The Beauty in the Tragedy - Vanessa Hußmann - E-Book

The Beauty in the Tragedy E-Book

Vanessa Hußmann

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Beschreibung

GÜNSTIGER EINFÜHRUNGSPREIS NUR FÜR KURZE ZEIT! Nia und Jamie. Zwei Schicksale, zwei Menschen und eine Liebe, die gegen die Schatten der Vergangenheit kämpft, egal wie unüberwindbar es manchmal scheint. Ein New Adult-Roman über Schicksalsschläge und Neuanfänge "Und dann ließ er mich draußen stehen, ohne zu hören, wie mein Herz auf dem Boden aufprallte und in tausende Splitter zersprang, als wäre es all die Zeit aus Glas gewesen." Als Jamie und Nia sich auf einer Collegeparty kennenlernen, verbringen sie eine Nacht zusammen, die nicht ohne Konsequenzen bleibt. Denn als Jamie nach den Sommerferien als Nias neuer Fußballcoach vorgestellt wird, ist das Gefühlschaos vorprogrammiert. Obwohl der Collegestudent deswegen in Schwierigkeiten geraten kann, kommen sie sich immer wieder näher. Doch Nia und Jamie haben beide mit Schatten aus der Vergangenheit zu kämpfen. Vor allem Nia fällt es schwer, denn sie wurde erst aus einer Klinik für Essstörungen entlassen und muss ihr ganzes Leben neu sortieren.

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Seitenzahl: 498

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Ulla Mothes

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Annika Hanke

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Triggerwarnung:

Widmung

Playlist:

Teil 1

Prolog Nia

1 Nia

2 Nia

3 Jamie

4 Nia

5 Nia

6 Jamie

7 Nia

8 Nia

9 Jamie

10 Nia

11 Nia

12 Nia

13 Nia

14 Nia

15 Jamie

16 Nia

17 Jamie

18 Nia

19 Jamie

20 Nia

21 Nia

22 Jamie

23 Nia

24 Nia

25 Jamie

Teil 2

26 Nia

27 Jamie

28 Nia

29 Nia

30 Jamie

31 Nia

32 Nia

33 Jamie

34 Nia

35 Nia

36 Jamie

37 Jamie

38 Nia

39 Jamie

40 Jamie

Teil 3

41 Nia

42 Jamie

43 Nia

44 Jamie

45 Nia

46 Jamie

47 Nia

Epilog Nia

Danksagung

Liebe Leser*innen,

dieses Buch enthält potenzielle triggernde Inhalte bezüglich

Essstörungen und traumatischen Erlebnissen wie Tod und Verlust.

Du bist genug.

Das bist du immer.

Playlist:

Céline Dion – Ashes

Wincent Weiss – Mittendrin

5 Seconds of Summer – Ghost of You

Avril Lavinge – Head Above Water

Fergie – Big Girls Don’t Cry

Marianas Trench – While We’re Young

Taylor Swift – This Is Me Trying

Taylor Swift – Shake It Off

Nine One One – We Just Get One Life

Rita Ora – Grateful

Trading Yesterday – Shattered

Colbie Caillat – Try

Cimorelli – Worth the Fight

Sia – Breathe Me

Daughter – Youth

Daughter – Medicine

The Greatest Showman – This Is Me

Jimmy Eat World – Hear You Me

Christina Perri – Human

Birdy – Wings

BTS – 00:00 (Zero O’Clock)

BTS – Inner Child

Teil 1

»Jeder trug Narben mit sich. Mal sichtbar wie meine. Und dann unsichtbar wie ihre.«

Prolog Nia

Es war gegen Ende des Sommers, als ich nach zwölf Wochen Klinikaufenthalt entlassen wurde.

Meine Eltern saßen im Raum nebenan und sprachen mit den Ärzten über das weitere Verfahren. Ich verstand jedes einzelne Wort. Mir war vorher nie aufgefallen, wie hellhörig es hier war.

Zwölf Wochen.

Ich fühlte mich wie ein Tier, das im Zoo geboren worden war, und für das jetzt beschlossen wurde, es in die Freiheit zu entlassen. Keine Ahnung, wie ich überleben sollte.

Meine Instinkte hatten mich schon lange zuvor verlassen, und alles, worauf ich gehört hatte, war die Stimme in meinem Kopf. Jene, die mich fast umgebracht hätte.

Zwischen diesen Wänden war ich geschützt gewesen. Strukturen und Regeln verliehen mir die Orientierung, die ich verloren hatte.

Obwohl ich so vieles in den vergangenen Monaten gelernt hatte, fühlte ich mich in diesen Augenblicken überfordert. Nervös wippte ich mit meinem Bein und versuchte die Worte zu überhören, die im Nebenzimmer fielen.

Ich war die Einzige, die auf dem Flur saß, gekleidet in schwarze Leggings und einem dicken grauen Kapuzenpullover mit der Aufschrift Winters Bay High School.

Die Jeans, die ich bei meiner Ankunft getragen hatte, passte mir nicht mehr. Obwohl es ein gutes Zeichen war, war es gleichzeitig befremdlich.

In diesem langen Korridor kam ich mir so klein und unbedeutend vor. Ich wollte nur, dass meine Eltern endlich fertig wurden mit dem Gespräch.

»Wenn Sie mich fragen, wäre es besser, Nia für das letzte Jahr auf einer neuen Schule anzumelden. Nach allem, was passiert ist, wäre ein anderes Umfeld für ihre Genesung förderlich.«

Erschrocken riss ich die Augen auf. Unter keinen Umständen wechselte ich für mein Abschlussjahr auf eine andere Schule. Mir war bewusst, was mich auf der Winters Bay High erwartete, aber ich war gefestigt genug, um damit fertig zu werden. Zumindest redete ich mir das ein.

Du bist stark.

Allein das Fußballteam war ausschlaggebend für eine Rückkehr. Nach allem, was passiert war, hoffte ich trotzdem auf ein Stipendium im Herbst, um hier in Winters Bay zu studieren.

»Nia hat tolle Fortschritte gemacht, und ich bin zuversichtlich, dass sie es schafft. Aber die härteste Zeit beginnt erst jetzt.«

Meine Hände waren nassgeschwitzt, und ich wischte sie an dem Stoff der Leggings ab. Nach den letzten drei Monaten fing ich in meinem Leben bei null an.

Das Hungern war vorbei, ich nutzte es nicht mehr, um diese grenzenlose Leere in mir zu füllen. Etwas, das ich mir immer wieder bewusst machte.

Ich warf einen Blick auf das schwarze Armband, das ich in der Gestalttherapie entworfen hatte, und schluckte angespannt.

»An den Tagen, an denen ihr das komplette Gewicht der Welt auf euren Schultern spürt und aufgeben wollt, seht ihr auf euer Armband. Es soll euch daran erinnern, dass ihr stärker seid als die Stimme in eurem Kopf. Sie definiert euch nicht!«

Mit den Fingern fuhr ich über das dünne Bändchen und verlor mich in den Erinnerungen an die vergangenen Wochen. Ein dicker Kloß stieg in meiner Kehle auf, und ich sah zum Ausgang.

Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete, wenn ich durch diese Türen ging und sie hinter mir zufielen.

Es gab Ziele, die ich mir gesetzt hatte. Ich besaß immer noch Träume, wagte nur nicht, an sie zu glauben.

Aber wie sollte ich diese Ziele erreichen, wenn ich nicht mehr wusste, wer ich überhaupt noch war?

1 Nia

Es war merkwürdig, nach drei Monaten Klinikaufenthalt wieder zu Hause zu sein. Nichts hatte sich hier verändert, und trotzdem fühlte es sich an, als wäre ich eine Fremde in diesem Haus.

Ich versuchte, die Scherben der Vergangenheit zu beseitigen, anstatt sie zu reparieren. Verbannte alte Fotos und Erinnerungen aus dem letzten Schuljahr, um mich damit nicht mehr auseinandersetzen zu müssen. Trotzdem schmerzte es, denn am Ende vergaß man die Wunden nie. Vor allem nicht, wenn sie zu Narben verblassten und stets sichtbar blieben.

Die letzten Tage hatte ich damit verbracht, mich wieder einzuleben und mein Zimmer umzudekorieren, in der Hoffnung, dass es sich dann ein bisschen mehr nach mir anfühlte. Dabei wusste ich nicht einmal, was das bedeutete.

Ich seufzte und betrachtete mich nachdenklich im Spiegel. Meine blonden Haare fielen kraftlos über die Schultern und benötigten dringend einen neuen Schnitt. Die zuletzt eingefallenen Wangen rundeten sich wieder und das blasse Gesicht wirkte nicht mehr ganz so kränklich. Dennoch brauchte ich die doppelte Menge an Concealer, um die Augenringe halbwegs zu kaschieren.

Meine blauen Augen aber erzählten all die Geschichten, die ich am liebsten für immer vergessen hätte. Geschichten über Schmerz, Verlust und Verrat.

Mir blieben noch ein paar Wochen, bis die Schule losging, und ich war froh darüber. So hatte ich die Möglichkeit, wieder anzukommen.

Verloren stand ich in der Mitte des Raumes, sah mich um und versuchte, mich daran zu erinnern, wie es war, ich zu sein. Wollte ich das überhaupt noch?

Wenn es nach mir ginge, hätte ich alles am liebsten vergessen, begraben und die Erinnerungen nie wieder herausgeholt. Aber sie waren nun ein Teil von mir, und ich musste lernen, damit zu leben.

Mit schlaffen Gliedern setzte ich mich an den Schreibtisch und öffnete den Laptop. Ich war noch nie ein großer Fan von Social Media gewesen, aber dennoch öffnete ich Instagram. Zumindest auf meinem Handy hatte ich es geschafft, die App zu löschen. Zuletzt war sie Gift für mich gewesen.

Meine Finger schwebten über die Tastatur, doch ich stockte, als ich bemerkte, welchen Namen ich dabei war einzutippen.

Meine Eltern würden mir den Laptop auf der Stelle wegnehmen, wenn sie davon Wind bekommen würden. Ich selbst verstand nicht, warum ich ausgerechnet nach ihm suchte.

Trotz allem, was vorgefallen war – die unendlichen Tränen, der Schmerz und die zerbrochenen Freundschaften –, trotz allem sehnte ich mich nach ihm.

Es erschreckte mich, dass ich nach wie vor an ihn dachte, und hastig klappte ich den Laptop zu. In den letzten Monaten war ich zerbrochen und war nun mühsam dabei, mich wieder zusammenzuflicken. Das funktionierte allerdings nicht, wenn ich in der Vergangenheit feststeckte.

Aber ich konnte nicht anders. Wieder öffnete ich den Laptop und klickte auf sein Profil. Gleich darauf sprangen mir etliche Bilder von ihm in die Augen. Sein schönes Lächeln war perfekt in Szene gesetzt, und Hunderte von Kommentaren waren darunter zu lesen.

Nando …

Mir schossen die Tränen in die Augen. Es hätte alles anders kommen können, wenn … Das Wenn war keine Option.

Ich scrollte weiter, bis ein bestimmtes Bild meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Es zeigte einen Flyer einer Collegeparty. Dieses Wochenende.

Mein Herz raste. Mom und Dad würden mich niemals auf die Party gehen lassen. Es war ein dummer Gedanke, Hoffnung zu hegen, Nando dort zu sehen. Und selbst wenn … Was würde es mir bringen? Außer Herzschmerz?

Ich seufzte und raufte mir gleichzeitig das Haar.

Jetzt, da ich von der Party wusste, konnte ich an nichts anderes mehr denken.

Meine Schwester Hailey würde mich niemals einfach so mitnehmen, wenn ich keine ausschlaggebenden Argumente lieferte. Das Problem war, dass es keine gab. Aber irgendwie musste ich auf diese Party. Und wenn nur, um mir selbst zu beweisen, dass ich in der Lage war, ihn hinter mir zu lassen.

***

Mom und Dad saßen im Wohnzimmer, als ich am Nachmittag aus meinem Zimmer trat. Bislang kam es mir so vor, als würde jeder Schritt von mir überwacht werden, und ich schlich umher wie eine Maus, die immerzu auf der Hut war.

Die Sonne schien durch die Fenster, draußen zwitscherten die Vögel, und ich hörte die Nachbarskinder nebenan im Garten lachen.

»Hallo Schatz. Willst du noch los?« Mom lächelte freundlich, aber es erreichte ihre Augen nicht. Diese waren stets mit Sorge um mich gefüllt, und ich fand es schrecklich, der Grund dafür zu sein.

»Ich wollte zu Hailey, wenn das okay ist. Ich bin … zum Abendessen wieder da.«

»Natürlich.«

Mom und Dad wechselten einen Blick, der mir nicht entging, und er sagte mehr aus, als sie jemals laut aussprechen würden. Sie vertrauten mir nicht. Am liebsten hätten sie es gehabt, wenn einer von ihnen mich begleiten würde. Ich zwang mich zu einem Lächeln, das sich falsch anfühlte. So als hätte ich es verlernt.

»Ich bin pünktlich wieder da. Versprochen.«

Dad nickte. »Okay, viel Spaß dir. Grüß Hailey von uns und sag ihr, dass sie sich hier auch mal wieder blicken lassen kann.«

»Mach ich. Aber ihr kennt sie ja.«

Hailey liebte die Familie, nur legte sie nicht so viel Wert darauf, Zeit mit uns zu verbringen. Mom und Dad wussten das, aber manchmal fiel es ihnen schwer, es zu akzeptieren.

Meine Schwester würde sicherlich an ihrem Van arbeiten, und hoffentlich schaffte ich es, sie zu überreden, mit mir auf die Collegeparty zu gehen.

Mit dem Fahrrad fuhr ich die Straßen entlang, die mich über weite Felder und kurze Zeit später zum College führten. Haileys Van stand dort ganz in der Nähe.

Eine warme Brise wehte mir durch das Haar, der Geruch von den Gräsern und Sommer kitzelte in der Nase. Es war belebend. Trotzdem fühlte ich nichts.

Zwar ging es mir deutlich besser, aber ich hatte Schwierigkeiten damit, Gefühle wieder zuzulassen. Mich damit auseinanderzusetzen, was sie bedeuteten. Und dass es okay war, wenn es mir schlecht ging.

All meine Gefühle, die guten, die schlechten und alles dazwischen, ich durfte sie fühlen. Es gab nichts, das ich betäuben musste, indem ich einen Weg fand, es wegzusperren.

Ich sehnte mich danach, glücklich zu sein. Aber es war noch ein langer Weg bis zu diesem Punkt, es wieder voll und ganz zuzulassen.

Wie vermutet, werkelte Hailey an dem Motor des Vans herum, in dem sie lebte. Sie trug einen Pferdeschwanz, blonde Strähnen fielen ihr auf die Schultern, und an ihrer blauen Latzhose klebten Ölflecken.

»Hey«, begrüßte ich sie schlicht.

Hailey zuckte zusammen, blickte in meine Richtung und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Waren wir verabredet?«, fragte sie überrascht.

»Nein. Darf ich dich nicht einfach besuchen?«

Hailey legte das Werkzeug aus der Hand und trat näher. »Doch, klar. Aber wenn ich gewusst hätte, dass du kommst, dann hätte ich mich umgezogen. Gib mir einen Moment, okay?«

Während sie im Van verschwand, sich wusch und umzog, setzte ich mich auf einen der Campingstühle.

Es war so ruhig hier. Die ersten Bäume des angrenzenden Waldes ragten hoch auf. Die Hitze war dem Gras zwischen ihnen anzusehen, aber dennoch mochte ich die braunen Töne. In ein paar Monaten, wenn der Herbst sich richtig zeigte, war es noch schöner hier.

Ich schloss kurz die Augen, ließ die Natur auf mich wirken. Irgendwann wird es besser. Halte nur durch.

Hailey kam mit Getränken wieder nach draußen und setzte sich neben mich.

»Ist alles in Ordnung? Du siehst aufgewühlt aus.« Misstrauisch beäugte sie mich.

»Ich würde lügen, wenn ich Ja sagen würde. Ich arbeite dran, dass es wieder in Ordnung sein wird. Mom und Dad … Ich habe das Gefühl, als würden sie nur darauf warten, dass ich explodiere. Mir kommt es vor, als würde ich die Luft anhalten.«

»Du kannst jederzeit hier schlafen, wenn du eine Auszeit brachst. Aber nimm es ihnen nicht übel, dass sie noch besorgt sind. Sie brauchen Zeit.«

Traurig senkte ich den Kopf. »Ich weiß. Da wir gerade bei Auszeit sind …« Ich überlegte, wie ich am besten mit der Sprache herausrückte und es möglichst geschickt verpackte.

»Die Ferien sind noch nicht vorbei und ich hätte Lust darauf, etwas zu erleben. Mal rauszukommen.«

Hailey war stets diejenige, die sich von mir nicht täuschen ließ, und auch jetzt zog sie die Augenbrauen argwöhnisch zusammen. »Was schwebt dir vor?«

Auf einmal kam ich mir lächerlich vor. Nando war tabu. Geschichte. Ich wusste das alles.

Und trotzdem wollte ich auf diese verfluchte Party, weil die minimale Chance bestand, dass er auftauchen könnte.

Ich zuckte unschuldig mit den Schultern. »Ich hätte mal wieder richtig Lust zu feiern. Die letzten Veranstaltungen haben alle im Desaster geendet. Ich würde gern Spaß haben und die Nacht durchtanzen.«

»Du hasst Partys.« Hailey sah mich fragend an. »Was ist los? Warum willst du auf eine Party? Mom und Dad sind sicherlich begeistert.«

Ich verdrehte anlässlich ihres Sarkasmus’ die Augen und seufzte. »Ich brauche es einfach. Muss immer alles ein Grund haben?«

»Nein, aber wie ich schon sagte: Du hasst Partys.«

»Wir könnten doch zusammen hin. Demnächst ist eine Party in einem der Verbindungshäuser, soweit ich weiß.«

»Ich gehe mit dir auf keine Party.« Hailey verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. »Ich habe keine Lust, darauf aufzupassen, dass du keine Dummheiten machst. Ich erinnere dich gern an das Fiasko auf der Fieldparty, als Emma und ich dich holen mussten, weil du so betrunken gewesen warst.«

Ihre forsche Aussage traf mich unweigerlich, und ich biss mir auf die Unterlippe. Vor allem aber schmerzte die Erinnerung an diesen Abend.

»Ich verspreche dir, dir keine Probleme zu bereiten. Bitte Hailey. Ich brauche diesen Abend.«

Sie fing ernsthaft an, darüber nachzudenken. »Und was willst du unseren Eltern sagen?«

»Gar nichts? Sie würden es niemals erlauben.«

»Nia!« Entrüstet schüttelte Hailey den Kopf. »Ich werde nicht mehr für dich lügen. Sorry, aber das mache ich nicht.«

»Du musst doch gar nicht für mich lügen! Ich sage ihnen einfach nur, dass ich bei dir schlafe. Mehr nicht.«

Ich konnte es ihr nicht verübeln, dass sie nicht begeistert von der Idee war. Vor allem nicht darüber, dass sie mit mir unsere Eltern hintergehen sollte. Dabei war absolute Ehrlichkeit genau das, was unsere Beziehung zueinander benötigte.

Auch wenn ich achtzehn war, waren meine Eltern nach allem natürlich sensibel geworden.

»Hailey, bitte …«

Ich würde ihr nie den wahren Grund verraten, dann hätte ich jegliche Chance verspielt. Meine Schwester schnaubte gereizt auf, nahm einen Schluck von dem Wasser und ließ den Blick über den Waldrand gleiten.

»Ich überlege es mir.«

2 Nia

Die Musik dröhnte durch die Boxen, und der Bass war ohrenbetäubend. Jeder um mich herum spürte die Klänge, tanzte ausgelassen zu dem Beat. In diesen Augenblicken war für die Leute nichts weiter von Bedeutung.

Collegepartys. Fieldpartys. Alles dasselbe.

Und trotzdem war ich hier. Zunächst war ich froh gewesen, dass Hailey am Ende doch eingewilligt hatte. Nun aber bereute ich es, Nando hier anzutreffen zu wollen. Die Eindrücke überforderten mich, und ich fühlte mich die ganze Zeit über fehl am Platz. Noch mehr als ohnehin schon.

Hailey war wie immer das komplette Gegenteil von mir. Ausgelassen tanzte sie in dem völlig überfüllten Gemeinschaftsraum des Verbindungshauses, flirtete mit einem Collegetypen neben sich, den sie durch ihre Ausstrahlung in den Bann zog, und lebte den Moment.

Ich jedoch drehte mich nach allen Seiten um und hoffte, dass niemand meinen grausamen Tanzstil bemerkte. Obwohl ich dagegen ankämpfte, fing ich an, mich mit den jungen Frauen hier zu vergleichen.

Hier existierten nur Studentinnen mit perfekten Rundungen und reizenden Gesichtern. Das Lächeln auf ihren Lippen wirkte glücklich und befreit, und ich fragte mich unwillkürlich, wie echt es am Ende solcher Abende war.

Kämpften sie mit ähnlichen Dämonen wie ich? Mit dem Gefühl, zu hadern, nie genug zu sein?

Hör auf damit, Nia! Hör auf. Hör auf. Hör auf.

Verbissen beobachtete ich die tanzenden jungen Frauen und spürte, wie mit jedem weiteren Beat der Groll in mir wuchs.

Du bist genug.

Wie oft musste ich mir diesen Satz ins Gedächtnis rufen, um den Glauben daran nicht zu verlieren?

Die Luft in dem Wohnzimmer war stickig, und der Geruch von Bier, Whisky und Marihuana vermischte sich zu einem üblen Gestank, der aber scheinbar nur mich störte.

Meine Schwester drückte mir einen Becher in die Hand und rollte mit den Augen. »Kannst du dich bitte wenigstens ein bisschen entspannen? Ich habe echt ein schlechtes Gewissen, dich eingeladen zu haben. Tu wenigstens so, als sei es die richtige Entscheidung gewesen.« Hailey musterte mich missmutig.

Ich starrte in den Becher hinein. »Du gibst mir bloß Wasser?«, fragte ich trocken. Mit Alkohol wäre ich möglicherweise in der Lage gewesen, mich doch etwas zu entspannen.

»Ich lege es lieber nicht darauf an, kleine Schwester. Amüsiere dich ein bisschen und hör auf, alles in deinem hübschen Kopf zu überdenken. So was gibt Falten.«

Genervt ließ ich die Schultern hängen und warf ihr ein flüchtiges Lächeln zu. Ich bewunderte Hailey für ihren sorglosen Charakter. Sie lebte mit ihren eigenen Problemen, aber sie war in der Lage, sie auch mal zu vertreiben.

»Ich geh kurz zur Toilette«, brummte ich und ließ sie im Tumult zurück, ohne auf eine Reaktion zu warten. Hailey rief mir etwas hinterher, aber ich verschwand schnell in der Menge.

Das Verbindungshaus war das reinste Labyrinth, bestehend aus unzähligen, gleichaussehenden Türen. Es war anstrengend, sich einen Weg durch die Flure zu bahnen, weil überall Leute im Weg standen. Des Öfteren prallte ich gegen Betrunkene, streifte verschwitzte Oberarme oder starrte in benebelte Gesichter, die mich glücklicherweise nicht wahrnahmen.

Wie auch? Für die meisten war ich unsichtbar.

Leere Becher, Zigarettenstummel und Flaschen lagen achtlos auf dem Holzboden, der stellenweise unter den Schuhen klebte. Manchmal lehnte jemand in komatösem Zustand zusammengesackt an der Wand.

Als ich endlich die Toilette fand, warteten vor der verschlossenen Tür bereits zahlreiche Studentinnen.

»Sorry Kleine, irgendwer feiert hier gerade eine Orgie auf dem Klo. Vielleicht hast du Erfolg im ersten Stock«, meinte eine Blondine, die abseitsstand und meinen fragenden Blick bemerkte.

Gereizt stöhnte ich auf. Wäre ich doch nur zu Hause geblieben … Das neueste Buch von Brittainy C. Cherry wartete darauf, von mir verschlungen zu werden.

Verbissen drängelte ich mich erneut durch die Menge und stapfte mit hängenden Schultern die Treppe empor. Immerhin war es im oberen Stockwerk friedlicher, und nur vereinzelt kamen mir Studenten entgegen.

Gefrustet ließ ich mich an der Wand zwischen zwei Türen nieder, die vermutlich zu den Studentenzimmern führten, und schloss die Augen.

Mir war zum Heulen zumute. Die Überforderung traf mich mitten in die Magengrube, und ich schnappte panisch nach Luft. So fest wie möglich zog ich die Beine an meine Brust und versuchte, nicht zu zerbrechen. Aber ich durfte keine Schwäche zulassen. Hailey würde durchdrehen, wenn sie bemerkte, dass ich ihr nur etwas vorspielte.

Du schaffst das. Alles wird gut. Ein Schritt nach dem anderen.

Diese Stimme in meinem Kopf war mir so fremd, und ich vertraute ihr nicht. In diesen Sekunden vermisste ich die Kontrolle von damals, die ich über mich selbst gehabt hatte. Ich hatte sie gehasst, ja. Aber vieles schien leichter gewesen zu sein. Jetzt fühlte ich mich einsamer denn je. Ich existierte nur, anstatt zu leben.

Plötzlich ertönte aus dem Zimmer hinter mir ein Hundebellen, und ich zuckte erschrocken zusammen. Hastig wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht.

»Ganz ruhig, Kumpel. Wir entfliehen dieser schrecklichen Gesellschaft gleich.« Eine dunkle Stimme erklang ebenfalls aus dem Raum, und ich musste unwillkürlich lächeln aufgrund seiner Worte.

Schreckliche Gesellschaft. Ich weiß genau, was du meinst.

Wieder bellte der Hund.

Der Drang, die Toilette aufzusuchen und mich dort einzuschließen, verschwand in diesem Augenblick. Stattdessen war ich neugierig, zu wem die dunkle Stimme gehörte.

Als sich die Tür einen Spalt öffnete, schoss ein Australian Shepherd aus dem Raum und flitzte den Flur auf und ab. Fast stolperte er vor Aufregung über meine Beine. Gleich darauf trat ein hochgewachsener, breitschultriger Typ heraus und starrte mich erschrocken an.

»Bucky, komm sofort her!«, rief er dem Hund zu, der augenblicklich parierte. Mit wedelndem Schwanz sah er unschuldig auf sein Herrchen.

Überrascht blickte dieser auf mich herunter und rieb sich gleich darauf peinlich berührt den Nacken.

»Ich hoffe, mein Hund hat dich nicht belästigt. Er hat Probleme mit der Lautstärke. Ich wollte auch nur meine Sporttasche und den Karton von meinem Kumpel abholen und dann wieder verschwinden.« Er sprach so hastig, dass ich Schwierigkeiten hatte, ihn über die Musik hinweg zu verstehen.

Flüchtig lächelte ich. »Schon in Ordnung. Ich mag Hunde.«

»Oh gut«, gab er erleichtert zurück. »Bucky ist manchmal etwas zu euphorisch, und einige haben Probleme damit.«

»Bucky? Wie der Winter Soldier?«

Der Typ lächelte verlegen. »Ja, genau. Ich bin auf dem Sprung zu meiner Wohnung, um endlich die letzten Sachen auszupacken.«

Perplex blinzelte ich ihn an. Seine offene Art war irritierend und gleichzeitig erfrischend. Nervös räusperte ich mich und stand mit schweren Gliedern auf.

»Du wohnst also nicht hier?«

»Nein, das hier ist das Zimmer meines besten Freundes. Ich habe zum Glück ein eigenes Apartment.«

Seine Lockerheit schwappte auf mich über, und ich entspannte mich ein wenig.

»Ich bin übrigens Jamie«, stellte er sich vor und lächelte leicht. Dabei strahlten seine hellen braunen Augen eine ungewöhnliche Wärme aus.

»Nia. Was studierst du denn?«

Jamie zog kurz die Augenbrauen zusammen, ehe er nicht mehr ganz so begeistert antwortete: »Sportwissenschaften. Ich wusste nicht, was ich sonst studieren sollte. Und du?«

Mir war nicht bewusst gewesen, dass er mich für eine normale Studentin hielt. Kurz dachte ich darüber nach, ihm die Wahrheit zu sagen, aber dann entschied ich mich dagegen, um für den heutigen Abend jemand anderes zu sein. Frei von den Sorgen und Ängsten des bevorstehenden letzten Schuljahres und einer Vergangenheit, die mich immer wieder einholte.

»Veterinärmedizin.«

Jamie blickte auf Bucky und kraulte ihm liebevoll den Nacken. »Dann weiß ich ja, an wen ich mich wende, wenn ich mal Hilfe brauche.«

Ich ging in die Hocke, um den Australian Shepherd ebenfalls zu streicheln, und sagte in Gedanken und mehr zu mir selbst: »Anders als Menschen würden Tiere einen nie absichtlich verletzten. Sie sind auf unsere Hilfe angewiesen, und trotzdem sind wir diejenigen, die ihnen viel zu oft Leid zufügen.«

Als ich wieder aufstand, sah ich direkt in Jamies Augen, die mich unverwandt musterten. Erst dann fiel mir auf, dass ich die Worte laut ausgesprochen hatte, und wurde rot. Er erwiderte nichts darauf, sondern schenkte mir bloß ein zaghaftes Lächeln, das mir plötzlich weiche Knie bescherte.

Um die Situation nicht unangenehmer werden zu lassen, fragte ich, ohne nachzudenken: »Ich weiß, das klingt schräg, aber dürfte ich euch begleiten, wenn ihr diese schreckliche Gesellschaft verlasst? Ich kann dir beim Tragen helfen.«

Ich verwendete absichtlich seine Worte. »Diese Partys sind echt nicht mein Ding, und ich suche nach einem Vorwand, um von hier zu verschwinden.«

Jamie nickte dankbar. »Es ist schön zu wissen, dass nicht jeder darauf steht, sich an einem Samstagabend volllaufen zu lassen.«

***

Die Nacht war kühl für Mitte August, und ich atmete erleichtert aus, als ich das Verbindungshaus endlich hinter mir ließ. Es war eine dumme Idee gewesen, überhaupt herzukommen. Obwohl ich gelernt hatte, für meine Bedürfnisse einzustehen, war ich trotzdem hier gelandet, und das nur aus Angst, Hailey zu enttäuschen.

Hat ja wahnsinnig toll funktioniert.

Mit einer kurzen Nachricht gab ich meiner Schwester Bescheid, auf dem Heimweg zu sein. Dabei spazierte ich neben einem wildfremden Typen her.

Das Campusgelände war in Dunkelheit getaucht, und nur die warmen Lichter der Laternen ließen vermuten, wie charmant es hier am Tag aussah. Der Campus war umgeben von Wäldern und Bergen, die schon bald in goldenen Farben erstrahlen würden.

Das Bay College war mein absoluter Traum, an dem ich nach wie vor festhielt und der mir Halt gab.

Jamie und ich spazierten entspannt nebeneinanderher, und obwohl wir Fremde waren, genoss ich die Stille zwischen uns. Er besaß eine ruhige Ausstrahlung, durch die sich sogar der Sturm in mir kurzzeitig beruhigte.

Ab und zu spürte ich seinen Blick auf mir ruhen, aber wenn ich meinen Kopf zur Seite drehte, wandte er sich schnell wieder nach vorn.

»Was hast du auf der Party gesucht, wenn du eigentlich gar nicht da sein wolltest?«, fragte Jamie in die Nacht hinein.

»Ich wollte mir selbst beweisen, dass Collegepartys voll mein Ding sind. Hat nicht ganz geklappt«, antwortete ich knapp. »Die Realität ist manchmal nicht so, wie wir sie uns wünschen.«

Jamie warf mir einen Blick zu und zuckte locker mit den Schultern. »Ja, das verstehe ich gut. In der Scheinwelt lebt es sich oft leichter. Aber sie ist auch oftmals einsam.«

Überrascht sah ich auf und begegnete seinem Blick. Obwohl es mir zuvor schon aufgefallen war, stellte ich erneut fest, dass Jamie wahnsinnig attraktiv war.

Er besaß ein markantes Kinn, hohe Wagenkochen und volle Lippen, die er zu einem zögernden Lächeln verzog. In seinen kaffeebraunen Augen lag Wärme. Er schien nicht mal im Ansatz zu erahnen, was in mir vorging.

Seine goldbraunen Haare hätten einen Schnitt vertragen können. Augenblicklich wuchs in mir der Drang, mit meinen Fingern hindurchzufahren.

Der Ansatz seines Bizepses ließ vermuten, was sich unter dem schlichten Shirt befand, es gab jedenfalls keinen Zweifel, dass er durchtrainiert war.

Jamie überragte mich ein ganzes Stück, und ich legte den Kopf in den Nacken, um ihn besser anzusehen.

»Wir können heute Abend der Realität ein paar Stunden entfliehen, wenn du willst. Manchmal ist es besser, nicht immer über die Konsequenzen jeder Handlung nachzudenken«, sagte ich locker.

»Klingt nach einem perfekten Abend«, stimmte er schmunzelnd zu.

Ich lächelte ebenfalls. Es war so leicht, sich bei ihm geborgen zu fühlen, und es irritierte mich.

»Worauf hast du denn Lust?«, fragte Jamie. »Das Melody’s ist in der Nähe und hat auf. Die haben die beste Pasta in der Stadt, habe ich mir sagen lassen. Wir bringen die Sachen in die Wohnung und ziehen weiter.«

Eine altbekannte Panik traf mich ohne Vorwarnung. Binnen Sekunden wurden meine Hände schwitzig, und der Puls raste.

Natürlich kannte ich die Speisekarte vom Diner auswendig. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich die Gerichte dort in gute und in schlechte Kategorien unterteilt, bis am Ende alles aus der Auswahl geflogen war.

Irgendwann musste ich in der Lage sein, mich dem zu stellen. Aber nicht heute Abend.

»Können wir nicht etwas anderes unternehmen?«, fragte ich beklommen.

»Klar, was schwebt dir vor?«

Meine Gedanken waren total verkorkst. Ich blieb stehen und musterte Jamie gespannt.

»Es gibt da etwas.«

Die Leere in mir schrie danach, ausgefüllt zu werden und einen Moment lang in Vergessenheit zu geraten. Jamie bemerkte den Stimmungswechsel und rieb sich nervös den Nacken. Er hatte keine Ahnung, worauf ich hinauswollte. Eigentlich wusste ich es selber nicht.

Er war verdammt süß, wenn er so unschuldig guckte.

Jamie auszunutzen, nur damit ich mich lebendig fühlte, war ein widerlicher Zug. Trotzdem hinderte es mich nicht daran, einen Schritt auf ihn zuzugehen und den Abstand zwischen uns bewusst zu verringern.

»Ich will etwas fühlen«, flüsterte ich leise.

Irritiert zog er die Augenbrauen zusammen und sein Mund öffnete sich kurz, doch dann schwieg er. Letztlich musterte er mein Gesicht mit einem intensiven Blick, der den Anflug eines Kribbelns im Bauch verursachte.

Jamie wich nicht zurück, als ich noch nähertrat und die Wärme spürte, die von ihm ausging. Sein Atem beschleunigte sich, als er endlich die Bedeutung hinter meiner Aussage verstand.

Mir war alles egal. Ich wollte nur einen Moment lang vergessen.

3 Jamie

Ich war nie der Typ für eine Nacht gewesen und verstand deshalb nicht, welchen Reiz es mit sich brachte, jeden Abend eine andere Frau abzuschleppen.

Doch als Nia mich mit ihren ozeanblauen Augen erwartungsvoll musterte, verlor ich jegliche Vernunft. In ihr war etwas zerbrochen, und ich verspürte das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen und so lange zu halten, bis es ihr besser ging. Ich wollte den Grund wissen, warum in diesen Augen so viel Schmerz und Enttäuschung lag.

Etwas, mit dem ich selbst jeden Tag lebte, nur fiel es mir leichter, es vor der Welt zu vertuschen. In den letzten Jahren hatte ich gelernt, meine Rolle perfekt zu spielen. Niemand fragte nach meinem Befinden oder wie es mir mit der Bürde erging, die ich mir selbst auferlegt hatte. Vielleicht hatten die Fragen aufgehört, weil ich sie ohnehin nicht beantwortete.

Nachdem wir die Sporttasche im Flur abgestellt hatten, gingen wir in den offenen Wohn- und Essbereich. Ich war froh, dem Verbindungshaus entkommen zu sein und nun meine Ruhe zu haben. Keine Ahnung, wie Paxton es dort aushielt.

Überall standen unausgepackte Kisten. Der Boden war frisch poliert und es roch nach Farbe.

Ich war mir nicht sicher, was Nia jetzt erwartete. Ihr wachsamer Blick glitt über den Raum, und sie näherte sich den großen Fenstern, die einen Blick über die ganze Stadt boten. Helle Vorhänge verschleierten die Lichter, die in der Dunkelheit aufflammten.

Langsam näherte ich mich ihr, und als sich unsere Schultern streiften, zuckte sie zusammen.

Wir kannten uns nicht, und trotzdem schlugen unsere Herzen im selben Rhythmus miteinander, als würden sie zusammen tanzen.

Ihr Blick war starr nach draußen gerichtet, und meine Zurückhaltung führte dazu, dass sich die Atmosphäre zwischen uns verspannte. In Filmen lief immer alles ganz schnell ab, ohne große Worte oder Gefühle.

Aber die Realität war eine andere. Vor allem die Sache mit den Gefühlen, denn ein Blick von ihr hatte gereicht, um mich zu verzaubern.

Nach dem ganzen Scheiß, der mir in den letzten Jahren widerfahren war, berührte sie plötzlich und ohne Vorwarnung etwas in mir.

»Ich … habe das noch nie gemacht.«

Ich kam mir lächerlich vor. Mit einundzwanzig hatte ich weit größere Schicksalsschläge hinter mir, die andere in ihrem Leben nie durchmachen mussten. Doch davon, wie man eine Frau verführte, hatte ich keinen blassen Schimmer.

Nia lächelte schüchtern. Eben noch hatte sie selbstbewusst gewirkt, doch jetzt klang sie nervös.

»Das klingt total dämlich aber … kannst du mich in den Arm nehmen?« Sie zitterte leicht und knetete sich nervös ihre schlanken Finger.

Ich schüttelte den Kopf und lächelte sanft. »Nein, das klingt ganz und gar nicht dämlich.«

Behutsam griff ich nach ihren Händen und zog Nia mit einem Schritt an meine Brust. Es war erschreckend, wie sich eine längst vergessene Wärme sofort in mir ausbreitete. Sie schlang ihre Arme um mich und atmete tief durch.

Im ersten Moment hatte ich Angst, ihren Körper mit der Umarmung zu zerbrechen, weil er so zierlich war. Aber Nias Herz klopfte fest gegen ihre Brust, und ich wusste, dass sie stärker als die Traurigkeit war, die sie mit sich trug.

Es gab noch keine Deckenlampe, nur die Lichter der Außenwelt durchfluteten sanft den Raum. Wir standen eine ganze Weile bloß vor den Fenstern, hielten uns im Arm und schirmten so alles andere ab.

Nia war es, die wieder Abstand zwischen uns brachte und mir in die Augen sah. Sie wirkte müde und ausgezehrt, doch trotzdem war sie bildschön.

»Ich bin schrecklich nervös«, gab ich zu und lachte angespannt.

»Um ehrlich zu sein: ich auch. Eigentlich habe ich gedacht, dass ich weiß, was ich tue, aber …« Nia zuckte mit den Schultern. »Aber es scheint wohl nicht so.«

»Wir müssen nicht … ich meine …« Ich nahm wieder Abstand und fuhr mir durch das Haar. »Wir können bloß reden. Oder so.«

»Ich will aber nicht nur reden.«

Mein Blick fiel auf ihre leicht geöffneten Lippen, und in diesem Augenblick schalteten sich die Gedanken ab. Allen voran die Vernunft.

Du hast keine Ahnung, was du hier tust, aber egal.

»Darf ich dich küssen?«

Mit einem leichten Kopfnicken gab sie mir die Antwort, die ich benötigte, um endlich die Zurückhaltung über Bord zu schmeißen. Ich nahm ihr Gesicht zaghaft in die Hände und drückte meine Lippen federleicht auf ihre. Alles in mir kam mit dieser zarten Berührung in Wallung.

Nia öffnete ihren Mund, damit sich unsere Zungen zum ersten Mal begegnen konnten. Ich hatte nicht gewusst, dass ein Kuss mich so um den Verstand bringen konnte. Mein Puls raste, mir war abwechselnd kalt und heiß, und alles in mir verzehrte sich nach Nia.

Mit jedem weiteren Kuss, den wir austauschten, wurde auch sie zunehmend mutiger und presste ihren Körper an mich. Ihre Hände fuhren durch meine Haare, hinterließen heiße Spuren auf der Brust, und am liebsten hätte ich ihr sofort die Kleidung vom Leib gerissen.

Doch ich überließ ihr die Führung, weil ich den Eindruck hatte, dass sie diese Kontrolle für sich benötigte.

»Das ist mein erster One-Night-Stand«, hauchte ich leise gegen ihre Lippen.

Glücklicherweise war es dunkel, denn so entdeckte sie die Narbe nicht sofort, die sich auf meiner Brust abzeichnete, als sie mein Shirt nach oben zog.

Sie erinnerte mich tagtäglich an den schrecklichen Fehler, der alles zerstört hatte, und an das Blut, das an meinen Händen klebte.

Ihre Finger strichen langsam über jeden einzelnen Bauchmuskel, sie quälte mich damit, denn ich war so erregt, dass ich es kaum noch ertrug.

Als sie sich einen Weg über meinen Oberkörper bahnte und sich der Narbe gefährlich näherte, handelte ich. Mit einem Schwung drehte ich sie um, damit sie sie nicht berührte, und stand nun dicht hinter ihr. Umstandslos öffnete ich ihre Jeans. Nias Atem ging hektischer, und sie wand sich unter meiner Berührung.

Ich fuhr quälend langsam über den Stoff ihres Slips, bevor ich ihn zur Seite schob und ihre feuchte Mitte ertastete. Nia stöhnte auf, als ich mit dem Finger in sie eindrang. Ihre blonden Haare kitzelten mich an der Nase und rochen nach Süßholz und Vanille. Eine Mischung, die mir den Verstand raubte.

»Ich wünschte, wir hätten mehr Licht. Ich würde gern alles von dir sehen«, hauchte ich ihr ins Ohr. Im selben Atemzug drehte ich sie wieder zu mir um, griff unter ihre Schenkel und trug sie zur Couch hinüber.

Nia war so leicht, wie sie aussah, und ich fragte mich, ob ihr überhaupt bewusst war, wie sehr sie mich verzauberte.

»Glaub mir, es ist besser, dass wir kein Licht haben«, entgegnete Nia bloß und würgte erneut jeden weiteren Gedanken ab, als sie mein Glied umfasste.

»Fuck!«, stieß ich aus und schnappte nach Luft.

Das zwischen uns war definitiv nicht nur Sex. Es konnte nicht nur Sex sein, wenn es sich so gut anfühlte, mit ihr zusammen zu sein. Wir waren zwei Fremde, aber ich verlor mich trotz der Dunkelheit in ihren Augen und wollte nie wieder etwas anderes fühlen. Ich hatte das Gefühl, als würde ich sie schon ewig kennen.

Unsere Herzen schlugen schnell und wild im selben Takt, als wir miteinander schliefen und unsere Seelen aufeinandertrafen.

Zum ersten Mal seit Monaten vergaß ich alles um mich herum und ließ mich fallen. Ich spürte mein Herz wieder schlagen. Dabei hatte ich all die Zeit gedacht, es wäre abgestorben.

Ich wollte es nicht zugeben, aber mich hatte es ohne Vorwarnung erwischt.

Doch die Realität holte mich früher ein als gedacht, denn Nia wirkte hinterher wie eine andere Person. Eiskalt und unnahbar.

Dass es ihr rein gar nichts bedeutete, gab sie mir deutlich zu verstehen, als sie sich anschließend sofort wieder anzog. Abgeklärt und schweigend griff sie zuerst nach ihrer Wäsche, zog sich dann ihre Jeans und das T-Shirt an und schlüpfte letztendlich in ihre Schuhe.

Ich fühlte mich wie im freien Fall, und der Aufprall zurück in die Realität ließ nicht lange auf sich warten.

»Du gehst jetzt? Einfach so?« Ich war angepisst und machte mir nicht die Mühe, es vor ihr zu verbergen.

Im Grunde war es besser so. Für sie und für mich, aber trotzdem fühlte es sich falsch an. Ich wollte, dass sie blieb, damit ich das Gefühl von Wärme und Sicherheit noch einen Moment länger spürte.

Nia im Arm zu halten war merkwürdig vertraut gewesen, es existierte eine Verbundenheit, die nicht zu leugnen war.

»Einfach so«, antwortete sie schlicht. »So laufen One-Night-Stands ab.«

Autsch.

Nia verwandelte sich schlagartig in eine komplett andere Person. Die Verletzlichkeit und Unsicherheit waren verschwunden, und jetzt existierten nur Kälte und Distanz.

»Bekomme ich wenigstens deine Nummer?«

Selbst im blassen Licht von draußen sah ich, wie Nia mit sich haderte, und ich bereute es, sie überhaupt gefragt zu haben. Das gehörte wohl nicht zu dem üblichen Teil dazu, wenn man eben mal mit einer Fremden Sex gehabt hatte.

»Gib mir dein Handy«, antwortete sie widerwillig.

Wortlos reichte ich es ihr und beobachtete sie anschließend fassungslos dabei, wie sie die Wohnung verließ, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

Nia verschwand, ohne zu wissen, welch einen Sturm sie in mir heraufbeschworen hatte.

***

Die Kleinstadt erwachte gerade erst, da kam ich schon von einer morgendlichen Joggingrunde zurück. Nachdem Nia verschwunden war, hatte ich nicht in den Schlaf gefunden und stattdessen den Abend mit ihr immer wieder in Gedanken durchgespielt.

Sie war mir unter die Haut gegangen, und jetzt wusste ich nicht, wie ich dieses befremdliche Gefühl loswerden sollte.

Nach der Joggingrunde jedoch schmerzte mein Knie und erinnerte mich an den Grund, warum ich letztendlich hier in dieser Kleinstadt gelandet war.

Winters Bay.

Früher hatte ich mich nie an so einem Ort gesehen. Ich liebte Großstädte, allen voran Chicago, aber das war für immer Geschichte.

Die warme Dusche half kurzzeitig, die schmerzenden Glieder zu entspannen und die finsteren Gedanken zu vertreiben. Anschließend stand ich unschlüssig im Wohnzimmer und wusste nicht, was ich mit der vielen freien Zeit heute anstellen sollte.

Das letzte Jahr war ich durchgehend durch die USA getrampt, hatte Orte gesehen, von denen andere nur träumten. Und schließlich war ich hier gelandet, weil mein bester Freund aus Chicago hier ebenfalls studierte und mich überredet hatte, endlich meine Zukunft in die Hand zu nehmen.

Was auch immer das bedeutete. In ein paar Tagen fing das Studium in Sportwissenschaften an, obwohl es mich gar nicht interessierte. Es erinnerte mich nur daran, was aus mir hätte werden können, wenn …

Alles in mir verkrampfte sich, und ich ballte die Hände zu Fäusten. Statt den Gedanken weiter auszuführen, fing ich an, endlich die Kartons auszupacken und mich einzurichten.

In der Hoffnung, etwas Seelenfrieden zu finden, den ich so dringend benötigte.

4 Nia

Der erste Schultag.

Ich hatte nicht damit gerechnet, von all den verdrängten Gefühlen so überrannt zu werden, sodass sie mich praktisch lähmten. Kerzengerade lag ich im Bett, hielt die Augen fest geschlossen und konzentrierte mich auf meine Atmung, die immer schneller wurde.

Flashbacks flackerten durch meinen Kopf, und Erinnerungen, die ich erfolgreich in die hinterste Ecke geschoben hatte, keimten auf. Mein Körper war wie ein Gefängnis, aus dem ich keinen Ausweg fand. Innerlich schrie ich, hoffte, dass mich jemand hörte, doch mir kam niemand zur Hilfe. Ich wollte ausbrechen, aber jede Tür war verschlossen.

Du wirst nie genug sein.

Schlagartig riss ich die Augen auf und schreckte hoch. Schweiß rann mir über die Schläfen, und mein Brustkorb hob und senkte sich rasend. Zitternd umfasste ich das schwarze Armband und erinnerte mich daran, was ich gelernt hatte.

Die Stimme in meinem Kopf regierte nicht mehr über mich. Ich behielt die Kontrolle. Ich genügte.

Würden diese inneren Kämpfe jemals enden?

Es klopfte vorsichtig an der Tür. Mom lugte mit dem Kopf herein und saß gleich darauf an der Bettkante, als sie meinen erschrockenen Blick sah. Behutsam zog sie mich in ihre Arme, und ich presste die Lippen fest aufeinander, um nicht laut aufzuschluchzen. Die ganze Zeit hatte ich mir eingeredet, dass es die richtige Entscheidung war, an meine alte Schule zurückzukehren. Jetzt war ich mir da nicht mehr so sicher.

»Wir können immer noch an der Westend High anrufen, Liebes.«

Für meine Mutter war ich wie ein offenes Buch. Zumindest, wenn ich meine Gefühle offen zeigte.

»Ich muss das durchziehen«, sagte ich zerknirscht. »Ich … Nando und Millie sind mir egal.«

»Wir wissen beide, dass das nicht stimmt.«

Mom legte eine Hand auf meine Wange.

»Ich mache mir Sorgen. Dr. Shaw rät wirklich von deiner Entscheidung ab. Die Westend hat auch einen guten Ruf, und die Fußballmannschaft ist dort gar nicht so schlecht. Vor allem …«

»Mom, wir haben oft genug darüber gesprochen!« Bissig unterbrach ich sie, als ob ich mich selbst nochmals überzeugen müsste. »Ich weiß, was ihr alle sagt. Aber ich bin achtzehn und habe lange genug darüber nachgedacht. Ich gehe zurück auf die Winters Bay High School.«

Mom ließ die Schultern hängen und seufzte schwer. »Wenn wir sehen, dass es dort zu viel für dich wird, nehmen wir dich von der Schule. Das haben wir abgemacht.«

»Es wird nicht zu viel für mich.«

Manchmal fragte ich mich, ob sich die Sorge in ihren Augen manifestiert hatte oder eines Tages wieder verschwand.

Meine beste Freundin und mein Freund. Der Klassiker.

Seit dem verhängnisvollen Abend letztes Jahr war alles anders, doch ich wünschte mir trotzdem die Zeit zurück, in der sie mich hinter meinem Rücken belogen hatten. Denn zumindest hatte ich dort eine Zeit lang so etwas wie Glück verspürt. Oder immerhin hatte ich geglaubt, dass Glück sich so anfühlte …

Sollten Nando und Millie doch machen, was sie wollten. Ich brauchte sie nicht in meinem Leben. Aber egal, wie lange ich es mir einredete – das dumpfe Gefühl in der Brust blieb. Und somit auch die Tatsache, dass ich noch immer eine Weltmeisterin darin war, mich selbst zu belügen.

Mom warf mir einen letzten, skeptischen Blick zu, ehe sie das Zimmer verließ und ich wieder allein war.

In den drei Monaten Klinikaufenthalt hatte ich gelernt, achtsamer mit mir umzugehen, dennoch war mein Kopf wie leer gefegt. Ich trottete zu dem Spiegel an der Wand und atmete tief durch. Mit Tränen in den Augen musterte ich mich kritisch, bis ich den Anblick nicht mehr ertrug.

Selbstliebe war ein Wort mit so einer großen Bedeutung, die nur schwer umsetzbar war. Aber ich musste da durch, egal wie.

Dieses Schuljahr war meine letzte Chance auf ein Stipendium für die WBU. Eines, was mir schon längst zugestanden hätte, wenn ich in der Lage gewesen wäre, meine volle Leistung abzurufen.

Der Fußball war ein schwieriges Thema in diesem Haus, und ich spürte die Zerrissenheit meiner Eltern, mich wieder spielen zu lassen. Sie hatten Angst, dass ich ins nächste Extrem umschlug, aber es war das Einzige, was mir geblieben war, und daran hielt ich fest.

Die Freundschaft zu Millie war zerbrochen. Das Vertrauen zu Nando zerstört. Ich besaß nichts mehr, außer die Motivation für ein Stipendium.

Mir graute es vor der ersten Begegnung in der Schule, und ich versuchte sie so lange wie möglich hinauszuzögern.

Ich schloss die Augen, atmete tief durch und berührte vorsichtig mein selbst gebasteltes Armband. Anfangs hatte ich es lächerlich gefunden, aber es schenkte mir doch immer wieder Vertrauen darauf, dass ich es schaffte.

Du bist stärker als die Stimme in deinem Kopf.

Für den ersten Schultag hatte ich ein schlichtes schwarzes Shirt und Jeans gewählt. Mein Kleidungsstil war nicht besonders originell, und heute wollte ich es ohnehin vermeiden aufzufallen.

Manchmal beneidete ich Hailey für ihren Mut, Farben miteinander zu kombinieren, die für mich auf gar keinen Fall infrage kamen. Obwohl sie mein Vorbild war, hatte ich mich zum kompletten Gegenteil entwickelt.

Hailey würde sich niemals einreden lassen, nicht gut genug für etwas zu sein. Sie dachte auch nicht von sich, dass sie zu dick sei. Und schon gar nicht würde sie zulassen, dass sie sich für einen Typen so veränderte, bis sie sich selbst nicht mehr wiedererkannte.

Die Last auf den Schultern erdrückte mich beinahe, bis ich es endlich schaffte, den Blick von dem Spiegel abzuwenden. Dieses Jahr würde alles anders werden.

Ich war nicht mehr das Mädchen, das krank war, sich aber nie krank genug gefühlt hatte, um sich Hilfe zu holen.

Ich war Nia Parker. Ich war mehr als die Magersucht.

***

Als ich in die Küche kam, war der Tisch bereits gedeckt. Dad warf mir ein freundliches Lächeln zu und füllte frischgepressten Orangensaft in ein Glas.

»Guten Morgen, mein Schatz. Wie fühlst du dich?«

Die Standardfrage. Jene, bei der ich in der Vergangenheit immer wieder gelogen hatte.

»Ich bin ziemlich nervös.« Mit zittrigen Gliedern setzte ich mich an den Tisch und versuchte, meine Nerven zu beruhigen.

»Nia, du musst nicht an diese Schule zurück«, sagte Dad.

Er und Mom hatten sich wohl abgesprochen. Sie beide waren sowieso nicht begeistert von meiner Entscheidung. Die Gefahr, in alte Verhaltensmuster zurückzufallen, war ihnen zu hoch, aber letztendlich war es meine Entscheidung gewesen. Außerdem war ich achtzehn und wollte es zumindest versuchen. Wenn ich nicht überzeugt davon gewesen wäre, dass es mir gelänge, würde ich diesen Schritt nicht wagen.

Mom setzte sich mir gegenüber und musterte mich mit großen Augen, in denen stets Sorge lag. »Ich habe bereits mit Direktor Wells gesprochen, dass du weder mit Nando noch mit Millie gemeinsame Kurse hast.«

Meine ehemalige beste Freundin war Mom wie eine Tochter gewesen, und trotzdem hatte sie nichts Besseres im Sinn gehabt, als unsere ganze Familie zu verraten.

Ich senkte den Kopf und beobachtete meine Mutter dabei, wie sie mir eine Portion selbst gemachtes Porridge auf den Teller lud.

Das ist zu viel! Ich biss mir auf die Zunge. Da war er wieder – der innere Kampf. Du willst es heute Nachmittag deinem alten Team zeigen. Dafür brauchst du ein ausgewogenes Frühstück.

Erinnerungen daran, wie mir bei dem letzten Fußballspiel schwarz vor Augen geworden war, tanzten in meinem Kopf auf und ab. So etwas durfte nie wieder passieren, weshalb ich mich zusammenriss. Ich hasste diese Ambivalenz, denn sie war so furchtbar ermüdend. Es schlauchte gewaltig, sich immer zerrissen zu fühlen.

Mom warf mir ein flüchtiges Lächeln zu und wandte sich schnell ihrem Essen zu, dabei hatte ich genau gemerkt, wie sie mich beobachtet hatte.

Das gemeinsame Frühstück und Abendessen waren Teil unserer Regeln. Meine Eltern kommentierten nichts, sondern vertrauten mir, egal wie hart es für sie war. Hauptsache war erst einmal, überhaupt anwesend zu sein.

Meine Familie war immer für mich da gewesen. Nie gab es Vorwürfe vonseiten meiner Eltern und Geschwister, dafür wurden sie schon genug von ihren eigenen gequält.

Meine Familie trug keine Schuld.

Sondern ich allein.

***

Ich war absolut nicht bereit, als das Schulgebäude zwischen den Bäumen hervorlugte. Immer wieder schnappte ich nach Luft, um mich zu beruhigen, und wischte mir die Hände an der Jeans ab. Mein Puls raste, und mir wurde zunehmend übel.

»Es ist noch nicht zu spät. Wir können immer noch den Schulleiter der Westend anrufen«, gab meine Mutter zögernd zu bedenken und hielt am Straßenrand neben der Schule.

»Mom, bitte vertrau mir.«

Sie warf mir ein verhaltenes Lächeln zu, und ich wusste, dass das Gegenteil der Fall war.

Wir beobachteten kurz die Schüler, die lachend und aufgeregt in das Gebäude traten. Prüfend suchte ich nach mir allzu bekannten Gesichtern und entspannte mich, weil Nando und Millie nicht in Sichtweite waren.

»Da vorne steht Caden und wartet auf dich.« Mom deutete mit einer Kopfbewegung auf meinen besten Freund.

Ich sah zweimal hin, um sicherzugehen, dass es sich wirklich um Caden Taylor handelte. Seit der Junior High versuchte er, jedes Jahr ins Footballteam zu kommen, doch durch seine schlaksige Figur und tollpatschige Art war er für die Mannschaft stets nur ein Witz gewesen. Für das Abschlussjahr schien er jedoch alles aus sich herausgeholt zu haben, und ich erkannte ihn kaum wieder, als ich ausstieg.

»Woooow!« Ich musterte ihn anerkennend zur Begrüßung. »Wie ist das passiert?«

Caden grinste triumphierend und winkte ab. »Weißt du, man hat sich überlegt, mir das gleiche Serum zu spritzen wie Captain America, und siehe da: Es hat funktioniert.«

Ich schüttelte lachend den Kopf und ließ mich von ihm in eine Umarmung ziehen. Seine Wärme war jedes Mal beruhigend, und ich war dankbar dafür, dass er nach allem immer noch an meiner Seite stand.

Seine Familie kam ursprünglich aus Barcelona, aber Caden sprach kein Wort Spanisch und fiel jedes Mal in den Prüfungen durch. Ansonsten war er der intelligenteste Junge, den ich kannte, und ein waschechter Nerd, der sich für Technik, Computer und Mathematik interessierte. Nun ja, jetzt war er ein waschechter Nerd mit erstaunlichen Muskeln.

Er war gesegnet mit einer beneidenswerten Haut, hatte selbst im Winter immer einen dunklen Teint, und die fast schwarzen Augen stachen markant heraus. Seine Nase war etwas schief, weil sie ihm schon einige Male gebrochen worden war. Caden brachte sich mit seiner vorlauten Klappe gern in Schwierigkeiten und kassierte dafür jedes Mal die Quittung.

»Ich bin froh, dich wieder umarmen zu können, ohne Angst zu haben, dass ich dich zerbreche«, nuschelte er leise und löste sich, um mich anzusehen. »Du siehst gut aus, und das meine ich ganz ehrlich. Obwohl ich schon ein bisschen sauer bin, weil du kein einziges Mal angerufen hast, seitdem du wieder da bist.«

»Ich weiß, tut mir leid. Ich musste selbst erst mal wieder klarkommen.«

Caden legte freundschaftlich einen Arm um mich. »Wie geht es dir jetzt?«

Unsicher warf ich einen Blick auf die anderen Schüler, die an uns vorbeiliefen, und zuckte mit den Schultern.

»Es ist komisch, hier zu sein. Ich dachte, ich komme wieder her und laufe mit erhobenem Haupt durch die Flure. Wie eine Kriegerin, die alles hinter sich gelassen hat und stolz auf ihre Narben ist. Aber wenn ich nur zum Eingang gucke … am liebsten würde ich mich in der Bibliothek verkriechen.«

Zu blöd, dass dieser Ort absolut tabu war. Dort durfte nicht gegessen werden, und als damals alles außer Kontrolle geraten war, wurde die Bibliothek zu meinem Zufluchtsort. Um mich von Millie und Nando abzulenken, entwickelte sich das Hungern zu einem Projekt, bei dem ich nur verlieren konnte …

»Wir sind jetzt Seniors, Nia. Das macht uns praktisch zu Superhelden, okay? Also, los geht’s.«

Caden verstärkte seine Umarmung automatisch, als er spürte, wie ich immer langsamer wurde, je näher wir dem Eingang kamen.

Der Hauptflur war voll mit Bekannten, die an den Spinden standen und sich Geschichten über den Sommer erzählten. Der vertraute und eigenwillige Geruch der Schule stieg mir sofort in die Nase, und ich umgriff meine Tasche fester.

»Es ist komisch, oder?«, meinte ich auf einmal. Ich ließ den Blick gesenkt und spürte, wie mein Herz mit jedem Schritt schwerer wurde. Ich war absolut nicht bereit, wieder hier zu sein. »Ohne Millie.«

Nun war es Caden, der sich verspannte. »Wir beide sind jetzt das unschlagbare Duo.«

Er versuchte, den Schmerz in seiner Stimme zu überspielen, aber Caden war zu emotional und leidenschaftlich und vor allem ein schlechter Schauspieler. Abrupt blieb ich stehen und wagte es, ihn anzusehen.

»Ich hätte das schon viel früher zu dir sagen müssen … Es tut mir leid. Auch du hast deine beste Freundin verloren.«

»Ich habe die Entscheidung für mich selbst getroffen, Nia. Mit euch beiden befreundet zu sein, kam überhaupt nicht mehr infrage nach allem, was Millie abgezogen hat. Wir sind jetzt ein Duo, und wir sind viel stärker als zuvor.«

Er boxte mir leicht gegen die Schulter, und ich kam ins Taumeln. »Also an deinen Muskeln müssen wir aber noch arbeiten« scherzte er, und die Stimmung lockerte sich wieder auf.

»Du meinst, so wie du?«

Ich lehnte mich an einen freien Spind neben ihm, als Caden seine Sachen unordentlich in das Fach stopfte, und wagte einen Blick über die Schulter.

Niemand achtete auf mich oder interessierte sich dafür, dass ich wieder da war, wodurch ich erleichtert aufatmen konnte.

»Also, was hat es mit diesem Captain-America-Körper auf sich?«

»Es hat sich im Laufe des Sommers so ergeben. Ich habe mit dem Boxtraining angefangen und ein paar Gewichte gestemmt. Dadurch kam eins zum anderen.«

Ich kannte Caden seit dem Kindergarten und wusste sofort, wann er etwas vor mir verheimlichte. Argwöhnisch musterte ich seine Augen und wartete darauf, dass er nervös zu blinzeln anfing. Denn es war das sicherste Zeichen dafür, dass er entweder log oder ihm etwas unangenehm war und er es deshalb nicht erzählte.

»Hör auf, mich so anzustarren«, murmelte er in den Spind hinein und drehte sich weg.

»Oh mein Gott, sag nicht, dass es um ein Mädchen geht!«

Caden hüllte sich in Schweigen und kratzte sich am Hinterkopf.

»Caden, komm schon! Wen hast du kennengelernt?«

»Scheiße, Nia. Du musst mir versprechen, nicht auszuflippen.«

Okay, jetzt war ich diejenige, die hastig blinzelte und versuchte, die Situation einzuschätzen. Wenn er schon so anfing, dann bedeutete das nichts Gutes.

»Wieso sollte ich ausflippen?«, gab ich irritiert zurück.

Caden atmete sichtlich angespannt aus und lächelte schief. »Versprich es.«

»Wie kann ich etwas versprechen, wenn ich nicht weiß, um wen es sich handelt?«

»Versprich es einfach«, drängte Caden.

Ich rollte die Augen und nickte geschlagen. »Okay, versprochen.«

Caden ließ einige Augenblicke verstreichen, bevor sich ein verliebtes Lächeln auf seinen Lippen bildete.

»Theresia.«

Ungläubig starrte ich ihn an und wartete darauf, dass es sich um einen Scherz handelte. Das konnte er unmöglich ernst meinen! Ich wich automatisch einen Schritt zurück, um Abstand zu gewinnen und nochmals sicherzugehen, dass ich mich nicht verhört hatte. Mir klappte der Mund auf.

»Theresia García? Das ist ein Witz, oder? Los, sag mir, dass es ein Witz ist!« Tränen traten mir in die Augen.

»Du hast versprochen, dass du nicht ausflippst!«

Überfordert fuchtelte er mit den Händen herum.

»Hast du völlig den Verstand verloren?«, fauchte ich Caden lauthals an. Augenblicklich brannten bei mir sämtliche Sicherungen durch, und das Taubheitsgefühl wurde kurzzeitig von meiner Wut verdrängt.

»Nach allem, was Nando mir angetan hat, vögelst du ausgerechnet seine Schwester? Verdammt, Caden …« Mir fehlten die Worte. Fassungslos schüttelte ich den Kopf und ließ die Schultern kraftlos hängen.

»Nia, bitte beruhige dich. Es ist einfach passiert. Sie ist mit einem Typen aus dem Boxclub befreundet, und dann kam eins zum anderen. Sie ist nicht wie Nando, okay?«

»Natürlich nicht! Wirst du als Nächstes dann sein bester Freund? Viel Spaß beim gemeinsamen Austausch von Geschichten über mich!«

Ich wischte mir fahrig die Tränen aus den Augen und verschränkte dann die Arme bockig vor der Brust.

»Nia …« Cadens Züge verzogen sich traurig.

Es war unfair von mir, mich so aufzuführen, aber ich war nicht in der Lage, durchzuatmen und ihm wenigstens eine Chance zu geben, sich zu erklären, denn ich fühlte mich zu verraten.

Ohne ein weiteres Wort ließ ich ihn stehen und lief ziellos den Gang entlang. Ich bildete mir ein, ein paar Mädchen zu hören, wie sie über mich tuschelten, aber ich ignorierte es.

Fehler, Fehler, Fehler!

Ich hätte niemals zurückkommen dürfen. Auf einer anderen Schule wäre ich womöglich damit zurechtgekommen, dass Caden ausgerechnet etwas mit Nandos Schwester am Laufen hatte, aber nicht hier. Nicht, wenn mir augenblicklich alte Erinnerungen durch den Kopf schossen, die ich so erfolgreich verbannt hatte.

Als ich in den Kursraum für den Leistungskurs in Spanisch stolperte, blieb ich gleich an der Tür stehen. Alle Köpfe schnellten in meine Richtung, und eine Welle aus schaulustigem Grinsen traf mich.

Ich hatte mir eingeredet, dass es niemanden interessierte und keiner über mich sprach. Die Wahrheit aber wurde mir in diesem Augenblick wie auf einem Silbertablett serviert, und ich schluckte angespannt.

Ein einziger freier Platz war in der Mitte zu finden.

Mein alter Sitzplatz.

Und dann gefror mir das Blut in den Adern. Die Welt stand still, als sich unsere Blicke trafen und ich in Nandos Augen starrte.

In diese schönen haselnussbraunen Augen, die mir einst weiche Knie beschert hatten. Jetzt genügte ein Blick, und ich spürte, wie sich mein Magen schmerzhaft zusammenzog.

Mir war egal, warum Nando doch mit mir in einem Kurs saß. Schlimmer war der Ausdruck auf seinem Gesicht, mit dem er mich verfolgte, bis ich neben ihm saß.

In seinem Blick lag Reue.

5 Nia

Letztes Jahr, der erste Schultag …

Dieses Jahr sollte alles anders werden. Den ganzen Sommer über hatte ich mir fest vorgenommen, mutig genug zu sein, um Fernando García anzusprechen. Ich war seit Monaten in ihn verknallt, jedoch wagte ich es nicht, mich mit ihm zu unterhalten, obwohl wir im Spanischunterricht nebeneinandersaßen.

Das Problem dabei war, dass er mich nicht wahrnahm. Wie denn auch? An mir gab es nichts, das auch nur annähernd attraktiv war. Nando kannte nicht mal meinen Namen.

Dieses Schuljahr aber würde ich endlich die Zügel in die Hand nehmen, und ich spürte, dass es mein Jahr wurde.

Die Warrior Lions würden die Meisterschaft gewinnen, vielleicht erhielt ich bereits ein Stipendium für das Winters Bay College, und Nando würde auf mich aufmerksam werden.

»Warum grinst du so unheimlich?« Millie warf mir einen argwöhnischen Blick zu.

Erst jetzt bemerkte ich, dass ich komplett in meinen Gedanken versunken gewesen war, und berappelte mich. Der Hauptflur war voller Schüler und Stimmen, die wild durcheinander sprachen.

»Fünf Dollar dafür, dass du an Nando gedacht hast«, grinste meine beste Freundin. Sie wickelte eine ihrer wirren Locken um den Finger und sah sie sich um. »Stehen wir immer noch hier, weil du darauf wartest, dass er gleich zu seinem Spind kommt?«

Sofort wurde ich rot und drehte mich weg. »Wo bleibt Caden eigentlich?«

Millie boxte mir leicht gegen die Schulter. »Wie sieht deine Taktik für dieses Jahr aus?«

»Ich werde ihn einfach ansprechen.« Sofort streckte ich mich und setzte einen stolzen Blick auf.

Millie war schon immer die Selbstbewusstere von uns gewesen, und ich beneidete sie darum. Sie und Hailey ähnelten sich sehr diesbezüglich, doch keine von beiden färbte auf mich ab. In lauten Momenten verstummte ich, und wenn es von mir erwartet wurde zu sprechen, schwieg ich. Zu groß war die Angst davor, etwas Falsches zu sagen.

»Das will ich sehen. Du hast genau jetzt die Gelegenheit dazu, denn er kommt gerade herein.«

Mein Herz schlug schneller, als ich Nando erblickte. Lässig stolzierte er den Flur entlang, als wäre er unbesiegbar. Ja, vielleicht sogar eine Spur arrogant. Sein schwarzes Haar war perfekt gestylt, und die dunklen Augen strahlten das mexikanische Temperament aus, das er besaß.

Meine Knie wurden sofort weich, und ich konnte die Stressflecken förmlich auf meinem Hals spüren, die sich bildeten, als er zu seinem Spind ging. Er lag direkt gegenüber von meinem, und stumm beobachtete ich ihn dabei, wie er mit seinen Freunden über etwas lachte.

Oh Gott, dieses Lächeln.

Nando hatte ein Lächeln, das jeden um ihn herum in den Bann zog, und ich sah, wie die anderen Mädchen kicherten und verlegen tuschelten. Ich war nicht die Einzige auf der Liste seiner Verehrerinnen, und das erschwerte die Angelegenheit.

Millie bohrte mir ihren Finger in den Rücken und drückte mich nach vorn. »Na los, du hast dir doch etwas vorgenommen.«

Ich stemmte mich gegen sie und schüttelte den Kopf, als Nando in unsere Richtung blickte. Es war nur ein kurzer Augenblick, in dem er mich ansah, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Freunde richtete und mein Herzklopfen mir den Schweiß auf die Stirn trieb.

»Ich hab’s mir anders überlegt«, sagte ich tonlos. »Komm, wir suchen Caden.«

***