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Ihre Idee. Sein Erfolg. Kann ein Verrat zu einer zweiten Chance für die große Liebe werden?
Für Johanna soll die Gamescom der Beginn einer Karriere als Narrative Designerin für Videospiele sein. Doch als sie ihre Idee pitchen will, trifft sie auf Lukas, Deutschlands meistgefeierten Game Designer und Streamer, der ganz obendrein ihr Ex ist. Stolz präsentiert er den Trailer zu einem interaktiven Fantasy-Spiel, das Johanna erschreckend bekannt vorkommt. Lukas hat ihre Idee geklaut! Sein Verrat sitzt tief, doch als ein Hackerangriff fast alle Spieldaten löscht, bittet er Johanna um Hilfe. Bei der Zusammenarbeit ist das Knistern zwischen ihnen kaum zu leugnen. Plötzlich findet Johanna sich in einem Spiel aus alten Wunden und neuer Anziehung wieder. Und sie stellt fest, dass Lukas mit weit mehr als seinen Schuldgefühlen zu kämpfen hat. Finden sie einen Weg, neues Vertrauen zu schaffen und ihrer Liebe eine zweite Chance zu geben?
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Seitenzahl: 536
Veröffentlichungsjahr: 2025
Für Johanna soll die Gamescom der Beginn einer Karriere als Narrative Designerin für Videospiele sein. Doch als sie ihre Idee pitchen will, trifft sie auf Lukas, Deutschlands meistgefeierten Game Designer und Streamer, der ganz obendrein ihr Ex ist. Stolz präsentiert er den Trailer zu einem interaktiven Fantasyspiel, das Johanna erschreckend bekannt vorkommt. Lukas hat ihre Idee geklaut! Sein Verrat sitzt tief, doch als ein Hackerangriff fast alle Spieldaten löscht, bittet er Johanna um Hilfe. Bei der Zusammenarbeit ist das Knistern zwischen ihnen kaum zu leugnen. Plötzlich findet Johanna sich in einem Spiel aus alten Wunden und neuer Anziehung wieder. Und sie stellt fest, dass Lukas mit weit mehr als seinen Schuldgefühlen zu kämpfen hat. Finden sie einen Weg, neues Vertrauen zu schaffen und ihrer Liebe eine zweite Chance zu geben?
Vanessa Hußmann wurde 1992 geboren und liebt es, in fremde Welten einzutauchen. Sie hat ein Jahr in den USA gelebt und war in Thailand und Vietnam unterwegs. Am liebsten aber ist sie mit ihrer Familie zu Hause und schreibt zwischen Lichterketten und unzähligen Büchern Geschichten. Dabei kann sie immer auf die Unterstützung ihres Katers Bowie zählen. Wenn Vanessa nicht schreibt, verbringt sie ihre Zeit mit einem guten K-Drama oder den Sims, nur um diese nach wenigen Spielstunden wieder zu vergessen. Weitere Informationen auf Instagram unter: @vanessahussmann.
Vanessa Hußmann
Roman
Band 1 der Levels-Reihe
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
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Originalausgabe 08/2025
Copyright © 2025 dieser Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)
Redaktion: Nina Bellem
Umschlaggestaltung: www.buerosued.deInnengestaltung unter Verwendung der Bilder von: © Adobe Stock (diluck, Louren, NazArt, Kim, SickleMoon, Анатолий Жуков, robu_s)
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-32863-4V002
www.heyne.de
Liebe Leser*innen,
dieses Buch weckt Emotionen, die Einfluss auf die Handlung nehmen. Die Folgen eurer Taten und Gedanken wirken sich auf euer Leseerlebnis aus. Außerdem werden Themen angesprochen, die für einige Menschen sehr belastend sein können. Am Ende des Buchs findet ihr eine genaue Auflistung. Passt gut auf euch auf! Wählt mit Bedacht.
Vanessa Hußmann und der Heyne Verlag
Für Luke.
Du hast mein Herz.Und für alle, die immer dachten, sie seien zu viel.
Dieses Buch ist für euch.
Koda – I Don’t
Daughter – Youth
Taylor Swift – All To Well
Taylor Swift (feat. Bon Iver) – exile
Madeline Juno – Nicht Ich
Daughtry – Start Of Something Good
Post Malone – Chemical
Jimmy Eat World – Hear You Me
NF – Paralzyed
Florence + The Machine – Dog Days Are Over
Shawn Mendes – It’ll Be Okay
Ed Sheeran – Give Me Love
Taylor Swift – Who’s Afraid Of Little Old Me
Daughter – Numbers
Wincent Weiss – Herz Los
Loi – Am I Enough
Gracie Abrams – I Love You, I’m Sorry
Tommy Lucas – Final Fantasy 7: Rebirth (Ambient Theme)
mxmtoon – haze
LANY – you!
Feeder – Feeling A Moment
Final Fantasy Remake: Tifa’s Theme
One Direction – Right Now
The Vamps feat. Demi Lovato – Somebody To You
Gustavo Santaolla – All Gone (Alone)
HOLYCHILD – Happy With Me
Wincent Weiss – Wie gemalt
Johanna
Mit verschränkten Armen stehe ich auf dem Gelände der Gamescom in Köln. Die pralle Mittagssonne brennt auf mich herab, und ich widerstehe dem Drang, mir das knöchellange schwarze Kleid vom Leib zu reißen. Jedes Mal, wenn der Ticketverkauf startet, hoffe ich, dass es im August bloß zwanzig Grad statt dreißig sind. Und am Ende werde ich jedes Mal aufs Neue enttäuscht. Was soll das überhaupt, so eine Veranstaltung im Hochsommer stattfinden zu lassen?
»Ich sehe aus, als ob ich auf eine Beerdigung müsste. Lass mich die Haare wenigstens offen tragen«, murre ich.
»Nein, wir haben das besprochen. Der Zopf in Kombination mit dem roten Lippenstift verleiht dir eine gewisse Distanz, und gleichzeitig weckst du Interesse. Du siehst sexy aus.« Louisa mustert mich. »Das bleibt alles so, du kannst mir später danken.«
Auf der weltweit größten Gaming Messe bin ich vollkommen overdressed und werde ungewollt auffallen.
Na super.
Sehnsüchtig sehe ich zum Merch-Stand, der T-Shirts von The Last Of Us und Pokémon verkauft, und seufze.
Meine beste Freundin und Messe-Buddy hat gut reden, denn sie trägt Top, Shorts und Nike Air Force. Auf ihrem blonden Schopf sitzt ein Haarreif, auf dem der klassische grüne Diamant aus Die Sims angebracht ist, der im Spiel den Grad der Bedürfnisse anzeigt. Wenn es danach geht, wäre meiner dunkelrot, was so viel bedeutet wie: kaum noch zu retten.
»Ich hasse dich dafür, dass du mich in dieses Outfit gezwängt hast. Niemand rennt hier so rum.«
Zu schade, dass Nele heute nicht hier ist. Sie macht unser Trio komplett und ist diejenige, die ihr Leben am ehesten im Griff hat. Wenn es nach ihr ginge, dürfte ich einfach mein Ellie-Williams-Fanshirt tragen.
»Niemand hat heute aber auch kein lebensveränderndes Interview«, sagt Louisa bloß, und ich verdrehe die Augen.
Mein Puls läuft auf hundertachtzig, und ich frage mich, ab wann er einen kritischen Stand erreicht hat und ich anfangen muss, mir Sorgen zu machen. Warum kann ich nicht so entschlossen sein wie meine Kindheitsheldin Lara Croft?
Wäre ich nur ansatzweise so mutig wie sie, hätte ich keine Angst davor, heute das wichtigste Interview meiner Karriere zu führen. Denn dieses Interview entscheidet darüber, ob ich mein Dasein als Journalistin an den Nagel hängen kann oder demnächst Stammgast beim Arbeitsamt sein werde. Ich will die Branche wechseln, kreativ arbeiten, und auch wenn ich heute als Journalistin hier bin, könnte das meine große Chance für etwas ganz anderes werden. Auf der Gamescom werden Kontakte geknüpft, was ich dieses Jahr für mich nutzen will.
Hitze steigt in mir auf, und meine Wangen kribbeln, als würden Ameisen mir übers Gesicht laufen.
»Bist du bald fertig mit Sabbern?«, frage ich und tippe ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. Die Füße sind beide bereits angeschwollen, weil die High Heels zu klein sind.
»Es tut mir so leid, Jo.« Louisa wirft einen Blick über die Schulter, um das Objekt ihrer Begierde weiter anzuschmachten. »Aber sieh ihn dir doch mal an!«
Darauf antworte ich nichts, schiebe die Unterlippe vor und schmolle, was bedauerlicherweise komplett an Louisa abprallt.
»Ich hoffe, dir ist klar, dass das Verrat ist.«
Seit wir das Gelände betreten haben, stehen wir vor einem überdimensionalen Werbeplakat für einen Energydrink, der überall auf der Messe verkauft wird. Beworben wird er von keinem anderen als dem größten und beliebtesten Game Designer Deutschlands: Lukas da Silva. Nebenbei streamt er regelmäßig auf Twitch, vloggt über seinen Alltag und hat fünf Millionen Menschen, die ihm auf YouTube folgen.
»Du weißt, Lukas ist mein Celebrity-Freifahrtschein. Wenn du willst, führe ich mit ihm das Interview.« Meine beste Freundin seufzt schwer.
Neben mir wird gekichert, als würde Shawn Mendes höchstpersönlich dort stehen, und entnervt wage ich doch einen Blick auf das Plakat.
Lukas da Silva.
Für die Öffentlichkeit ist er der attraktive Charmeur, der den Leuten seinen Alltag als Game Designer näherbringt, abends ins Gym geht und das Nine-to-five-Leben lächerlich einfach erscheinen lässt. Er hat lange in den USA gearbeitet und ist seit einigen Jahren für das größte Spieleentwicklungsunternehmen in Deutschland tätig – Exeoh. Die Firma ist nur dank ihm so erfolgreich geworden. Zumindest sind das die Informationen, mit denen mich Louisa regelmäßig updatet, auch wenn ich nie danach frage.
Statt bei seinem Anblick Herzchenaugen zu kriegen, würde ich ihn lieber als Sim erstellen und im Pool ertrinken lassen. Ich wollte ihn nie wiedersehen, und doch ist er derjenige, der heute darüber entscheidet, wie es mit meiner beruflichen Laufbahn weitergeht. Ob ich endlich den Absprung schaffe und eine Chance bekomme, als Narrative Designerin in der Gamingbranche zu arbeiten. Oder ob ich für immer Journalistin bleibe und es nur ein Traum bleibt, für das Storytelling in Videospielen verantwortlich zu sein. Ich hasse es, dass ich ihm ausgeliefert bin und es nichts gibt, was ich dagegen tun kann. Es ist praktisch unmöglich, über den normalen Bewerbungsweg eine Chance bei Exeoh zu bekommen, alles läuft nur über Vitamin B.
Automatisch greife ich nach meiner Tasche, um zu überprüfen, ob noch alle Dokumente da sind. Zwischen meinen Interviewfragen verbirgt sich etwas viel Wichtigeres, etwas, woran ich seit Jahren arbeite und in dem mein ganzes Herzblut steckt.
»Du schaffst das, Johanna. Du ziehst dieses Interview mit ihm durch, und dann stellst du ihm deine Idee vor. Exeoh arbeitet doch gerade selbst an einem Fantasyspiel. Er wird Anima lieben.«
Ich verziehe das Gesicht und schlucke meinen Gedanken im letzten Moment herunter, bevor er aus mir herausplatzen kann. Natürlich wird er Anima lieben, weil er die Idee kennt. Er ist derjenige, der mich einst dazu ermutigt hat, daran zu glauben und nicht aufzugeben, bevor ich überhaupt wusste, was Storytelling in einem Videospiel überhaupt bedeutet.
Aber davon ahnt Louisa nichts. Lukas ist ein abgeschlossenes Kapitel in meinem Leben, das ich nur aufschlage, wenn es nicht anders geht. So wie heute.
»Erst mal muss ich das Interview hinter mich bringen. Es ist immer noch ein Wunder, wie mein Chef es geschafft hat, einen Termin mit Exeoh zu bekommen, so arbeitsscheu, wie er sonst ist.«
»Dein Chef wird dich noch vermissen, wenn du endlich bei ihm kündigst. Alles wird gut, okay? Es muss gut werden. Ansonsten habe ich Angst, dass aus dir Garados wird.«
Ich verziehe das Gesicht. »Wenn es nicht klappt, war’s das.«
Seit Monaten bewerbe ich mich überall, versuche in jede noch so kleine Nische zu kommen und werde am Ende doch immer abgelehnt. Exeoh ist mein allerletzter Strohhalm. Ich habe Journalismus studiert und anschließend ein Fernstudium in Game Development mit dem Schwerpunkt Narrative Design absolviert, aber anscheinend reicht das nicht für ein Jobangebot in der Branche.
Ich brauche diesen Tag heute, damit Anima eine Chance bekommt. Damit ich endlich einen Platz in der Spielebranche bekomme. Zumal ich nicht die beste Journalistin bin – ich liebe es, Artikel zu schreiben, doch Interviews zu führen, ist nicht mein Ding. Wenn ich es also vergeige, wird Ed keinen Grund haben, mich länger in der Redaktion zu behalten. Nicht, dass ich unbedingt traurig über eine Kündigung wäre, nur bin ich leider auf das Gehalt angewiesen.
Erneut blicke ich zu dem überdimensionalen Lukas da Silva. Direkt in die tiefbraunen Augen, auf das dunkle Haar und die feinen Sommersprossen, die durch die Größe des Plakats besonders auffallen. Früher hat er sich für sie geschämt.
Ich hasse es, dass ich mich an diese Details erinnere, und schüttle den Kopf. Das mit uns ist vorbei. Die Vorstellung, Lukas und ich könnten Kollegen werden, ist schwer genug zu ertragen, auch wenn dieser Job mein Traum ist.
Schnell wende ich den Blick ab und beobachte die Menschen, die in die Hallen strömen, um die neuesten Spiele zu testen. Sehe die Cosplayer, die Stunden damit verbracht haben, um wie ihr liebster Manga-, Anime- oder Videospielcharakter auszusehen. Wärme durchströmt mich, und die Zweifel werden kurz von dem Anblick der bunten Menge zurückgedrängt. Hier schlägt jedes Herz für das Gaming, das Abtauchen in fremde Welten und Geschichten, die einen nicht mehr loslassen. Die einen nachts wach halten, weil man es nicht abwarten kann, den Controller wieder in die Hand zu nehmen, um mehr davon zu erleben. Ich will diejenige sein, die genau das erreicht, ihnen Gänsehaut verschafft und sie zu Tränen rührt.
»Ich schaffe das«, sage ich zu Louisa und meine es auch so. »Wollen wir los? Du wolltest doch ins Cosplay Village, oder? Ich muss mich noch etwas ablenken, bevor das Interview anfängt.«
Louisa räuspert sich und knibbelt an ihren schwarz lackierten Nägeln, auf die ich neidisch bin. Niemand hat so perfekte Nägel wie sie. »Ich muss dir was sagen.« Sie sieht wieder zu dem Plakat und lächelt dann mit entschuldigender Miene. Und noch bevor sie es laut ausspricht, weiß ich genau, worum es geht.
»Unter gar keinen Umständen gehe ich mit dir zu dem Announcement von Lukas.« Ungläubig starre ich Louisa an. »Weißt du, was in den Hallen los sein wird?«
Bitte, sag, du verzichtest. Bitte, sag, du verzichtest.
»Es ist überall voll. Und wenn wir jetzt gehen, lassen sie uns bestimmt noch rein. Komm schon, Johanna. Ich freue mich darauf, seit Lukas in einem Stream davon erzählt hat.«
Natürlich will sie nicht auf das Announcement verzichten, und ich seufze.
»Ich verstehe wirklich nicht, was du gegen ihn hast«, sagt Louisa gequält. »Bitte, Johanna, komm mit.«
»Er ist ein arroganter Wichtigtuer. Und ich bin nicht scharf darauf, ihn schon früher als nötig zu sehen.«
Das ist nicht mal gelogen. Ich will wirklich nicht länger als nötig dieselbe Luft wie er atmen. Louisa weiß das aber nicht, denn ich habe ihr nie von Lukas und mir erzählt.
Seit ich sie vor drei Jahren auf einer Fanfiction-Seite kennengelernt habe, sind wir unzertrennlich. Louisa schreibt leidenschaftlich gern Geschichten über Filme und Videospiele, und ich bin ihr größter Fan. Dass wir uns gut verstehen, haben wir spätestens dann bemerkt, als wir uns eines Nachts stundenlang über Life Is Strange unterhalten haben. Eigentlich ist sie Schauspielerin, allerdings bislang ohne großen Erfolg, und wir klagen uns regelmäßig bei zu viel Wein gegenseitig unser Leid. Louisa weiß so ziemlich alles über mich. Bis auf dieses kleine Detail namens Lukas. Ich stand schon so oft kurz davor, ihr alles zu erzählen, aber ich kann nicht. Nicht, ohne die unzähligen Pflaster von meinem Herzen zu reißen, die es gerade noch so zusammenhalten, und Gefahr zu laufen, dass es wieder auseinanderbricht.
Sie hatte schon immer einen Crush auf ihn, und es ist jedes Mal schwer zu ertragen, wenn sie so für ihn schwärmt.
»Das verstehe ich. Aber ich muss dahin, Johanna, bitte.«
Jetzt ist definitiv der falsche Zeitpunkt, durchscheinen zu lassen, was mein eigentliches Problem mit ihm ist. Mitten auf der Gamescom, mit dem anstehenden Interview, würde ich anfangen zu heulen, wenn ich es ihr erzählte. Obwohl ich mir geschworen habe, nie wieder eine Träne wegen diesem Mann zu vergießen. Also schweige ich, und Louisa schnaubt, sodass sich ihre Nasenflügel aufblähen.
»Wir gehen nur kurz hin, okay? Und danach spendiere ich uns Pommes. Getränkt in Mayo.«
Fieberhaft suche ich nach Gegenargumenten, die plausibel genug sind, um sie zu überzeugen. Würde es sie abhalten, dorthin gehen zu wollen, wenn ich einfach auf der Stelle umfallen würde? Vermutlich nicht, denn Louisa kennt meinen Hang zur Dramatik.
»Pommes mit extra viel Mayo klingt gut«, antworte ich leise und gebe mich geschlagen. Allein der Gedanke, Lukas auf der Bühne zu sehen, löst Panik bei mir aus, und ich weiß nicht, wie ich es überhaupt in Halle 11 schaffen soll. Auf das Interview konnte ich mich geistig schon vorbereiten, aber ihn inmitten seiner Fans zu sehen …
Vielleicht ist es besser, wenn du ihn vorher siehst.
Sechs Jahre sind seit unserem letzten Treffen vergangen, und trotzdem erinnere ich mich an noch den Duft seines Parfüms – Joop! Homme –, an sein Lachen, das sich manchmal wie ein Kichern anhört, und daran, wie bunt wir uns unsere Zukunft ausgemalt haben. Seine ist es nach wie vor. Während ich nicht weiß, ob ich nächsten Monat noch einen Job habe und meine Rechnungen zahlen kann.
Ich folge Louisa gezwungenermaßen und bin froh, dass sie nicht sieht, wie mir die Tränen in die Augen schießen. In jeder Ecke leuchten grelle Farben, Musik dröhnt mir in den Ohren, und es ist schwer, sich in einer normalen Lautstärke zu unterhalten. Außerdem dauert es ewig, bis wir auch nur ein paar Schritte vorwärtskommen. Von allen Seiten spüre ich die Körperwärme anderer Menschen, und ständig rempelt mich jemand an. Meine Nerven liegen komplett blank, und wir sind nicht mal in der Nähe der nächsten Halle. Schweiß läuft mir über den Rücken, obwohl die Klimaanlage vermutlich bis zum Anschlag aufgedreht ist.
»Da vorn ist es«, ruft sie und deutet auf eine offene Doppeltür. »Und sie lassen noch Leute rein! Wir beeilen uns, dann schaffen wir es noch.«
»Wie willst du dich hier beeilen? Wenn wir Glück haben, sind wir in fünfzehn Minuten da, und das ist optimistisch geschätzt.«
Doch Louisa zieht mich einfach hinter sich her, und ich bekomme am eigenen Leib zu spüren, wie entschlossen sie ist, noch in diese Halle zu kommen. Wir stürmen an Menschen vorbei, die sich wütend nach uns umdrehen. Ich stammle ein paar Entschuldigungen und wünsche mir gleichzeitig, dass die Türen zu sind, wenn wir dort ankommen. Fast wäre ich hingefallen, weil ich auf den hohen Schuhen nicht laufen kann.
»Ich habe dich noch nie so motiviert gesehen«, bemerke ich keuchend und lasse Louisa kurz los, weil meine Hand nass von Schweiß ist.
»Bisher ging es auch nie darum, Lukas ganz nah zu kommen.«
Alles an dieser Aussage klingt falsch, aber ich sage nichts dazu und ignoriere das kleine, aber deutliche Ziehen in meiner Brust.
Es dauert nicht lange, bis wir uns wirklich in der Event Arena befinden und Louisa ihren persönlichen Feldzug fortsetzt. Ihre Entschlossenheit ist bewundernswert, und gleichzeitig hoffe ich, dass sich uns jemand in den Weg stellt, damit wir nicht in die erste Reihe kommen. Aber Louisa ist das alles egal. Sie schiebt und drängelt sich durch die Menge und bleibt erst stehen, als wir wirklich ganz vorne stehen und freien Blick auf die Bühne und eine riesige Leinwand haben.
Das darf doch alles nicht wahr sein.
Ich will mich auflösen oder im Boden versinken, ganz egal, nur möglichst weit weg. Meine Knie zittern, und ich merke, wie ich die Kontrolle über mich selbst verliere. Die Sicht vor meinen Augen verschwimmt, und mein Brustkorb hebt und senkt sich im schnellen Tempo. Gleichzeitig schwillt ein dicker Kloß in meinem Hals an. Die Gewissheit, Lukas in wenigen Augenblicken zu sehen, lähmt meinen Körper und zusätzlich alle Schutzmechanismen, die ich mir in den Jahren erfolgreich aufgebaut habe. Unerwartet werde ich von Flashbacks heimgesucht, einzelnen Bildern, die mich von allen Seiten treffen, wie Messerstiche, direkt ins Herz. Immer und immer wieder.
Meine heimliche Schwärmerei für ihn in der Schule, unseren ersten Streit, weil Lukas mir ein langersehntes Spiel vor der Nase weggeschnappt hat. Unsere nächtlichen Treffen und Träumereien über unsere Zukunft. Der erste Kuss, der zu unendlich vielen Küssen wurde, bis zu dem Tag, an dem sie ein Ende fanden.
»Ich bin so aufgeregt, Jo!«, quietscht mir Louisa ins Ohr, sodass mein Gehörgang klingelt. »Von hier aus wird er uns bestimmt sehen.«
Ich zwinge mich zu einem Lächeln, das vermutlich eher der Grimasse eines traurigen Clowns ähnelt, und versuche, meine Fassung zurückzuerlangen. Ich schließe die Augen, atme trotz der stickigen Luft tief ein und konzentriere mich auf den Abend damals im Dezember, eine Woche vor Weihnachten. Auf die Realität, in der ich seitdem lebe und mich manchmal frage, ob sie in Wirklichkeit einfach nur ein Albtraum ist. Dieser unsagbare Schmerz, der mich an dem Abend bis ins Mark getroffen hat. Er ist zwar schwächer geworden, aber vergessen habe ich ihn nie.
Es funktioniert. Das Rauschen in meinen Ohren verebbt langsam, und meine Sicht wird klarer, als würde ein Schleier vor meinen Augen herabfallen. Trotzdem zittern meine Hände verräterisch, und ich bekomme einen kalten Schweißausbruch. Ich weiß nicht mehr, wo oben oder unten ist, und bin dankbar über die Brüstung der Sicherheitsabsperrung, an die ich mich festklammere, als ginge es um mein Leben.
Als ich einen Blick über die Schulter werfe, muss ich feststellen, dass eine Flucht aus der Halle keine Option mehr ist.
Zu voll, zu viel Gedränge, und der Ausgang ist nicht mal in Sichtweite. Mein Puls wird schneller, weil die Situation so endgültig ist und ich nichts anderes tun kann, als sie auszuhalten. Ich fühle mich in die Ecke gedrängt, und auf einmal bereue ich es, meiner besten Freundin nie von Lukas erzählt zu haben.
»Louisa, ich muss dir was sagen«, platzen die Worte einfach aus mir heraus. Aber dann weiß ich nicht, wie ich anfangen soll oder ob ich schon bereit dazu bin, die alten Wunden wieder aufzureißen. Es ist der denkbar schlechteste Moment dafür, aber ich muss ihr von dem Ende meiner großen Liebe erzählen, wenn ich das hier überstehen will.
Gleichzeitig hoffe ich aber auch, dass sie mich nicht gehört hat und ich einfach weiter so tun kann, als wäre ich nicht gerade knapp einer Panikattacke entkommen. Ich blicke zur Bühne, und aus dem Augenwinkel merke ich, wie Louisa mich mustert.
»Jo, was ist los? Warum weinst du?«
Noch bevor ich etwas sagen kann, geht das Licht aus.
Johanna
Einige Minuten lang ist es stockdunkel, und ich halte den Atem an. Überall ist aufgeregtes Gemurmel zu hören, nebenbei wird geklatscht und gejubelt. Die Stimmung ist wie elektrisiert und wartet nur darauf, sich zu entladen. Ich will aber nur weg.
Auf einmal greift Louisa nach meiner Hand und drückt sie sanft. »Sollen wir lieber gehen?«
Sie freut sich seit Wochen auf diesen Tag, und ich weiß, wie viel es ihr bedeutet, hier zu sein. Ganz unabhängig von ihrer Schwärmerei für Lukas, sind seine Videos an weniger guten Tagen ein Safe Space für sie. Wenn wir verschwinden, wäre sie zwar nicht sauer auf mich, aber ich kann ihr diesen Moment nicht wegnehmen.
»Nein, alles gut.«
»Sicher? Du hattest eben Tränen in den Augen und …«
Sie führt den Satz nicht zu Ende, denn das Licht geht wieder an, und Sternchen tanzen in meinem Sichtfeld, bevor ich mich an die Helligkeit gewöhne. In ohrenbetäubender Lautstärke ruft die Menge Lukas’ Namen und feiert ihn, obwohl er nicht mal auf der Bühne ist. Es ist wirklich unfassbar, was für eine Fangemeinde er besitzt.
Für mich ist die Situation kaum zu ertragen. Je länger ich hier zwischen Hunderten von Menschen stehe und sein Name wie ein Echo in meinem Ohr widerhallt, desto weniger kann ich mich gegen die Erinnerungen an ihn wehren. Es ist, als würde jeder Ruf die Mauer ein Stück weiter durchbrechen. Sie bekommt Risse, erst kleine, von denen ich weiß, dass ich sie aushalten kann. Doch dann denke ich an sein Lachen, das immer so ansteckend gewesen ist, an all seine sanften Berührungen und die leeren Versprechungen. Ich kann mich nicht länger wehren, die Mauer aufrechtzuerhalten, und die Steine bröckeln ab, einer nach dem anderen.
Unsere Geschichte begann im Sommer, aber endete Jahre später im Winter. Passend zur Jahreszeit war unsere Zukunft nur noch ein Hauch von zertrümmerten Träumen. An Silvester habe ich auf ein Leben ohne ihn angestoßen und mich von der Zukunft verabschiedet, die wir geplant hatten.
»Es tut mir leid, Lou. Ich kann nicht hierbleiben«, sage ich atemlos. »Nicht, wenn …«
Fast schon panisch suche ich nach einem Notausgang, aber trotz der High Heels kann ich nicht über die Menge sehen und finde den Ausgang nicht.
Das Licht tanzt wild über die Bühne, aus den Nebelmaschinen schießt Rauch, und mir bleiben die Worte im Hals stecken. Plötzlich tritt Lukas hinter einem Vorhang hervor, die Scheinwerfer richten sich direkt auf ihn, und er sieht absurd gut aus. Die Menge schreit, aber in mir wird alles still.
»Köln, was geht ab? Unfassbar, wie viele von euch gekommen sind!« Lukas fährt sich durch das braune Haar, grinst, und das Publikum verfällt ihm auf der Stelle. Kameras filmen ihn von allen Seiten, vermutlich für seinen Kanal und irgendwelche Livestreams.
»Jo, was ist los?«, fragt Louisa erneut, den Blick abwechselnd auf Lukas und mich gerichtet. Sie wirkt hin- und hergerissen, weil sie sich von der Euphorie anstecken lässt und gleichzeitig besorgt um mich ist.
Ich starre weiter den Mann auf der Bühne an. Ein Meter achtzig groß, sonnengeküsste Haut, braunes Haar und dunkle Augen, in denen die Leidenschaft für das brennt, was er gerade macht. Lukas liebt die Aufmerksamkeit, das hat er schon immer, und er ist genau dort, wo er hingehört.
Das weiße T-Shirt betont seinen Oberkörper bei jeder Bewegung und zeigt, wie oft er ins Gym geht. Sein Look ist simpel, graue Stoffhose und Nikes, was ihm viel zu gut steht. Neben mir wird getuschelt und gekichert, und ich kann es den Leuten nicht verübeln, denn Lukas ist leider ein sehr attraktiver Mann. Ich wünschte, sein Anblick würde nicht dieses vertraute Kribbeln in mir auslösen, diese Sehnsucht und den Wunsch nach einer Umarmung von ihm. Völlig wehrlos stehe ich vor der Bühne, blinzle ihn an und sehe den Lukas, der mich ohne ein Wort verlassen hat. Mit seinem Weggang hat er sich seine Träume erfüllt und meine dabei mitgenommen. Seit diesem Tag fehlt ein Stück von mir, und ich habe es einfach nicht geschafft, es wiederzufinden.
»Johanna, ich frage dich ein letztes Mal: Sollen wir gehen? Sag mir, ob es dir gut geht!«
Louisa sieht mich mit einem ernsten Blick an, den sie nur selten zeigt. Sie will das hier genießen, und ich verhindere das, weil ich mich nicht zusammenreißen kann. Deshalb schlucke ich alles herunter, was mir auf der Zunge brennt, damit sie den Moment endlich zelebrieren kann. »Ja, alles gut. Mir ist nur die Hitze hier drin etwas zu Kopf gestiegen.«
Louisa mustert mich kurz, als würde sie sichergehen wollen, dass ich es ernst meine, und entspannt sich dann sichtlich. Sie deutet auf Lukas, und ihre Augen funkeln wie die eines Kindes zu Weihnachten.
»Sieh dir doch mal seine Oberarme an, und wie das T-Shirt über seiner Brust spannt. Oh Gott, ich kann das alles nicht.«
Sie kann das alles nicht?
Nein, ich kann das alles nicht!
»Ich habe gehört, ihr seid für einen exklusiven Announcement-Trailer hier? Ist das richtig? Aber ich glaube, wir haben den Titel bislang nicht revealed, oder?«
Ich zucke bei dem lauten Gegröle der Menge zusammen, und Lukas grinst breit, strafft die Schultern. Der Jubel scheint seinem Ego noch einen Kick zu verpassen. Er bewegt sich über die Bühne, als hätte er das schon tausendmal gemacht, und ich beneide ihn darum. Um seine Liebe zu seinem Job, um seine Leidenschaft und weil er jeden Tag seinen Traum leben kann. Er spricht weiter, doch ich schalte ab.
Wann ist das endlich vorbei? Hatte Louisa gesagt, wie lange das hier gehen soll?
Auf der Leinwand erscheint in großen Buchstaben ein Titel: The Last Souls Of The Century.
»Oh mein Gott! Das klingt episch!« Louisa rammt mir überschwänglich den Ellenbogen in die Rippen und springt auf und ab.
Im selben Moment blickt Lukas in die vorderste Reihe und sieht mir direkt in die Augen. Sofort verharrt er in seiner Bewegung, und das Grinsen verschwindet. Selbst von meiner Position aus kann ich erkennen, wie er blass wird, und mir geht es nicht anders. Ich klammere mich fester an die Brüstung, suche nach Halt, ohne ihn zu finden. Weil die einzige Person, bei der ich mich einst sicher gefühlt habe und die dieses Vertrauen völlig zerstört hat, dort oben auf der Bühne steht.
Lukas aus der Entfernung zu sehen, tut weh. Ich will am liebsten zu ihm, ihn anschreien und all meinen Gefühlen Luft machen. Und gleichzeitig will ich, dass er mich festhält und die Zeit zurückdreht. Es scheint, als stünde alles zwischen uns still, es ist dunkel um uns herum, und nur wir leuchten. Er wendet den Blick nicht ab, selbst als das Räuspern in der Menge lauter wird und niemand so richtig weiß, was gerade passiert.
Ich blinzle und blicke auf seine Lippen. Ganz unbeabsichtigt natürlich und sofort bereue ich es, denn Lukas löst sich aus seiner Starre und grinst. Er sieht mich noch einen Moment an, ehe er zurück in seine Rolle schlüpft und sich dem Publikum zuwendet. Einfach so, als hätten die vergangenen dreißig Sekunden nie stattgefunden.
»Seit ein paar Wochen hält sich hartnäckig das Gerücht, dass wir an einem neuen Fantasyspiel arbeiten«, erzählt er mit strahlenden Augen. »Und eventuell ist da etwas dran. Wie viel Bock habt ihr auf den Teaser?«
Überall wird geklatscht, und der Hype ist riesig. Passend zur Stimmung wird das Licht gedimmt, und wieder entsteht aufgeregtes Gemurmel. Und ich weiß überhaupt nicht, wie mir geschieht und was ich fühlen soll. Meine Wangen sind heiß, und mein Herz steht kurz davor, mir aus der Brust zu springen.
»Sag mal, was war das denn? Hattet ihr gerade so etwas wie einen Moment?« Louisa sieht mich mit ihren großen braunen Augen an. »Das sah beinahe so aus, als würdet ihr gleich übereinander herfallen.«
»Ich, ähm …«, stammle ich und schüttle geistesabwesend den Kopf. Ich schaffe es nicht, den Blickkontakt mit Lukas zu ignorieren. Das ist der Unterschied zwischen uns: Er macht einfach weiter, und ich bin gefangen in meinen Gefühlen.
»Ich höre?«
»Das hast du dir nur eingebildet«, sage ich und versuche halbherzig, die Situation mit einem Schulterzucken zu überspielen.
Louisa kneift die Augen zusammen, mustert mein Gesicht eingehend und seufzt tief und resigniert.
»Du lügst. Dein Hals sieht aus wie ein Streuselkuchen, und wenn du dich weiter so am Geländer festklammerst, brichst du dir noch die Finger.« Louisa wirft einen kurzen Blick auf Lukas und dann wieder zu mir. »Ihr kennt euch.«
Für den Bruchteil einer Sekunde überlege ich, zu verneinen, um die Fassade aufrechtzuerhalten, doch die ist ohnehin zerstört. Und Louisa weiter zu belügen, ändert nichts an der Tatsache, dass Lukas und ich eine gemeinsame Vergangenheit haben.
»Ja«, sage ich bloß.
Louisa macht den Mund auf, und ich bereite mich mental schon auf ein Donnerwetter vor, als das Licht komplett ausgeht.
»Darüber reden wir später noch«, zischt sie mir ins Ohr und sieht zur Leinwand.
Ein riesiger rot-gelber Phoenix mit ausgebreiteten Flügeln erscheint, und ich bekomme eine Gänsehaut, weil es sich dabei um das Firmenlogo von Exeoh handelt. Die LED-Lichter, die neben der Leinwand angebracht sind, verändern sich abwechselnd in den Farben des Fabelwesens, und dadurch wirkt es fast so, als stünde die Projektion in Flammen.
Niemand sagt etwas, Handys werden in die Luft gehalten, um den kommenden Trailer zu filmen und die Stimmung einzufangen. Für einen Augenblick beruhigt sich das Chaos in mir, und ich lasse mich von der Spannung mitreißen. Genau deshalb liebe ich die Welt der Videospiele – weil sie mir hilft, die Realität zu vergessen. Wenn auch nur kurz.
»Oh mein Gott, es geht los!« Louisa kneift mir fast in den Arm.
Das Bild einer jungen Frau, gekleidet in eine zerfetzte Tunika und mit blut- und schmutzverkrusteter Haut. Ihr schwarzes Haar ist verfilzt, sie wirkt kraftlos und ohne Hoffnung, doch in ihren grünen Augen flackert Entschlossenheit.
Sofort kribbeln meine Finger, weil ich am liebsten den Controller in die Hand nehmen würde, um die Welt zu erkunden. Die ersten Bilder einer Wüstenlandschaft sehen absolut fantastisch aus. Ausschnitte einer Stadt mit hohen Steinmauern erscheinen, Bilder von Frauen in bunten Gewändern, ein zerstörter Palast – das alles gibt einem bereits ein Gefühl für die Vibes des Settings. Obwohl es nur ein Trailer ist und sich das Spiel noch in der Entwicklung befindet, ist die Qualität schon überragend.
Zumindest ist das mein erster Eindruck, bis mir etwas auffällt. Zuerst sind es nur Kleinigkeiten, die aber immer deutlicher werden.
»Das ist nicht wahr.«
Ich rede mir ein, dass es nur Zufälle sind, weil das manchmal vorkommt. Dass die Handlung in einer Wüstenstadt spielt oder die Figur am Anfang für eine Diebin gehalten wird, sind nur Zufälle. Man kann das Rad nicht immer neu erfinden, egal ob in Büchern, Filmen oder Videospielen. Aber dann erzählt eine tiefe, mystisch klingende Stimme etwas über das Geschehen im Spiel, und mir gefriert das Blut in den Adern.
»Vor über zehn Jahren begann der Krieg, als Kieron die letzte Anima Zhara tötete und sich zum König von Solara ernannte. Dieses schreckliche Ereignis beraubte die Menschen nicht nur der Quellen unendlichen Lebens, sondern auch ihrer Prinzessin, die den Frieden im Land bewahrte. Seitdem wird das Volk von Solara von Kieron unterdrückt und versklavt. Zharas Tod hat zudem einen Fluch freigesetzt, der dafür sorgt, dass die Menschen keine positiven Gefühle mehr empfinden können. Stattdessen sind sie geplagt von ständiger Trauer und Wut. Die Legende besagt, dass alles Glück der Welt – die Liebe und die Hoffnung – in Form von Kristallen gespeichert wurde, die nun überall in Solara verborgen sind. Als eine junge Frau auftaucht, die das Ebenbild von Zhara ist, wird sie für die tote Prinzessin gehalten, und …«
Louisa tippt mich an, aber ich muss sie nicht ansehen, um zu wissen, was sie sagen will. »Johanna, es ist nicht das, was ich denke, oder?«
Ich antworte nicht, starre nur die Leinwand an und habe das Gefühl, mich im freien Fall zu befinden.
Vor meinen Augen sehe ich etwas, das sich nicht leugnen lässt. Es ist ein Trailer mit der Story, deren Pitch ich heute vorstellen wollte. Der Story zu meinem Spiel! Und das bedeutet, Lukas hat meine Idee gestohlen.
Ich kann es nicht glauben. Wieder einmal zerstört er meine Träume, an die ich gerade erst wieder zu hoffen gewagt hatte. Meine Storyline, mein Konzept. Alles dort live und in Farbe, und Lukas lässt sich wie ein junger Gott feiern.
Ich starre noch immer den Trailer an. Obwohl ich mich wie in Trance befinde, nehme ich ganz deutlich wahr, was vor mir auf dem Bildschirm passiert. Die Protagonistin mit den grünen Augen, dem mitternachtsschwarzen Haar und der kleinen Narbe an der Oberlippe – das alles kann kein Zufall sein.
Ich will nicht glauben, was ich sehe. Denn es ist, als würde ich in mein Spiegelbild blicken.
Die Protagonistin ist mir wie aus dem Gesicht geschnitten.
Lukas
»Der Trailer geht voll durch die Decke. Eine halbe Million Aufrufe auf YouTube, und auf Twitch fragen alle, ob du live gehen kannst. Unsere Konten singen halleluja.«
Ich höre eine Kaugummiblase platzen und Fingernägel, die über das Display des Tablets kratzen. Beides geht mir gehörig auf die Nerven, weil ich zwischen Presseterminen, dem Announcement und ständigem Small Talk kaum Zeit habe, um Luft zu holen.
Anstatt zu antworten, seufze ich nur, doch Malia plappert einfach weiter. Leider nimmt sie meine Reaktion entweder nicht zur Kenntnis, oder sie ist ihr schlicht egal – ich tippe auf Letzteres. Malia ist seit zwei Jahren meine Managerin, und ich habe kaum zu jemand anderem so viel Kontakt wie zu ihr. Sie kennt mich gut genug, um zu wissen, dass ich gerade nicht reden will.
Gleich steht schon wieder irgendein Interview an, und ich habe mir nicht mal die Mühe gemacht, mich darauf vorzubereiten. Am Ende werden ohnehin nur dieselben Fragen gestellt, die man sich mithilfe von Google beantworten könnte.
»Allerdings musst du aufpassen, nicht als Playboy abgestempelt zu werden, wenn du jedes Mal mit den Frauen in der ersten Reihe flirtest.«
»Das war kein Flirten.«
»Ach nein? Wie nennst du dann diesen endlosen Blickkontakt mit der schwarzhaarigen Frau? Kennst du sie? Wobei, nein, sag es mir nicht.« Malia verzieht das Gesicht. »Über deine Frauengeschichten weiß ich sowieso schon viel zu gut Bescheid.«
Sie redet weiter, aber in Gedanken bin ich wieder auf der Bühne. Das schwarze Haar, die grünen Augen und der ernste Ausdruck in ihrem Gesicht. Mit einem Wimpernschlag fühle ich mich in eine andere Zeit zurückversetzt. Eine Zeit, in der nur wir wichtig waren und alles andere nicht zählte.
Johanna hat sich kein bisschen verändert, zumindest optisch nicht. Sie dort zu sehen, hat mich einen Moment aus dem Konzept gebracht. Wir hatten sechs Jahre lang keinen Kontakt, und sie ist die letzte Person, die ich erwartet hätte, hier zu sehen. Vor allem nicht nach …
Ich führe den Gedanken nicht zu Ende, denn es hat nichts zu bedeuten. Egal, wie wild mein Herz in der Sekunde geklopft hat, als ich sie in der Menge sah. Sechs Jahre sind eine halbe Ewigkeit und lang genug, um zu vergessen, wie aus Liebe Hass wurde.
»Das Interview findet gleich statt. Vielleicht solltest du noch mal einen Blick in den Spiegel werfen, bevor es losgeht.« In Malias Stimme liegt ein schnippischer Unterton. Sie hasst es, wenn ich ihr nicht zuhöre.
Ich bin froh, dass Exeoh in diesem Jahr einen eigenen Aufenthaltsraum gemietet hat, der nicht so weit vom Pressebereich in den anderen Hallen entfernt liegt. Bislang habe ich nicht viel von der Gamescom gesehen, aber ich schaffe es sowieso nicht, mich hier frei zu bewegen, ohne ständig angesprochen zu werden. Mit verspannten Schultern richte ich mich auf. »Ich brauche keinen Spiegel, um zu wissen, dass ich gut aussehe. Also, wo genau findet das Interview statt?«
Malia verdreht nur die Augen und schüttelt den Kopf. »Du bist wirklich unverbesserlich. Ich sage Jay Bescheid, dass er uns jetzt hinführen kann.«
Früher habe ich die Berühmtheiten immer belächelt, die mit Personenschutz über die Gamescom laufen. Ich hielt es für übertrieben und Wichtigtuerei, um vor den anderen Gästen anzugeben.
Doch jetzt gehöre ich selbst dazu. Nachdem es letzten November bei einem Gaming-Event beinahe zu einer Massenpanik kam und ich mich mittendrin befand, hatte ich gar keine andere Wahl, als mir jemanden zu suchen, der mich im Notfall schützen kann.
Zügig laufen wir durch die Gänge, doch werden immer wieder aufgehalten, weil Fans mich ansprechen. Ich liebe und hasse diesen Teil der Arbeit, denn es gibt nie eine richtige Grenze zwischen Job und Freizeit. Auf Messen habe ich die meiste Zeit kein Problem damit, Fotos zu machen oder mich mit Fans zu unterhalten, obwohl es ziemlich auslaugend ist. Aber oft werde ich nach einem langen Arbeitstag direkt vor dem Gebäude von Exeoh abgefangen, wenn ich eigentlich nur nach Hause will, und das zerrt an den Nerven.
»Lukas, wir müssen los. Du bist schon eine Viertelstunde zu spät«, drängt Malia, tippt mit dem Zeigefinger auf ihre Armbanduhr und gibt Jay ein Zeichen, dass wir keine Zeit mehr haben.
»Ich komm ja schon«, meine ich bloß und werfe den beiden Fans, die mich eben um ein Foto gebeten haben, ein kurzes Lächeln zu. »War schön, euch kennenzulernen. Ich streame später, also schaltet gern ein.« Mit einem Winken verabschiede ich mich und bin dann wieder auf dem Sprung.
»Du musst dein Timing besser im Blick behalten, das habe ich dir schon tausendmal gesagt. Die Fotos für Instagram stehen auch auf der Liste, und wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
»Ja, Mami.« Ich verdrehe die Augen, und Malia schnaubt. Eigentlich sollte ich froh sein, dass sie ihren Job so liebt, ansonsten würde das mit uns nicht funktionieren. Sie ist wie eine nervige, ältere Schwester, und genau deshalb schätze ich sie so sehr.
»Da vorn ist es. Entschuldige dich einfach und beantworte dann jede Frage mit einem Lächeln.«
»Ich weiß, wie man ein Interview führt.«
»Bist du sicher? Das letzte Mal bist du mit deiner Interviewpartnerin im Bett gelandet.«
Ach stimmt, da war ja was. Ich grinse bloß, und Malia schnaubt erneut. »Reiß dich einfach zusammen.«
Ich straffe die Schultern, ehe ich den Presseraum betrete, und wappne mich davor, die nächste halbe Stunde langweilige Fragen beantworten zu müssen. Als ich die Tür öffne, kann ich ein Gähnen nicht unterdrücken, bleibe aber plötzlich ruckartig stehen und frage mich, ob sich das Schicksal heute einen schlechten Scherz mit mir erlaubt. Denn in einem Sessel, vor einem aufgestellten Banner mit dem Exeoh-Logo im Hintergrund, sitzt Johanna.
Sie streicht sich gerade ein paar Strähnen aus dem Gesicht, ist völlig in die Blätter in ihren Händen vertieft und bemerkt mich dadurch nicht. So wie früher, wenn wir zusammen an Projekten gearbeitet haben und sie sich ihre Ideen laut vorgesagt hat, um sie nicht zu vergessen.
Wow. Das Schicksal hasst uns wirklich.
Kurz denke ich darüber nach, umzudrehen und wieder zu verschwinden, ehe Johanna mich bemerkt. Aber dann sieht sie in meine Richtung, und sofort verziehen sich ihre Mundwinkel nach unten.
Tja, sechs Jahre reichen wohl doch nicht aus, um Dinge hinter sich zu lassen. Meine Beine haben vergessen, wie man sich bewegt, und ich stehe wie angewurzelt in der Tür und starre meine Ex-Freundin an.
Keine Ahnung, wie viel Zeit vergeht, aber es reicht nicht aus, um jedes Detail von ihr betrachten zu können. In dem Moment stürmt aber schon Malia an mir vorbei in den Raum, direkt auf Johanna zu, die sich sofort erhebt.
»Frau Höfer, es tut mir so leid, dass wir zu spät sind. Herr da Silva wurde einige Mal von seinen Fans aufgehalten. Warten Sie schon lange?« Sie redet wie ein Wasserfall und gibt Johanna die Hand.
Johanna ergreift sie, schaut aber nicht Malia, sondern mich an. »Kein Problem.«
Der Klang ihrer Stimme … Ich will nicht darüber nachdenken, wie oft ich mich in der Vergangenheit danach gesehnt habe, sie noch einmal zu hören. Johanna sagen zu hören, dass sie mich liebt, ihr Lachen, ihr Weinen, ihr Stöhnen in meinem Ohr. Die volle Bandbreite ihrer Emotionen, vor denen sie nie Angst hatte, sie zu zeigen.
Ich dränge die Gedanken zurück, die mich zu übermannen drohen, und packe sie in eine imaginäre Kiste, die ich in die hinterste Ecke meines Kopfes schiebe.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir das Interview live übertragen? So können Lukas’ Fans den Stream direkt verfolgen.«
Wie bitte?
Endlich erlange ich die Kontrolle über meinen Körper zurück und gehe auf Malia und Johanna zu. »Was meinst du damit, das Interview wird gestreamt?«
»Das habe ich dir bereits mehrfach gesagt. Das Interview direkt im Anschluss zur Präsentation des Trailers zu führen, bringt den Views noch mal einen Push. Ich bin mir sicher, dass Frau Höfer einige Fragen zu The Last Souls of the Century hat, die du direkt live beantworten kannst.«
Johanna klimpert mit den Augen und lächelt. »Oh ja, ich habe sehr viele Fragen. Für mich ist es in Ordnung, wenn es gestreamt wird.«
In ihrer Stimme schwingt ein Unterton mit, der nach einer Drohung klingt. Mein Herz klopft auf einmal schneller, und mir ist nicht ganz wohl bei dem Gedanken, ihre Fragen zu beantworten, vor Tausenden Menschen, die sofort einschalten, sobald sie die Benachrichtigung erhalten, dass ich live bin. Und das auch noch direkt nach dem Trailer …
Verdammte Scheiße. Das ist überhaupt nicht gut. Sollte Johanna nur ein falsches Wort sagen, habe ich ein gewaltiges Problem.
»So ein Mist. Die Kamera liegt noch im Aufenthaltsraum. Ich gehe sie schnell holen!« Malia wirft mir einen warnenden Blick zu und eilt aus dem Raum.
Und dann bin ich mit Johanna allein.
Es sind nur unsere Atemzüge zu hören, die beide hektisch gehen, und vielleicht mein Herzschlag, der sich überschlägt. Damals trug sie einen Pony, jetzt ist ihr Haar zu einem strengen Zopf zusammengebunden, der ihr bis zu den Schulterblättern fällt. Das dezente Make-up betont Johannas moosgrüne Augen, und ich muss aufpassen, mich nicht in ihrem Blick zu verlieren, der wachsam auf mir ruht. Früher lag immer ein Hauch von Unsicherheit darin, doch jetzt ist nichts mehr davon zu spüren.
Sie muss nichts sagen, ich kann ihre Wut deutlich spüren. Ihre ganze Körperhaltung ist angespannt, ihr Brustkorb hebt und senkt sich hastig.
Ein falsches Wort, und sie wird mir an die Kehle springen. Nervosität packt mich, denn wenn ich nicht geschickt vorgehe, stehe ich gleich vor einem Desaster. Johanna weiß zu viel über mich, als dass wir jemals ein neutrales Gespräch führen könnten. Sie hat mich in der Hand, und das gefällt mir überhaupt nicht.
Bring sie dazu, das Interview zu verhauen.
Es ist ein widerlicher Gedanke, immerhin geht es um ihren Job, aber in diesem Fall ist meiner wichtiger. Und wenn sie fröhlich ausplaudert, was es mit der Idee von TLSOTC auf sich hat, ist meine Karriere vorbei.
»Hey«, sage ich möglichst unbefangen und gehe auf sie zu. »Lange nicht gesehen.«
Wow. Meine ersten Worte nach all der Zeit, und noch während ich sie ausspreche, komme ich mir wie der größte Arsch auf Erden vor. Vor ein paar Jahren noch habe ich mir oft vorgestellt, wie wir uns wiedersehen, aber an einem anderen Ort, unter anderen Gegebenheiten. Ich habe mir oft vorgestellt, wie mein Leben heute aussehen würde, wenn ich damals ins Flugzeug gestiegen wäre, anstatt in den USA zu bleiben, und … Ich schüttle den Kopf, denn es spielt sowieso keine Rolle mehr.
Wenn Johanna ihre Unterlagen weiter so fest umklammert, sind sie gleich nur noch ein Häufchen zerknülltes Papier.
Mach irgendetwas, damit du safe bist, schießt es mir durch den Kopf. Der Gedanke gefällt mir nicht, aber es muss sein.
Ich reiche ihr die Hand, so wie Malia eben, und warte auf ihre Reaktion. Johanna steht mir einfach gegenüber und wirkt unschlüssig. Doch dann nimmt sie meine Hand, und unsere Finger berühren sich. Wir berühren uns.
Das erste Mal nach sechs Jahren.
Kleine Blitze fahren durch meinen Körper, pulsieren in jeder Faser, und meine Kehle wird staubtrocken. Johanna sieht erschrocken auf unsere Hände und scheint ebenfalls überrascht von der Intensität dieser eigentlich harmlosen Berührung zu sein. Und dann weiß ich, was ich machen muss.
Ich warte zwei, drei Sekunden ab, ob sie meine Hand loslässt, und als sie es nicht tut, mache ich einen Schritt nach vorn. Dann noch einen, bis ich den Geruch ihres Parfüms einatme. Auf einmal ist sie mir so nah, dass sich unsere Fußspitzen berühren. Johanna wieder von Angesicht zu Angesicht zu sehen, löst mehr in mir aus, als ich mir eingestehen will.
Die Wut in ihren Augen weicht den unendlich vielen Fragen, die sie vermutlich hat und die ich ihr alle nicht beantworten kann.
»Lukas … warum …«
Noch bevor sie die Frage ganz aussprechen kann, überwinde ich die letzten Zentimeter zwischen uns, nehme ihr Gesicht in meine Hände und küsse sie.
11. Klasse nach den Sommerferien ...
Ab heute wird sich alles ändern.
Es war der erste Gedanke, mit dem ich am Morgen nach den Ferien aufwachte. Hoffnung und Angst kämpften seit Tagen in mir miteinander, doch keine von beiden hatte bisher die Oberhand gewonnen. Und letzte Nacht war es eine Mischung aus beiden, die mich nicht schlafen ließ.
Die vergangenen Schuljahre waren die Hölle. Jetzt in der Oberstufe wurden die Karten hoffentlich neu gemischt, und es würde besser werden. Es musste besser werden, ansonsten würde ich das Abitur nicht schaffen. Heutzutage wurden Geeks und Nerds in Filmen und Serien romantisiert. Am Ende der Geschichte gehörten sie immer zu den coolen Kids, waren sogar befreundet mit denjenigen, die ihnen vorher das Leben zur Hölle gemacht haben.
Im echten Leben war das anders. Jeder Tag bestand nur aus Überleben und unsichtbar sein, damit man irgendwie durchkam. Ich wollte weiterhin unter dem Radar fliegen, hatte keine Kraft mehr, täglich zu kämpfen.
Die meisten der Leute, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, mir das Leben zur Hölle zu machen, sind nach der 10. Klasse abgegangen. Es war ein erleichternder Gedanke zu wissen, dass ich in der Oberstufe vielleicht endlich frei atmen konnte. Dass mir niemand auflauerte, um mich fertigzumachen und mich zu beschimpfen. Bis zum heutigen Tag verstand ich nicht, warum. Ich wusste nicht, warum ich ständig als Loser bezeichnet wurde. Niemand wollte mit mir befreundet sein. Im Unterricht bekam ich kleine Zettelchen, auf denen man mir Schläge androhte, wenn ich mich meldete. Dort stand, dass der Rest der Klasse wegen mir schlecht dastand, weil ich anscheinend alles besser wusste und mich bei den Lehrenden einschleimte. Wenn ich es wagte zu petzen, würde ich es bereuen.
Ich hasste die Schule, und das jeden einzelnen Tag.
Am Ende wurde ich wahrscheinlich nur schikaniert, weil ich ich war. Weil ich Dinge liebte, für die andere sich nicht begeistern konnten. Ich liebte Videospiele wie Final Fantasy und Horizon, verbrachte viel Zeit mit Büchern, weil ich versuchte, mich hinter ihnen zu verstecken. Doch leider gelang es mir die meiste Zeit nicht.
An diesem Morgen verspürte ich aber so etwas wie Hoffnung darauf, dass sich heute alles ändern würde. Über die JBL Box lief »All I Wanted« von Daughter, während ich mich anzog und anschließend ins Badezimmer ging. Ich vermied einen zu langen Blick in den Spiegel, um nicht in eine Spirale aus Selbstzweifeln zu geraten. Heute musste der eigene Selbsthass für ein paar Stunden ruhen, anders würde ich den Tag nicht schaffen.
»Lukas, bist du wach?«, rief meine Mutter von unten. Eigentlich hatte ich gehofft, dass meine Eltern bereits auf dem Weg zur Arbeit waren und ich noch ein wenig Ruhe hatte. Falsch gedacht.
Egal, halte das Gespräch so knapp wie möglich.
Das würde nicht schwer werden, da mein Vater und ich sowieso kaum miteinander redeten. Ich atmete einmal tief durch, ehe ich die Verbindung zur JBL Box trennte und dann nach unten ging. Mein Vater saß tatsächlich in der Küche. Er las Zeitung, trank Kaffee und ließ sich bedienen. Wie immer.
Ich hasste es, und das wusste er, was es zwischen uns nicht besser machte.
»Hallo, Liebling«, begrüßte Mama mich. »Bist du bereit für den ersten Schultag in der Oberstufe?«
Ich rang mir ein Lächeln ab, denn wenn sie so fragte, klang es, als würde ich in die erste Klasse kommen.
»Passt schon.«
»Wenn du die Albernheiten über dein komisches Hobby sein lässt, wird aus dir endlich mal ein richtiger Mann«, sagte mein Vater, ohne aufzusehen. »Du bist intelligent genug, um ein Einser-Abi zu machen und danach Medizin oder Ingenieurwesen zu studieren. Also, gib dir Mühe.«
»Ich werde Game Design studieren. Wie oft noch?«
Eigentlich war es zwecklos, dieses Gespräch zu führen, denn zum einen hörte mir meine Familie nie richtig zu. Wenn ich zockte oder daran arbeitete, eigene Ideen für ein Spiel zu entwickeln, sahen sie es als Zeitverschwendung an. Dass es Zeit und Geduld für diese Art von Arbeit brauchte und ich so etwas wie Kunst erschuf – das spielte keine Rolle.
Zum anderen verstanden sie nicht, was mir die Welt der Spiele bedeutete. Insbesondere mein Vater versuchte es erst gar nicht, denn in seinen Augen sollte ich mich für Mädchen und Partys interessieren. Mittlerweile ging das so weit, dass er mich auf verschiedenen Anlässen zum Trinken animierte. Nur damit wir etwas gemeinsam hatten.
Mama versuchte zumindest, sich ein bisschen Mühe zu geben. Aber auch mit ihr wurde es von Tag zu Tag schwieriger. Nicht zuletzt, weil sie unter der Fuchtel meines Vaters stand. Aber selbst wenn ich nach seiner Pfeife tanzen würde, wäre ich dennoch eine Enttäuschung für ihn.
Und diese Erkenntnis hatte sich tief in mich eingebrannt.
»Du musst das nicht verstehen, Papa. Ich bin nicht wie du.«
Er legte die Zeitung zur Seite und warf mir einen eindringlichen Blick zu. In seinen braunen Augen lag reine Abneigung.
»Nein, das bist du nicht. Ganz offensichtlich nicht.«
Es gab eine Zeit, da hätten mich seine Worte tief getroffen, und es wäre gelogen zu sagen, dass sie mir jetzt komplett egal waren. Aber es half zu wissen, dass ich nur noch drei Jahre durchhalten musste, bis ich endlich zur Uni konnte. Und danach würde er mich nur noch sehen, wenn es unbedingt nötig war.
Die Fahrt mit dem Bus zum Gymnasium verlief unkompliziert. Wie erhofft flog ich unter dem Radar. Hoffentlich lag es nicht nur daran, dass heute Montag und der erste Tag nach den sechswöchigen Ferien war. Dennoch war ich angespannt. Es hatte genug Situationen gegeben, in denen ich statt zur Schule direkt wieder nach Hause gehen musste, weil mich jemand mit Essen beworfen hatte …
Vielleicht wird ja jetzt alles gut.
Ich wollte es glauben. Wirklich. Ich brauchte diese Hoffnung, um nicht aufzugeben. Um weiterhin an meinem Ziel festhalten zu können, ein perfektes Abitur hinzulegen, um danach Game Design zu studieren. Mit gesenktem Blick lief ich direkt zur Sporthalle und verfluchte den Kursplan schon jetzt. Lieber hätte ich mir Mathe in der ersten Stunde gewünscht. Leider entsprach ich im Sportunterricht dem typischen Klischee eines Nerds – ich war unterirdisch in Ballsportarten jeglicher Art und besaß die Kondition einer Schildkröte. Es war nicht so, dass ich nicht gerne Sport betrieb. Nur hasste ich alles, was mit Teamarbeit zusammenhing.
Die erste Gruppe an Schüler*innen stand bereits vor der verschlossenen Sporthalle. Als ich sah, um wen es sich handelte, drehte ich mich sofort um. Mein Puls schoss in die Höhe, mir rauschte das Blut in den Ohren. Panik machte sich in mir breit, und ich wollte nur weg. Weg, weg, weg. So weit wie möglich.
»Ey Hackfresse! Warum haust du ab? Warte doch, wir haben dich vermisst.«
Nein, nein, nein.
Das durfte nicht sein. Lennox hatte es nicht in die Oberstufe geschafft, das wusste ich. Er war der Anführer der Leute, die mir das Leben zur Hölle machten. Er durfte nicht hier sein.
Aber warum stand er dann vor der Turnhalle?
Ich ging schneller, versuchte zu ignorieren, was mir hinterhergerufen wurde. Automatisch wünschte ich mir einmal mehr, keine Zahnspange zu tragen und nicht von Akne geplagt zu sein.
Plötzlich traf mich ein harter Schlag am Hinterkopf, und ich sah Sterne, verlor das Gleichgewicht, fiel direkt auf die Knie. Jemand hatte anscheinend ein Buch nach mir geworfen, denn es prallte einige Meter von mir entfernt auf und landete im Gebüsch.
Tränen der Wut brannten mir in den Augen. Eigentlich müsste ich aufstehen und mich wehren. Sollte endlich für mich einstehen. Aber mir fehlte die Kraft dazu.
Es wird niemals aufhören.
»Komm schon. Sei kein Lappen und steh auf. So hart war der Wurf gar nicht.« Gelächter ertönte, und Schritte näherten sich.
Gerade als ich aufstehen wollte, wurde ich wieder nach vorne geschubst. Meine Handflächen trafen auf den Asphalt, und ich spürte einen stechenden Schmerz.
»Sieh uns endlich an. Du hast uns doch genauso vermisst wie wir dich. Das Schicksal meint es gut mit uns und will uns noch nicht trennen. Man hat für mich ein gutes Wort eingelegt, ich durfte ein paar Klausuren in den Ferien nachschreiben. Ist das nicht wunderbar?«
Wie konnte ich nur so naiv sein und glauben, dass es aufhört? Dass ich endlich in Ruhe gelassen wurde? Einmal Opfer, immer Opfer. Ich war so fest davon ausgegangen, dass sich unsere Wege nach der 10. Klasse trennten. Und jetzt hatte das Schicksal doch andere Pläne für ihn gehabt.
»Hört sofort auf!«
Von Weitem erklang eine weibliche Stimme, und ich musste nicht erst aufsehen, um zu wissen, zu wem sie gehörte. Johanna Höfer. Frühere Klassensprecherin, Everybody’s Darling und absoluter Schwarm der Jungs, die mir das Leben schwer machten.
»Misch dich nicht ein, Hanni. Wir reden nur ein bisschen.«
Gott, wie ich Lennox hasste. Er bekam selbst nichts auf die Reihe, aber tat so, als wäre er der King der Schule.
»Lass ihn in Ruhe«, zischte Johanna und trat näher. »Ich meins ernst.«
»Nur, wenn du mir die Eier lutschst.«
Da der Fokus gerade nicht auf mir lag, nutzte ich die Chance, um wieder auf die Beine zu kommen. Meine Handflächen brannten, waren aufgeschürft, und kleine Steine klebten in den offenen Wunden. Na super.
»Halt’s Maul, Lennox. Und jetzt hau endlich ab.«
Ich rechnete nicht damit, dass er auf Johanna hörte, und dachte, dass ihr stattdessen nur einen weiteren Spruch reindrücken würde. Stattdessen aber spuckte er uns vor die Füße, drehte sich um und verschwand.
Die erste Stunde hatte noch nicht mal richtig angefangen, und schon war alles eskaliert. Das Jahr würde die Hölle werden, so viel stand fest.
»Alles okay?«
Unsere Blicke trafen sich. In Johannas moosgrünen Augen lag Sorge, und sie presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Ihr herzförmiges Gesicht wurde von schwarzen Strähnen umrahmt. Wenn ich sie mit einem Videospielcharakter vergleichen würde, wäre sie für mich Tifa Lockhart aus Final Fantasy.
»Nein, ist es nicht«, antwortete ich grob. »Warum hast du das getan?«
»Was meinst du?«
»Ich wollte deine Hilfe nicht. Jetzt hast du es nur noch schlimmer für mich gemacht!«, blaffte ich.
»Hätte ich einfach zusehen sollen?«
Johanna hatte es nicht verdient, dass ich sie so anschnauzte. Eigentlich hätte ich mich eher bei ihr bedanken sollen. Ich war es nicht gewohnt, dass sich jemand für mich einsetzte, schon gar nicht die Schulprinzessin.
»Vergiss es einfach.«
Ich richtete meinen Rucksack und ging an ihr vorbei.
»Wo willst du hin?«, fragte sie verwirrt.
Ich antwortete ihr nicht, weil ich es selbst nicht wusste und nur weg von hier wollte.
Doch ohne Vorwarnung trat mir Schweiß auf der Stirn, ich hörte meinen Herzschlag in doppelter Lautstärke im Ohr. Abrupt blieb ich stehen, krallte die rechte Hand an meinen Halskragen, um Luft zu bekommen. Allerdings war meine Kehle wie zugeschnürt, ich versuchte zu atmen, aber schien vergessen zu haben, wie das funktioniert.
Scheiße.
Was passierte hier gerade?
Sosehr ich auch wollte – ich konnte keinen Schritt mehr weitergehen. Schweißtropfen liefen mir über die Schläfe, und mir wurde schwarz vor Augen. Ich wollte mich irgendwo festhalten, weil ich das Gefühl bekam, auf die Knie gezwungen zu werden. Wenn Lennox und seine Gruppe mich jetzt so sahen, dann wäre ich endgültig verloren …
Plötzlich stellte sich jemand in mein Sichtfeld.
»Lukas? Was ist los?«
Es war Johanna, die mich besorgt musterte.
Ich wollte nicht mit ihr reden, nur endlich verschwinden und mich in Luft auflösen. Nur wurde das Gefühl zu ersticken von Sekunde zu Sekunde schlimmer.
»I-ich kann nicht …«
Sofort trat sie einen Schritt näher, nahm mein Gesicht in ihre Hände und zwang mich, sie anzusehen.
»Ganz ruhig«, gab sie leise zurück. »Es ist alles okay. Konzentrier dich nur auf mich.«
Das sagte sie so leicht. Ich starrte in ihre Augen, die moosgrün waren, und versuchte, alles andere auszublenden. Johannas Hände waren warm, und behutsam hielt sie mich fest. Noch nie wurde ich auf diese Weise berührt. Als wäre ich aus Glas.
»Atme«, sagte sie.
Es war hart, gegen den eigenen Körper anzukämpfen. Ich hatte komplett die Kontrolle verloren und musste mich dennoch zwingen, sie wiederzuerlangen. Mit geballten Fäusten atmete ich ein und aus, spürte mein Herz gegen meine Brust hämmern. Es rauschte in meinen Ohren, doch allmählich wurde meine Sicht wieder klarer.
Ich entdeckte eine kleine, kaum sichtbare Narbe an Johannas Oberlippe. Schwarze Haarsträhnen hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und umrahmten ihr Gesicht. Sie war das schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte.
Langsam ließ sie ihre Hände sinken und trat einen Schritt zurück.
»Geht es wieder?«
Mein Shirt war am Kragen feucht, mir klebten die Haare an der Stirn, und ich fühlte mich in meiner eigenen Haut unwohler denn je. Jedoch bekam ich das Gefühl für mich selbst zurück und nickte deshalb.
»Ich glaube schon.«
»Hast du öfters Panikattacken?«
»Panikattacken?« Fragend starrte ich sie an. »Ich habe keine Panikattacken.«
»Das gerade war eine.«
Keine Ahnung, warum ich nicht wahrhaben wollte, dass es sich womöglich um eine Panikattacke handelte. Für mich klangen ihre Worte wie ein Angriff, einen weiteren Fehler an mir, mit dem ich mich auseinandersetzen musste. Und dafür fehlte mir die Kraft.
»Wie auch immer«, sagte ich schroff. »Misch dich nicht in Sachen ein, die dich nichts angehen.«
Verdammt, ich wollte gar nicht fies zu ihr sein. Aber binnen von Sekunden richtete ich die Mauern so weit hoch, dass ich niemanden mehr an mich heranließ.
Ohne mich noch einmal umzudrehen, ließ ich Johanna stehen und fühlte mich dabei wie der größte Arsch auf Erden.
Johanna
Warme Lippen treffen auf meine. Sie sind mir vertraut und gleichzeitig fremd, dass ich auf der Stelle vergesse, wo ich mich befinde und dass ich eigentlich ein Interview führen soll.
Stattdessen sprühen Funken durch meinen Körper, versetzen mich in eine Zeit von vor sechs Jahren. Als ich es noch gewohnt war, so geküsst zu werden. Stürmisch und leidenschaftlich, als wäre jeder Kuss der letzte. Und genauso fühlt es sich jetzt an, und ich habe gar keine andere Wahl, als meine Lippen zu öffnen und Lukas Einlass zu gewähren.
Mein Verstand ist alarmiert und versucht, an meine Vernunft zu appellieren. Innerlich schreie ich und versuche, mir bewusst zu machen, dass wir nicht mehr diese Personen sind, die sich auf diese Weise küssen. Denn wir sind kein Wir mehr. Lukas und ich sind nichts und in diesem Moment trotzdem alles.
Ich kann nicht aufhören, atme seinen Duft ein und bemerke, dass er anders riecht. Weniger vertraut, als ich es in Erinnerung habe, und diese Tatsache versetzt mir einen Stich. Früher hat er nach Zitrus und Milchseife gerochen. Jetzt ist da eine Note von Patschuli, Zimt und Sandelholz.