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Inspiriert von Taras wahrer Geschichte: ein New-Adult-Roman über den Mut, alte Sicherheiten aufzugeben, um das Herz für die Liebe zu öffnen
Tara hat alles in ihrem Leben, was sie sich wünscht. Sie ist eine aufstrebende Jurastudentin, glücklich in ihrer Beziehung und hat ein liebevolles Verhältnis zu ihren Adoptiveltern. Mit ihren kulturellen Wurzeln in Nepal wollte sie sich nie auseinandersetzen und verdrängt alles, was mit diesem Land zu tun hat. Ausgerechnet an ihrem Geburtstag erhält sie jedoch eine Nachricht, die sie wie ein Schock trifft. Ein Fremder namens Kiran meldet sich mit den Worten: „Ich bin dein Bruder.“ Mit tausend Fragen im Gepäck reist Tara nach Kathmandu. Dort lernt sie ihre verloren geglaubte Familie kennen. Und sie trifft auf Ravi, der sich immer tiefer in ihr Herz schleicht. Doch je vertrauter Tara mit ihrem Geburtsland wird, desto mehr entfremdet sie sich von ihrem alten Ich. Wohin und zu wem gehört sie wirklich?
Tropes: Slow Burn, Finding Yourself, New Beginnings
{heartlines} = True Story + New Adult: Inspiriert von den echten Geschichten und Persönlichkeiten der Storygeber*innen schreiben die Autor*innen Romane zum Eintauchen und Mitfühlen. Mit Charakteren, die Mut machen, und unvergesslichen Lovestorys, die unsere Herzen erobern.
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Seitenzahl: 519
Veröffentlichungsjahr: 2025
Vanessa Hußmann, geboren 1992, liebt es, in fremde Welten einzutauchen – sei es in Bücher oder in faszinierende Länder und Kulturen. Immer wieder zieht es Vanessa in die Ferne. Sie hat ein Jahr in den USA gelebt und war in Thailand und Vietnam unterwegs. Kathmandu lernte sie durch Tara kennen und ließ sich von ihr gedanklich durch die Gassen und Tempel der Stadt führen. Deren mystische Atmosphäre und die Herzlichkeit ihrer Menschen haben Vanessa inspiriert: »Pieces of Me ist wie eine Reise nach Nepal, auf der ihr euch hoffentlich wie ich in das Land verliebt … und vielleicht auch in Ravi.«
Über die Storygeberin
Tara, geboren 1999 in Kathmandu, ist das Pseudonym der Storygeberin von Pieces of Me. Tara wurde als dreijähriges Mädchen in Nepal von einem deutschen Ehepaar adoptiert, das sie schon früh darüber aufgeklärt hat, woher sie kommt. Doch warum ihre leibliche Mutter sie weggegeben hatte und was aus ihrer Familie geworden war, wusste Tara nicht. Bis sie eine unerwartete Nachricht aus ihrem Geburtsland erhielt. Sie war der Auslöser für Taras erste Reise nach Nepal. Auch wenn Tara nicht gerne im Rampenlicht steht, will sie mit ihrer Geschichte Menschen, die wie sie auf den Spuren ihrer Herkunft sind oder sich manchmal verloren fühlen, Mut machen.
Über den Roman
Tara hat alles in ihrem Leben, was sie sich wünscht. Sie ist eine aufstrebende Jurastudentin, glücklich in ihrer Beziehung und hat ein liebevolles Verhältnis zu ihren Adoptiveltern. Mit ihren kulturellen Wurzeln in Nepal wollte sie sich nie auseinandersetzen und verdrängt alles, was mit diesem Land zu tun hat. Ausgerechnet an ihrem Geburtstag erhält sie jedoch eine Nachricht, die sie wie ein Schock trifft. Ein Fremder namens Kiran meldet sich mit den Worten: „Ich bin dein Bruder.“ Mit tausend Fragen im Gepäck reist Tara nach Kathmandu. Dort lernt sie ihre verloren geglaubte Familie kennen. Und sie trifft auf Ravi, der sich immer tiefer in ihr Herz schleicht. Doch je vertrauter Tara mit ihrem Geburtsland wird, desto mehr entfremdet sie sich von ihrem alten Ich. Wohin und zu wem gehört sie wirklich?
Weil das Leben die besten Geschichten schreibt.
Jede Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Wir schaffen einen Safe Space für die Begegnung von Autor*innen mit jungen Menschen, die ihre Erlebnisse teilen möchten. Inspiriert von den echten Geschichten und Persönlichkeiten der Storygeber*innen schreiben die Autor*innen Romane zum Eintauchen und Mitfühlen. Mit Charakteren, die Mut machen, und unvergesslichen Lovestorys, die unsere Herzen erobern.
Wenn auch du als Storygeber*in dabei sein möchtest, dann schicke uns eine E-Mail an
mit folgendem Inhalt: eine kurze Schilderung deiner wahren Erlebnisse und deine Motivation, aus deiner Geschichte einen Roman zu machen.
Die Länge sollte maximal 2-3 Seiten sein.
Wir freuen uns, von dir zu hören!
www.penguin.de/verlage/heartlines
@penguinlovestories
Vanessa Hußmann
Based on Tara’s True Story
Roman
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Dieses Buch basiert zwar zum Teil auf wahren Begebenheiten und behandelt typisierte Personen, die es so oder so ähnlich gegeben haben könnte, einen Anspruch auf Faktizität erhebt es aber nicht. Diese Urbilder wurden jedoch durch künstlerische Gestaltung des Stoffs und dessen Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus dieses Kunstwerkes gegenüber den im Text beschriebenen Abbildern so stark verselbstständigt, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der Figuren objektiviert ist.
Für alle Leser und Leserinnen erkennbar, erschöpft sich der Text nicht in einer reportagehaften Schilderung von realen Personen und Ereignissen, sondern besitzt eine zweite Ebene hinter der realistischen Ebene. Es findet ein Spiel mit der Verschränkung von Wahrheit und Fiktion statt, wodurch Grenzen bewusst verschwimmen.
Originalausgabe 05/2025
Copyright © 2025 by {heartlines}, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
[email protected] (Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Redaktion: Mira Massong
Umschlaggestaltung: das verlagsatelier ROMYPOHL, Landsberg a. L.
Umschlagmotiv: © Shutterstock: 1012883944, AlexTanya; 1013259985, Irina Qiwi; 1155906013, Natalia Sedyakina
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-641-32194-9V002
www.penguin-verlag.de
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Thirty Seconds To Mars ) Seasons
Mat Kearney ) Ships In the Night
Birdy ) The District Sleeps Alone Tonight
Richy Mitch & The Coal Minders ) Evergreen
Wincent Weiss ) Irgendwie auch nicht
Florence + The Machine ) Never Let Me Go
The Cinematic Orchestra ) To Build A Home
Toby Lightman ) Holding A Heart
Bon Iver ) Holocene
Wiz Khalifa feat. Charlie Puth ) See You Again
Raign ) Knocking On Heavens Door
Lizzy McAlpine ) Ceilings
Aron Wright ) Home
One Republic ) I Lived
Sleepstar ) I Was Wrong
Sia ) Bird Set Free
Parachute ) Kiss Me Slowly
Yabesh Thapa ) Laakhau Hajarau
Tyrone Wells ) Time Of Our Lives
Taylor Swift ) Guilty As Sin?
An dreihundertvierundsechzig Tagen im Jahr liebte ich mein Leben. Mein Jurastudium, meine Familie und Freunde. Leon, der seit zehn Jahren an meiner Seite war. Alles hatte seinen Platz, ich hatte meinen Platz. Meine Routinen und Sicherheiten, meine Wochenenden, an denen ich gern den ganzen Tag meine Lieblingsserie sah und dabei Milka-Schokolade aß.
Allerdings gab es einen Tag, an dem ich dieses Loch in meinem Herzen nicht ignorieren konnte. Jedes Jahr an meinem Geburtstag, am fünfzehnten Juli, drehte sich die Welt irgendwie anders.
Das Wasser in meinem Glas schwappte bei jeder Bewegung über meinen Handrücken, doch das war mir egal. Ich hielt die Augen geschlossen, fokussierte mich auf den Moment und tanzte es aus, wie es bei Grey’s Anatomy immer hieß. Ein leichter Schweißfilm lag auf meiner Haut, und ich rieb mir den Nacken, um ihn wegzuwischen. In dem Moment bereute ich es, kein Zopfgummi dabeizuhaben, weshalb mir die langen Haare schwer über die Schultern fielen. Ich befand mich in meinem eigenen Kosmos, um mich herum wurde gelacht, aber ich nahm es gar nicht richtig wahr. Alles verschwamm immer wieder um mich herum. Die Hausparty, zu der ich gar nicht gehen wollte, die viel zu laute Musik. Meine beste Freundin Lilly sagte etwas, das ich nicht verstand, lachte und schwankte zur Seite, ehe sie das Gleichgewicht wiederfand. Sie kicherte und ich kicherte mit, obwohl ich mich nicht danach fühlte.
»Bist du sehr traurig darüber, dass Leon nicht hier ist?« Lilly beugte sich vor und schrie mir ins Ohr, was mich zurück in die Realität holte.
»Nein, du kennst ihn ja. Er muss mal wieder lange arbeiten.« Ich zuckte mit den Schultern, lächelte das Ziehen in der Brust weg. Ich wünschte, er wäre hier. Nicht, weil ich Geburtstag hatte, denn das war mir wirklich egal. Sondern, weil er seine Arbeit über mich stellte. Mal wieder. Ich war es gewohnt, nur manchmal hoffte ich dennoch …
Leon hatte versprochen nachzukommen, aber das hieß nichts.
»Gleich ist Mitternacht, und dann ist dein Geburtstag, Tara. Er sollte hier sein. Das ist nicht okay.« Lilly musterte mich so eingehend, als würde sie versuchen, in meine Seele zu sehen. Sie und Leon akzeptierten sich zwar, trotzdem waren sie nie ganz warm miteinander geworden. Die Blondine mit den grünen Augen und Sommersprossen auf der Nase hatte es faustdick hinter den Ohren, und genau das passte Leon nicht. Er war der Meinung, sie hätte einen schlechten Einfluss auf mich.
Ich öffnete den Mund, um ihr zu widersprechen, und schloss ihn wieder. Egal, was ich sagte, es würde bloß wie eine Rechtfertigung klingen. Lilly war seit Anfang des Jurastudiums meine engste Vertraute und wusste so ziemlich alles über mich. Außer einer Sache. Und zwar, dass ich Geburtstage hasste. Ich hatte es nie übers Herz gebracht, ihr die Wahrheit über die Hintergründe zu erzählen und warum ich alles daransetzte, mich von diesem Tag zu distanzieren. Denn Lilly liebte Geburtstage, ob es ihr eigener war oder meiner. Sie ging so richtig in den Planungen auf, sprach schon Wochen zuvor nur noch davon und machte den Tag zu einem richtigen Ereignis. Letztes Jahr hatte ich mich rausreden können und es anschließend nicht noch mal zum Thema gemacht. Aber jetzt …
Ich sah auf die Uhr meines Handys und merkte, wie sich Unruhe in mir breitmachte. Mein Puls wurde automatisch schneller und schien sich der Zeit anzupassen, die plötzlich raste.
Es dauerte nicht mehr lange, bis Mitternacht war.
»Lass uns heute trotzdem Spaß haben, okay? Es gibt ja noch mehr zu feiern, denn wir sind frei. Goodbye, Juragrundstudium!«, trällerte sie und warf die Arme in die Luft. »Ich fühle mich zwar wie ein Zombie, aber was macht das schon?« Lilly drehte sich schwungvoll im Kreis. »Wenn der Sommer vorbei ist, musst du mir unbedingt dein Geheimnis verraten, Tara.«
»Mein Geheimnis?« Ich gluckste, nahm einen Schluck von meinem Wasser und bewegte mich zur Musik mit, auch wenn ich lieber zu Elektro als zu Hip-Hop tanzte.
»Ja, wie du es schaffst, jeden Tag so frisch auszusehen, und schon für fünf Wochen vorgearbeitet hast. Du bist so was von meine Superheldin und wirst irgendwann eine knallharte Anwältin.« Lilly redete eindeutig wirres Zeug, und ich schob es auf ihren Alkoholpegel. Trotzdem musste ich lächeln, weil sie mich genau so sah, wie ich es mir erträumte: als Anwältin. Vielleicht nicht unbedingt knallhart, doch eine mit Durchsetzungsvermögen und Leidenschaft. Eine, die für die Menschen einstand, die Hilfe brauchten, und eine Stimme war, die für sie sprach. Deshalb konnte ich es kaum erwarten, wenn nach dem Sommer das Hauptstudium anfing, ehe das erste Staatsexamen folgen würde.
»Da gibt’s kein Geheimnis.« Ich winkte ab. »Vielleicht liegt es an meinen To-do-Listen, die du für überflüssig hältst. Sie steigern die Produktivität.«
Produktiv zu sein und dadurch Ergebnisse zu erzielen, gab mir eine Art von innerem Seelenfrieden. Es war mein System und ich liebte es. Oft bedeutete das durchgearbeitete Nächte, die ich gern in Kauf nahm. Es funktionierte für mich und ich hatte meine Technik perfektioniert.
»Jaja. Das glaube ich dir für heute«, antwortete Lily und nahm meine freie Hand in ihre. »Jetzt haben wir Spaß, okay? Du wirkst nämlich total unentspannt, und ich will, dass wir so richtig tanzen.«
Ich lächelte und wünschte mir, dass ich mich wirklich so fallen lassen konnte, um den Moment zu genießen.
So wie Lilly – stolz zu sein, diese erste große Etappe in unserer Laufbahn geschafft zu haben, und die Zukunft da zu lassen, wo sie hingehörte: in weiter Ferne. In meinem Kopf plante ich stattdessen bereits die nächsten Worksessions, schrieb To-dos, die immer viel zu lang für einen einzigen Tag waren, weshalb ich mich am Ende ärgerte, wenn ich nicht alles schaffte. Ich war total unentspannt, und das wusste ich. Es fiel mir schwer, einfach loszulassen und nicht bloß in meinem Kopf zu leben.
»Komm schon, Tara.«
Lilly hob meine Hand in die Luft, bewegte mich mit sich und ich beschloss, mein stetiges Gedankenchaos vorerst zu ignorieren. Oder den eigentlichen Grund, warum ich auf eine Hausparty von jemandem ging, den ich nicht mal kannte.
Mit geschlossenen Augen tanzte ich und ließ mich von der Energie mitreißen, die sich immer weiter auflud. Gerade lief Can’t Hold Us von Macklemore,neben mir wurde gesprungen und lauthals mitgesungen. Ich warf einen kurzen Blick auf meine Armbanduhr.
23:55 Uhr. Noch fünf Minuten.
Mir wurde auf einmal flau im Magen, und ich versuchte, mich mit aller Macht davon abzulenken, dass gleich Mitternacht war. Ein neuer Tag, eine neue Möglichkeit, ihn besonders werden zu lassen. Für mich bedeutete es etwas anderes.
Noch zwei Minuten.
»Ja, sieh mal einer an, was du für Bewegungen draufhast!« Lilly lachte vergnügt, und ich sah wieder auf die Uhr.
Noch eine Minute.
Ich konzentrierte mich stärker auf die Musik und schloss wieder die Augen, um sie intensiver wahrzunehmen. Auf einmal ging das Licht aus und die Musik wechselte zu dem klassischen Happy-Birthday-Song.
»Überraschung, Tara! Alles Liebe zum Geburtstag!« Lilly fiel mir um den Hals, und ich erstarrte zur Salzsäule.
Was passiert hier?, schoss es mir als Erstes durch den Kopf. Bis ich realisierte, dass sie sich das Lied für mich gewünscht hatte. Mitten auf dieser Hausparty.
Verdammt, warum habe ich Lilly nie etwas erzählt?
Jetzt stand ich hier, in der Mitte dieses Wohnzimmers, und alle Blicke waren auf mich gerichtet. Ich hasste Aufmerksamkeit und wäre am liebsten im Boden versunken. Ein dicker Kloß steckte mir im Hals und ich versuchte mich an einem Lächeln. Lilly hatte es schließlich gut gemeint.
»Komm mit, Tara, ich habe eine Überraschung für dich.« Meine beste Freundin zog mich hinter sich her in die Küche, und ich war froh, nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen.
»Ich musste Mike extra überreden, den für dich in den Kühlschrank zu stellen.« Sie holte eine Schokoladentorte heraus und stellte sie auf den Tisch. »Tada! Ich weiß ja, wie sehr du Schokolade liebst. Und da mir aufgefallen ist, dass wir bislang noch nie deinen Geburtstag zusammen gefeiert haben, ist es an der Zeit.«
Mir fehlten die Worte. Eigentlich wollte ich Danke sagen, doch ich starrte nur auf den Kuchen.
»Ich hoffe, das ist in Ordnung. Ich konnte online keine genauen Infos finden. Vielleicht isst man in Nepal zum Geburtstag ja auch Kuchen. Was meinst du?«
Verwundert sah ich sie an und hörte nicht richtig zu, weil mir das Blut in den Ohren rauschte.
»Tara?«
»Hm?«
»Ist das mit dem Kuchen okay? Oder feiert man in Nepal anders? Ich wollte dich überraschen.«
Ich zuckte mit den Schultern und antwortete fast schon mechanisch. »Ich habe keine Ahnung, wie man dort feiert. Ehrlich gesagt habe mich noch nie damit beschäftigt.«
Lilly zog die Augenbrauen hoch. »Wie, du hast dich noch nie damit beschäftigt? Das sagst du mir erst heute? Tara, wenn ich gewusst hätte … Ich dachte immer, dass du einfach nicht so der Fan von Geburtstagen bist, aber ich wollte dich überraschen, weil du mir in den letzten Monaten so viel geholfen hast.« Ihre Worte überschlugen sich. »Ich hätte es wissen müssen. Du sprichst nie über Nepal und …«
»Hey, es ist okay! Ich hätte es dir sagen sollen, Lilly. Mir tut es leid, ja? Du hast dir so viele Gedanken gemacht, und du darfst nicht denken, dass ich mich nicht freue.«
»Aber das tust du nicht.« Sie zog einen Schmollmund. »Oh Mann, ich hätte es echt besser wissen müssen.«
»Ich freue mich. Und ich danke dir, dass du dir so viel Mühe gemacht hast. Wirklich. Los, lass uns die Torte anschneiden. Ich liebe Schokolade!«
»Na immerhin das. Ich weiß ja, wie du dir immer heimlich Milka-Schokolade in den Mund steckst, wenn du denkst, dass niemand hinsieht. Bis die ganze Tafel weg ist.«
»Was?« Mit gespielter Empörung schlug ich die Hand vor den Mund. »Das halte ich für ein Gerücht.«
Die Stimmung zwischen uns lockerte sich wieder auf, und Lilly fing an, in den Schubladen nach einem Messer zu suchen.
»Wirst du es mir irgendwann erzählen? Warum du so ungern deinen Geburtstag feierst und was das mit Nepal zu tun hat?«
Obwohl ich solchen direkten Fragen immer aus dem Weg ging, weil es so leichter war, konnte ich es dieses Mal nicht tun. Nicht nach der Mühe, die sie sich gegeben hatte.
»Ich versuch’s, aber ich kann es nicht garantieren. Es ist nicht unbedingt mein Lieblingsthema.«
Für mich gab es keine Geburtstagsmagie. Sie war mir irgendwann verloren gegangen, seit ich wusste, dass meine Eltern mich adoptiert hatten und ich als Kleinkind von Nepal nach Deutschland gekommen war. Mein Geburtsdatum war nur geschätzt. Wahrscheinlich war die Bedeutung eines Geburtstages eine andere, wenn man das genaue Datum kannte, doch ich kannte nichts außer diesen Fragezeichen in meinem Kopf. Im Grunde hätte es jeder andere Tag in diesem Jahr sein können, und das war etwas, das ich die restlichen dreihundertvierundsechzig Tage gut verdrängte. Nur heute nicht. Heute wusste ich am allerwenigsten, wer ich war.
Ich biss mir auf die Wange, nahm den Schmerz überdeutlich wahr, um das Echo in meinem Kopf verdrängen.
»Wie macht ihr das denn zu Hause? Oder ignorierst du deinen Geburtstag wirklich komplett?« Lilly wirkte immer noch fassungslos über diese Tatsache. Ihr Interesse an Nepal war aufrichtig, und es tat mir fast schon leid, dass ich ihr nicht mehr erzählen konnte.
»Doch, wir feiern, allerdings würde es nicht deiner Vorstellung entsprechen.« Ich grinste neckisch. »Bei uns läuft alles ruhig ab. Ein bisschen grillen zusammen mit meinen Eltern und Leon. Ist nichts Wildes.«
Mit einem Messer in der Hand kam Lilly zurück und schnitt den Kuchen an. »Ich hoffe, er schmeckt. Eigentlich bin ich keine große Bäckerin.« Sie reichte mir eine Serviette mit einem Stück Kuchen. »Wie ich dich kenne, kannst du nicht Nein zur Schokolade sagen.« Endlich lächelte sie wieder.
Beherzt biss ich hinein und meine Laune schoss in die Höhe. Schokolade machte alles besser. »Der schmeckt himmlisch«, sagte ich mit vollem Mund. »Den hast du wirklich selbst gebacken?«
Lilly nickte und wirkte erleichtert. »Ein Glück. Ich hatte echt Angst, der wäre ein Fall für die Tonne.«
»Danke, dass du dir solche Arbeit gemacht hast. Das wäre nicht nötig gewesen. Für mich ist dieser Tag wie jeder andere Tag auch.«
»Das ist das Traurigste, das ich jemals gehört habe.«
Ich zuckte mit den Schultern, weil es nichts gab, das ich sonst dazu sagen konnte. Diese Freude, die Lilly empfand, war mir fremd. Ich spielte an diesem Tag eine Rolle und trug eine Maske, hinter die meine beste Freundin geblickt hatte. Ich konnte bloß hoffen, dass es mir gelingen würde, das Bild von mir wieder ins richtige Licht zu rücken. Bei meinen Eltern funktionierte es zum Glück, wenn wir alle zusammensaßen, es Kuchen gab und ich im Mittelpunkt stand. Genau dort, wo ich am wenigsten sein wollte.
Denn dann merkte ich einmal mehr, dass irgendetwas anders war. Etwas, das ich nicht in Worte fassen konnte, von dem ich aber wusste, dass es da war. Wie ein Fremdkörper ohne Namen. Um mein Unbehagen zu überspielen, konzentrierte ich mich auf den Kuchen.
»Du hast mir eine Milka-Torte gebacken. Ich glaube, ich weine gleich. Wieso hast du mir nie gesagt, dass du backen kannst? Die hätte ich in den unendlich vielen Nachtschichten gebraucht.«
»Willst du mir sagen, dass dein Superheldinnengeheimnis Milka ist?«
»Wer weiß?«
Wir grinsten beide, ehe sie auch vom Kuchen probierte. »Wie gut, dass ich dich so sehr mag. Auch wenn du manchmal wie ein umherwandelndes Geheimnis bist, Tara.«
Plötzlich wurde es voll in der Küche, als andere Partygäste hineinstürmten.
»Was ist denn hier los?«
»Wooow, es gibt Kuchen!«
Alle redeten durcheinander und nahmen sich ein Stück, sodass die Torte im Handumdrehen aufgegessen war. Ich stand bloß da, beobachtete Lilly und die anderen Leute dabei, wie sie Small Talk hielten und Spaß hatten, als wäre es das Leichteste auf der Welt.
Ich zwang mich dazu mitzumachen, unterhielt mich und verdrängte dabei die Tatsache, dass ich nicht wusste, ob heute überhaupt mein Geburtstag war.
Sonnenstrahlen wärmten mein Gesicht, draußen zwitscherten Vögel und der Geruch von frischen Croissants stieg mir in die Nase. Mein Magen knurrte unaufhörlich und ließ mir keine Ruhe, weshalb ich widerwillig die Augen öffnete. Dabei hätte ich das Bett am liebsten nicht verlassen und hätte ignoriert, dass ich jetzt offiziell fünfundzwanzig Jahre alt war.
Irgendwie beschrieb die Fünfundzwanzig dieses Mittendrin im Leben, und irgendwie auch nicht. Die Ersten waren mit dem Studium fertig, hatten Nine-to-five-Jobs und taten so, als hätten sie das Leben im Griff. Andere reisten um die Welt, erlebten neue Abenteuer und ließen sich treiben, anstatt an den nächsten Morgen zu denken. Wieder andere planten Familie, bekamen Kinder und bauten Häuser.
Und dann war da ich. Ich studierte noch, war in einer langjährigen Beziehung und gab alles dafür, um Anwältin zu werden. Das klang doch alles perfekt, oder? Das Studium war mein kompletter Lebensinhalt. Es gab mir Halt, Sicherheit und eine Routine, in der kein Ungleichgewicht existierte. Wenn da nicht mein Geburtstag wäre …
»Wie ich sehe, bist du wieder weit weg in deinen Gedanken.«
Eine vertraute Stimme drang an mein Ohr, und ich blinzelte hastig, um mich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren.
Leon saß auf der Bettkante und sah mich an. »Deine Eltern haben schon angerufen und gefragt, wann wir nachher kommen.«
»Gar nicht«, stöhnte ich und ließ mich zurück in die Kissen fallen. »Können wir nicht einfach hier im Bett liegen bleiben?«
»Das würde ihnen das Herz brechen«, meinte Leon schlicht. »Du weißt doch, wie sehr sie Geburtstage lieben.«
Wie so ziemlich jeder.
»Tut mir leid, dass ich gestern nicht zur Party konnte, um mit dir reinzufeiern. Es gab noch so viel zu tun, und ich habe die Zeit aus den Augen verloren.«
»Kein Problem«, antwortete ich. »Du weißt ja, dass mir der Tag sowieso nichts bedeutet.« Ich lächelte darüber hinweg, dass ich ihn trotzdem gern gesehen hätte. Wir verbrachten sowieso schon so wenig Zeit miteinander.
»Hat es sich denn gelohnt?«, fragte er.
Ich nickte, um gute Miene zum bösen Spiel zu machen. »Lilly hat mir extra einen Kuchen gebacken und ihn mitgebracht. Das war echt total lieb von ihr.«
»Wer ist Lilly?«
Ich richtete mich wieder auf und blickte in Leons blaue Augen. Auf sein glatt rasiertes Gesicht, die gestylten blonden Haare und das weiße Hemd, das nicht eine Falte hatte. Ich kannte niemanden, der an einem Samstagmorgen so schick war wie mein Freund.
»Das war ein Witz«, schob Leon hinterher. »Natürlich weiß ich, dass Lilly seit dem ersten Tag an der Uni deine beste Freundin ist.«
Am liebsten hätte ich etwas darauf erwidert, was dann vermutlich in eine Diskussion ausgeartet wäre, für die ich gerade keine Kapazität besaß. Ich räusperte mich und lenkte meine Aufmerksamkeit auf das Frühstück. Auf die Wassermelone ohne Kerne, wie ich sie am liebsten aß. Außerdem gab es noch Hummus und Marmelade. »Das sieht lecker aus.«
»Happy Birthday, Tara.« Er beugte sich vor und küsste mich flüchtig. »Hast du deine Einkaufsliste für heute schon geschrieben? Wenn du gefrühstückt hast und so weit bist, können wir direkt los.«
Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war nicht mal zehn und Leon war jemand, die To-dos gern schon mittags fertig hatte. Mir ging es nicht anders, aber am Wochenende schlief ich gerne mal aus oder genoss die gemeinsame Zeit in unserer Wohnung.
Als Antwort lächelte ich matt und widmete mich dem Frühstück.
»Setzt du dich noch zu mir?«, fragte ich, als Leon aufstand und sich Hoffnung in mir breitmachte.
Wenigstens einen kleinen Moment kann er doch Zeit für mich haben.
Leon überhörte meine Frage, wandte sich ab und verließ das Schlafzimmer.
*
Heißes Wasser prasselte auf meine Schultern und ich seufzte. Sofort entspannte ich mich etwas, und ich konnte alles loslassen, was mich beschäftigte. Am liebsten duschte ich so heiß, dass es fast nicht mehr auszuhalten war, nur dann fühlte ich mich am Ende wieder frisch und energiegeladen. Um nicht zu viel Zeit zu verlieren, wusch ich mir schnell die Haare und den Körper und stellte den Strahl wieder aus.
Viel besser. Jetzt fühlte sich alles wie ein Neustart an, so, als hätte ich mich resettet und wäre in der Lage, den Tag so zu nehmen, wie er kam.
Ich wischte über den beschlagenen Spiegel, betrachtete meine Silhouette auf der feuchten Fläche. Schlieren bildeten sich und das Bild wirkte verzerrt. Mein Blick suchte nach etwas und wanderte ziellos über das Gesicht der jungen Frau, die mir entgegenschaute. Ich betrachtete die markanten schwarzen Augenbrauen und dunklen Augen, den kurzen Nasenrücken mit der rundlichen Nasenspitze. Die vollen Lippen, die dunkle Haut. Meine Haare waren noch im Handtuch eingewickelt, die Spitzen würden sonst bis zum unteren Rücken fallen.
Ich sah mich. Als Anwältin, die für das Recht anderer Menschen kämpfte. Die morgens Matcha-Latte trank, in ihrer Freizeit Yoga machte und das Leben umarmte. Die gern reiste und auch nach zehn Jahren ihren Freund genauso liebte wie damals beim allerersten Kuss.
Ich sah mich, sah das alles.
Mein Herz klopfte vor Aufregung, weil ich mir wünschte, dass diese Zukunft bereits meine Gegenwart war. Am liebsten hätte ich schon zehn Schritte übersprungen, um am Ziel zu sein.
Tropfen liefen über den Spiegel und der Wasserdampf verflüchtigte sich allmählich. Das Bild vor mir wurde klarer, ich starrte mein Ebenbild an und warf mir ein Lächeln zu. Heute, an diesem speziellen Tag, war alles immer so anders. Und genau das wollte ich nicht. Ich wollte nicht aus dem Konzept gebracht werden, sondern es einfach überstehen, abhaken und weitermachen.
Deshalb ging ich gedanklich die Einkaufsliste und die Planung für den weiteren Tag durch, denn meine Eltern würden sich mindestens genauso viel Mühe machen wie Lilly gestern.
Da fiel mir ein …
Ich nahm mein Handy in die Hand, um ihr zu schreiben.
Hey Lilly-Maus, ich wollte dir noch mal sagen, wie lecker die Torte war. Ich brauche unbedingt das Rezept! Und sowieso danke für alles. Wenn wir das nächste Mal feiern gehen, habe ich bessere Laune. 😉
Das freut mich. Du sahst auch endlich zufrieden aus, als du die Torte gegessen hast!
Sie tippte erneut und schickte mir dann ein Bild.
Vielleicht muss ich dir noch beichten, dass du die Torte einfach kaufen kannst. 😀 Als ob ich backen könnte.
OMG, ICHWUSSTEES!
Hihi … Hab heute einen schönen Tag, egal, wie du ihn angehst.
Werde ich haben. Ich melde mich bald für die nächste Worksession!
Lachend legte ich das Handy beiseite und beschloss, auf jeden Fall diese Torte zu kaufen, als ich ins Schlafzimmer ging, um mich anzuziehen. Für den nächsten Grey’s-Anatomy-Marathon, der nicht lange auf sich warten ließ.
Ich zog eine schwarze Chinohose und ein weißes T-Shirt aus dem Schrank, betonte meine Augen mit Goldfarbe und flocht die Haare zu einem französischen Zopf. Mit einem roten Lippenstift rundete ich den Look ab und war bereit, vor die Tür zu gehen.
Leon saß in der Küche am Laptop. Wie ich ihn kannte, arbeitete er ein paar Sachen ab. Ich ging zu ihm hinüber, um ihm um den Hals zu fallen.
»Hey, du.« Er gab mir einen Kuss auf den Mund und drückte mich fest an sich. Ich atmete sein teures Parfüm ein und schmiegte die Wange an seine Brust, um seinen Herzschlag zu hören. Ich wusste, dass Leon es nicht so gern hatte, aus Angst davor, mein Make-up würde Flecken auf seinem Hemd verteilen. Aber das war mir egal, denn ich brauchte seine Nähe.
»Können wir nicht hierbleiben?«, murmelte ich.
»Leider nein. Deine Mutter hat mir schon Fotos von der Dekoration gezeigt. Dieses Jahr ist sie gelb und weiß.«
»Wie schön, dass du mehr Bescheid weißt als ich.«
»Keine Sorge, es wird dir gefallen.«
Ich löste mich aus der Umarmung und ließ die Schultern hängen. Leon nahm mein Gesicht in seine Hände und streichelte mit beiden Daumen über meine Haut. Auch wenn ich manchmal traurig darüber war, dass Leon so viel arbeitete und er seine Marotten hatte, konnte ich mir niemand anderen an meiner Seite vorstellen.
»Komm schon, wir gehen jetzt schnell einkaufen, und dann warten tolle Geschenke auf dich.«
»Du sollst mir nichts schenken. Das sage ich meinen Eltern auch jedes Jahr.«
»Wir lieben dich, also nimm es an.« Leon grinste frech. »Es wird dir gefallen.«
»Na gut.«
Letztlich freute ich mich ja auch – nicht nur wegen der Geschenke. Meine Familie machte sich Gedanken darum, wie sie mir den Tag verschönern konnte, und das sollte am Ende im Vordergrund stehen. Ihre Bemühungen und ihre Liebe für mich.
Ich erwiderte sein Lächeln und nahm seine Hand, die er mir reichte. Wir waren damals fünfzehn gewesen, als wir zusammengekommen waren, und dieses Jahr hatten wir unseren zehnten Jahrestag gefeiert. Im letzten Frühjahr hatte Leon seinen Master in BWL gemacht und arbeitete nun an der Frankfurter Börse. Seitdem trug er die meiste Zeit schicke Anzüge und durch seine Größe von ein Meter achtzig, die hellen blauen Augen und seine rationale Art wirkte er manchmal unnahbar. In seinem Job brauchte er diese Haltung, weshalb er so erfolgreich darin war, und ich kannte niemanden, der Zahlen so sehr liebte wie Leon. Zahlen und Stabilität, wie er immer sagte. Wenn ich in meinen Listen, Terminplänen und Remindern unterzugehen drohte, dann war er die Stimme der Vernunft. Leon brachte mich schnell wieder auf den richtigen Weg, sodass ich gar nicht erst in das typische Overthinking hineingeriet. Seine Struktur half mir dabei, mir bewusst zu machen, dass harte Arbeit sich auszahlte. Er sprach oft davon, dass wir irgendwann zu den oberen zehn Prozent gehören würden, und tat alles, damit diese Vorstellung zur Realität wurde. Ich genoss diese Art von Sicherheit. Leon an der Börse und ich mit meiner eigenen Anwaltskanzlei. Obwohl ich manchmal zweifelte, schaffte Leon es, mir vor Augen zu führen, dass meine Unsicherheiten unbegründet waren.
Wir schlenderten durch das Westend von Frankfurt, die Sonne versteckte sich hinter ein paar Wolken, und ich genoss die Zeit mit ihm. Bis wir an einem Tattoostudio vorbeikamen und ich abrupt stehen blieb.
»Was ist los? Jetzt sag nicht, dass du wieder über diese Albernheit nachdenkst? Was ist es diesmal? Bitte nicht diese Muster, die du manchmal zeichnest.« Leon sah ungeduldig auf die Uhr. »Wenn du heute Abend pünktlich zu deiner eigenen Party erscheinen willst, sollten wir uns mit dein Einkäufen beeilen.«
Ich fühlte mich ertappt und bereute es auf der Stelle, stehen geblieben zu sein. Eigentlich wollte ich weitergehen, doch ich war wie angewurzelt. Wenn er von diesen Mustern sprach, meinte er Mandalas, die ich gern selbst zeichnete – allerdings lieber heimlich, wenn Leon nicht dabei war. Seiner Meinung nach passte diese Art von Kunst nicht in unsere Welt und zu unserem Lebensstil. Dabei war es mein Safe Space. Nach einem langen Tag in der Uni konnte ich beim Zeichnen abschalten. Es gab dann nur meine Kreativität und meine Musik auf den Ohren.
»Ich will kurz sehen, wie die Zeichnungen aussehen.«
Ohne auf seine Drängelei zu achten, trat ich einen Schritt näher und meine Laune hob sich automatisch. Im Schaufenster waren etliche Fotos und Zeichnungen ausgestellt, um den Kundinnen und Kunden eine Vorstellung zu geben, auf welche Art tätowiert wurde. Fine-Line, Lettering, Cover-up … Die Liste war endlos. Hier lag das Hauptaugenmerk eher auf Lettering.
»Tara, komm schon!«, rief Leon beharrlich, und ich riss mich von den Tagträumen los.
Ich seufzte leise und ließ den Blick noch so lange wie möglich auf den Skizzen, während Leon mich schon weiterzog. Er hatte sowieso recht – Tattoos passten nicht in unsere Welt.
*
»Herzlichen Glückwunsch, Tara!«
Kaum trat ich über die Türschwelle, da zogen mich meine Eltern in eine überschwängliche Umarmung. Ich atmete den vertrauten Geruch von Zuhause ein. Sofort fühlte ich mich geborgen, und die durch meine Identitätskrise erregten Selbstzweifel gaben kurz Ruhe.
»Danke euch.«
Wir lösten uns voneinander, und Mama nahm die Box mit den Cupcakes entgegen, die Leon in den Händen hielt.
»Ich habe doch gesagt, dass du nichts backen sollst. Es ist dein Geburtstag.« Sie warf mir einen anklagenden Blick zu, ehe sie lächelte. »Die sehen wundervoll aus. Da mag man überhaupt nicht reinbeißen.«
»Und ob wir da reinbeißen«, antwortete ich. »Wir mussten durch die halbe Stadt rennen, um alle Zutaten zu finden.«
Es handelte sich um meine liebsten Oreo-Cupcakes, und irgendwie waren in jedem Laden die Kekse ausverkauft gewesen.
Ich folgte meinen Eltern durch den Flur, bis wir ins Wohnzimmer traten und ich direkt auf die vielen Fotos sah, die an den Wänden hingen. Urlaube in Frankreich und Italien, meine Einschulung, der Tag des Abiballs. Kleine Momente im Garten im Planschbecken, auf der Schaukel oder im Sandkasten. Alles eingefangen für die Ewigkeit. Sie erinnerte mich daran, wie viel Liebe es hier gab, deshalb liebte ich diese Ewigkeit. Heute war es anders. Die Fotos zeichneten mein Leben nach, von den ersten wackeligen Versuchen auf dem Fahrrad ohne Stützräder, mein Vater die Arme zu einem breiten V ausgestreckt, bis hin zum Tag meiner Führerscheinprüfung … Wenn nur diese Leerstelle nicht wäre. Es gab kein Foto von mir als Baby. Nicht ein einziges. Ich hielt vor dem ersten Foto der Serie inne: Mama und Papa hielten mich jeder an einer Hand, ich in der Mitte. Mein kleines Ich schwang die Beine zum Engelein flieg in die Höhe. Mama, Papa, ich. Wir drei. Und davor? Nichts.
Mein Brustkorb wurde schwer, denn ich spürte diese Lücke, die sich nicht schließen ließ. Ganz egal, wie sehr ich es versuchte. Es änderte nichts daran, dass es keine Babyfotos von mir gab. Heute war auch der einzige Tag, an dem ich die Unterschiede in der Familie wahrnahm. Meine Eltern hatten beide helles Haar, Papa braune Augen, Mama grüne. Wenn man uns als Familie sah, wusste jeder auf den ersten Blick, dass ich adoptiert war. Heute sah ich es auch.
Vor ein paar Jahren hatten meine Eltern ein behutsames Gespräch mit mir über die genauen Umstände der Adoption geführt. Das geschätzte Geburtsdatum war Thema gewesen und dass dieses Vorgehen etwas Normales in Nepal war, wenn Kinder mit unbekannter Herkunft adoptiert wurden. Es gab keine Geburtsurkunden oder Dokumente, die Zahlen und Fakten aufwiesen, sodass viele dort nicht wussten, wie alt sie tatsächlich waren. Meine Eltern schlugen vor, dass ich zusammen mit ihnen nach Kathmandu flog, um meine Wurzeln kennenzulernen. Ohne lange nachzudenken, hatte ich abgelehnt. Ich gehörte hierher. Was sollte ich in Nepal?
Schnell wandte ich den Blick ab und trat nach draußen auf die Terrasse. Sofort fiel mir die gelb-weiße Dekoration ins Auge, und ich lächelte. Überall waren Lichterketten und Luftballons angebracht, auf dem Tisch standen frische Sonnenblumen, wie jedes Jahr, und mir wurde warm ums Herz, denn es waren meine Lieblingsblumen. Ich liebte die endlosen Felder, auf denen sie wuchsen, und dass sie unter anderem für Freiheit standen.
Die Kombination mit der weißen Tischdecke hätte nicht stimmiger sein können. Auf einem langen Tisch in der Nähe des Grills gab es ein kleines Salatbuffet, Brote und Dips.
»Ich hoffe, ihr habt Hunger mitgebracht.« Papa deutete mit einer Kopfbewegung auf meine Mutter. »Hier wurde für eine Großfamilie aufgetischt. Ihr könnt nachher reichlich mit nach Hause nehmen, denn das werden wir vier niemals alles schaffen.«
»Wie jedes Jahr also.« Ich schmunzelte. Wir feierten im kleinsten Kreis, aber zu essen gab es immer viel zu viel. Leon beklagte sich darüber, weil er nicht gern Reste aß und lieber frisch kochte. Ich wiederum war froh, nicht vorm Herd stehen zu müssen, und meistens schmeckten die Reste sogar noch besser als am Vortag.
Mama stellte die Cupcakes dazu, legte einen Arm um meine Schultern und führte mich zu dem gedeckten Tisch. »Setz dich, Liebling. Ab jetzt ruhst du dich aus und lässt dich bedienen.«
Sie wusste genau, wie sehr ich es hasste, mich auszuruhen.
Während Papa grillte, erzählte ich von dem letzten Tag des Semesters, und Mama schnitt bereits den Kuchen an, den wir unbedingt vorab probieren sollten. Er schmeckte nach Kindheit, Liebe und vor allem Schokolade. Anschließend zogen wir die Geschenkübergabe vor, und Mama reichte mir freudestrahlend das erste Päckchen. Dankend nahm ich es an und merkte, wie alle Augen auf einmal auf mich gerichtet waren.
»Könnt ihr bitte wegsehen? Ihr wisst doch, dass ich es nicht mag, wenn man mich beobachtet.« Ich zog die Augenbrauen zusammen und Hitze stieg in mir hoch. Wie immer, wenn die Aufmerksamkeit auf mir lag.
»Komm, stell dich nicht so an. Im Gerichtssaal stehst du auch unter ständiger Beobachtung.« Leon machte eine flapsige Handbewegung, und ich spürte seine Ungeduld.
Ist ja gut.
Ich senkte den Blick und öffnete das Geschenk. Nach einigen Sekunden hielt ich eine neue Yogamatte in den Händen.
»Das ist die Matte, von der du immer gesprochen hast, oder? Du machst von der Fitnesstrainerin auch die Home-Workouts, richtig?« Mama war ganz aufgeregt.
»Oh, das wäre nicht nötig gewesen! Die Matte ist viel zu teuer.« Staunend begutachtete ich die petrolfarbene Matte von allen Seiten. Ich liebte sie schon jetzt. »Danke euch. Ich kann es kaum erwarten, darauf Sport zu machen.«
Meine Eltern waren die aufmerksamsten Menschen, die ich kannte. Selbst bei den kleinsten Details – wie meinem nur nebenbei erwähnten Wunsch nach einer Sportmatte – hörten sie zu, und das machte mich glücklich.
Als Nächstes überreichte Leon mir einen Umschlag. Stolz lag in seinen Augen und er wackelte mit dem rechten Bein.
»Hey, das muss ja ein Hammergeschenk sein, wenn du so nervös bist.« Ich legte meine Hand auf sein Knie, um ihn zu beruhigen. »Es wird mir so oder so gefallen, okay?« Vorsichtig öffnete ich den länglichen Umschlag und zog einen Brief heraus. »Ein Gutschein für ein Luxuswochenende in München«, las ich laut vor. Leon umarmte mich bereits, während ich mir den Satz dreimal in den Gedanken vorlesen musste, um ihn zu begreifen.
»Du hast dir eine Auszeit gewünscht«, sagte er. »Freust du dich?«
Ungläubig wechselte mein Blick zwischen ihm und dem Gutschein. Seit er an der Börse arbeitete, waren teure Geschenke für ihn zur Normalität geworden. Es kam oft genug vor, dass ich mich damit unwohl fühlte, weil ich nur von meinen Aushilfsjobs als Kassiererin bei Rewe und als Babysitterin lebte, um damit einen Teil des Studiums zu finanzieren. Ich kaute auf meiner Unterlippe und traute mich plötzlich nicht mehr, ihn anzusehen. Aus Angst, er könnte merken, dass mir schwindelig von diesem Geschenk wurde.
»Ja, total. Aber ist das nicht viel zu teuer?«
Leon winkte ab. »Mach dir keine Sorgen. Du weißt ja, dass Geld bei uns keine Rolle spielt.«
Er küsste mich erneut und wandte sich dann dem Grillgut zu, das mein Vater im selben Moment auf den Tisch stellte. Ich schob den Gutschein zurück in den Umschlag und seufzte leise. Mit einer Auszeit hatte ich ein Wochenende am Meer gemeint oder in den Bergen, aber keinen Städtetrip in Deutschlands Luxusstadt. Mit ihm darüber zu sprechen, wäre allerdings sinnlos, denn er liebte es, Geld auszugeben, und machte auch kein Geheimnis daraus, wie gut er verdiente. Für den Moment nahm ich es so hin, in Zukunft sollten wir darüber noch mal reden.
»Du wirst die Maximilianstraße lieben«, schwärmte er weiter. »Ich sehe das schon vor mir, wie wir den ganzen Tag shoppen und abends Sushi essen gehen. Ich habe schon das Restaurant mit den besten Bewertungen herausgesucht. Es wird perfekt.«
Leons Augen leuchteten förmlich, so überschwänglich erlebte ich ihn selten. Während er weiter von München redete, bemühte ich mich, mir seine Ideen vorzustellen, ein Bild vor meinem inneren Auge hervorzurufen – ich in München, in den Händen Tüten von teuren Geschäften und mit Leon an meiner Seite. Vielleicht klang die Idee gar nicht so schlecht, und ich würde eine Auszeit vom Alltag bekommen, die mir sicherlich guttat. Vor allem uns. Dann würden nur wir zählen, und es gäbe keine Meetings oder Telefonate, die Leon ständig beantworten musste. Ja, je länger ich daran dachte, desto mehr freute ich mich darauf.
Im selben Moment vibrierte mein Handy in der Hosentasche, doch ich ignorierte es. Bestimmt ein Geburtstagsgruß, der warten konnte.
Allerdings hörte es nicht auf, und ich nahm das Handy aus der Tasche, um die Nachrichten zu lesen. Ich musste zweimal hinsehen, um zu verstehen, dass mir jemand auf Englisch über Facebook geschrieben hatte. Wer nutzt denn heute noch Facebook?,dachte ich.
Liebe Tara,
die Nachricht kommt wie aus dem Nichts und erschreck dich nicht, okay? Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich bei dir richtig bin.
Ich bin Kiran, dein Bruder.
Meine Hände zitterten und ich starrte mit großen Augen auf das Display. Ich bin Kiran, dein Bruder.
Die Zeilen gingen noch weiter, aber ich drückte sie weg und legte das Handy eine Spur zu heftig auf den Tisch. Mit dem Display nach unten, damit ich so tun konnte, als hätte ich diese Nachricht nicht gelesen. Das Gespräch um mich herum verwandelte sich in ein Gemurmel, aus dem ich kein klares Wort mehr herausfilterte. Mein Kopf war wie in Watte gepackt, ich starrte bloß auf meine Hände und wartete darauf, dass mir das Herz aus der Brust sprang.
Ich habe mich bestimmt nur verlesen, oder? ODER?
Erneut öffnete ich die App. Die Worte standen klar und deutlich dort. Auf Englisch und dennoch verständlich.
Meine Kehle war staubtrocken, alles drehte sich, und ich hoffte, dass jemand mit der versteckten Kamera vor mir auftauchte. Dass jemand April, April rief, obwohl wir Juli hatten.
Aber nichts passierte. Die Sekunden verstrichen, und ich saß hier, atmete ein und aus und alles blieb gleich.
Und dann realisierte ich es.
Ich bin Kiran, dein Bruder …
Dein Bruder.
Ich hatte einen Bruder?
Seit zwei Stunden war mein Handy aus. Und seit zwei Stunden saß ich hier mit meiner Familie, lächelte und tat so, als hätte nicht eine einzige Nachricht einen Wirbelsturm in mir verursacht. Ich redete mir ein, dass es sich um ein Versehen handelte, um eine Verwechslung, und dass nicht ich gemeint war. Es gab genug andere Taras in Deutschland, warum also ich? Die Chance darauf stand bei … Es spielte keine Rolle. Es. War. Eine. Verwechslung.
Um Klarheit zu bekommen, hätte ich nur mein Handy wieder einschalten müssen. Stattdessen ließ ich den inneren Sturm toben und tat alles, um mich abzulenken, damit niemand bemerkte, was in mir vorging. Bevor Mama die Möglichkeit bekam, den Tisch abzuräumen, sprang ich auf und nahm ihr die Arbeit ab. Stapelte das Geschirr, bediente meine Familie mit Getränken und schmiedete Pläne über München, die mein Herz nicht erreichten. Ich hörte krampfhaft zu, beteiligte mich an Gesprächen, ohne zu wissen, was ich eigentlich sagte.
Das war egal. Wenn ich alles genauso machte wie vor zwei Stunden, dann blieb alles unverändert. Zumindest redete ich mir das ein.
Leon nahm meine Hand, drückte sie leicht, und ich konzentrierte mich auf seine warme, weiche Haut.
»Deine Hand ist ja eiskalt! Geht es dir gut?« Er blickte auf meine Finger, die sich ganz taub anfühlten. »Tara?«
»Was?«
»Tara, du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen. Was ist los?« Jetzt meldete sich auch mein Vater zu Wort.
Ich sah sie alle nach der Reihe an, ohne ein Wort zu sagen. Mein Mund war wie zugeklebt. Innerlich schrie ich, und das Chaos tobte, ich wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Bis vor zwei Stunden hatte ich nicht mal geahnt, dass ich einen Bruder hatte, und jetzt überforderte mich diese Tatsache so sehr, dass ich kaum atmen konnte. Die Blase, in der ich mich all die Jahre befunden hatte, war mit einem lauten, nur für mich hörbaren Knall zerplatzt, und es gab keine Möglichkeit, sie wieder zu verschließen. Ich knetete unaufhörlich meine Finger, um das Zittern zu verbergen und es gleichzeitig unter Kontrolle zu bringen.
Doch je länger ich versuchte, meine Welt aufrechtzuerhalten, desto größere Risse bekam sie. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und stand auf.
»Sorry, mir ist gerade nicht gut. Ich komme sofort wieder.«
Ich wartete keine Antwort ab, sondern sprang auf und flüchtete nach oben in mein altes Kinderzimmer. Es sah immer noch aus wie damals vor meinem Auszug vor drei Jahren. Die gleichen schneeweißen Vorhänge, der graue Fransenteppich und die typische Ikeabettwäsche mit Blumenprint. Ich setzte mich aufs Bett, nahm das Handy in die Hand und hielt inne. Mir war übel, und mein Herz klopfte so schnell, dass ich das Blut in den Ohren rauschen hörte.
Es vergingen einige Minuten, zehn oder fünfzehn, ich hatte keine Ahnung. Wahrscheinlich fragte sich meine Familie allmählich, wo ich blieb. Aber ich konnte noch nicht zurück. Nicht jetzt, nicht so und vor allem nicht, weil ich mich anschließend erklären müsste. O Gott, was sollte ich ihnen sagen?
Hey, mir hat gerade mein Bruder geschrieben? Mein Bruder?
Das war doch völlig absurd. Irgendetwas kollidierte hier gerade gewaltig miteinander, es war wie ein Erdbeben, und ich befand mich mittendrin.
Ich hatte einen Bruder. In Nepal. Das Land, in dem ich geboren worden war.
Wie konnte das sein? Alles, was ich brauchte, war hier. Meine Eltern, die alles für mich taten. Mein Freund. Ich war zufrieden und mir fehlte es an nichts.
Und jetzt? Es kam mir vor, als hätte ich mein Leben lang eine weiße Weste getragen, die nun plötzlich einen dicken Klecks Farbe abbekommen hatte. Unübersehbar, mitten auf der Brust.
Natürlich brachte es nichts, sich zu verstecken und darauf zu warten, dass dieses Chaos in mir von allein verschwand, denn das würde es nicht. Jedoch brauchte ich einen Moment, um mich zu sortieren und durchzuatmen. Leon sagte immer, ich müsste daran arbeiten, nicht so emotional zu reagieren. Als Anwältin würden mir meine Gefühle sonst irgendwann das Genick brechen. Leider war das leicht gesagt.
Ein, zwei Sekunden starrte ich noch auf das schwarze Display, ehe ich das Handy wieder zum Leben erweckte. Sofort ploppten weitere Geburtstagswünsche auf, die vor meinen Augen verschwammen.
Ich hätte die Nachricht einfach ignorieren können. So tun, als hätte ich sie mir bloß eingebildet. Oder die Person einfach blockieren, weil es sich bestimmt um einen schlechten Scherz handelte. Aber was tat ich? Ich öffnete Facebook und wusste nicht, warum. Ich handelte fremdbestimmt, als hätte meine Seele den Körper für ein paar Sekunden verlassen.
Alles in mir spannte sich an, ich drückte den Rücken durch und versuchte, die Fassung zu bewahren, als ich mir sein Profilbild ansah. Es war das einzige Foto, auf das ich Zugriff hatte, und doch reichte es aus, um die Ähnlichkeit zu erkennen.
Kiran Bhandari.
Wir hatten den gleichen kurzen Nasenrücken, die großen braunen Augen und ein Wangengrübchen auf der rechten Seite. Kirans Haare waren genauso dunkel und voll wie meine, und sein Lächeln wirkte selbstbewusst. Ich schätzte ihn ein oder zwei Jahre älter als mich, allerdings war es schwer, das auf Grundlage eines Fotos zu schätzen.
Ich hatte noch immer die Chance, es hier einfach zu beenden. Die letzten Stunden zu verdrängen, weiterzumachen und morgen wäre alles beim Alten. Kein Erdbeben, das plötzlich meine ganze Welt ins Wanken brachte.
Aber in mir brodelte eine unerwartete … Neugier? Ich musste wissen, wie seine genauen Worte lauteten, um überhaupt den Kontext zu verstehen. Mein zitternder Daumen schwebte einige Sekunden über dem Chat, dann tippte ich in einer hastigen Bewegung darauf und ein langer Text erschien.
Tara, wir kennen uns nicht und trotzdem schreibe ich dir. Bitte lies dir meine Nachricht bis zum Ende durch, und keine Angst: Ich will dir nichts andrehen oder dich stalken, auch wenn es vielleicht so wirkt. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich dir schreiben soll, und war mir immer wieder unsicher, ob du es wirklich bist. Doch wenn ich deine Fotos ansehe, dann besteht kein Zweifel.
Ich weiß nicht, ob du von mir weißt, doch ich weiß von dir. Und all die Jahre habe ich mich immer wieder gefragt, wie es dir geht und was du so machst.
Ich bin Kiran, dein Bruder.
Wahrscheinlich fragst du dich, wie ich dich gefunden habe, und ich kann verstehen, wenn das alles plötzlich kommt. Ich versuche, es knapp zu erklären.
Vor ein paar Wochen habe ich meiner Mutter geholfen – unserer Mutter –, ein paar alte Unterlagen zu sortieren. Dabei ist mir eine Mappe mit Dokumenten in die Hände gefallen, die mit deiner Adoption zu tun haben. In den Dokumenten fand ich die E-Mail-Adresse deines Adoptivvaters, die Vor- und Nachname enthielt. Erst war ich unsicher, ob ich dich suchen soll, doch ich musste immer wieder an dich denken und begann zu recherchieren. Als ich dein Foto auf Facebook gesehen habe, war ich mir auf der Stelle sicher, dass du meine Schwester bist.
Ich erwarte nicht, dass du mir sofort antwortest. Nimm dir ein paar Tage Zeit, um die Nachricht zu verdauen. Ich würde mich freuen, von dir zu hören und mit dir in Kontakt zu treten.
In Liebe
Kiran
Ich las mir die Nachricht so oft durch, bis ich sie beinahe auswendig konnte und die Bedeutung dahinter verstand. In Nepal gab es Menschen, die von mir wussten. Ich hatte dort einen Bruder und eine Mutter, für die ich die letzten fünfundzwanzig Jahre existiert hatte. Und sie hatten nach mir gesucht, weiß Gott schon wie lange. Ich hingegen hatte mir nie Gedanken gemacht, ob es Tausende Kilometer entfernt noch Menschen gab, denen ich etwas bedeutete. Gott, das klang furchtbar. Als wäre ich der gefühlskälteste Mensch auf Erden.
Gleichzeitig war mir ganz tief im Unterbewusstsein immer klar gewesen, dass ich irgendwo Familie haben musste und es diese andere Seite gab. Es war aber leichter gewesen, die Türen zu meiner Herkunft verschlossen zu halten, aus Angst vor der Wahrheit. Doch mit dieser Nachricht hatte sich alles geändert, die Tür wurde aufgestoßen, und ich stand vor ihr, ohne zu wissen, was ich tun sollte.
Ich hatte einen Bruder. Eine Mutter.
Meine Fingerspitzen kribbelten, als würden Ameisen über meine Haut laufen. Es breitete sich auf meinen Armen aus, über den Rücken und hinab zu meinen Beinen und Füßen. Nein, das waren keine Ameisen, es war eine Lawine aus Wut, die in mir brodelte.
»Warum ausgerechnet heute?«
Ausgerechnet an meinem Geburtstag, wo ich nur Normalität gewollt hatte. Ich schaltete das Handy wieder aus, saß stocksteif auf dem Bett und starrte ins Leere.
Die Zeit verstrich, ich atmete tief durch und wartete, bis das Kribbeln auf meiner Haut langsam verebbte. Es war zwar immer noch da, länger hier sitzen bleiben konnte ich jedoch auch nicht. Da draußen wartete schließlich die Realität, in der ich meinen Geburtstag feierte und gute Miene zum bösen Spiel machen musste. Ich strich mir die Haare glatt, zupfte mein Shirt zurecht und beschloss dann, den restlichen Abend irgendwie hinter mich zu bringen.
Allerdings würde ich vorerst niemandem von der Nachricht erzählen. Nicht bevor ich entschieden hatte, wie ich damit umgehen wollte.
*
»Das war doch ein schöner Geburtstag, oder?« Leon schloss hinter uns die Tür unserer Wohnung und kam auf mich zu.
Gerade rechtzeitig setzte ich ein Lächeln auf und ließ mich von ihm in eine Umarmung ziehen. Normalerweise erdete mich seine Nähe und half dabei, meine Gefühle zu ordnen, aber ich war zu erschöpft. Meine Beine schmerzten, als wäre ich einen Marathon gelaufen, und ich sehnte mich nur noch danach, mich unter der Bettdecke zu verstecken. Immerhin war ich wieder in meinen eigenen vier Wänden. Der Tag war vorbei, und ich konnte ihn abhaken.
Wir taumelten zusammen in den Flur, Leon strich mir über den Rücken. Ich schloss die Augen, denn an der Art, wie langsam er mit den Fingern über den Stoff meines Shirts fuhr, erkannte ich seine Intention. Es war der denkbar schlechteste Moment, mich jetzt auf Zärtlichkeiten einzulassen, weil ich so ausgelaugt war. Gleichzeitig merkte ich, wie sehr ich mich danach sehnte. Wie sehr ich es vermisste, von Leon berührt zu werden. Vor allem, was Intimität anging. Ich konnte mich gar nicht daran erinnern, wann wir das letzte Mal miteinander geschlafen hatten.
Alles, was ich wollte, war Normalität. Ich wollte mich nicht davon beeinflussen lassen, was heute passiert war, denn es spielte keine Rolle. Das Hier und Jetzt zählte. Leon und ich und die Zeit, die wir füreinander hatten. Ich löste mich ein Stück von seiner Brust und sah ihm in die Augen.
»Weißt du, der Abend ist noch nicht zu Ende«, sagte er und lächelte. Es war ein Lächeln, das er viel zu selten zeigte.
»Ist das so? Was schwebt dir denn vor?«
Leon hauchte mir einen Kuss auf die Lippen, wartete auf meine Zustimmung, die ich ihm gab, in dem ich den Kuss erwiderte und meine Arme um seinen Hals schlang. Und dann schaffte ich es, mich dem Augenblick hinzugeben.
*
In der Nacht fand ich keinen Schlaf. Der Mond schien durch die Vorhänge, das weit entfernte Hupen und eine miauende Katze unten auf der Straße nahm ich überdeutlich wahr, und egal, auf welche Seite ich mich wälzte, alles fühlte sich falsch an. Ich hatte wirklich gehofft, Leons Nähe würde mir helfen, etwas zur Ruhe zu kommen. Stattdessen hatte ich mich noch nie so weit entfernt von ihm gefühlt wie in den letzten Stunden. Ich drehte den Kopf zur Seite, um ihn anzusehen. Wenn Leon schlief, waren das die einzigen Stunden, in denen er nicht gestresst wirkte. In den letzten Monaten hatte er deutliche Stirnfalten bekommen, und das lag nicht unbedingt am Älterwerden. Als das Mondlicht auf seine kantigen Züge fiel, wirkte er plötzlich ganz fremd. So, als würde er auf einer anderen Seite stehen, die ich nicht kannte, und ich versuchte, ihn zu erreichen. Egal, was ich tat, mit jedem Schritt entfernte er sich automatisch weiter von mir. Als würde er nicht wollen, dass wir uns wieder näherkamen.
Als ich diese Gedanken nicht länger ertrug, wandte ich mich wieder ab.
Alles ist gut. Alles ist wie immer.
Ich wollte es so gern glauben, aber dann musste ich an die Nachricht denken. Schnell vergrub ich das Gesicht im Kissen, grummelte vor mich hin und hoffte, auf der Stelle einzuschlafen. Was natürlich nicht passierte, denn längst war der Gedanke an Kiran wieder präsent.
Welche Optionen hatte ich, um damit klarzukommen?
Ohne weiter zu überlegen, stand ich auf, nahm mein Handy und schlich ins Wohnzimmer. Ich ließ mich auf die Couch fallen, öffnete die Notiz-App und fing an, eine Liste zu schreiben. Das war der beste Weg, um wieder Ordnung in meinem Kopf zu schaffen.
Option A: Die Nachricht löschen und Kiran blockieren.
Option B: Die Nachricht nicht löschen und Kiran antworten.
Ich stieß ein frustriertes Stöhnen aus. Option A gefiel mir deutlich besser.
Nur war sie auch die richtige?
Durch die Terrassentür wehte eine warme Brise herein. Es war ruhig an diesem Morgen und das, obwohl es in Frankfurt eigentlich immer laut und hektisch zuging.
Letztlich war ich auf der Couch eingeschlafen und jetzt schon wieder wach, weil ich keine Ruhe fand. Die Uhr zeigte fünf nach sieben, als ich mit einem schmerzenden Rücken aufstand. Meine Schultern waren verspannt, und ich drehte den Kopf nach links und rechts, um sie etwas zu lockern. Auch ohne in den Spiegel zu sehen, wusste ich, wie sehr meine Augen geschwollen waren, und ich brauchte einen Moment, um klar sehen zu können.
Nach einer schnellen Dusche zog ich mir meinen liebsten Oversized-Pullover an, dessen Aufschrift schon verwaschen war. Aber ich hing an diesem Ding, seit ich ihn gekauft hatte, denn ich trug ihn immer während der langen Nächte am Schreibtisch. Er war mal dunkelblau gewesen, mit einem Yale-Schriftzug.
Danach widmete ich mich einer Sache, die bloß mir allein gehörte. Eine Sache, bei der ich am besten abschalten konnte und alles um mich herum vergaß. Mein Safe Space, obwohl es sich wie ein Geheimnis anfühlte, weil ich keine Künstlerin war und nie eine sein würde. Es war ein Hobby, das Zeit fraß, aber keine nennenswerten Ergebnisse brachte. Ich zeichnete viel zu selten, nahm mir nie genug Raum dafür, um mich fallen zu lassen und nur das zu tun, was ich wollte. Doch jetzt, an diesem frühen Morgen, war es das absolut Richtige. Leon, der mein Hobby stets belächelte, würde sowieso noch eine Weile schlafen.
Nach dieser Nacht war es definitiv nicht zu früh für Schokolade, also schnappte ich mir eine Packung Milka Vollmilch aus dem Küchenschrank. Im Augenwinkel sah ich meine Kopfhörer unter einem Stapel Hochglanzmagazine liegen. Unter anderem die neue Ausgabe der Men’s Health mit einem oberkörperfreien Mann auf dem Cover. Mit gerunzelter Stirn las ich die Coverlines. Das beste Fett-weg-Food und Der perfekte Sex-Tag.
Seit wann liest Leon denn so etwas? Irritiert schüttelte ich den Kopf. Eigentlich verschmähte mein Freund diese Art von Magazinen, da er sie für sinnlos hielt.
Zusammen mit den Kopfhörern und der Nervennahrung griff ich mir noch meine Zeichenutensilien aus meiner Unitasche, die im Flur hing, und setzte mich nach draußen auf die Dachterrasse.
Ich liebte es, wenn die Luft morgens nach Sommer roch und man noch nicht wusste, was der Tag versprach. Momente wie diese gehörten ganz mir und waren wie eine Auszeit, die ich nach gestern gut gebrauchen konnte. Ich setzte die Kopfhörer auf, startete meine Playlist und lauschte den ruhigen Klängen von Anchor, dem Song, den ich immer hörte, wenn ich zeichnete. Novo Amor lief in Dauerschleife, sobald ich den Stift in die Hand nahm.
Wenn ich einfach Tara war. Wenn alles ruhiger wurde und ich einfach ich war. Wer auch immer ich in diesem Moment war … Ich mochte diese Person.
Ohne ein Motiv im Kopf zu haben, zeichnete ich drauflos. Ich dachte nicht über die letzten Stunden nach und wie diese mir immer noch nachhingen. Gerade gab es bloß mich und meine Kreativität, alles andere existierte nicht. Als ich mir ein weiteres Stück Schoki nehmen wollte, griff ich ins Leere.
Wieso ist da auch immer so wenig drin?
Ich schmunzelte über meinen Schokokonsum und betrachtete das Bild. Ein verwobenes Mandala mit einer Initiale, die wohl nur ich erkennen würde. Ein K, umringt von Linien und Mustern, versteckte sich im Inneren des Kreises.
Erschrocken lehnte ich mich zurück, um es von einem anderen Blickwinkel zu betrachten, und runzelte die Stirn. Anscheinend hatte mein Unterbewusstsein bereits eine Entscheidung gefällt.
So viel zum Thema, du hast alles unter Kontrolle, Tara …
Ich nahm den Bleistift erneut in die Hand. Ich fand das Bild schön, auch wenn sich darin unwillkürlich ungewohnte Gefühle ihren Freiraum verschafft hatten. Unsicherheit, weil mich die Nachricht so aus der Bahn geworfen hatte. Ich spürte Beklommenheit, als würde sich in mir alles ganz fest zusammenziehen und ich erst durch das Zeichnen wieder atmen können. Ich kam wieder bei mir an, wurde ruhiger, und es fühlte sich nicht mehr alles so verwirrend an. Mir würde schon eine Lösung einfallen.
Ich versank in meiner eigenen Welt, begab mich in einen Tunnel und konzentrierte mich auf das Zeichnen. Bis ich eine warme Hand auf der Schulter spürte und so sehr erschrak, dass ich mit dem Bleistift abrutschte und einen langen Strich quer über das Mandala zog.
»Oh, sorry. Ich wusste nicht, dass du malst.« Leons Stimme klang noch ganz belegt vom Schlaf.
Ich atmete tief durch und ließ die Schultern hängen. Die Zeichnung war hinüber und somit auch die Arbeit der letzten Stunde. Es traf mich mehr, als mir lieb war, aber ich schwieg und zwang mich zu einem Lächeln. Allein wie Leon das Wort malen aussprach, zeigte nur, dass er sich einfach nicht dafür interessierte. Als wäre ich ein Kleinkind, dessen Kunst nicht gewürdigt wurde.
»Warum sitzt du hier draußen?«, schob er hinterher.
»Ich konnte nicht mehr schlafen.«
»Ist alles in Ordnung? Du klingst irgendwie traurig.«
Klar, es ist alles okay. Nicht, dass du gerade alles ruiniert hast und es für dich keine Rolle spielt.
In mir brodelte es, vor allem, weil ich mir eine aufrichtige Entschuldigung wünschte. Leon setzte sich neben mich, unwissend darüber, wie sehr mich seine Worte verletzten, und legte einen Arm um meine Schultern.
»Es ist alles okay«, presste ich hervor.
Mit den Fingerspitzen fuhr er in kleinen Kreisen über meinen Oberarm, doch diese Art der Berührung ertrug ich gerade nicht. Seine Nähe war mir zu viel, meine Wut zu groß. Ich sprang regelrecht auf, um Abstand zu gewinnen.
»Ich mache Frühstück. Hast du einen bestimmten Wunsch?«
Leon schien immer noch nicht zu bemerken, was in mir vorging, und da ich nicht die Kapazitäten hatte, am frühen Morgen eine Diskussion anzufangen, war es besser, wenn ich mich zurückzog.
»Haben wir noch Croissants?«, fragte er.
Ich nickte nur, ging zurück in die Wohnung und ließ die Zeichnung draußen liegen.
*
Leon redete, ich schwieg. Er trug eine Chinohose und ein Shirt von Ralph Lauren am Tisch und sah aus, als würde er gleich ins nächste Marketinggespräch gehen. Gedankenverloren scrollte er durch sein Handy. Ich saß ihm in meinem Kuschelpulli und meinen Shorts gegenüber und kaute auf einem Brötchen herum.
»Wollen wir das München-Wochenende bald buchen? Du hast in den Semesterferien bislang ja nichts geplant, oder?«
»Nein, es ist nichts geplant. Außer zwischendurch zu arbeiten, wie du weißt.«
»Ich habe nämlich schon ein paar Hotels herausgesucht.«
Leon zeigte mir seine Vorschläge, und mir drehte sich augenblicklich der Magen um. Namen wie Mandarin Oriental, Vier Jahreszeiten Kempinski und Bayerischer Hof sprangen mir ins Auge. Und dazu die Preise.
»Leon, bist du dir sicher, dass du so viel Geld für ein Hotel ausgeben willst? Wir wären nur zum Schlafen da.«
»Du weißt doch, wie wichtig erholsamer Schlaf ist, und dafür braucht es gute Betten. Außerdem können wir ins Spa gehen und morgens lecker frühstücken.«
»Aber wir sind kaum im Hotelzimmer. Dafür müssen wir nicht so viel ausgeben. Ich freue mich viel mehr auf den Englischen Garten oder einen langen Spaziergang am Ufer der Isar mit einem Eis in der Hand und der Sonne im Gesicht.«
»Was hältst du von diesem Hotel?«, fragte er, ohne auf meine Aussage einzugehen. Er hatte überhaupt nicht zugehört, und ich atmete tief durch, um die Resignation zu verdrängen.