris fuhr selten aus der Haut, zumindest hatte ich ihn bislang so kennengelernt. Seine braunen Haare wurden von den ersten grauen Strähnen durchzogen, seine Figur war sportlich und tiefe Lachfalten umrandeten seine hellen Augen. Dabei fragte ich mich, was genau ihm an seinem Job Spaß bereitete, wenn er mit Leuten wie mir zu tun hatte.

»Ich weiß, dass dir die Sozialstunden egal sind. Aber die Menschen dort, sie stehen auf deiner Seite, okay? Bitte mach es nicht noch schlimmer und versuche, dir zumindest ein bisschen Mühe zu geben. Sie könnten eine echte Chance für dich sein.«

Nun entwich mir ein Lachen. »Eine echte Chance? Auf was denn?«

»Auf ein besseres Leben. Du kannst da was lernen, hörst du?«

Ich schwieg. Es interessierte mich nicht.

Meine Zukunft war in dem Moment in Stein gemeißelt gewesen, als mein Bruder mich allein zurückgelassen hatte und ich in der Jugendhilfe gelandet war.

»Wenn du das sagst.«

»Kannst du mir wenigstens einen Gefallen tun?« Chris seufzte und warf mir einen Blick zu.

»Hm.« Ich ignorierte ihn und starrte weiterhin aus dem Fenster.

Als er mir neckend den Ellenbogen in die Rippen stieß, zuckte ich zusammen und sah ihn erzürnt an.

Chris ließ sich nicht von mir beirren und sagte: »Zeig den Oakleys dein Lächeln und sie werden dahinschmelzen. Lass deinen Charme spielen. Du benutzt ihn zwar nur als Geheimwaffe, um die Mädels herumzubekommen, aber es würde als Entschuldigung reichen, weil du gleich am ersten Tag zu spät kommst.«

»Ich habe nicht vor, in den kommenden Wochen früher aufzutauchen. Du erwartest doch nicht etwa, dass ich bei denen um sechs Uhr morgens auf der Matte stehe? Um den Bus zu bekommen, müsste ich um vier Uhr aufstehen. Niemals!« Ich lachte ungläubig in mich hinein.

Chris’ Knöchel traten weiß hervor, als er das Lenkrad fester umklammerte und den Blick wieder starr auf den Verkehr richtete. Sein Schweigen war Antwort genug, und ich wandte mich ebenfalls ab.

Es tut mir leid, dass ich dich enttäusche, Chris. Das verdienst du nicht.

Und dennoch hatte ich keine Wahl.

Die Blossom-Grove-Ranch erstreckte sich über das weite Land vor uns, als wir von der Main Street abbogen und den Schotterweg entlangfuhren.

Eine Scheune mit dem klassischen roten Anstrich stand offen, und von Weitem sah ich ein paar Hühner über den Hof laufen. Die weitläufige Veranda, die um das Haupthaus herumführte, sah einladend aus und ich verzog das Gesicht. Alles hier wirkte viel zu perfekt, um wahr zu sein.

Von Chris wusste ich nur, dass es sich um eine Pferderanch handelte und die Besitzer daran arbeiteten, in den nächsten Wochen ein Ferienhaus zu eröffnen.

Da in meinem Leben alles in die Brüche gegangen war, hatte der Richter entschieden, dass es gut wäre, meine Energie woanders hineinzustecken. Weit weg von meinem Alltag. Statt noch mehr kaputtzumachen, sollte ich diesmal dabei helfen, etwas aufzubauen. Schön, dass offenbar immer jeder genauestens Bescheid wusste, was das Beste für mich war.

Niemand weiß es nur im Geringsten.

Ich hatte weder Bock auf die Sozialstunden noch auf die Arbeit, die von mir verlangt wurde. Alles, wonach ich mich sehnte, war, mir eine Decke über den Kopf zu ziehen und die Welt so lange wie möglich von mir abzuschirmen.

»Reiß dich zusammen«, bat Chris mich erneut. »Hörst du?«

Ich verdrehte die Augen und überlegte kurz, ob ich nicht im Auto sitzen bleiben sollte, nur um ihn noch ein bisschen mehr zu provozieren. Chris durchschaute meine Überlegung jedoch, schnaubte auf und sagte dann mit gereizter Stimme: »Weißt du, was? Bleib hier. Ich will zunächst mit Jack und Isabella allein sprechen.«

Er stieg aus. Kaum war er außer Sichtweite, rutschte ich im Sitz tiefer nach unten, schlug die Hände vor das Gesicht und suchte nach einem Gefühl. Nach etwas, das mir den Halt gab, überhaupt weiterzumachen.

Aber da war nichts. Nur die vertraute Leere in mir.

Durch die Wärme von draußen wurde es zu stickig, um länger im Auto sitzen zu bleiben. Mir blieb also keine andere Wahl, als mit schweren Gliedern auszusteigen und mich umzusehen.

Im ersten Moment wirkte die Ranch wie die Idylle aus einer Daily Soap. Das satte Grün des Grundstücks erstreckte sich über einige Hektar, Pferde grasten friedlich auf den Weiden und der Geruch von Landluft war allgegenwärtig.

Na toll. Wo war ich hier bloß gelandet?

In meiner Hosentasche wartete die letzte Zigarette auf mich, die ich heimlich mitgeschmuggelt hatte.

Die Sonne brannte unangenehm auf meiner Haut, und ich suchte schnellstmöglich Schutz in einem langen Gang, der zu den Pferdeställen gehörte.

Hier sollte ich die nächsten Wochen verbringen?

Mit einem leisen Seufzer holte ich die Zigarette hervor. Beim Anzünden ignorierte ich absichtlich das Schild vor mir, das auf ein eindeutiges Rauchverbot hinwies.

»Scheiß drauf, du wirst bestimmt nicht die nächsten drei Monate hierherkommen und dich um Pferdescheiße kümmern.«

Die Sozialstunden hatte ich Dan zu verdanken, der selbst nur mit einer Verwarnung davongekommen war und mir den Diebstahl in die Schuhe geschoben hatte. Dabei war es seine Idee gewesen.

Fick dich, Dan.

»Hey, hier wird nicht geraucht!«

Ein Mädchen mit großen blauen Augen musterte mich aufgebracht. Sie war ungefähr in meinem Alter, kam auf mich zu und wirkte wie ein Wirbelsturm, der dabei war, alles um sich herum mitzureißen.

Ich stand kurz davor, ihr einen blöden Spruch reinzudrücken, aber stattdessen drehte ich mich zu ihr um und zog noch mal an der Zigarette.

In ihrem honigblonden Haar hingen vereinzelte Grashalme und ich sog den kokosnussartigen Geruch ihres Shampoos ein. Ich stutzte, als mein Herz plötzlich so heftig schlug wie schon seit einer ganzen Weile nicht mehr. Das kräftige Schlagen erinnerte mich daran, dass ich noch am Leben war, dass jede meiner Handlungen Konsequenzen nach sich zog.

Es erinnerte mich auch daran, wie sehr ich es hasste.

In ihrem Blick tanzten Faszination und Aufregung miteinander. Als schien sie nicht ganz zu wissen, was sie von mir halten sollte.

Sie hielt einen Strauß Blumen in der Hand, der jeden Augenblick einzuknicken drohte, so fest umklammerte sie ihn.

»Bist du Riley?« In ihrer Stimme klang Argwohn mit, der mich auf der Stelle verärgerte. Sie zog voreilige Schlüsse, oder vielleicht hatte sie schon von meiner Geschichte gehört, und das nervte mich.

Das Mädchen wirkte zunehmend überfordert, als ich einen Schritt auf sie zuging und erneut an der Zigarette zog. Himmel, es war die letzte, die ich besaß. Die musste ich genießen!

»Okay. Rauchen«, setzte sie mit ernster Miene an und deutete mit dem Finger auf das Schild neben uns. Sie sprach so langsam, als hätte ich einen an der Murmel. »Ist. Hier. Verboten.«

Was zum …?

In ihrer Mimik spiegelten sich eine Menge Fragen wider, die sie offenbar nicht zu stellen wagte. Ihr Auftreten verwirrte mich ebenso, weil ich so gar keine Ahnung hatte, was in ihr vorging.

Als plötzlich Schritte hinter mir ertönten, ließ ich die Zigarette fallen und trat sie aus. Ihr Blick war weiterhin wachsam auf mich gerichtet, und ich ließ sie ebenfalls keine Sekunde aus den Augen, als ich den Stummel aufhob und in meine Hosentasche schob.

»Riley, hier bist du ja! Wir haben dich schon gesucht.«

Die vermeintlichen Besitzer der Ranch, Jack und Isabella, kamen mit freundlichen Gesichtern auf mich zu. Chris folgte ihnen in eiligen Schritten.

Daraufhin wanderte meine Aufmerksamkeit wieder zu dem Mädchen, das mich mit offenem Mund empört anblinzelte.

Sie hatte bemerkt, dass ich mir einen Spaß aus ihrem Auftreten gemacht hatte, und nun konnte ich mir ein kleines spöttisches Grinsen nicht verkneifen. Einfach nur, um sie noch weiter zu ärgern. Keine Ahnung, warum es mir Spaß bereitete, sie so aufgebracht zu erleben, aber es war eine willkommene Abwechslung, zu beobachten, wie sich ihre Wangen tomatenrot färbten und sie vor Wut kochte. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, stürmte das Mädchen davon und ließ dabei den Blumenstrauß fallen. Die Besitzer der Ranch warfen sich einen irritierten Blick zu, ehe sie sich mir zuwandten.

»Riley, es ist schön, dass du hier bist. Das ist meine Frau Isabella und ich bin Jack.«

Ich jedoch sah nur dem Mädchen hinterher, das sich noch mal zu mir umdrehte, bevor sie auf die Blumenwiese verschwand.

Chris räusperte sich und trat mir unauffällig gegen das Schienbein. Ich bezweifelte, dass solche Maßnahmen als Sozialarbeiter erlaubt waren, aber unsere Beziehung war von Anfang an speziell gewesen. Meiner Meinung nach nahm er seinen Job etwas zu ernst.

»Wir freuen uns, dass du da bist«, wiederholte Isabella mit einer melodischen Stimme und klang dabei aufrichtig.

Ich rang mich zu einem Lächeln durch, obwohl ich jetzt schon genervt von der Nettigkeit der Ranchbesitzer war.

»Da wir schon alle Details besprochen haben, werde ich mich auf den Weg machen«, sagte Chris. »Ich hole Riley heute Abend ab.«

Mit einem Mal wünschte ich mir, dass er mich hier nicht zurückließ. Chris war die einzige Person, die mich ansatzweise kannte. Wir stritten zwar oft, aber er gab mir trotz allem Stabilität, die jetzt wegbrach, sodass ich auf mich allein gestellt war.

»Komm, Riley. Wir zeigen dir alles«, schlug Jack vor.

Chris winkte mir zum Abschied zu, und sein ernster Blick sagte mir, dass ich es hier nicht versauen sollte. Doch mir war nur danach, auf die Blumenwiese zu verschwinden. So wie es das Mädchen getan hatte, dessen blaue Augen mich an endlose Nächte erinnerten. Und an eine Zeit, in der ich noch gewusst hatte, was Glück bedeutete.

Die erste Hälfte des Tages erklärte Jack mir die Aufgaben, die ich in den kommenden Wochen zu erledigen hatte, und stellte mich den anderen Mitarbeitern vor. Neben der Versorgung der Tiere ging es für mich hauptsächlich darum, beim Aufbau des Ferienhauses zu helfen, das am Ende des Sommers fertig sein sollte. Beides missfiel mir, ich hatte wirklich keine Lust darauf, mich hier einzubringen.

Nachdem ich alles auf der Ranch gesehen hatte, taten mir die Füße weh, und der Geruch der Natur brannte mir in der Nase. Jack redete und redete. Er hörte einfach nicht auf und irgendwann drifteten meine Gedanken ab. Keine Ahnung, wovon er faselte, es interessierte mich nicht.

Wieso war Dan einfach so davongekommen und ich nicht? Er hatte Glück gehabt und konnte mit den Jungs chillen, während ich hier festsaß. Es war klar, warum ich die Strafe erhielt – das letzte Familienmitglied, das ich noch hatte, saß bereits hinter Gittern, und es war ein Leichtes, mich dazuzustecken, wenn ich nicht aufpasste. Die Strafe hätte also eigentlich wie ein Weckruf für mich sein sollen, um mein Leben in die Hand zu nehmen, anstatt darauf zu warten, dass es endete.

Gegen Abend schmerzte mir der Rücken und ich sah immer wieder auf mein Handy, doch die Zeit verging einfach nicht. Chris hatte nicht gesagt, wann er hier sein wollte, und für einen Moment fragte ich mich, ob er mich überhaupt abholen würde. Es würde mich nicht wundern, wenn er mich einfach hierließ.

»Ich schlage vor, dass wir eine kleine Pause einlegen und ich etwas zu trinken hole«, sagte Jack. »Wenn du durch das kleine Waldstück da vorn gehst, kommst du zu einem See. Du kannst dich dort umsehen, wenn du magst. Ich bin gleich wieder da.« Er warf mir ein Lächeln zu. Herrgott, wie konnte jemand den ganzen Tag über so gut gelaunt sein?

Ich nickte knapp, klopfte mir die dreckigen Hände an der Jeans ab und konnte es kaum erwarten, nachher unter die Dusche zu springen. Um dem Spuk hier zu entkommen, lief ich eilig durch den besagten Waldabschnitt und blieb dann verblüfft stehen. Ich hatte mit einer Art Teich gerechnet und nicht wirklich mit einem See, der sich vor mir erstreckte. Sein smaragdgrünes Wasser war glasklar, sodass ich am liebsten sofort hineingesprungen wäre. Ringsherum wurde er von Bäumen umrandet und lag damit geschützt vor der Außenwelt.

Grillen zirpten, Frösche quakten, und für einen Moment fühlte ich mich aus dem Alltag gerissen und durfte stattdessen die Natur bestaunen, die sich hier außergewöhnlich schön zeigte.

Und dann erblickte ich sie. Das Mädchen von heute Mittag.

Sie saß am Rand des Sees und warf Steine in das Wasser. Ihre Haare fielen ihr zusammengebunden in sanften Wellen über den Rücken.

Hätte ich in dem Moment einen Zeichenblock dabeigehabt, hätte ich genau diese Szene eingefangen. Dieser Ort, diese Atmosphäre, ihre Ausstrahlung. Es wirkte beinahe surreal.

Aber auch nur beinahe. Denn als sie meine Anwesenheit bemerkte, stand sie ruckartig auf und drehte sich zu mir um. Sie verengte ihre blauen Augen zu Schlitzen und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Wie ist das mit deinem Gesicht passiert?« Sie kam auf mich zu und beäugte meine Blessuren. Statt ihr zu antworten, konnte ich nur auf die Grashalme achten, die immer noch in ihrem Haar steckten und mich gewaltig störten.

Sie seufzte und presste anschließend die Lippen aufeinander. »Willst du einfach nicht mit mir reden?« Jetzt wagte sie einen weiteren Schritt in meine Richtung und musterte dabei jeden Winkel meines Gesichts. Die Art, wie sie mich ansah, gefiel mir nicht. Als würde mein Körper jeden Augenblick ohne Vorwarnung unter ihren Blicken in Flammen aufgehen. Sie gab mir gar keine Gelegenheit zu antworten. »Okay, hör zu: Keine Ahnung, was bei dir abgeht, aber wenn du meine Familie verarschst, bekommen wir beide ein Problem. Ich kann ziemlich ungemütlich werden.« Ihre Wangen färbten sich eine Nuance dunkler. So wie sie mir gegenüberstand und versuchte, autoritär zu wirken, konnte ich sie absolut nicht ernst nehmen.

Tatsächlich entwich mir ein Schmunzeln, das sich in ein lautes Lachen verwandelte. Es fühlte sich fremd an, weil ich mich nicht daran erinnern konnte, wann ich das letzte Mal so gelacht hatte. Das Mädchen sah aus, als würde es gleich vor Wut explodieren.

»Bist du fertig?«, fragte ich und wischte mir die Tränen aus den Augenwinkeln.

»Wow, du kannst sprechen.«

»Was hast du denn gedacht? Wobei, sag es mir nicht – deine Blicke waren offensichtlich genug.«

»Meine Blicke? Was meinst du?«

»Na ja, deine Blicke haben mich halb ausgezogen.«

»Ich …« Sie plusterte ihre Wangen auf. »Denk doch, was du willst.«

»Das tue ich sowieso.«

Fassungslos schüttelte sie den Kopf und atmete aus. Die Arbeit auf dieser Ranch würde die Hölle werden, aber immerhin war dieses Mädchen wie ein Lichtblick am Horizont. Wenn sie sich jedes Mal so über mich aufregte, lohnte es sich allein ihretwegen herzukommen.

»Du bist Jules, oder? Daddys kleine Prinzessin. Er hat die ganze Zeit über dich gesprochen. Vor allem darüber, dass ich mich von dir fernhalten soll.« Das war glatt gelogen. Jack hatte Jules nur flüchtig erwähnt, dass sie vor ein paar Monaten achtzehn geworden war und im Herbst studieren ging. Ansonsten hatte er nur über die Pläne des Ferienhauses gefaselt, die ich mittlerweile wieder vergessen hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ihre Eltern so jemand wie mich in ihrer Nähe wissen wollten. Was die Angelegenheit noch mal interessanter werden ließ.

Mit einem kleinen Grinsen war ich es nun, der den Abstand so verringerte, dass nur noch wenige Zentimeter Platz zwischen uns war. Jules wusste offenbar nicht, wie ihr geschah, als ich meine Hand hob und einen Grashalm aus ihrem Haar zog. Dabei streifte ich mit dem Daumen für eine Sekunde ihre Wange und wir beide zuckten aufgrund der Berührung zusammen. Jules wich zurück, sah zu Boden. Ganz offensichtlich brachte ich sie aus dem Konzept. Überrascht starrte ich auf meine Fingerspitzen, die kribbelten.

Als sie den Kopf wieder hob und mir direkt in die Augen sah, erlosch das Lächeln von meinen Lippen. Jules sah mich einfach nur an. In ihnen tobte das Leben, Hoffnung und eine Sehnsucht, die ich nicht verstand.

Ich war so perplex von dieser Eindringlichkeit ihres Blickes, dass ich der Intensität nicht standhalten konnte.

Es war viel leichter, mich umzudrehen und zu flüchten, als mich dem zu stellen, was auf einmal in mir vorging. Eine Wärme, wie ich sie lange nicht gespürt hatte, fuhr mir durch den Körper und mein Herz schlug schneller.

KAPITEL3

Jules

Ratlos starrte ich auf meinem Laptop, schrieb etliche Zeilen, nur um sie hinterher wieder zu löschen, was mich am Ende einige Nerven kostete.

Eigentlich müsste ich nur so vor Ideen sprühen, aber mein Kopf war wie leer gefegt. Da sagte man immer, dass ein gebrochenes Herz so viel Inspiration liefern würde, stattdessen blockierte es meine Kreativität vollkommen.

Irgendwann klappte ich den Bildschirm frustriert zu und stöhnte. Es war bereits zwei Uhr nachts, und so langsam sollte ich ins Bett gehen, um später nicht völlig übermüdet zu sein.

Morgen früh würde ich mich allein um die Versorgung der Tiere kümmern, da Mom, die als Floristin arbeitete, in der Stadt einen Termin für ein Blumenarrangement hatte und Gia in den Kindergarten bringen musste. Dad traf sich mit dem Bauleiter, um die letzten Skizzen für das Ferienhaus zu besprechen. Eigentlich war es nun Rileys Aufgabe, aber auf ihn war kein Verlass, da er andauernd zu spät kam oder nur faul in der Ecke rumstand und zusah.

Kaum lag ich im Bett, war ich hellwach, weil die Wut durch meinen gesamten Körper fuhr. Allein wenn ich nur seinen Namen hörte, ballte ich meine Hände zu Fäusten. Ich hatte noch nie jemanden getroffen, der so unmotiviert und provozierend war. Alles an ihm irritierte mich, und gleichzeitig besaß seine Ausstrahlung etwas so Einnehmendes.

Seufzend nahm ich mein Handy in die Hand und öffnete die letzte Nachricht, die Emory mir aus Florida geschickt hatte.

Ich wünschte, es wäre leichter für mich, sie mit Finn zusammen zu sehen und ihr die Beziehung mit ihm aus vollem Herzen zu gönnen. Doch Eifersucht war ein hässlicher Charakterzug, der mich jedes Mal packte, wenn ich ihre lächelnden Gesichter auf einem Foto sah.

Dieses Gefühl war es letztendlich, das mich kaum schlafen ließ und weshalb ich am nächsten Morgen damit zu kämpfen hatte, den Wecker nicht immerzu später zu stellen.

Schwer seufzend zwang ich mich, die Beine aus dem Bett zu heben, zog mir Hoodie und Leggings an, band die Haare in einen Zopf und stapfte nach unten.

Eine fast schon unheimliche Stille lag im Haus, denn für gewöhnlich war immer jemand da. Die Ruhe ließ mich sofort an Finn denken, denn dann hatten die Gedanken um ihn eine Chance, über mir einzustürzen. Ich hatte es aufgegeben, mich und meine Gefühle auch nur im Ansatz verstehen zu wollen. Sie waren laut und ungestüm, wild und leidenschaftlich und vor allem ziemlich überfordernd. So wie jetzt trafen sie mich völlig unvorbereitet und ich war machtlos dagegen. Mir blieb nichts anderes übrig, als den Schmerz hinzunehmen, durchzuatmen und zu warten, dass er wieder verschwand. Zumindest so lange, bis ich mich nicht mehr ganz wie betäubt fühlte.

Irgendwann. Irgendwann wird es besser.

Spätestens wenn ich auf dem College sein würde. Finn würde an die Brown gehen, und dann würde ich ihn nur noch ein paarmal im Jahr sehen. Wenn überhaupt.

Mit einem tiefen Atemzug schüttelte ich die Gedanken ab, trat in die Küche und schrie vor Schreck auf, als ich Riley am Tisch sitzen sah. Er trug eine rote Baseballcap verkehrt herum auf dem Kopf und vereinzelt lugte sein blond gefärbtes Haar heraus. Seine Lippen verzog er zu einem hochmütigen Grinsen, als sich unsere Blicke trafen. Er hielt eine Tasse in den Händen.

»Was hast du hier zu suchen?«, platzte es aus mir heraus. Wie angewurzelt stand ich im Türrahmen und starrte Riley an.

»Deine Eltern haben mich reingelassen und gesagt, dass ich mir einen Kaffee machen kann, bevor es an die Arbeit geht.«

Er lehnte sich nach hinten. »Da du jetzt wach bist, kann ich mir ja Zeit lassen.«

Mir klappte der Mund auf. Ich blinzelte einige Male, in der Hoffnung, dass ich noch träumte, doch Riley blieb unverändert auf dem Platz sitzen. Meinem Platz, wohlgemerkt! Wie konnten Mom und Dad ihm nur so leicht vertrauen? Er leistete nicht umsonst Sozialstunden ab, und anstatt sich nützlich zu machen, saß er selbstgefällig in unserer Küche.

»Du bist zum Arbeiten und nicht zum Kaffeetrinken hier«, zischte ich. Der Typ war einfach unglaublich. Er grinste mich weiterhin an und widmete sich dann seinem Handy.

Kopfschüttelnd musterte ich ihn einen Moment lang, ehe ich ohne ein weiteres Wort nach draußen ging. Mir fehlte die Energie, um mich weiter mit ihm auseinanderzusetzen.

Der Geruch von einem nächtlichen Regenschauer lag noch in der Luft, die Vögel zwitscherten und der Tag versprach, erneut warm zu werden.

Als ich die Pferdeställe betrat, wich der Druck in meiner Brust ein bisschen. Unsere Ranch besaß insgesamt vierzig Mustangs, die größtenteils zur Zucht, aber auch für den Reitsport genutzt wurden. Einige der Pferde gehörten anderen Besitzerinnen und Besitzern und hatten hier nur ihren Stellplatz. Dreimal die Woche wurde nachmittags Reitunterricht angeboten, und zur Herbstzeit fanden verschiedene Aktionen auf der Ranch statt. Meine Eltern steckten ihre gesamte Leidenschaft in die Arbeit. Deshalb ärgerte es mich umso mehr, dass Riley nicht zu schätzen wusste, welch ein Glück er hatte, hier sein zu dürfen.

»Dieser blöde Mistkerl«, stöhnte ich frustriert, als ich die Eimer mit Wasser befüllte.

Es würde ewig dauern, wenn ich allein zu jedem Stall laufen musste, und bald würde die schwüle Hitze die Arbeit erschweren.

»Ich finde, du siehst nicht so aus, als bräuchtest du meine Hilfe.« Seine tiefe Stimme hallte durch die Ställe, und als ich mich umdrehte, stand Riley angelehnt an der Wand und beobachtete mich, wie bei unserer ersten Begegnung. Seine Blicke brannten förmlich auf meiner Haut und überall kribbelte es unangenehm.

Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und ignorierte ihn, verteilte das frische Wasser auf die Tränken.

»Warum bist du eigentlich hier, wenn du sowieso keine Lust hast?«, fragte ich.

»Weil ich es muss?«, gab er dreist zurück.

Während ich die Pferde versorgte, ließ Riley mich keine Sekunde aus den Augen, und er besaß sogar noch die Frechheit, mir ein Grinsen zuzuwerfen. Ich ging auf ihn zu und stellte die Eimer direkt vor seine Füße.

»Du bist unmöglich, weißt du das eigentlich? Ich habe gerade deine Aufgabe übernommen!«

Riley stieg über die Eimer hinweg und kam mir gewaltig nahe. In seinen dunklen Augen, die von dichten Wimpern umrahmt wurden, blitzte Belustigung auf. Ein weiteres Grinsen umspielte seine Lippen und mein Herz raste plötzlich. Ich fühlte mich in die Enge gedrängt und hilflos ausgeliefert. Riley hatte mit der Nähe offenbar kein Problem, ganz im Gegenteil – er beugte sich vor, sodass unsere Gesichter nur noch Millimeter voneinander entfernt waren.

»Du solltest öfters lächeln, dann wärst du vielleicht mal etwas entspannter.« Er schob die Hände in die Jeanstaschen, die ihm locker auf den Hüften saß. Riley war viel zu warm angezogen, ganz gleich, ob ihm der Look stand. Er hatte die Ärmel seines Hoodies hochgekrempelt, gab somit einen Blick auf seine braun gebrannten Arme frei, und ich konnte nichts weiter tun, als ihn zu mustern. Zumindest bis ich Zigaretten roch und mich daran erinnerte, wer hier vor mir stand.

Riley nahm wieder Abstand von mir und grinste selbstgefällig in sich hinein. Danach drehte er sich um und ließ mich einfach stehen.

Was zum Teufel?

Ich wollte ihm etwas hinterherzurufen, aber er war längst verschwunden.

»Wenn ich es dir doch sage – der Typ ist total daneben.« Seit einer halben Stunde telefonierte ich mit Emory und ließ mich über Riley aus. Es wurde höchste Zeit, dass sie zurückkam, damit sie sich ihr eigenes Bild von ihm machen konnte.

»Immerhin ist er heiß, zumindest klingt deine Beschreibung danach. Gönn dir ein bisschen Spaß. Eine kleine Sommerromanze würde dir guttun.«

Ich schnaubte, setzte mich auf die Fensterbank in meinem Zimmer und blickte hinab. Dad und Riley schleppten gerade Steine über den Hof, der Anblick bereitete mir Freude und Genugtuung. Endlich machte er sich nützlich.

»Er ist ein Arsch. Egal wie er aussieht.« Dabei verriet ich nicht, dass ich ihn vielleicht eine Spur zu lange beobachtete. Den schwarzen Hoodie hatte er mittlerweile ausgezogen und das weiße T-Shirt wurde gefährlich durchsichtig, je länger er in der Sonne arbeitete. Das Basecap trug er wie immer verkehrt herum auf dem Kopf.

Emory lachte am anderen Ende der Leitung. »Pass auf, dass er dir nicht den Kopf verdreht.«

»Niemals. Glaub mir, er kann noch so gut aussehen. Ich will mit ihm nichts zu tun haben. Keine Ahnung, was er alles angestellt hat, aber der Typ bedeutet nur Ärger!«

In diesem Augenblick sah er nach oben, direkt in meine Richtung. Ich duckte mich im selben Moment und schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. Ich konnte mir vorstellen, wie Riley nun grinste, weil er genau wusste, dass ich ihn beobachtet hatte.

»Alles okay?«, fragte Emory.

»Mhm …« Ich biss mir auf die Unterlippe.

»Ach, komm schon, Jules. Dir würde es nicht schaden, wenn du mal aus deiner Komfortzone treten würdest. Die Welt, so wie du sie dir in deinen Büchern ausmalst, existiert nicht.«

Autsch.

Ich hasste es, wenn Emory so direkt war und dabei keine Ahnung hatte, wovon sie sprach. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann sie jemals freiwillig ein Buch gelesen hatte. Wenn ich mal über meinen Schatten sprang und ihr Auszüge aus dem Manuskript zeigte, reagierte sie die meiste Zeit zurückhaltend. Sie fand die Dinge gut, die ich schrieb, allerdings war es für sie schwer vorstellbar, dass ich vielleicht irgendwann mal damit Erfolg haben würde. Emory war eine Realistin, verfolgte Ziele und Träume, die zu einem echten Ergebnis führten, während ich lieber mit meinem Kopf weit oben in den Wolken hing.

Im Hintergrund war das Rauschen des Meeres zu hören und ich beneidete Emory dafür, in Florida zu sein.

»Du müsstest mit uns hier sein, Jules. Ich vermisse dich. Das Meer würde dich bestimmt inspirieren.«

Ich lächelte verhalten. »Du hättest ja nicht gleich für vier Wochen wegbleiben müssen.«

Emory und ich waren seit der Grundschule befreundet. Auch wenn sie sich nicht für meine Leidenschaft begeistern konnte, war sie immer für mich da. Sie trieb mich an, sprach mir Mut zu. Im Gegensatz zu mir war sie extrovertiert und selbstbewusst, und ich wünschte mir oft, ein bisschen zu sein wie sie.

Als sie den Namen Finn in den Mund nahm, schaltete ich automatisch ab, setzte mich auf den Schreibtischstuhl und öffnete Youtube und Pinterest. Manchmal fragte ich mich, ob Emory wirklich nicht merkte, dass ich in Finn verliebt war oder sie es bloß nicht wahrhaben wollte.

Nachdem wir aufgelegt hatten, stand ich wieder auf und warf erneut einen Blick aus dem Fenster. Riley half Dad halbherzig bei der Arbeit. Seine Körperhaltung strotzte nur so vor Lustlosigkeit, und am liebsten hätte ich ihm in den Hintern getreten, damit er sich mehr Mühe gab. Seine blonden Haare lockten sich leicht im Nacken. Es war unfair, dass er selbst jetzt noch so gut aussah …

Erst als es an der Tür klopfte und Mom ins Zimmer trat, wandte ich den Blick vom Hof ab.

»Ich weiß wirklich nicht, was ihr in ihm seht.«

»Vielleicht erkennst du es, wenn du ihn weiterhin so lange beobachtest.« Sie zwinkerte mir zu. »Chris glaubt an ihn, und wie du weißt, ist auf ihn Verlass. Er arbeitet schließlich nicht erst seit gestern mit Jugendlichen zusammen. Außerdem würde er nie jemanden hierherbringen, der uns schaden würde, schließlich ist er der beste Freund deines Dads. So einfach ist das.«

»So einfach ist das?« Skeptisch zog ich die Augenbrauen zusammen.

»Ja, so einfach. Und jetzt komm, ich brauche deine Hilfe für ein Arrangement.«

In einer kleinen Scheune neben dem Haus betrieb Mom ihr eigenes Floristikgeschäft. Geflochtene Gestecke und etliche Vasen gefüllt mit Blumen verschiedenster Arten tummelten sich auf Regalen und Schränken, die ein Meer aus bunten Farben erzeugten. Und nicht zu vergessen war der blumige Duft, der einem noch lange in der Nase hängen blieb. Ich kannte niemanden, der die Arbeit mit Blumen so sehr liebte und so voller Hingabe war wie meine Mom. Zwar konnte ich mich für die verschiedenen Blumenarten begeistern, doch ich besaß nur halb so viel Talent und Geduld. Ihre Scheune war wie ihr sicherer Hafen. Makramees hingen an den Wänden, Räucherstäbchen vermischten sich mit dem blumigen Duft und es sah hier immer chaotisch aus. Blätter und Blüten lagen auf dem Holzboden verstreut, während sich aufwendig geflochtene Gestecke und Sträuße auf den Tischen verteilten.

»Wobei brauchst du meine Hilfe?«, fragte ich neugierig und nahm einen Bund getrockneter Blumen in die Hand. Ich liebte die weichen Farben, die Mom zusammengesucht hatte, und war wieder einmal verblüfft, mit wie viel Liebe zum Detail sie arbeitete. Sie war der geduldigste und gutherzigste Mensch auf Erden. Kein Wunder, dass sie Riley vertraute.

»Nächsten Monat ist eine Hochzeit, für die ich die Gestecke anfertige. Ich wollte dich fragen, wie du sie findest und ob du Lust hättest, mir beim Dekorieren zu helfen, wenn ich sie in den Saal bringe.«

Ich nickte begeistert. »Natürlich helfe ich dir.«

Mom zeigte mir die verschiedenen Arrangements, und wir unterhielten uns über die Farben und Blumen, die sie ausgewählt hatte.

Ich liebte diese Zeit mit ihr, vor allem in der Scheune. Die Atmosphäre hatte eine beruhigende Wirkung auf mich und die sonst so lauten Gedanken kamen zum Stillstand. Zumindest für einen Moment.

»Jules?« Mom sprach meinen Namen mit so viel Bedacht aus, dass ich eine Gänsehaut bekam. Sie legte die Blumen zurück und musterte mich. In ihrer Stimme lag plötzlich eine Ernsthaftigkeit, der ich mich am liebsten entzogen hätte. »Ich weiß, wie traurig du wegen Finn bist. Wenn ich dich beobachte, dann habe ich manchmal Angst, dass du aufhörst zu atmen, um den Schmerz nicht spüren zu müssen.«

Mir stiegen Tränen in die Augen, die ich nicht schnell genug vor ihr verbergen konnte. Ich senkte den Blick und presste die Lippen fest aufeinander, um nicht laut aufzuschluchzen.

»Der Liebeskummer geht vorbei, wenn du ihn lässt. Aber dafür musst du anfangen, wieder nach vorn zu sehen. Das geht nicht, wenn du dich in deinem Zimmer verschanzt und darauf hoffst, dass es von allein besser wird.« Mit dem Zeigefinger strich sie mir zärtlich die Tränen aus dem Gesicht. »Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie leicht es ist, sich in seiner Fantasie zu verlieren. Aber die Realität kann genauso schön sein. Man muss nur bereit sein, die Augen für den Zauber offen zu halten.«

Die Worte meiner Mom brachen mir das Herz, und sie hallten noch nach, als ich die Scheune schon lange verlassen hatte.

Die Abendsonne zeigte ihre volle Pracht und tauchte die Felder in goldene Farben, der Duft von Heu lag in der Luft, die letzten Pferde trabten mit ihren Reitschülerinnen und Reitschülern über den Platz. Es war ein idyllischer, friedlicher Moment. Ich versuchte, den Anblick in mir aufzunehmen und etwas zu spüren. Aber es gelang mir nicht. Mein Herz blieb tot, zersplittert, und sehnte sich nach einem Jungen, den ich nicht haben konnte.

»Wie hältst du das hier nur aus?«

Ich drehte mich um, als Riley hinter mir auftauchte und sich neben mich stellte. Fast so nah, dass sich unsere Schultern berührten, und sofort nahm ich Abstand.

»Ist es im Zentrum von Blossom Grove genauso öde?«

»Es zwingt dich niemand, hier zu sein. Such dir doch etwas anderes«, murmelte ich grimmig.

Riley schob die Hände in die Hosentaschen und ließ den Blick ebenfalls über die Felder wandern. »Bist du immer so schlecht gelaunt?«

»Nur wenn du in der Nähe bist.«

Ich hatte keine Lust auf dumme Sprüche oder wie er versuchte, die Arbeit hier madig zu reden. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er grinste und ich atmete erneut tief durch. Meine Nerven waren angespannt, und ich hatte keine Ahnung, ob ich endgültig die Fassung verlieren würde, wenn ich mich weiter provoziert fühlte.

»Es ist schön hier. Du solltest nicht alles so ernst nehmen, was ich sage.«

Unsere Blicke trafen sich kurz, es reichte aus, um die Wärme in seinen tiefbraunen Augen zu erkennen, die in der Sonne heller wirkten.

»Es fällt mir schwer, dir das zu glauben«, gab ich trocken zurück.

»Das liegt daran, dass du mich nicht kennst.«

Ich lachte auf. »Ich bin auch dafür, dass das so bleibt.«

»Warum? Hast du Angst, dass ich einen schlechten Einfluss auf dich habe?« In seiner Stimme lag Belustigung.

Ich schwieg. Um ehrlich zu sein, wusste ich selbst nicht, was es war, was mich so an ihm störte.

»Wer weiß, vielleicht hättest du einen guten Einfluss auf mich«, fügte er hinzu. »Bis morgen. Und vergiss nicht: Es würde dir besser stehen, wenn du zur Abwechslung mal lachen würdest.«

Zwar würde ich es in seiner Anwesenheit nie offen zugeben, aber er hatte recht – ich vermisste es, ehrlich und aus vollem Herzen zu lachen.

KAPITEL4

Riley

Der Geruch von Marihuana benebelte meine Gedanken am helllichten Tag. In dem alten Viertel zu sein, in dem ich aufgewachsen war, brachte nicht den gewünschten Effekt mit sich. Trotzdem: Alles war besser, als es in der Wohngruppe aushalten zu müssen.

Obwohl ich es immer gehasst hatte, war mir das Leben hier vertraut. Hier presste mich niemand in eine Rolle, für die ich nicht gemacht war. Chris oder die Oakleys sahen etwas in mir, was nicht existierte, und ich war genervt davon, ihre Erwartungen erfüllen zu müssen.

Jeder von den Leuten hier wusste, was mit Vince passiert war, und fragte nicht ständig nach meinem Befinden, weil es sowieso niemanden interessierte. An der South Side kämpften die Menschen für sich, das Leben war rau und von Hoffnungslosigkeit geprägt.

Als Megan mir den Joint reichte, nahm ich ihn dankbar entgegen und inhalierte einen tiefen Zug. Endlich war Wochenende, und ich konnte für ein paar Stunden vergessen, wie beschissen mein Leben verlief.

»Du solltest öfters herkommen. Du wirkst total angespannt.« Sie legte die Hände auf meine Schultern und fing an, sie zu massieren.

»Das liegt an dem Scheißkerl dort.« Mit einer Kopfbewegung deutete ich auf Dan. »Vielen Dank noch mal.«

Dan grinste mich abschätzig an. »Was kann ich dafür, wenn du zu blöd bist, um was mitgehen zu lassen?«

Hätte ich nicht schon so oft an dem Joint gezogen, wäre ich diesem Arschloch jetzt an die Gurgel gesprungen. Dan Hargrove war der Grund, warum ich so tief in der Scheiße steckte. Er hatte mir damals die Schuld für den Diebstahl reingedrückt und war bei der Polizei ziemlich überzeugend gewesen, dass er völlig unschuldig sei.

Natürlich war das absolut gelogen gewesen.

Zu allem Übel lebte er in derselben Wohngruppe wie ich, und es war kein Geheimnis, dass wir uns nicht ausstehen konnten.

»Du hättest mich gar nicht erst verpfeifen dürfen.«

Dan musterte mich unbeeindruckt. »Wir machen das immer so. Das gehört zu dem Nervenkitzel dazu.«

»Nervenkitzel?« Ich stieß den Rauch aus. Mit ihm darüber zu diskutieren war reine Zeitverschwendung. Seit dem Vorfall in der Mall hasste ich ihn noch mehr.

Ich nahm einen weiteren tiefen Zug vom Joint und schloss die Augen. Es war mir egal, dass in der Wohngruppe regelmäßig stichprobenartig Drogentests durchgeführt wurden. Mich hielt dort sowieso nichts.

»Könnt ihr zwei mal aufhören?«, meckerte Megan. Mit der rechten Hand fuhr sie über meinen Rücken und schlüpfte unter mein Shirt. Die Intention dahinter war offensichtlich, und ich war zu bekifft, um Einspruch zu erheben. Außerdem gab es keine bessere Art, um zu entspannen.

»Ihr zwei seid echt widerlich«, sagte Dan und wandte sich ab. »Wo bleiben eigentlich Miles und Jax mit der Pizza? Ich verhungere.«

Als er nach draußen ging, legte Megan ihr Kinn auf meiner Schulter ab. »Ich bin froh, dass du hier bist. Die letzten Tage hat man dich kaum zu Gesicht bekommen.«

»Wundert dich das? Ich arbeite auf einer beschissenen Ranch, und wenn ich zurückkomme, will ich einfach nur schlafen.«

»Ist es so ätzend dort?«

Mir lag es auf der Zunge, ihre Frage zu verneinen. Aber dann hätte ich zugeben müssen, dass es derzeit der einzige Ort war, wo ich mich einigermaßen wohlfühlte und ich nicht mal wusste wieso.

»Und wie«, log ich halbherzig.

Das verlassene Haus, in dem wir uns alle regelmäßig trafen, war für jeden von uns ein Zufluchtsort. Wenn die Realität kaum noch auszuhalten war, kamen wir hierher, um den lauten Gedanken zu entfliehen.

Wir. Dazu gehörten Megan, die Zwillinge Jax und Miles und leider auch Dan. Wir waren Überlebenskünstler, geprägt von Geschichten, die selbst in Hunderten von Leben nicht zu verarbeiten waren, uns jedoch miteinander verbanden. Megan war jene von uns, die die größten Chancen hatte, dem Leben hier zu entkommen, wenn sie es nicht verbockte. Sie kiffte zwar gern, war aber intelligent genug, um es vielleicht mit einem Stipendium aufs College zu schaffen. Leider ließ sie sich von den anderen zu sehr beeinflussen, die sich regelmäßig darüber lustig machten. Im Grunde waren sie neidisch und Megan verkackte in der Schule absichtlich, damit die Jungs nicht schlecht über sie dachten.

Unsere Wochenenden waren bestimmt davon, auf irgendwelche sinnlosen Partys zu gehen, uns zu betrinken und zu hoffen, die Leere damit zu betäuben. Oder hierherzukommen. In das Viertel, in das Vince mich gebracht hatte, nachdem unsere Eltern ums Leben gekommen waren. Er hatte es nicht besser gewusst und versucht, für uns beide zu kämpfen.

Nur um mich am Ende allein zu lassen.