Heißzeit 51 - Eva Rossmann - E-Book

Heißzeit 51 E-Book

Eva Rossmann

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Beschreibung

Heißzeit – Gar nicht so einfach, die Welt zu retten. Jahrhunderthochwasser auf dem Markusplatz in Venedig. Das weiße Sweatshirt liegt eng an Julias durchnässtem Körper, sie hält ein Schild hoch: CHANCE! Die Bilder gehen um die Welt, Millionen folgen ihr auf Instagram. Einen Tag später ist die Klimaschutzheldin tot. Ein junger Klimaforscher mit Nobelpreisaussichten hat sich ins Weinviertel zurückgezogen und züchtet hitzeangepasste Bohnen. Er warnt vor Populismus und seinen Folgen. Der größte Sponsor der Bewegung betreibt nicht nur umweltfreundliche Geschäfte. Kann man ihm glauben, dass er der Welt etwas zurückgeben möchte? Warum sind gerade Nationalisten so allergisch gegen Grün? Und: Haben Ökos immer recht? Die Wiener Journalistin Mira Valensky und ihre Freundin Vesna Krajner bekommen handfest zu spüren, dass ihre Fragen nicht geschätzt werden. Nicht nur die Erde, auch das gesellschaftliche Klima heizt sich auf.

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Foto © Barbara Pacejka

Eva Rossmann, 1962 geboren, lebt im Weinviertel / Österreich. Verfassungsjuristin, politische Journalistin, ORF-Pressestunde, Ressortleiterin für Innen- und Europa-Politik, seit 1994 freie Autorin und Publizistin.

Sachbücher, Kriminalromane zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen, Köchin, Drehbuchautorin, TV- und Radiomoderatorin des ORF.

Bei Folio sind alle Mira-Valensky-Krimis erschienen, zuletzt Im Netz (2018) (siehe alle lieferbaren Titel im Anhang), außerdem das beliebte Kochbuch zur Krimiserie Mira kocht. 2017 hat Folio Rossmanns politischen Roman Patrioten veröffentlicht.

www.evarossmann.at

EVAROSSMANN

HEISSZEIT51

EIN MIRA-VALENSKY-KRIMI

© Umschlagmotiv: ANSA Foto/Andrea Merola

Lektorat: Joe Rabl

© Folio Verlag Wien • Bozen 2019

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dall’O & Freunde

Druckvorbereitung: Typoplus, Frangart

Printed in Europe

ISBN 978-3-85256-789-1

www.folioverlag.com

E-Book ISBN 978-3-99037-099-5

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

DANKE!

Gar nicht so einfach, die Welt zu retten … oder?

Die Mira-Valensky-Serie

„Eine neue Art von Denken ist notwendig,wenn die Menschheit weiterleben will.“

Albert Einstein

[1.]

Dreimal Wasser auf dem Markusplatz. Das eine ist unbezwingbare Kraft, es schwemmt auf, was nicht stark und schwer genug ist, es steigt und steigt, bis es über allem steht. Das andere fällt herab, nimmt die Luft und dringt in jede Ritze, macht Schirme lächerlich und Menschen kalt. Das dritte setzt die Welt hinter Schleier, so als ob sie nicht real, sondern gemalt und verwaschen wäre.

In diesen Wässern steht eine junge Frau und hält ein Schild hoch. Orange würde es im Sonnenlicht sein, hier haben sich die Signalfarben aufgelöst. CHANCE! steht auf dem Schild, große schwarze Blockbuchstaben und ein Rufzeichen am Ende. Was für eine Chance? Hier in der Sintflut von Venedig? Die Haare der Frau hängen triefend bis über die Schultern, das weiße Sweatshirt liegt eng am durchnässten Körper an, ihr gut geformter Busen zeichnet sich ab. Die Taille kann keiner taxieren, so hoch ist das Wasser bereits. Neben ihr stehen andere, viele sind es. Erschöpfte Wasserwesen, auch ein paar Kinder, denen die Fluten schon fast bis zum Hals reichen. Ein Transparent treibt Richtung Café Florian, RETTET DIE ERDE – JETZT.

„Konnte sie nicht schwimmen?“

Meine Freundin Vesna schüttelt den Kopf. „Man hat sie vergiftet. Mit Kohlenmonoxid. Im Auto.“

„Ich dachte, sie ist seit zwei Tagen am Markusplatz gestanden.“

„Nicht in der Nacht. Sie haben ihr Hauptquartier eine Stunde weg von Venedig. Jana sagt, du musst etwas tun.“

„Kohlenmonoxid. Wie passend, wo sie gegen zu viel Kohlendioxid gekämpft hat. Und wenn sie im Auto eingeschlafen ist?“

„Bei laufendem Motor und Heizung auf Volltouren? Du glaubst wohl selbst nicht. Außerdem ist sterben gar nicht mehr so einfach, seit Autos Katalysator haben. Es dauert lange, bis genug Gas im Auto ist. Und ihr Handy ist auch weg.“

„Müsste so eine wie sie kein Elektroauto fahren?“

„Macht sie. Aber Venedig ist weit weg. Man muss schnell sein. CHANCE! hat auch normale Autos.“

„Elektroautos sind nicht abnormal.“

„Du lasst uns anderes Mal darüber diskutieren. Ich mache mir Sorgen um Jana. Sie will dortbleiben. In ihrem Zustand.“

„Italien ist kein Entwicklungsland. Jana ist bloß schwanger.“

„Bloß? Das kannst auch nur du sagen. Sie kommt heim aus Libanon und will nicht erzählen, wer der Vater ist, und will ihn auch nicht sehen, weil es nicht gepasst hat. Und dann geht sie zu CHANCE!. Und jetzt ist die Chefin tot.“

Ich schaue vom Laptop auf und seufze. „Deine Tochter ist erwachsen. Ich verstehe, dass du dir Sorgen machst, aber was könnte ich tun?“

„Wir haben oft schon etwas getan.“

„CHANCE! ist eine sehr populäre Bewegung. Alle Welt versucht herauszufinden, wie Julia Melis ums Leben gekommen ist.“

„Sie spekulieren, das tun sie. Niemand will wissen, was wirklich war. Das Idioten-Blatt hat geschrieben, sie ist ertrunken. Online, da kann man alles schreiben, und genug Leute glauben das.“

„Klingt ja logisch, bei diesem Jahrhunderthochwasser.“

„Alle haben die Bilder gebracht. Auch in Amerika, in Asien. Jana war ganz begeistert. Bilder, die aufwecken. Julia im Hochwasser. Und immer mehr Menschen, die am Markusplatz gegen Klimakatastrophe protestieren.“

„Spontan war das nicht. CHANCE! hat dazu aufgerufen, mit ihr im Wasser zu stehen. Es ist eine Kampagne.“

„Natürlich. Von nix kommt nix. Du weißt, was Influencer sind?“

„Leute, die auf Instagram posten, und viele folgen ihnen.“

„Sehr richtig, Julia hat fast fünf Millionen Follower gehabt. Am nächsten Tag, sagt Jana, es wären noch viel mehr Menschen gekommen. Mehr, als auf den Markusplatz gehen.“

„Menschenüberschwemmung statt Wasserüberschwemmung.“

„Ich finde es nicht witzig.“

„Was weiß Jana? Sie war doch in ihrer Nähe.“

„Sie ist persönliche Assistentin, keine Kammerfrau, oder wie das heißt, für eine Königin. In der Nacht war sie nicht bei ihr. Sonst fast immer, es hat dieser Julia gefallen. Julia und Jana. Jana, die schwangere Frau, die mit ihr gegen Klimawahnsinn kämpft. Mir ist es ein bisschen viel, wenn du verstehst. Dick aufgetragen.“

„Dir hat es nicht gefallen, dass sie Jana als Migrantin der zweiten Generation verkauft hat, als Aufsteigerin. Die Tochter der Putzfrau aus Ex-Jugoslawien, die ein Doppelstudium abgeschlossen hat. Und jetzt ihre Assistentin ist.“

„Mir egal, kannst du mir glauben, auch wenn ich solche Laden nicht mag.“

„Schubladen.“

„Ja, Frau Besserwisserin. Ich mache mir Sorgen wegen Baby.“

„Jana ist nicht mit im Wasser gestanden.“

„Nein, das nicht. Sie hat organisiert. Sie sagt, Julia hat schon eine schwere Erkältung gehabt, aber es war ihr egal, sie wollte noch einen Tag weitertun. Nur einen, weil dann sinkt das Wasser wieder.“

Ich nicke. „Ohne starke Bilder taugt eine Kampagne nichts.“

„Jana hat gemeint, vielleicht erkennst du jemanden auf dem Video.“

„Du meinst, jemand hat mit ihr protestiert und sie dann ermordet? Wie unlogisch ist das denn? Noch dazu, wo auch jede Menge Kamerateams dort waren.“

„Eben. Es gib viel Material, das nicht gesendet worden ist. Man muss es durchsehen.“

„Ich bin nicht mehr beim ‚Magazin‘.“

„Du bist Journalistin. Und sage nicht, du hat es immer nur für Geld getan.“

„Ich soll die Biografie von Rosa Prager schreiben.“

„Ja, eben.“

„Was, ja eben? Niemand kann glauben, dass eine sechsundneunzigjährige Schauspielerin etwas mit dem Tod von Julia zu tun hat. Auch wenn ihr viel zuzutrauen ist.“

„Nein. Aber ihr Enkel.“

„Oh, daher weht der Wind. Ihr Enkel, der Aussteiger. Der sitzt irgendwo im Weinviertel und züchtet hitzeverträgliche Bohnen.“

„Sie haben sich gekannt.“

„Und mochten einander nicht.“

„Da weiß niemand etwas Näheres, sagt Jana. Was schon seltsam ist. Vielleicht er war in Venedig.“

„Weil er ihr beim Nasswerden zusehen wollte?“

„Du kannst die Schauspielerin fragen.“

„Kann ich. Logischer wäre es, wenn einer der Hassposter dahintersteckt. Sie ausgerechnet mit einer Kohlenstoffverbindung zu töten. Das war kein Zufall. Die Klimaleugner haben einen Riesenzorn auf alle Engagierten. Weißt du, was ich mich auch frage? Warum vor allem die Rechten die Erderwärmung leugnen. Sonst beschwören sie doch dauernd irgendwelche alten Werte.“

„Weil sie die Ökos hassen. Linkslinke Grünlinge, so etwas posten sie. Jana hat jede Menge so Zeug gekriegt, eine andere Art der Verschmutzung, aber auch gefährlich, das sage ich dir.“

„Es gab doch lange auch eine bürgerliche Öko-Bewegung.“

„Die hat die Industrie gekauft, sagt Jana.“

„Vielleicht steckt jemand von der Erdöl-Lobby hinter Julias Tod?“

„Die haben andere Möglichkeiten. Auf alle Fälle hat sie viele Gegner gehabt. Ist auch kein Wunder. Sie war erfolgreich. Und anders als diese Greta ist sie kein halbes Kind mehr, sondern eine Frau. Den Ökos hat sie zu viele Kompromisse gemacht, den anderen war sie zu radikal. Und alle Parteien fürchten sich, dass sie für die Wahlen eine Empfehlung abgibt.“

Ich nicke. „Es gibt genug Menschen, die sauer sind und aus Protest rechts wählen. Wenn auch nur ein Teil von ihnen diesmal wählt, was Julia vorschlägt, gehen den Rechten wichtige Stimmen verloren.“

„Jana hat von Attacken auf Julia und CHANCE! erzählt. Im Netz, Shitstorms, Verleumdung, falsche Videos, einfach alles. Sogar über eine Agentur, die auf so etwas spezialisiert ist. Wer sie zahlt, wissen sie nicht.“

„Und wenn die mit Julias Tod zu tun haben? Erinnere dich an die Cyberlegion, die sind auch nicht bloß beim Posten und virtuellen Attacken geblieben.“

„Ist im Netz wie außerhalb: Du deckst etwas auf, aber es gibt immer noch etwas dahinter. Und Neues. Und die großen Bösen erwischst du nicht.“

„Ich bin ja auch nicht Superwoman.“

„Aber gemeinsam mit mir ganz gut.“

Ich lächle meine Freundin an. „Ich rede mit Martin Prager. Vielleicht hat er eine Idee. Und Jana hört sich sicher im Hauptquartier von CHANCE! um. Was ist übrigens mit den vielen Menschen, die gekommen sind, um mit ihr im Regen zu stehen?“

„Die meisten sind weg. So schnell, als ob das Wasser schuld war an Julias Tod.“

Nachdem Vesna gegangen ist, sehe ich mir die Bilder von Julia am Markusplatz noch einmal genau an. Könnte es nicht doch sein, dass ich bei den Menschen rund um den Star von CHANCE! irgendwen entdecke? Müde blasse regennasse Gesichter. Keines, das mir bekannt vorkommt. Aber wer stellt sich auch mit ihr auf den Markusplatz, um sie danach umzubringen? Wenn es stimmt, was Jana erzählt hat, dann war es ein geplanter Mord. Julia hat sich sicher nicht einfach brav ins Auto gesetzt und gewartet, bis sie bewusstlos wurde. Quasi als ultimativer Selbstversuch dafür, wie schädlich Kohlenstoffverbindungen sind. Und wenn es doch genau so war? Ich habe sie nur flüchtig gekannt. Hat sie mit ihrer Popularität umgehen können? Mit der Macht, die sie plötzlich hatte, weil die Medien sie wichtig genommen haben? Eine attraktive Frau, knapp über dreißig, die es geschafft hat, viele, nicht nur Junge, für den Kampf gegen die Erderwärmung zu begeistern? Es ist nicht lange her, dass ich mit ihr ein großes Interview gemacht habe. Julia Melis war mir nicht unsympathisch. Aber ich bin ihr auch nicht wirklich nahe gekommen. Wahrscheinlich geht das nicht, wenn man im Stundentakt Interviews gibt. Von CHANGE! zu CHANCE! – nur ein Buchstabe, aber eine ganz andere Denkweise, hat sie gesagt. Es gehe nicht darum, gegen etwas zu sein, sondern die Chance zu nutzen, die Erde zu retten. Sie besser zu machen, für alle. Mit Worten konnte sie umgehen. Und das auf Deutsch, Italienisch und Englisch offenbar gleich gut.

Ich sehe durch das große Fenster nach draußen. Es ist Anfang November und wir haben über zwanzig Grad. Das Wetter spielt verrückt. Da beginnen mehr Menschen an eine Klimaveränderung zu glauben. Erderhitzung muss das heißen, sagt der Enkel von Rosa Prager. Um klarzumachen, in welche Richtung es gehe. Klimawandel sei viel zu indifferent. Julia Melis hat das Wort Klimawandel besser gefunden. Sie hat es erst gestern in einem Live-Chat vom Markusplatz erklärt. „Wer kann verstehen, dass ich wegen der Erderhitzung in Venedig im Wasser stehe? Vielleicht, um mich abzukühlen? Klimawandel ist viel mehr als bloß Erhitzung. Er ist eine Lawine, die heranrollt. Er ist Chaos.“ Ich sollte zu Martin Prager fahren. Ein eigenartiger Typ. Er hat ganz jung eine Professur an der Columbia University bekommen. Umweltökonom, so talentiert, dass man ihm Chancen bis hin zum Nobelpreis ausgerechnet hat. Und dann kommt er retour nach Österreich und geht aufs Land. Zieht sich zurück. Offenbar mit Gleichgesinnten. Macht eigentlich genau das Gegenteil von dem, was Julia getan hat. Da Öffentlichkeit total. Dort Verweigerung. Aber dieser Gegensatz ist wohl kaum ein Mordmotiv.

Ich weiß, dass der Hof von Martin Prager nicht weit von Treberndorf entfernt ist. Dort lebt meine Freundin Eva. Und produziert gemeinsam mit ihrer Tochter Martina großartige Weine. Martinas Mann. Ein Fall, in dem sich Gegensätze anziehen. Oder wo es trotz aller Gegensätze doch viel Gleichklang gibt? Wo die unterschiedlichen Obertöne den gemeinsamen Sound voller und vielfältiger machen? Dominik ist nach wie vor Veganer. Aber er hat nichts dagegen, wenn ihre gemeinsame Tochter auch tierische Lebensmittel isst. Sofern sie fair und mit Respekt vor den Tieren entstanden sind. Fleisch ist ohnehin nicht dabei, Susi ist noch kein Jahr alt.

Ich sehe hinüber zu unserer wunderbaren Terrasse. Luft und Grün, mitten in der Stadt. Als die kleine Nebenwohnung frei geworden ist, hat Oskar sie gemietet. Weil er mehr von daheim aus arbeiten möchte, hat er gesagt. In Wirklichkeit ist hier mein neues Arbeitszimmer. Und er hat es so geplant. Aber er war sich nicht sicher, wie ich reagiere. Wegen meiner Liebe zur Unabhängigkeit. Dabei habe ich jetzt ohnehin jede Menge davon, wenn auch in anderem Zusammenhang. Ich arbeite nicht mehr beim „Magazin“. Mit der neuen Führung ging das einfach nicht mehr. Statt Inhalte gibt’s jetzt „Content“ – hieße ja eigentlich dasselbe, aber was zählt, ist nicht, ob der Content gut oder gar richtig ist, sondern ob man ihn online schnell findet. Und ob die Werbung rundum richtig platziert ist. Ich kneife die Augen zusammen. Vui sitzt mitten im Blumenkasten mit Thymian. Und der ist direkt auf dem Geländer. Unsere Wohnung liegt im Dachgeschoß eines hohen Wiener Gründerzeithauses. Ich will gar nicht wissen, wie viele Meter es nach unten geht. Zu viele, auch für eine Katze. Ich renne nach drüben. Ich sperre die Tür zur Hauptwohnung auf, hetze Richtung Terrasse, bleibe in der geöffneten Tür stehen. Vui hat den Blumenkasten verlassen und geht seelenruhig auf dem Geländer spazieren. Sein Protest, dass ich ihn nicht mit nach drüben nehme. Dass er einen seiner liebsten Schlafplätze verloren hat. Meinen Laptop.

Ich locke unseren überdimensionalen Main-Coon-Kater mit Miez-Lauten, die mir lächerlich erscheinen. Er ignoriert sie höflicherweise.

„Faschiertes“, säusle ich. Faschiertes frisst er am liebsten. Wahrscheinlich, weil es am wenigsten Arbeit ist.

Vui blinzelt mich an und schnurrt. Er scheint sich darüber zu freuen, dass er mich genau dort hat, wo er mich haben möchte. Besorgt in seiner Nähe, bereit, ihn zu füttern. Man soll Tiere nicht vermenschlichen, aber das sehe ich ihm einfach an.

„Komm runter, Kätzchen, Süßer …“ Na gut, mit Kätzchen kann er sich nicht angesprochen fühlen, er wiegt inzwischen zehn Kilo. Und ich glaube, beim letzten Wiegen hat er den Bauch eingezogen. „Vui, kluger Kater …“

Vui hebt den Kopf. Ein blaues und ein braunes Auge. Beide freundlich aufmerksam. Wenn er ausrutscht und fällt, dann ist es vorbei.

„Faschiertes, ehrlich“, säusle ich.

Mit einem eleganten Sprung landet er auf den Fliesen, kommt her und wummert mir den Kopf in die Kniekehle. Er wird mir nicht von der Seite weichen, bis er sein Faschiertes hat. Also gehen wir in die Küche und holen welches aus dem Kühlschrank.

„Es ist zu kalt“, sage ich zu ihm.

Er sieht Richtung Terrasse.

„Terrorist.“

Er schnurrt.

Ich gebe die eine Hälfte in seine Schüssel, die andere lege ich wieder in den Kühlschrank.

Vui sieht mich empört an. Oder vielleicht doch einfach hungrig. Obwohl ich ihn heute schon gefüttert habe. Ich stelle die Schüssel auf den Boden und im gleichen Augenblick ist da ein großer weißer Kopf. Der bleibt da, bis die Schüssel klinisch sauber ist. Ich schließe rasch die Tür zur Terrasse. Abendsonne. Wenn es bloß darum ginge, dass wir öfter im November solches Wetter haben, ich hätte kein Problem mit der Klimaveränderung. Besonders nicht mit der Erderhitzung. Aber da hängt wohl etwas mehr dran als meine persönliche Wohlfühltemperatur.

Telefon. Ich höre es ganz leise aus der Nebenwohnung. Noch hab ich mich an den neuen Arbeitsplatz nicht gewöhnt. Tür zu, Tür auf und natürlich ist das Smartphone inzwischen stumm. Aber weil es ja so smart ist, teilt es mir mit, wer angerufen hat. Und wie lange es geläutet hat. Und wann ich zuletzt mit der Anruferin telefoniert habe. Wahrscheinlich könnte es mir noch viel mehr erzählen, aber wer braucht das schon. Ich zumindest nicht. Sam von ECCO, das reicht. Sam Mayer ist Chefredakteurin und Miteigentümerin von ECCO, einem Onlinemagazin, für das ich nun hin und wieder arbeite. Sam ist groß, schlank, androgyn und hat dunkle kurze Haare. Ich vermute, sie ist lesbisch. Aber danach fragt man nicht. Warum eigentlich nicht? Jedenfalls ist sie klug und sachlich und fair. Quasi das Gegenprogramm zu meinem letzten Chefredakteur, einem aufgeblasenen Typ, den Vesna immer nur „das Männchen“ nennt. Er trägt Slim-Fit-Anzüge. Offenbar hat ihm keiner gesagt, dass die längst wieder out sind.

„Mörderischer Populismus, du verstehst, was ich meine?“

„Sollten wir nicht recherchieren, wer und was hinter dem Tod von Julia Melis steckt?“

„Das machen alle. Wir brauchen eine andere Perspektive. Außerdem hängt es zusammen. Man kann wohl davon ausgehen, dass sie ums Leben gekommen ist, weil sie so populär war. Und sie hat es darauf angelegt, populär zu sein.“

„Sie hat sich also quasi selbst auf dem Gewissen?“

„Nein, natürlich nicht. Aber unser Verhalten hat Folgen. Das hat gerade sie immer wieder propagiert.“

„Nicht bös sein, Sam, aber das ist mir zu abgehoben. Außerdem: Heißt das, man sollte sich lieber nicht für eine wichtige Sache engagieren?“

„Es geht um das Wie.“

„Mörderischer Populismus. Könnte ja auch sein, dass sie ein anderer Populist weghaben wollte. Weil sie besser war.“

„Kann sein. Muss aber nicht. Die Frage ist: Wie viel Inszenierung ist im Sinne einer guten Sache zulässig?“

„Ich kannte sie kaum. Aber ich mache aus ihr sicher keine Mitschuldige.“

„Die Tochter deiner Freundin ist sich sicher, dass sie ermordet wurde?“

„Selbstmord zu begehen, um zu beweisen, wie giftig Kohlenstoffverbindungen sind, wäre doch etwas extrem.“

„Ja, und so eine selbstlose Heldin war sie wohl auch wieder nicht.“

„Du mochtest sie nicht besonders.“

„Ich bin skeptisch bei Populismus, egal, woher er kommt.“

„Wenn Kinder fürs Klima auf die Straße gehen, ist das nett. Wenn es Erwachsene tun, Populismus?“

„Die haben den Unschulds-Bonus. Fällt weg ab einem gewissen Alter.“

„Und wie kriegt man sonst Aufmerksamkeit?“

„Durch Fakten? Durch Argumente? Du willst jetzt ja nur hören, dass ich auch dem Mediensystem gegenüber skeptisch bin. Bin ich. Aber man kann es besser machen. Deswegen gibt’s ECCO.“

„Entzückend. Ich bin dabei.“

„Na also. Du weißt, wir können keine Reisekosten zahlen. Und auch sonst nur den üblichen Satz. Aber wir freuen uns, wenn du für ECCO schreibst.“

„Quasi als Hobby.“

„Quasi als dein Beitrag zur Rettung der Welt.“

„Okay. Aber bevor ich die Welt rette, will ich wissen, was da bei Venedig passiert ist.“

„Das wollen wir auch. Aber wir wollen mehr als bloß den Täter. Oder die Täterin. Wir wollen die Zusammenhänge, die Ursachen.“

„Unbescheiden auch noch. Und das bei dieser Gage.“ „Dafür wird es auch für ECCO Italia übersetzt. Und für ECCO Europe.“

„Das gibt’s doch noch gar nicht.“

„Wir fangen an. Nur extra zahlen können wir nichts.“

„Wer hätte sich das gedacht.“

„Küsschen.“

Und trotzdem. Ich habe jetzt wieder viel mehr Spaß an meiner Arbeit. Auch wenn ich davon nicht leben könnte. Rosa Prager. Ich soll ihre Biografie schreiben. Ob sie ein Bestseller wird? „Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben“. Was für ein Titel. Aber auf dem besteht sie. Wie auch sonst auf so einigem. Sie ist eine sture, alte, rechthaberische und unberechenbare Person. Das sagen nicht nur ihre Feinde. Ihre Freunde ergänzen, dass sie wunderbar lebendig ist, witzig, eigenständig, manchmal sogar weise. Und eine großartige Schauspielerin. Und sie hat einen Enkel, mit dem ich dringend reden sollte. Jetzt auch, weil sein Zugang zu Populismus ähnlich sein könnte wie der von Sam Mayer.

Anstelle von Rosa Prager geht jemand ans Telefon, dessen Namen ich nicht verstehe. Rosa Prager sei bei Dreharbeiten. Und sie habe keine Zeit, das lasse sie mir ausrichten.

„Sagen Sie, dass es um ihren Enkel geht.“

Stille in der Leitung. Ich will schon auflegen. „Rosa Prager. Was gibt’s?“

„Mira Valensky. Du hast ja doch Zeit.“

„Was ist mit meinem Enkel?“

„Ich sollte mit ihm reden. Dringend.“

„Und deswegen störst du mich?“

„Hast du mitbekommen, dass Julia Melis ermordet worden ist?“

„Ich bin ja noch nicht tot. Sie spielen es überall rauf und runter. Wie hat man sie ums Eck gebracht? Das steht noch nirgends. Weil, dass sie ersoffen ist, glaubt ja wirklich keiner.“

„Ist dein Neffe daheim?“

„Was bin ich, sein Kindermädchen? Er ist fünfunddreißig. Wie ist sie gestorben?“

„Warum interessiert dich das?“

„Weil ich eine neugierige alte Hexe bin.“

„Das leuchtet mir ein. Man hat sie quasi erstickt. Mit Kohlenmonoxid. In einem Auto.“

„Böser geht es nimmer. Das war der Trump. Der ist es immer. Das reimt sich sogar. Das schreiben wir am besten gleich auf. Für die Biografie.“

„Dein Enkel hat Julia gekannt, oder?“

„Ja klar. Schon lange. Aber ich weiß nicht, ob sie sich gemocht haben. Martin ist da eigen.“

„Kann es sein, dass er überhaupt etwas eigenartig geworden ist?“

„Aber sicher kein Mörder.“

„Das hat auch niemand behauptet. Ich brauche ihn, weil er sich auskennt in der Szene. Und die Leute einschätzen kann.“

„Mira Valensky wieder einmal auf Mörderjagd. Wir haben einen Vertrag, schon vergessen?“

„Okay, ich komme sofort und wir machen weiter.“

„Du weißt, dass ich keine Zeit hab momentan.“

„Eben.“

„Also gut. Es ist ein paar Tage her, dass ich mit Martin telefoniert habe. Ich fahr dort nicht so gern hin, es ist mir zu weit.“

„Sagt die Frau, die vor zwei Wochen in London war.“

„Dienstlich. Weil mich dieser schreckliche Allahyari hingeschleppt hat.“

„Den du über alles liebst.“

„Ha! Liebe! Er ist eben der Einzige, mit dem ich halbwegs drehen kann. Er ist ganz verständig. Im Allgemeinen.“

„Er ist im Hauptberuf Psychiater.“

Ich höre Rosa Prager lachen. „Er ist ein guter Regisseur. Und zu Martin fahr ich nicht so gern, weil die seltsam sind. Wenn du ihn dort rausholen kannst, freue ich mich. Ich zahle extra.“

„Was ist das? Ein Entführungsauftrag?“

„Warum nicht? Schau dir die dort an. Sag ihm nicht, was ich gesagt habe. Er ist so klug, aber manchmal eben gar nicht. Eher das Gegenteil. Baba, ich muss jetzt drehen.“

Und damit ist es still in der Leitung. Baba. Ein Wort, das ausstirbt. Wiener Verabschiedungsfloskel. Gewesene. Ich gebe es in meine Suchmaschine ein. Erhellend sind die Anmerkungen dazu nicht. Es soll sich aus „Grüße an den Herrn Papa!“ entwickelt haben. Oder aus dem Litauischen stammen. Auch recht.

Inzwischen ist es finster geworden. Im November sind die Tage kurz, daran kann keine warme Sonne etwas ändern. Es reicht wohl auch, wenn ich morgen zum Hof von Martin Prager fahre. Eigentlich Professor Doktor Martin Prager. Warum hat er seine amerikanische Universitätskarriere sein lassen? Rosa Prager hat nicht zum ersten Mal so geklungen, als würde sie sich um ihren Enkel Sorgen machen. Was sind das für Leute, mit denen er jetzt lebt? Was, wenn es sich tatsächlich um eine Sekte handelt?

Auf meinem Smartphone poppen die neuesten Nachrichten auf. Venedig mal zwei. Einmal mit Meldungen zum Hochwasser, „das nur langsam zurückgeht“, einmal mit „Spekulationen über den Tod der Klima-Kämpferin“.

Julias Vater stammt aus Italien, aufgewachsen ist sie freilich in Wien und studiert hat sie bald wo. Berlin, London, New York. Vielleicht die Gelegenheit, endlich wieder einmal in eine meiner Lieblingsgegenden zu kommen. Veneto. Das Hinterland von Venedig. Das Hauptquartier von CHANCE! liegt knapp daneben im Friaul. Auch nicht schlecht. Allerdings denke ich bei Veneto und Friaul eher an feines Essen, entspannte Umgebung, mittelalterliche Städtchen und gutes Wetter. Nicht an Hochwasser, Mord, hysterische Medien. Und Oskar kann sicher nicht mitfahren. Er hat momentan so viel zu tun, dass er oft sehr spät heimkommt. Arbeitet er mehr, weil ich weniger verdiene? Unsinn. Auch wenn seine Anwaltskanzlei klein ist, er hat gute Klienten und er kann sie sich weitgehend aussuchen. Auch wenn der jüngste Wirtschaftsboom vorbei sein dürfte, es gibt genug Unternehmen, die wachsen. Ist das gut oder schlecht fürs Weltklima?

Ich sollte etwas Feines kochen. Wenn ich schon daheim bin. Nicht aus schlechtem Gewissen. Und schon gar nicht, weil ich das Gefühl habe, Oskar entschädigen zu sollen. Einfach, weil ich es gerne tue. Und weil ich dabei nachdenken kann.

Eine Abwandlung der venetischen Sarde in saor. Diesmal eben nicht mit frischen Sardinen. Ich hab Branzinofilets im Tiefkühler. Für alle Fälle. Mit viel Zwiebel und Weißwein und Öl tun es auch die gefrorenen Fische. Zwei Minuten auf halber Leistung in die Mikrowelle, nur zum Antauen. Gourmets würden entsetzt sein. Aber ich will heute essen und nicht morgen. Demnächst, das nehme ich mir vor, gibt es wieder einmal ein richtiges Festmahl. Samt hochwertigen frischen Produkten. Natürlich umweltfreundlich. Klimaschonend. All das. Ich bin ja dafür. Aber ich bin bei keiner Sekte. Weder bei den Heiligen Köchinnen noch bei Wir-retten-die-Erde-durch-Biokarotten.

Die Mikrowelle klingelt und für einen Moment bin ich irritiert. Da macht noch etwas Lärm. Telefon. Man sollte es manchmal einfach ausschalten. Komplett. Jetzt hab ich keine Zeit. Das Läuten ist hartnäckig. Na gut.

„Mira. Bitte geh sofort ins CHANCE!-Büro in Wien. Mam ist schon auf dem Weg.“ Jana. Sie klingt panisch.

„Gibt’s was Neues?“

„Da ist jemand. Du wohnst um die Ecke. Bitte. Mach schnell.“

„Ist keiner von euren Leuten dort?“

„Momentan sind alle hier. In Italien. In unserem Büro in Wien sind Kameras. Ich hab einen Alarm bekommen, dann waren die Kameras dunkel.“

„Du bist noch in Venedig?“

„In Risano. Im Hauptquartier.“

„Und Polizei?“

„Lieber nicht. Mach schon!“

„Was weißt du?“

„Gar nichts! Das ist es eben.“

Vielleicht ist es ja bloß ein Stromausfall. Ich stehe keuchend vor dem Haus. Gegensprechanlage. Firmen, Privatpersonen, das größte Schild ist von CHANCE!. Wo ist Vesna? Ist sie schon drinnen? Ich weiß nicht, wann Jana sie angerufen hat. Direkt vor mir? Dann braucht sie noch mindestens zehn Minuten. Wie komme ich hier rein? Oder soll ich einfach warten, bis jemand herauskommt? Und was dann? Ihn fotografieren? Nach dem Ausweis fragen? Ich sehe nach oben. Kein Stromausfall. In einigen Fenstern brennt Licht. In welchem Stockwerk ist das Büro? Ich war bloß einmal hier, ich kann mich nicht erinnern. Ich bin für so etwas nicht geschaffen. Ich zucke zusammen, als die Tür aufgestoßen wird. Vor mir steht eine Frau, die eine Schwester von Rosa Prager sein könnte. Ich versuche ein Lächeln und krame in meiner Tasche, als ob ich einen Schlüssel suchen würde.

„Was feiert ihr?“, fragt sie. „Bei euch geht’s heute ja schön zu, du bist doch eine von denen, von den Klimaschützern, oder?“

Ich nicke irritiert und bin drin. Wie sieht man aus, wenn man „von den Klimaschützern“ ist? Und warum passe ich dazu? Es ist also jemand im Büro und macht Lärm. Vesna. Aber warum sollte sie Lärm machen? Und geflogen kann sie auch nicht sein. Superwoman. Darüber haben wir vor Kurzem gescherzt. Die Treppen hinauf in den ersten Stock. Da. Das Schild. Die Tür. Sie ist bloß angelehnt. Jetzt ist alles still. Wie ist die Nummer der Polizei? Jana wollte nicht, dass ich sie verständige. Aber das muss ich entscheiden. Ist Vesna doch schon drinnen? Hatte der Lärm mit ihr zu tun? War sie zu unvorsichtig? Sie hat mich mehr als einmal vor Schlimmerem beschützt, jetzt bin ich dran. Ich hole so heftig Atem, dass ich gerade noch einen Hustenanfall vermeiden kann. Vorraum. Groß, hell, Plakate, Fotos von Julia. Sie war der Star. Aufgetürmte Kartons, wohl mit Werbematerial. Mir kommt vor, ich habe ein Geräusch gehört. Aus einem der Räume weiter hinten. Ich bewege mich vorsichtig. Suche nach einem Gegenstand, mit dem ich mich verteidigen könnte. Mit einer Plakatrolle kann man niemanden niederschlagen. Die nächste Tür ist halb offen. Ich drücke mich an die Mauer. Spähe hinein. Die beiden Gestalten sind viel zu groß für Vesna. Sie kämpfen auch nicht mit ihr, sie kämpfen mit dem Schreibtisch. Offenbar ist er versperrt. Der Inhalt der Wandschränke liegt auf dem Boden. Chaos wie nach einem Tornado. Hinaus. Polizei und basta. Das ist ein Einbruch und ich stelle sicher keine Einbrecher im Alleingang.

„He!“

Sie haben mich bemerkt. Weg, durch das Vorzimmer, die Treppen – hinauf oder hinunter? Man müsste schreien, aber ich kann nicht alles gleichzeitig tun. Sie werden mich … Ich höre die Schritte der beiden. Auf die Straße, sonst sitze ich in der Falle. Ich stolpere über eine Stufe, kann mich nicht mehr am Geländer festhalten, ich stürze, mein Knöchel, ich hebe die Hände, sie werden mich nicht … Sie drängen an mir vorbei. Schwarze große breitschultrige Gestalten mit Strumpfmasken über dem Gesicht. Der eine dreht sich noch einmal um, der andere zieht ihn am Ärmel. „Scheiß auf die Alte.“ Kurz sehe ich ein Tattoo auf der Innenseite des Unterarms. So etwas wie ein schwarzer Blitz.

Dann höre ich, wie die Eingangstür zufällt. Ich habe versagt. Wie kommt Jana auch auf die Idee … Ich rapple mich auf. Der linke Knöchel schmerzt, aber ich kann auftreten. Langsam hinke ich die Treppe nach oben. Zurück ins Büro von CHANCE!. Jetzt steht die Tür weit offen. Ich habe sie gestört und sie sind geflüchtet. Wer waren die beiden? Der eine war jedenfalls Österreicher. „Scheiß auf die Alte.“ Akzentfrei. Warum hab ich nicht wenigstens nach ihnen getreten? Ich stehe im Vorzimmer, hole mein Telefon heraus und tippe auf Janas Kontakt. Sie geht nicht dran. Ich tippe auf Vesnas Kontakt. Sie geht nicht dran. Dann werde ich allein nachsehen. Da ist keiner mehr. Ich habe sie vertrieben. So könnte man das Ganze positiv formulieren. War Julia nicht die Königin der positiven Formulierungen? Vielleicht färbt der Ort ab. Ich habe die beiden vertrieben. Ich sehe hinter die erste Tür. Chaos. Die Schreibtischladen aufgerissen, Papier auf dem Boden, alles mögliche Bürozeugs auch. Und ein grünes Stoffkrokodil. Im nächsten Raum ein ähnliches Bild, nur dass da zwischen dem Papier und den Ordnern und Prospekten und herausgerissenen Laden einige Familienfotos liegen. Eine junge blonde Frau mit einem Kinderwagen, ein junger Mann neben einem Fahrrad. Der PC scheint unberührt. Wer kümmert sich heutzutage um Papier und lässt den Computer stehen? Und: Sollte CHANCE!, wenn sie gegen die Klimakrise arbeiten, überhaupt so viel Papier haben?

Wo ist das Zimmer von Julia Melis? Oder hatte sie gar kein eigenes? Das Hauptquartier ist in diesem Ort im Friaul, eine Stunde vor Venedig. Wo ist das Zimmer von Jana? Da war etwas. Ein Geräusch. Ich sehe mich nach einem Versteck um. Vor dem Schreibtisch ist viel Papier, wenn ich hinter den Schreibtisch krieche … Sie sind zurückgekommen. Die „Alte“ war ihnen doch zu gefährlich. Oder sind es andere? Was ist das hier? Durchgangsbahnhof für Feinde der Klimafreundinnen? Jetzt merke ich wieder, wie sehr mein Knöchel schmerzt. Ich ducke mich trotzdem hinter den Schreibtisch, versuche den Sessel so vorzuziehen, dass er mir zusätzlich Sichtschutz gibt. Ich taste nach dem Smartphone. Vesna. Wenn sie hört, was los ist, kann sie mir vielleicht helfen. Warum bin ich zurückgekommen? Ich habe die beiden vertrieben. So ein Unsinn. Man sollte nichts schönreden. Das fällt auf einen zurück. Immer bei der Wahrheit …

Ich kippe vor Schreck auf die Seite, als draußen ein Telefon losgeht.

„Ja? Was ist?“

Das ist Vesna. Am Telefon. Aber auch noch wo. Wie ein Echo.

„Vesna?“

„Was ist? Du bist …“

Ich sehe Beine. Jeans und Turnschuhe.

„Vesna.“

Das sage ich jetzt nicht mehr ins Telefon.

„Was machst du da?“, fragt meine Freundin.

„Einbrecher verjagen“, antworte ich.

„Hinter dem Schreibtisch.“

„Davor. Das war davor.“

[2.]

Wir haben Jana per Skype mit auf unseren Rundgang genommen. Unwahrscheinlich, dass dieser Einbruch und der Tod von Julia Melis nichts miteinander zu tun haben. Seltsam ist allerdings, dass es die beiden nicht auf Laptops und darauf gespeicherte Informationen, sondern auf etwas anderes abgesehen hatten. Oder habe ich sie einfach zu früh gestört? Nicht nur ich, auch Vesna bewegt sich so vorsichtig durch die Räume, als ob irgendwo noch jemand sein könnte.

„Unsinn“, sagt Vesna. „Ein Mensch ist nicht mehr da. Ich bin vorsichtig, weil es kann eine Sprengfalle da sein.“

Ich bleibe abrupt stehen.

„Ist eine Möglichkeit“, ergänzt meine Freundin trocken. „Sie locken welche von CHANCE! her und dann: Bumm!“

Mir wird heiß, von den Beinen her aufsteigend, winzige Schweißperlen. Und niemand soll sagen, das habe mit den Wechseljahren zu tun.

„Andere Möglichkeit“, fährt Vesna ungerührt fort, „sie sind Trottel. Wer macht Lärm, wenn er einbricht? Und wer rennt dann davon?“

„Sie sind davongerannt, weil ich gekommen bin.“

„Eben.“

„Du meinst, wären sie klug gewesen, hätten sie mich niedergeschlagen?“

„Wäre logischer gewesen.“

„Danke. Außerdem war ich schon im Stiegenhaus.“

„Warum?“

„Weil ich nicht niedergeschlagen werden wollte.“

Janas Gesicht kommt ganz nah an den Bildschirm. „Hallo! Hallo! Hört ihr mich? Könntet ihr das bitte später miteinander ausmachen?“

Vesna sieht auf ihr Smartphone. „Ist eine wichtige Diskussion, Jana. Es geht um Psychologie der Einbrecher. Profiling, noch nie was davon gehört? Du musst alles erzählen. Wegen nichts brechen auch Trottel nicht ein. Und sage nicht, es war Zufall. Was ist los bei euch?“

„Julia ist tot, reicht das nicht?“

„Schlimm, aber deswegen durchsucht keiner das Büro.“

„Wir wissen es nicht. Ehrlich. Es hat in letzter Zeit einiges an Unruhe gegeben. Die Drohungen sind schlimmer geworden. Und intern gab es die eine oder andere Auseinandersetzung über Methoden. Julia ist eine großartige Anführerin. In der Öffentlichkeit. Aber sie ist keine, die einem Verwaltungsapparat … Sie war keine. Ich kann es noch immer nicht …“

„Was für Drohungen? Was für Streit?“

„Streit ist zu viel gesagt. Es hat auch sicher nichts mit dem Einbruch zu tun und mit dem Tod von Julia noch weniger. Und Drohungen … das Übliche, Shitstorms im Internet, Idioten, die uns erklären wollen, dass die Erderhitzung eine Erfindung von Geheimdiensten, Islamisten, Linkslinken, Fortschrittsfeinden ist.“

„Sagt auch Trump“, mischt sich Vesna ein. „Er glaubt, die Chinesen sind schuld.“

„Die Angriffe sind mehr geworden, seit Julia gesagt hat, dass CHANCE! sich überlegt, eine Wahlempfehlung abzugeben. Laut Umfragen ist es für achtunddreißig Prozent der jüngeren Menschen in Österreich wichtig, was sie empfiehlt. In Deutschland sind es immerhin noch einunddreißig Prozent. Für Frankreich und Italien gibt’s keine Umfragen, aber gefühlsmäßig liegen wir da ähnlich gut.“

„Nur dass bei uns bald Wahlen sind“, ergänze ich.

„Habt ihr eine rote Mappe gesehen? Sie ist im zweiten Zimmer links, im Schreibtisch. Ich weiß es, ich hab sie dort eingesperrt.“

„Nein, was soll drin sein?“

„Drohbriefe. Wahrscheinlich von irgendwelchen rechten Splittergruppen, die Angst davor haben, dass ihre geliebte Partei beim nächsten Mal schlechter abschneidet, wenn CHANCE! ihr Proteststimmen wegnimmt.“

„Weil solche auf Julia hören werden“, spottet Vesna.

„Doch, tun sie. Da geht’s ja auch um die Bewahrung der Erde, und das gefällt einem Teil von denen schon. Die wählen nicht alle aus ideologischen Gründen oder Begeisterung rechts. Die wollen was, an das sie glauben können. Die möchten vor allem irgendwo dabei sein, wenigstens wichtig sein, indem sie ein Teil von irgendwas sind. Darum ist es übrigens auch bei den internen Auseinandersetzungen gegangen. Ob wir alle dabeihaben wollen. Wie viel wir dem Zweck unterordnen dürfen.“

Ich nicke und schiebe meinen Kopf näher an Vesnas Telefon. „Als ich das Interview mit ihr gemacht habe, war sie sehr vorsichtig, was Kritik an politischen Parteien betrifft. Sie hat gesagt, ihr gehe es um eine positive Botschaft und damit habe sie genug zu tun. Gemeinsam könnten wir die Erde retten und unser aller Leben besser machen, oder so in der Art.“

„Für sie waren das Strategien und notwendige Kompromisse, damit der Kampf gegen die Erderhitzung eine ganz breite Bewegung wird.“

„Und welche Partei sie hätte empfohlen?“, fragt Vesna dazwischen.

„In Wirklichkeit keine. Eben weil es ihr um breite Unterstützung geht. Worauf vor allem unsere grünen Aktivisten im engeren Kreis ziemlich sauer reagiert haben.“

„Auch noch kein Mordmotiv, oder?“, mische ich mich ein.

„Nein.“ Ich sehe, wie Jana den Kopf schüttelt, etwas verwaschen, zeitverzögert, wie im Regen.

„Ich suche nach der Mappe“, sagt Vesna.

„Aber vielleicht war es ein Einbruchsmotiv?“, frage ich Jana.

„Kaum. Es gibt da noch etwas. Herbert Steinkellner.“

„Mister Steinreich. Der unterstützt euch doch, oder?“

„Ja eben. Sehr sogar. Er hat als Investor viele Projekte am Laufen. Nicht alle sind unbedingt klimafreundlich. Und er stellt uns auch eine Agentur zur Verfügung, an der er Anteile hält. CoConcept. Das sind so Girls mit Neusprech, denen Inhalte eigentlich egal sind, die bewerben und verkaufen alles. Sicher Profis, aber …“

„Aber auch nicht gerade deine Freundinnen.“

„Nein, kann man nicht sagen. Vor allem ist diese Agentur über Anteilsgeschäfte mit Hutchton-Forbes verbunden. Das ist eine Lobbying-Organisation der schlimmsten Sorte. Sie sitzen unter anderem in Brüssel und machen Stimmung für Atomkraftwerke. Als klimaschonendes Zukunftsmodell. Gleichzeitig vertritt ein anderes ihrer Büros Ölkonzerne und stellt den Klimawandel als Lüge dar.“

„Und solche beraten euch?“

„Steinkellner sagt, CoConcept hat mit denen nichts zu tun, in der heutigen Wirtschaft gäbe es nun einmal komplizierte Eigentümerstrukturen, auf das operative Geschäft hätten sie keinen Einfluss. Und klar. Wir haben CoConcept gratis. Vor allem damit wir mehr Spenden kriegen. Sie kümmern sich um entsprechende Aktionen.“

Ich höre Vesna kommen.

„Das ist die Mappe?“, fragt sie und hält einen roten Umschlag Richtung Telefon.

„Das ist sie“, bestätigt Jana. „Ich weiß nicht, ob ihr alles lesen dürft …“

„Und warum nicht?“

„Es ist quasi der Giftschrank. Die schlimmsten Anfeindungen, altmodisch via Post, aber auch Screenshots der irrsten Beschimpfungen.“

„Die sind sowieso online.“

„Wer ist jetzt eigentlich verantwortlich bei CHANCE!?“, frage ich dazwischen.

Jana seufzt. „Das weiß niemand.“

„Könnte es um einen Konkurrenzkampf gegangen sein?“

„Vergiss es. Wir haben genau das gegenteilige Problem. Niemand hat Julia die Führungsrolle streitig gemacht, auch wenn nicht alle mit allem einverstanden waren. Aus der zweiten Reihe zu nörgeln ist ja auch einfacher.“

Vesna sitzt auf der Tischkante und liest und schüttelt immer wieder den Kopf.

Ich drehe das Telefon in ihre Richtung.

„Kranke Hirne. Perverse“, murmelt sie.

„Sag ich doch, das ist heftig. Julia hat sich nicht gefürchtet. Sie hat gesagt, da ärgern sich die Richtigen“, antwortet ihre Tochter.

„Und warum sollten die einbrechen?“, frage ich.

„Es ist nur eine Möglichkeit. Sucht die klassischen Drohbriefe raus. Die mit den ausgeschnittenen Buchstaben. Wir haben letzte Woche gepostet, dass wir wissen, wer dahintersteckt. Und dass die Hintermänner massive Probleme kriegen werden, weil wir damit an die Öffentlichkeit gehen.“

„Und? Wer steckt dahinter?“, frage ich.

„Es war ein Versuchsballon, wir wissen es nicht. Wir gehen davon aus, dass sie von einer nationalistischen Vorfeldorganisation kommen. Fran hat einen Algorithmus gebastelt, der die Reaktionen auf unsere Posts und Tweets im Zusammenhang mit Hasspostings gegen uns analysiert. In der Hoffnung, dass wir dann wirklich was rausfinden.“

„Dein Bruder arbeitet auch für CHANCE!?“

„Tut er nicht. Der hat mit seiner IT-Firma mehr als genug zu tun. Außerdem sind wir ein wenig aneinandergeraten, als ich ihm erzählt habe, wie viel an Energie die Netzaktivitäten brauchen. Gerade dass er nicht etwas in Richtung Zurück-auf-die-Bäume-ihr-Affen gesagt hat.“

Vesna hält einen Zettel in einer Klarsichtfolie zwischen mein Gesicht und das Smartphone. Aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnittene Buchstaben. „Das da?“, fragt sie ihre Tochter.

HEISSE SAU. WIR WERDEN DICH GRILLEN. WIR MACHEN DIE ERDE SAU-BER! GROSSER AUSTAUSCH, SO WIE ER RICHTIG IST.

„Ist böse, aber muss nicht von Rechtsextremen sein, oder?“, redet Vesna weiter.

„Die Sache mit dem ‚großen Austausch‘ ist eine ihrer Chiffren. Schon vor und gerade nach dem Attentat auf die Moschee in Neuseeland. Es gibt noch so einen Drohbrief. Er ist weiter hinten.“

Vesna kramt und liest. „Dumme Sexgewaltfantasie. Plus Rassismus. Plus natürlich Verachtung von Frauen. Ich glaube nicht, dass das von einer Partei kommt, nicht einmal von den Rechten.“

Wir sehen wieder, wie Jana verwaschen den Kopf schüttelt. „Das wohl nicht. Aber wenn es zwischen diesen Typen und der Partei eine Verbindung gibt?

Vesna nimmt mir das Telefon aus der Hand. „Kann es sein, du sagst nicht alles? Du versuchst jemand zu schützen?“

„Mam! Dann bitte ich euch doch nicht um Hilfe.“

„Was ist mit dem Mann von deinem Kind?“

Das Kopfschütteln wird heftiger. Als wäre sie in einem Sturm. „Und was soll der damit zu tun haben? Völlig idiotisch. Hör auf mit so etwas. Ich muss weiter. Macht einfach die Tür zu. Morgen kommen Leute von uns.“

Skype-Verbindung unterbrochen.

Vesna faucht etwas auf Bosnisch. Habe ich schon lange nicht mehr von ihr gehört.

„Wundern brauchst du dich nicht“, sage ich zu meiner Freundin.

„Was wundern? Sie kommt zurück aus dem Libanon und sagt, sie kriegt ein Kind und den Vater gibt es nicht. Der ist dort und wird dortbleiben. Der interessiert sie nicht. Und dann ist sie schwanger bei dieser Organisation, wo sie einbrechen und morden.“

„Du hast deine Kinder auch allein großgezogen.“

„Nein. Ich hatte Mann. Nur nicht Vater. Und nicht für immer.“

„Ich kann mich erinnern.“

„Also.“

„Und nicht CHANCE! mordet und bricht ein, sondern ihre Feinde.“

„Was ist das? Später Deutschkurs? So habe ich es natürlich gemeint. Trotzdem. Wir werden nicht zusperren. Wir werden alles durchsehen.“

„Das dauert Wochen.“

„Egal. Wir haben bis morgen. Und wenn du nicht willst, dann tue ich allein.“

„Die wichtigen Unterlagen haben sie sicher in ihrem Hauptquartier in Italien.“

„Der Verein ist in Österreich angemeldet. Dieser Herr Steinreich ist auch verdächtig. Er taucht überall auf. Vielleicht hat er mehr gehabt mit Julia?“

„Er ist deutlich über sechzig. Und sie …“

„Na und? Wer Geld hat, hat Möglichkeiten.“

„Du meinst, er hat Sex gegen finanzielle Unterstützung erpresst? Und als sie das öffentlich machen wollte, musste sie sterben?“

Vesna sieht mich verblüfft an. „Du hast mehr Fantasie, als ich Ideen habe. Ich glaube nicht, dass er Sex erpressen muss.“

„Ich auch nicht.“

„Aber ob es automatisch wieder Rechte waren, weiß ich auch nicht.“

„Seit wann nimmst du sie in Schutz?“

„Tue ich nicht. Aber ist so bequem. Klassischer Lieblingsfeind. Von dir, von Ökos, von allen, die so engagiert sind. Wer weiß, ob die Drohbriefe mit Einbruch zu tun haben. Und ob Einbrecher auch Mörder waren. Man soll sich auch bei den angeblichen Freunden umschauen.“

Oskar ist bereits daheim. Er sieht mich besorgt an und erst jetzt wird mir klar, wie spät es schon ist.

„Ich wusste nicht, was du mit dem Fisch in der Mikrowelle vorhast. Ich hab ihn in den Kühlschrank gegeben.“

„Hast du schon etwas gegessen? Es ist gleich zehn.“

Dialog eines alten Ehepaares, das wir nie werden wollten. Schon gar nicht ich. Aber er wohl auch nicht.

Oskar wiegt den Kopf. „Ich hab bei der Besprechung am Nachmittag irgendwelche Brötchen gefuttert.“

„Ich wollte Branzino in saor machen.“

„Aber dann hast du spontan Lust auf Frischluft bekommen. Ich hatte schon den Verdacht, du bist nach Venedig abgetaucht.“

„Nicht ganz.“

„Ich hab dir ein WhatsApp geschickt.“

Ich merke, wie er versucht, es nicht wie einen Vorwurf klingen zu lassen. Seit ich keinen fixen Job habe, sind wir beide ein wenig angespannt. Er, weil er weiß, wie wichtig mir meine auch finanzielle Unabhängigkeit ist. Und ich, weil ich ihm zeigen möchte, dass sich zwischen uns nichts geändert hat. Früher hätte er mich einfach gefragt, wo ich war. Und er hätte mir klargemacht, dass er nicht will, dass ich mich auf etwas Gefährliches einlasse. Ich gehe zum Kühlschrank.

„Du hinkst“, stellt Oskar fest.

Mein Knöchel. Ich habe beinahe darauf vergessen. „Eine lange Geschichte. Branzino in saor kann man auch warm essen. Ich koche und erzähle, okay?“

Oskar lächelt. „Ein Glas Weinviertel DAC dazu?“

„Gern. Weinviertel kommt in der Geschichte übrigens vor.“

Die Fischfilets sind auf der Hautseite angebraten und ziehen in einer Schüssel am Herdrand. Inzwischen weiß Oskar das meiste, das auch ich weiß.

„Fassen wir zusammen“, sagt er, als ich in die Pfanne mit dem Bratrückstand etwas Olivenöl gebe und weiße Gemüsezwiebeln in dicke Ringe schneide. „Julia Melis kommt im Friaul zu Tode. Durch Kohlenmonoxid. Obwohl es lange dauert, bis die Dosis hoch genug ist, hat sie das Auto nicht rechtzeitig verlassen. Es gibt keine Anzeichen von Gewaltanwendung. Ihr Smartphone ist verschwunden. Am nächsten Tag wird bei CHANCE! eingebrochen. Ziemlich dilettantisch. Was gesucht wurde, ist nicht klar. Die rote Mappe mit diversen Drohungen war jedenfalls noch da.“

Ich liebe es, wenn Oskar Dinge zusammenfasst. Alles wirkt auf einmal logisch. Und so, als ob es demnächst eine Lösung geben könnte. „Ja, Herr Rechtsanwalt“, lächle ich.

„Bei CHANCE! hat nicht alles so gut funktioniert, wie es in der Öffentlichkeit den Anschein hatte.“

„Sie hatten sehr viel Zulauf in den letzten Monaten. Zuerst dieser Jahrhundertsommer, mehrere Wochen hindurch Tropentage in halb Europa, jetzt das unglaubliche Hochwasser in Venedig. Alle reden übers Klima.“

„Ob sie den Wandel leugnen oder nicht.“

„Jana sagt, ihre Popularitätsraten steigen selbst bei der Gruppe fünfundfünfzig plus.“

„Mir hat diese Julia auch ganz gut gefallen.“

Ich lasse die Zwiebelringe ins heiße Öl fallen, dass es nur so spritzt. Ganz kurz und heiß anbraten. „Kann ich mir vorstellen. Wäre sie nicht Klimaaktivistin, hätte sie als Miss Wet-T-Shirt antreten können, so wie sie da im Wasser gestanden ist. Ich glaube nicht, dass es Zufall war, wie eng ihr nasser Sweater am Busen geklebt hat.“

Oskar zwinkert mir zu. „Du hast mich erwischt. Ich wollte mich schon zu ihr ins Wasser stellen. Splish, splash … Ich frage mich, was Steinkellner bei CHANCE! wollte …“

„Du kennst ihn persönlich?“

„Nicht gut. Als er damals die marode Drogeriekette übernommen hat, war ich für die Gewerkschaft bei den Verhandlungen dabei.“

„Eher ein beinharter Sanierer als ein Menschenfreund.“

„Damals war er sehr kooperativ. Solange ihm keiner Bedingungen gestellt hat. Aber die von der Gewerkschaft waren auch unrealistisch. Du kannst von niemandem verlangen, dass er in so einem Fall eine Standort- und Beschäftigungsgarantie abgibt.“

„Oskar zwischen den Fronten. Wieder einmal.“

„Sozusagen. Soviel ich mich erinnere, hat er ein Schloss, irgendwo an der tschechischen Grenze.“

„Vielleicht kennt Eva ihn besser.“

„Das Weinviertel ist groß.“

Ich schütte mein Glas Veltliner über die Zwiebelringe. Schade drum, aber wir haben zum Glück mehr davon. Kommt auch von meiner Freundin Eva. Unsere Weinvorräte gehen zur Neige, ich sollte sie demnächst besuchen. Dabei könnte ich mit ihr über den einen oder anderen reden. Martin Prager. Herbert Steinkellner. Vielleicht kennen ja auch die beiden einander. Stimmt schon, dass das Weinviertel groß ist. Aber wenn beide ähnliche Interessen haben … Fragt sich nur, ob sie wirklich ähnlich sind.

Ich hole mein Smartphone aus der Tasche und gehe zu Evas WhatsApp-Kontakt:

Kennst du Martin Prager (wohnt ziemlich nahe bei dir, Klimaforscher, Aussteiger) und/oder Herbert Steinkellner (ich meine persönlich, hat ein Schloss im Weinviertel an der tschechischen Grenze). Ich sollte mit beiden reden – aber das erzähle ich dir persönlich. Bist du morgen da? Bussl, Mira

„Ich hab Eva geschrieben“, erkläre ich Oskar.

„Steinkellner hat mir damals übrigens angeboten, für ihn zu arbeiten. Nicht in diesem Fall, aber irgendwann, wenn es sich ergibt. Er hat gesagt, es gefällt ihm, wie ich mich für die Mitarbeiterinnen eingesetzt habe.“

„Er wollte dich kaufen.“

„Glaube ich eigentlich nicht. Ich habe das Gefühl, er leistet es sich, zu tun und zu denken, was er will.“

WhatsApp-Ton. Ich sehe irritiert auf mein Smartphone. Ich werde mich hoffentlich nie daran gewöhnen, dass so ein Ding eine Unterhaltung unterbrechen kann. Gut, ich könnte es auch ausschalten, aber dann …

„Eva“, erkläre ich Oskar und lese:

Supergerne. Bin morgen den ganzen Tag da, kenne beide. Bussl, Eva

„Ich bin gespannt, was sie dir über den Aussteiger und über Steinkellner erzählt – eine andere Perspektive kann nicht schaden.“

„Ob sie ihn so viel anders sieht? Ich glaube nicht, dass sie es so mit Patriarchen hat.“

„Er ist auch Mäzen. Seine Sammlung zeitgenössischer Kunst ist berühmt.“

„Und jetzt Klimaschutz. Weil Julia enge T-Shirts trug?“

„In einem Interview hat er gesagt, es wird Zeit, dass jeder seinen Beitrag leistet, damit die Erde nicht kollabiert.“

„Seine Geschäfte sind nicht alle umweltfreundlich.“

„Dafür gibt er Geld.“