Helden und andere Probleme - Jan Philipp Reemtsma - E-Book

Helden und andere Probleme E-Book

Jan Philipp Reemtsma

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Beschreibung

Die Zivilisation steht auf dünnem Eis. Hier riskiert ein Intellektueller einen Blick in die abgründige Tiefe! In seinen Essays diskutiert Jan Philipp Reemtsma das Unbehagen an einer Zivilisation, zu der die Gewalt als mögliche, vielleicht sogar als attraktive Lebensform gehört, eine Lebensform, die sich nicht aus niederen Instinkten, sondern aus praktizierter Bedenkenlosigkeit, aus der Gewährung von Macht oder aus dem Versprechen vermeintlicher Grandiosität erklären lässt. Er geht diesem Problem in seiner historischen, rechtlichen und anthropologischen Dimension nach, indem er Werke der literarischen Tradition seit der "Ilias" nach den in ihnen enthaltenen und künstlerisch gestalteten Gewaltkonstellationen befragt. Reemtsmas Essays sind anregend, gedankenreich und voller Überraschungen, an denen er die Leserinnen und Leser wie im Gespräch teilnehmen lässt.

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Seitenzahl: 433

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Jan Philipp Reemtsma

Helden und andere Probleme

Essays

für Fanny Esterházy

Inhalt

»Mother don’t go!« Der Held, das Ich und das Wir

Dietrichs mißlungene Brautwerbung.Über Heldengeschichten

Untergang. Eine Fußnote zu Felix Dahns Ein Kampf um Rom

»Alles bekommt man ja einmal satt«. Kämpfe, Gleichnisse und Friedensschlüsse in der Ilias

Gewalt – der blinde Fleck der Moderne

Gewalt als attraktive Lebensform betrachtet

Einige Fragezeichen bei Walter Kempowski

»Was hast du?« Sophokles über den Schmerz

»Dattelbäume« –? Stefan George läßt seine Aras träumen

»Gewalt gegen Tiere« – was sagt man, wenn man das sagt?

Das Scheinproblem »Willensfreiheit«. Ein Plädoyer für das Ende einer überflüssigen Debatte

Täterstrafrecht und der Anspruch des Opfers auf Beachtung

Herders Problem mit der Geschichte – und das unsere

Nachweise

Anmerkungen

»Mother don’t go!« Der Held, das Ich und das Wir

Ein berühmtes Foto: John Lennon und Yoko Ono auf einer Demonstration. Lennon reckt den rechten Arm, ballt die Faust, auf dem Kopf hat er eine (modisch stilisierte) Ballonmütze, die Unterzeile könnte aus dem Refrain eines seiner Lieder stammen:

A working class hero is something to be

If you want to be a hero just follow me

So fängt das Lied an:

As soon as you’re born they make you feel small

Aber zu John Lennon kommen wir später. – Zunächst zum Klassiker, wenn man über Helden reden will:

Uns ist in alten maeren wunders viel geseit

Von helden lobebaeren von großer arebeit

Uns wird in alten Erzählungen viel Wunderbares berichtet:

Von berühmten Helden, großer Mühsal.

So weit der Beginn des Nibelungenliedes – auf Englisch geht das so:

In stories of our fathers high marvels we are told:

Of champions, well approvéd in perils manifold.

Arno Schmidt benutzte diese englische Übersetzung, um das Nibelungenlied in die Zeit nach dem Ende des Zweiten und vor dem Beginn eines Dritten Weltkrieges zu verlegen – erzählt von einem Dichter auf dem Mond, wohin sich die Restmenschheit nach diesem Dritten Weltkrieg von der verstrahlten Erde geflüchtet hat. Und in dieser Nachdichtung wird Siegfried zu »Alabama-Dillert« (einer Figur aus James Jones’ Some Came Running):

– der natürlich irgendwann von einem düsteren »H. G. Trunnion« (man hört: HaGeTronje) hinterrücks erschossen wird. Die ganze Mannschaft wird anschließend anläßlich einer verräterischen Einladung in das russisch besetzte Berlin ebendort niedergemacht:

Und wurden Alle=Alle, ob Folker ob Tankwart, weck= geputzt, ›verheizt‹, Einer nach dem Andern; als Letzter H. G. Trunnion, der ihnen, nicht zu beugen, bis zuletzt sein »Fucking Bolshies!« entgegenschleuderte – : so wurde Dillert endlich gerächt![2]

Vorgetragen wird diese Version des Nibelungenliedes im Radio der amerikanischen Mondstation (es gibt noch eine russische – der Kalte Krieg geht auf dem Mond lustig weiter). – So wird das Ende von den Zuhörern kommentiert:

»Von hintn – : so’n Schwein!«; (Dschordsch; erschtickt): »Das kann kein echter Juh=Eß=Boy gewesen sein, dieser= dieser – – «. : »Well Dschordsch – fair war’s natürlich nich. Aber es gab schon bei uns solche Leute: ich hatte ma’n Onkel in Massachusetts …« (Aber er wollte im Augenblick von meiner Verwandtschaft nichts hören: »Und das Alles in Gedichtform, Du: das iss gar nich so einfach!«: »Aber in Börrlinn hat sich der Trunnion dann doch wieder gans vorbildlich benomm’, George – ich weiß nich: mir hat er gefalln! Er hat jene frühere ›Tat‹ doch schließlich auch seinem General zuliebe getan: dergleichen Angeschtellte sind nich häufig, Du: die für’n Scheff n glattn Mord begehn?« (Und das mußte auch George zugebm, daß er, in seinem=Kontor=damals, Keinen von der Sorte gehabt hätte … . .[3]

Zu den Heldenliedern hat vielleicht immer die Parodie gehört, sie steckt schon in den Nebenfiguren, den nicht ganz so geratenen Helden, Homer hat mit seinem Thersites wenigstens schon der protestierenden Stimme Raum gegeben. Nehmen wir aus der zitierten Parodie des Nibelungenliedes eine erste Definition dessen, was ein Held ist: Helden repräsentieren Tugenden, die Allgemeingültigkeit beanspruchen (»für den Chef einen glatten Mord begehen«), in extrem gesteigerter, also seltener Form (George hatte »in seinem Kontor keinen von der Sorte gehabt«). Das reicht natürlich nicht. In Zettel’s Traum finden wir den Seufzer, es sei doch schade, daß Helden nie in der Wiege erdrosselt würden. Sind ihre Tugenden ein öffentliches Unglück, sind sie mörderischer Art?

Susan Neiman bestreitet das in Moral Clarity.[4] Sie läßt obige vorläufige Definition für Achill gelten – er repräsentiere die kriegerischen Tugenden der archaisch-griechischen Aristokratie ins Extreme gesteigert (und durchs Extreme gefährdet). Es gebe aber bei Homer auch den Gegenentwurf, nämlich Odysseus. Der repräsentiere jene Tugenden ebenfalls in vorbildlicher Weise, darüber hinaus aber noch viel mehr: Er sei gewissermaßen ein Held des Humanum. In seinen Abenteuern durchlaufe er die Versuchungen und Rettungsmöglichkeiten des Menschen als Natur- wie Kulturwesen, oft problematisch, oft vorbildlich. Odysseus versteht zwar zu töten, ist aber nicht ein Held, weil er tötet. Die Frage, die sich anschließt, bezieht sich auf den literarischen Entwurf der Odyssee. Wenn Odysseus das Humanum repräsentiert, tut er das in einer durchaus post-archaischen, ja modernen Gestalt: als Individuum, nicht mehr als persona, durch die das Allgemeine in gewissermaßen gesteigerter Lautstärke spricht.

Allerdings bezieht sich das nicht auf den durch das Epos vor unsere Augen gerufenen Odysseus, sondern auf die von uns interpretierte literarische Figur. Wir verstehen ihn symbolisch und als unseren Repräsentanten in gesteigerter Form: Darum fängt uns die Odyssee ein. Das ist unsere moderne Lektüre. Als Held ist er aber nicht entworfen worden, und wo er, antik, vielleicht doch so empfunden worden ist, ist dies, ebenfalls antik, wütend dementiert worden, von Euripides etwa, in den Troerinnen, wo er ein bloßer Mörder ist. Eine Tradition, die sich bis zu Heiner Müllers großartigem Philoktet fortsetzt. Aber ich meine nicht so sehr die problematischen Seiten des homerischen Odysseus – die wären nichts Besonderes –, sondern vielmehr, daß die Repräsentanz des universellen Humanum keine Eigenschaft des Helden ist. Helden glänzen – wie und warum, wird zu untersuchen sein –, das Humanum ist nicht glänzend, wir bewundern Helden eben darum, weil sie das konventionelle Humanum nicht repräsentieren. Natürlich repräsentieren sie menschliche Potentiale – sie fallen ja nicht vom Himmel –, aber eben ungewöhnliche Steigerungen solcher Potentiale. Odysseus repräsentiert das Humanum in seiner Widersprüchlichkeit, seinem Geist, seiner Verführbarkeit, seiner Skrupellosigkeit wie seiner Umsicht, seiner Neugier und seinem Leichtsinn, seiner Fähigkeit auszuhalten. »Polytropos« eben – kein Wunder, daß es keine adäquate Übersetzung gibt. (Oder sollte man so übersetzen: »Erzähle mir, Muse, die Taten jenes changierenden Mannes, / welcher so weit herumkam, nachdem er Troja zerstörte«?)

In Mittelweg 36, der Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, hat Christian Schneider einen anderen Helden des Humanum vorgestellt: Ödipus.[5] Man staunt. Man könnte meinen, so weit müßten Freudianer (der Verfasser ist Mitarbeiter im Frankfurter Sigmund-Freud-Institut) nicht gehen, daß sie Ödipus gleich zum Helden erklären, denn was hat er getan?: einen Fremden in einer Wegenge erschlagen, nicht wissend, daß es sein Vater war, die Sphinx in einem Rätselwettbewerb geschlagen, sich aus Dankbarkeit von der verwitweten Königin heiraten lassen, nicht wissend, daß es seine Mutter war, sich selbst des Vatermords und des Inzests überführt – am Ende schließlich die Selbstverstümmelung.

Daß Ödipus kein »klassischer Heros« ist, gibt Schneider sehr wohl zu, dennoch sei er andererseits »der Held par excellence«.[6] Er sei insofern ein »Held par excellence«, als er, wie Herakles – Held in seinen Taten und Heros als Halbgott –, den Fortschritt des Gemeinwesens durch seine Tat verbürge; im Falle des Ödipus allerdings bestehe dieser Fortschritt in einer Erkenntnisleistung, die zwar nicht die eigene ist, die aber in der späteren theoretischen Verarbeitung der literarischen Figur deutlich werde. Aber schon der primäre Ödipus des Aischylos sei durch sein Agieren gewissermaßen über den klassischen Helden hinaus. Er sei der erste Held, der seine Tat resp. Untat ex post factum bedenke: »Wann etwa haben die Homerischen Helden Gefühle? Wenn ihnen ein Kamerad stirbt oder wenn ihnen ein Unrecht geschieht: eine Trophäe nicht gewährt, ihnen Anerkennung versagt wird. Ihre kriegerischen Bluttaten reflektieren sie nie. Auch der erste Held, der nach dem Krieg Leiden und Irrungen anderer Art zu bestehen hat, Odysseus, mag sein Schicksal bedenken, nicht aber seine Taten. Der Erste, der in seiner Tat eine Untat erkennt, ist Ödipus.«[7] – Das ist wohl wahr, aber macht ihn das zum Helden?

Schneider möchte »nach Universalien des Helden fahnden, die ihm über Zeiten und Systeme hinweg so etwas wie Identität verleihen«.[8] Diese Identität besteht allerdings kaum in der Fähigkeit zur Reflexion, und Schneider landet auch gleich dort, wo wir uns nicht mehr wundern, bei der Gewalttätigkeit, die dem Helden nicht nur erlaubt, sondern von ihm gewissermaßen gefordert ist: »die archaischste Schicht des Helden ist, dass er die grundlegende Zivilisationsbedingung, das Tötungsverbot, außer Kraft setzt.«[9] Das allerdings ist übers Ziel hinaus geschossen: Das Tötungsverbot ist keine grundlegende Zivilisationsbedingung. Wenn wir über Zivilisation in Hinsicht auf Gewalt sprechen, sprechen wir über unterschiedliche Erscheinungsformen von Gewaltverboten, Gewaltgeboten und Erlaubnissen, gewalttätig zu sein. Wenn Achill Hektor tötet, wird er dafür mit ehrfürchtiger Scheu bewundert. Er verstößt damit gegen kein Verbot, hebt nicht eigenmächtig und für sich ein Zivilisationsgebot auf – nur die Schändung der Leiche des Hektor verletzt den Komment des Gentleman-Warriors.

Ebenfalls ist fraglich, ob es die durch die Tat des Helden angestoßene Kausalität ist, »die die Realität folgenreich umgestaltet«.[10] Das wäre dann ja nicht Ödipus’ Mord, sondern seine Reflexion der Tat, die aber (jedenfalls bei Aischylos) gar nicht stattfindet. Gewiß haben die Taten eines Helden Folgen, aber die machen die Heldentat nicht aus. Theseus befreit die Welt vom Minotauros. Das hat Folgen: Athen muß den Tribut der Jungfrauen, die zu ihm ins Labyrinth geführt werden, nicht mehr entrichten. Aber diese erfreuliche Folge macht die Heldentat nicht aus. Tells Schüsse auf den Apfel wie auf Geßler befreien die Schweiz, sagen wir: irgendwie.[11] Ein »Held« ist er, wenn wir ihn so nennen wollen, weil er – wie nennt man das?: – »das Heft des Handelns in die eigene Hand nimmt«.

Übrigens ist Tells Schuß auf Geßler – er erfolgt schließlich aus dem Hinterhalt – als Heldentat oft bestritten worden. Das kann man so sehen, aber kaum Schiller ankreiden, wie Börne und Mehring das tun. Sie wollten einen Revolutionär auf dem Theater, wo Schiller alles andere als einen Revolutionär darstellen wollte. Schillers Tell ist kein Revolutionär, er ist ein Desperado, er handelt aus selbstgesetztem Recht. Wir kennen diese Leute, Django gehört dazu, Silence (aus Il grande silenzio), der Mann mit der Mundharmonika, Leute, die nicht mit Blick auf das Wohl und Wehe einer Gemeinschaft handeln, sondern wegen einer Mehr-oder-weniger-Privatangelegenheit, einer Rache, eines Traumas oder – im Falle des ersten Italowesterns mit Clint Eastwood – wegen »a fistful of dollars«. Diese Leute handeln aus eigenem Auftrag, sie handeln, weil es ihnen so gefällt – gleichwohl verändert ihr Handeln etwas. Durch Tell kann die Befreiung der Schweiz ohne (weiteres) Blutvergießen vollzogen werden, Django säubert in seinem egozentrischen Rachefeldzug die Stadt von einer Bande texanischer Rassisten (aber er verursacht auch direkt und indirekt den Tod Unschuldiger), der von Clint Eastwood verkörperte Desperado liquidiert zwei rivalisierende Banden, und er befreit Marianne Koch – (schöner war sie nie!) – und läßt sie, obwohl er sie liebt, mit Kind und ihrem Mann, der zu schwach war, sie selbst zu befreien, gehen. – Wir können sie Helden nennen, aber wir tun das nicht wegen der von ihnen angestoßenen Kausalität, sondern weil wir sie bewundern, weil wir auch gerne wären wie sie. Das heißt nicht, daß wir uns danach verzehren, Helden zu sein, aber doch, daß irgendwas an ihnen, von dem wir auch glauben, es sei etwas in ihnen, in uns eine Saite zum Klingen bringt. Welche Saite? Jedenfalls: Wenn diese Saite nicht klingt oder zum Verstummen gebracht wird, verschwindet auch der Status des Helden. Man denke an die Darstellung des Achill in Shakespeares Troilus und Cressida, man denke an Schmidts »Alabama-Dillert«.

Wenn wir uns darüber verständigen, was ein Held ist – ob primär gewalttätig oder nicht, ob jemand, der etwas »für uns« tut oder nur für sich –, müssen wir die Ansicht teilen, daß es etwas Großartiges ist, was er tut. Und damit verständigen wir uns wechselseitig über unsere Kultur bzw. darüber, in was für einer Kultur wir leben wollen. Christian Schneider hat recht, wenn er schreibt: »Was ein Held ist, wird letztlich durch das soziale Koordinatensystem bestimmt, das die Tat bewertet und auf diesem Weg Heldentum definiert. […] dieselbe Handlung, die einen hier zum Helden werden lässt, kann ihn dort, in einem anderen Koordinatensystem, zum Verbrecher oder Narren machen.«[12] Um diese abstrakte Aussage zu pointieren: Kurz nach dem 11. September konnte man im Fernsehen – man fragt sich, warum – ein Interview mit Horst Mahler und Reinhold Oberlercher sehen, in dem sie die Gruppe um Mohammed Atta als »Helden« bezeichneten. Wir nennen sie üble Mörder. Wir nennen Leute, die unter Einsatz ihres Lebens Geiseln befreien, Helden, die Geiselnehmer nennen sie üble Mörder. Das klingt nach dem bekannten »Für die einen sind es Terroristen, für die anderen sind es Freiheitskämpfer«. Das ist, anders, als man meint, nicht der schiere Relativismus. »Relativismus« bedeutet ja nicht, die Kontingenz der eigenen Ansichten zu erkennen, sondern bei dieser Einsicht stehenzubleiben. Ich zitiere da gerne Lessings Saladin, der, als er auf seine Frage, welche Religion Nathan am meisten eingeleuchtet habe, zur Antwort erhält: »Sultan, ich bin ein Jud’«, repliziert: »Ein Mann, wie du, bleibt da nicht stehen, wo der Zufall der Geburt ihn hingeworfen; oder wenn er bleibt, bleibt er aus Einsicht, Gründen, Wahl des Bessern.«

Gilt diese Kulturabhängigkeit der Zuschreibung des Heldentums nur für gewalttätige Helden? Hier muß eins vorausgeschickt werden: Held wird man – kulturübergreifend – nur durch eine Tat, nicht durch ein Erleiden. Roland von Ronceval erliegt einer sarazenischen Übermacht, aber noch im Tode vermag er dadurch, daß er seinen quasi-letzten Atemzug für ein Hornsignal verwendet, das Heer Karls des Großen zur Rache herbeizurufen. In der deutschen Fassung des Rolandslieds, die auf eine französische Version des Stoffes zurückgeht, in der Heldentum und Hybris ineinanderfließen, verschwimmt das Heldentum Rolands mit seiner Sehnsucht, sich als Märtyrer zu verewigen. In beiden Fassungen bläst er sein Horn zu spät. Nichtsdestoweniger: Wäre er in der deutschen Fassung ohne einen Schwertstreich gestorben, es hätte zum Helden nicht gereicht. Es ist darum mehr als fragwürdig, wenn heutzutage Lebensgeschichten von Menschen, die nichts anderes waren als Leidende, so rezipiert werden, als wäre die Zuschreibung, sie seien Helden gewesen, selbstverständlich. Bei allem Bekenntnis zum Universalismus: Wer sich in eine Tradition der Eigenschaftszuschreibung einreihen möchte, kann eben nicht aus dieser Tradition ausscheren – allenfalls sie modifizieren. Es geht dabei nicht um Universalien, die unveräußerlich und traditionstranszendent existieren, sondern solche, die sich in der Tradition herausgebildet haben. Und dazu gehört im Falle des Helden, wenn nicht die Tat, so doch das Tun. Wenn das Leid hinzutritt, wird es durch das vorgängige Tun bewußt hervorgerufen oder zumindest bewußt in Kauf genommen.

Das ändert nichts daran, daß wir Menschen, die Außerordentliches erlitten haben – aber eben nur: erlitten –, in mancher Hinsicht für Menschen ansehen, denen wir in besonderer Weise zuhören sollten. Sie wissen nämlich etwas über die Welt, das wir in der Regel nicht – oder doch zumindest so nicht – wissen. Und dies – so unsere Intuition – nicht nur über jenes Ereignis, das sie zu Leidenden machte, und über dieses Leid selbst, sondern »irgendwie« über die Welt als solche. Das ist der Grund, warum Bücher wie die von Primo Levi, Robert Antelme, Jean Améry, Ruth Klüger solche Autorität haben, daß man, wenn man mit einem Zitat von ihnen einen Aufsatz abschließt, leicht dem ganzen Aufsatz Autorität verleiht (und warum Menschen in solche Schwierigkeiten geraten, wenn sie sich auf Deutungskontroversen wie die zwischen Levi und Améry einlassen – was sie in der Regel vermeiden).

Was für einen Status wir solchen Menschen, die gelitten haben und durch ihre Berichte zu exemplarisch Leidenden geworden sind, auch zuschreiben wollen, »Helden« können wir sie nicht nennen, sonst würde unter diesem Begriff nichts Faßbares mehr begriffen. Zum Helden gehört die Tat – muß es eine Gewalttat sein? In den alten Maeren schon, aber es hat sich eine Tradition herausgebildet, die Tat und Tod scheidet. Christian Schneider hat insofern unrecht, wenn er den Helden mit der Gewalttat identifiziert: »Mit einem Wort: Wer Held sagt, sagt automatisch Tod. Oder genauer: Mord.«[13]

Schon früh gibt es ganz erstaunliche andere Helden. Im Historischen Wörterbuch der Philosophie ist dem Eintrag »Held, Heros« zu entnehmen, daß die ursprüngliche Verwendung des Wortes »Heros« ebenjene Übersteigerung des menschlichen Maßes meinte, um die es mir geht, im Totenkult aber zusehends metaphorisiert wurde – das Wort wurde zu einer postumen Ehrzusprechung, bis hin zur Heroisierung von Gründern von Philosophenschulen. Catull heftete das Wort an Geliebte, Ovid an verlassene Frauen, die ihren treulosen Geliebten »epistulae heroides« schreiben. Aber das gehört doch wohl einem anderen (Sie verzeihen das Wort:) Diskurs an, dem des Anheftens von Etiketten aus anderen Sphären – die Frau wird zur »Königin«, zur »Göttin« etc. Dies ist keine Erweiterung der Rede vom Helden, sondern der von der Frau.

Wir kennen heutzutage die Rede von den »Helden des Alltags«, eine Redefigur, die sich gegen die Idee eines Gewalttätigen wendet, aber die des Außerordentlichen bewahrt und betont. Trotzdem ist die Rede merkwürdig schief: War es außerordentlich, dann war es eben kein Alltag mehr. Im Alltag riskiert man glücklicherweise sein Leben nicht. Hat jemand unter Einsatz ihres Lebens jemanden aus einem brennenden Auto befreit, dann war das kein »Alltag«, für keinen der Beteiligten und für die Zeugen der Tat nicht; und wenn ein Wurstbudenbesitzer dem Ansturm hungriger Fußballfans standhält und dreimal mehr Bratwürste serviert als sonst, dann ist er ein Kandidat für das Guinness Book of Records und für ein Freiabonnement des Fußballvereins, aber kein Held. Auch diejenigen, die Bundesverdienstkreuze für ehrenamtliche Tätigkeiten bekommen, sind keine Helden, sie sind nützlich, sie sind nötig, sie werden zu Recht geehrt, aber das Wort »Held« ist irgendwie ein Mißgriff: Es fehlt das persönliche Risiko.

Anders verhält es sich mit jenen, denen Susan Neiman in Moral Clarity das Kapitel »Heroes of Enlightenment« widmet: »Are they saintly?« schreibt sie. »Not in the least, though you may find them extraordinary. I suspect each would say they are no more than what ordinary men and women can be – if they chose.«[14] Nur: wenn sie wählen, sind sie eben nicht mehr »ordinary men and women«. Und die, die so gewählt haben, wissen das – wenigstens irgendwie. Was sind das für Leute? Sie sind zum Beispiel tätig im Westjordanland, in Afghanistan, haben die Pentagon-Papers veröffentlicht, haben für Rassengleichheit gekämpft. Sie alle sind persönliche Risiken eingegangen, sie alle werden übrigens nicht von jedermann als Helden bezeichnet, Daniel Ellsberg nicht von der Nixon-Administration, David Shulman nicht von radikalen israelischen Siedlern, Sarah Chayes nicht von denen, die das afghanische Dorf, an dessen Wiederaufbau sie arbeitet, unter Beschuß nehmen, Bob Moses nicht von der Witwe von Herbert Lee, der erschossen wurde, als er sich, dem Appell von Moses folgend, im Bundesstaat Mississippi in eine Wählerliste eintragen lassen wollte: »You killed my husband!«[15]

Aber welche Saite wird in uns zum Klingen gebracht? Man könnte sagen, daß hier Menschen praktisch für Ideale einstehen, die uns – einmal, weil wir in ihre kulturellen Kontexte zufällig hineingeboren oder -gewachsen sind, zum andern, weil wir aus »Gründen, Wahl des Bessern« bei ihnen geblieben sind – besonders bedeutsam erscheinen, weil hier Tun nicht an die Stelle von Reflexion tritt, sondern zu ihr hinzukommt und – in gewissem Sinne – sie einlöst. Und dies unter Inkaufnahme eines nicht geringen persönlichen Risikos. Der frühere Green Beret Lieutenant Colonel Tony Schwalm über Sarah Chayes: »She was risking life and limb to craft a better, freer, more secure way of life for a people that she did not know very long before she started her efforts.«[16] – Das alles ist richtig, aber nicht Alles, denn unsere Bewunderung ist nicht abstrakt – wir sehen nicht ein Notenbild, sondern die Saite klingt tatsächlich. Wir sehen nicht etwas ein – das auch –, sondern werden zudem emotional bewegt. In welcher Hinsicht?

Susan Neiman zitiert Sarah Chayes: »This is not about selflessness. For the first time in my life I feel balanced.«[17] Tatsächlich: Ebensowenig wie Schiller und Schopenhauer einem Menschen über den Weg trauen wollten, der dem, dem er hilft, nur hilft, weil eine abstrakte Pflicht es von ihm verlangt, und der nicht irgendeine Sympathie (nicht unbedingt mit dem Individuum, sondern) mit dem Mit-Menschen als Menschen oder vielleicht bloß als Kreatur empfindet, so würden wir einem sauertöpfischen Wiederaufbauhelfer, Streetworker, Kämpfer gegen Diskriminierungen aller Arten nicht recht trauen wollen, wenn wir nicht annähmen, daß er das, was er tut, auch gerne tut. Ebenso, wie es kaum einen Gewalttäter gibt, der das, was er tut, nicht irgendwie (da gibt es viele Möglichkeiten) gerne tut, gibt es keinen, der etwas tut, was wir »gut« nennen, der das nicht irgendwo und irgendwie gerne tut. Neiman schreibt: »Peace work, says Shulman, is mostly boring, long waiting punctuated by occasional bouts of action or fear – much like war. Yet some of his descriptions are so lyrical you want to go off and join him just for the pleasure of it«.[18] Und: »What keeps Shulman going?« Shulman sagt, seine Motive und die derjenigen, mit denen er zusammenarbeitet, seien »wildly obscure, oblique« – aber das gilt für alle Motive, egal, was man tut (weshalb das Reden über »Motive« fast nie etwas bringt und man es besser einfach aufgibt). Aber: »They have come‚ out of loyalty to one another, to friends; nothing is worse than the shame of letting them down«[19] – much like war? – »We few, we happy few, we band of brothers« – Wie beschreibt Shulman seinen Kampfeinsatz im Libanon?: »The official ideology […] was of no consequence compared to the ›high‹ we got from one another, from the wild, somewhat unnerving adventure of it all.«[20] Der bereits zitierte Schwalm nennt Chayes »a ballerina in a battlefield«. Also nicht nur ein Bewußtsein des Risikos, das man eingeht, sondern eine gewisse Verachtung des Risikos? Ich bin nicht sicher, daß Chayes recht hat, wenn sie sagt, daß die Bereitschaft der Afghanen, bestimmte Risiken nicht einzugehen, auf ihre traumabedingte Unfähigkeit, sie zu kalkulieren, zurückgehe.[21] Das kann im Einzelfall so sein, es kann aber auch sein, daß einer vorsichtiger ist als sie, weil er weiß, was ihm blühen kann. Ein Trauma kann sowohl realitätsuntüchtig als auch in gesteigertem Maße realitätstüchtig machen. Meistens wohl beides, wenn auch nicht immer gleichermaßen.

Der Einsatz für den Frieden wie im Krieg kann sich, darauf deuten die Indizien, aus denselben oder wenigstens ähnlichen psychischen Quellen speisen. Das entspricht der nicht nur psychoanalytischen Einsicht, daß jedes menschliche Tun die Kanalisierung psychischer Antriebe ist, die mit der Tat oder dem Ziel der Tat erst einmal gar nichts zu tun haben, und der nun spezifisch psychoanalytischen Einsicht, daß jede solche Kanalisierung nicht nur auf etwas hin erfolgt, sondern von etwas weg: Abwehr. Shulman faßt diesen Mechanismus, der meist unbewußt greift, als Ergebnis bewußter Reflexion: »If I look deeply into myself, I can identify – side by side with hope, faith, and a certain embryonic capacity for empathy – the same dark forces that are active among the most predatory of the settlers. I, too, am capable of hate and of polarizing the world. Perhaps the balance, individual and collective, is always precarious. Here is a reason to act.«[22]

Nur werden eben Entschlüsse nicht auf Grund der Vernunft allein bzw. auf Grund der Einsicht in gute Gründe gefaßt, sondern, und eben auch in diesem Falle, auf Grund von besonderen Emotionen: »a breathtaking experience of freedom«. Das ist es, was, ich habe es bereits zitiert, »ordinary men and women can be – if they chose«. Daß etwas eine Saite in uns anschlägt, setzt voraus, daß wir diese Saite haben. Wir können nicht alle Helden sein. Wären wir alle Helden, so gäbe es keine mehr, sie müssen ja, um hervorgehoben zu werden, eine kleine Minderheit sein. Um die Anfangsdefinition wieder aufzunehmen: Helden repräsentieren Tugenden, die Allgemeingültigkeit beanspruchen, in extrem gesteigerter, also seltener Form. Daß wir von den Taten eines Helden bewegt werden (und sie nicht nur abstrakt anerkennen), ist eine wesentliche Erweiterung unseres Verständnisses vom Helden, genauer: von unserem Akt der Zuschreibung des Heldentums, denn auf diese Zuschreibung kommt es an: Jemand auf einer einsamen Insel kann tun, was er will, zum Helden wird er nie, und wer nichts als Hohn erntet, muß wenigstens die Bewunderung späterer (oder, noch gewagter, vergangener) Geschlechter phantasieren, um sich in der Gegenwart als Held zu fühlen. Dabei geht es bei der Bewunderung, die wir zollen, wie gesagt, weniger um die Resultate seines Tuns – in deren Licht sind seine Taten manchmal nicht mehr als ein Rütteln an den Gitterstäben der Weltgeschichte: »Ich will hier raus!« – als um sein Tun selbst.

Es muß hier wohl das Wort »Narzißmus« fallen. Das Problem: In der Psychologie (welcher Ausrichtung auch immer) ist das natürlich ein wertfreier Begriff, in der Alltagskommunikation ist er in der Regel pejorativ konnotiert (synonym mit »eitel« bis »rücksichtslos«). Nehmen wir das Buch von Laplanche und Pontalis Das Vokabular der Psychoanalyse zur Hand; dort finden wir: »Der primäre Narzißmus bezeichnet einen frühen Zustand, in dem das Kind sich selbst mit seiner ganzen Libido besetzt. Der sekundäre Narzißmus bezeichnet eine Rückwendung der von ihren Objektbesetzungen zurückgezogenen Libido.« Und: »Diese Begriffe werden in der psychoanalytischen Literatur und selbst in Freuds Werk sehr unterschiedlich aufgefaßt, was eine einheitliche und genauere Definition als die von uns vorgeschlagene verbietet.«[23] Das eröffnet die Möglichkeit, auf eigene Faust den Narren zu spielen; zudem versteht sich, daß, wenn im Folgenden von »Narzißmus« die Rede ist, allein der »sekundäre Narzißmus« gemeint ist.

Den Begriff »Narzißmus« wertfrei zu halten hat seinen guten Grund. Denn eine in ihrem Leben permanent (oder immer mal wieder) narzißtisch angetriebene Person kann ebenso auf die Mißbilligung wie auf die Bewunderung ihrer Umwelt stoßen. Wenn jemand ein Buch schreibt, so ist das ohne narzißtischen Antrieb nicht zu machen. Zwar: sich nur am Anblick des eigenen Namens auf einem Buchumschlag zu erfreuen ist ein wenig billig, aber ganz ohne geht es nicht. Es gehört zum Set an narzißtischen Bestätigungen, die der Autor anstrebt, braucht, um weiterzumachen. Nicht nur der Autor. Welcher Schauspieler, er ginge noch so in seiner Rolle auf, wäre »nur Hamlet«? Er ist immer derjenige (so hofft er irgendwie), der Hamlet so spielt, wie er noch nie gespielt worden ist – und wenn ihn am Ende der Applaus wie eine Welle hochhebt, auf der er ein paar Minuten surfen kann, dann hat er, was er sucht. Nur leider zu kurz, er wird versuchen, den Moment zu verlängern – findet sich in der Kantine ein Fan? –, und dann geht er nach Hause oder ins Hotelzimmer und hat den Katzenjammer: Er hat sich verausgabt und nur einen Bruchteil von dem, was er gegeben hat, zurückbekommen. Aber es war doch gar kein give-and-take, er hat doch nicht für das Publikum gespielt, sondern für den Applaus des Publikums? Das Beispiel mag lehren, daß man zwar aus narzißtischen Antrieben handeln kann, aber am Ende so handelt, wie wenn man es bloß »für andere« getan hätte, und diese anderen wie man selbst empfinden es so.

Umgekehrt: Ein Buch kann Tausende erfreuen, belehren, Trost oder Einsicht in ihr Leben bringen, und wir lieben die Autorin oder den Autor darum, ja, bei manchen Büchern haben wir das Gefühl, es sei (und das mag vor Jahrhunderten geschehen sein) nur für uns geschrieben worden. Wir bewundern den Autor oder die Autorin, die vielleicht jahrelang über diesem Buch gesessen haben, und wir bewundern auch das Moment der Askese während der Abfassung des Buches. Seine oder ihre Familie, die Peers etc. mögen das ganz anders sehen: Er / sie vernachlässigt die anderen, zieht sich zurück auf eine (weitere) Emanation seines Ich, der sie / er, wenn nicht alles, so doch bemerkenswert viel unterordnet, auf den zweiten oder dritten Platz verweist. Kreativität (ich meine nicht: Häkelkurse oder »creative writing«) bedarf des Narzißmus und einer gewissen A-Sozialität – sprich: Abzug der Libido von den Objekten, Umlenkung auf das eigene Ich und seine Hervorbringungen.

Es gibt eine Fernsehserie des Mitteldeutschen Rundfunks – eine der erfolgreichsten Serien des Deutschen Fernsehens überhaupt – mit dem Titel In aller Freundschaft. Das Rezept dieser Serie ist einfach: In jeder Folge wird wenigstens ein mehr oder weniger komplizierter Fall in ein Krankenhaus in Leipzig (die »Sachsenklinik«) eingeliefert, um den sich das Serienpersonal, Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Pfleger, zu kümmern hat, und meist geht es gut aus. Nebenbei (in manchen Folgen nicht nur nebenbei) geht das Privatleben der Protagonisten mit Ehekrisen, Liebschaften (zeitweise glücklichen, manchmal notorisch unglücklichen) weiter, und das ist es, was uns bei der Stange hält wie bei jeder Serie: Wir wollen wissen, wie es weitergeht. Hält es diesmal? Wie kommt das Ehepaar Heilmann (Heilmann heißt der Chefarzt – just think of that!) über den Tod ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns hinweg? Wird Frau Dr. Globisch endlich den Richtigen finden? Wird Frau Dr. Eichhorn ewig die Melancholikerin vom Dienst bleiben müssen? Kommen der Assistenzarzt Dr. Brentano und Schwester Arzu wieder zusammen? Ich nenne die Titel immer mit, weil die Ärzte sich auch untereinander stets mit ihren Titeln anreden: »Könnten Sie sich das mal ansehen, Dr. Kreuzer?« »Gerne, Dr. Brentano!« Dabei ist es doch ein akademischer Fauxpas, wenn Gleichbetitelte einander mit Titeln versehen – jedenfalls heutzutage, Groddeck nannte Freud »Herr Professor«, und Freud replizierte: »Herr Doktor«, nun, er war aus Wien.

Dieser liebenswerte Unsinn der Serie mag uns aber auf die richtige Spur führen. Die Konflikte, mit denen uns die Serie heimsucht, sind im Kern fast immer Konflikte um den Narzißmus der medizinischen Protagonisten. Dr. Kreuzer ist ehrgeizig und hält sich für den besten und modernsten Arzt der Klinik und gefährdet dauernd die Freundschaft mit seinen Kollegen; Dr. Brentano muß für seine Prüfungen lernen, und Schwester Arzu bleibt allein zu Hause und schmollt: Sie sei ja nur »eine kleine Krankenschwester«; die Ehe der Heilmanns steht dauernd unter Streß, weil er Verabredungen, Hochzeitstage etc. vergißt, weil er in der Klinik aufgehalten wird. Er müsse schließlich Leben retten, sagt er; er wolle ihr damit wohl sagen, sie sei bloß Friseurin, antwortet sie darauf und dreht sich zur Wand. Es ist aber so, daß diejenigen, die die »Sachsenklink« nach strapaziösen und komplizierten Operationen (»Ich kann ihn nicht mehr halten, Blutdruck sinkt! Er wird tachykard!« »Defi, schnell! Weg vom Bett!« »Wir haben ihn wieder. Das war knapp.«) gesund wieder verlassen (das ist jedenfalls die Regel), dies der Tatsache, daß die Ärzte ihrem Beruf mehr Aufmerksamkeit schenken als ihren Lebenspartnern, verdanken (das gilt nicht nur für die männlichen Ärzte, bei den männlichen entspricht es nur mehr dem Klischee, weshalb es dort mehr ausgewalzt wird).

Interessant ist, daß es in dieser Serie ab und zu (und häufiger, wie mir scheint, als die Wahrscheinlichkeitsrechnung erlaubt) vorkommt, daß Chirurgen und Chirurginnen ihre eigenen Verwandten oder Partner auf dem Operationsplan vorfinden. In der Regel wollen sie – gegen alle Professionalität – selbst operieren, worauf dann der Klinikchef einschreiten muß (»Sie wissen doch …«). Klar: dem betroffenen Operateur könnte die Hand zittern, wenn er seine eigene Frau aufschneiden soll und wenn es an ihm hängt, ob er ihr Leben retten kann oder nicht. Wäre die Serie etwas weniger sentimental, könnte auch die Ambivalenz gegenüber dem geliebten Objekt zur Sprache kommen sowie der Umstand, daß nur der ein guter Chirurg ist, der gerne Körper aufschneidet (ich jedenfalls würde mich keinem Chirurgen anvertrauen, der kein Vergnügen an seinem Beruf hätte). Wichtiger aber scheint mir, daß durch den Verwandten auf dem Tisch die narzißtische Steuerung der Berufsausübung gestört wird – die Objektbeziehung (wie immer sie auch beschaffen sein mag) kommt ihr in die Quere. Der Chirurg muß sich vor zu großer Identifizierung – in Liebe oder Haß – mit seinem Patienten hüten. Er muß stolz auf die Präzision seiner Arbeit sein – und damit auf sich. Das Signal dafür ist in der Serie, daß die Chirurgen und Chirurginnen einander dauernd wechselseitig bestätigen (auch wenn sie einander zuvor in den Haaren gelegen haben), wie gut sie sind (»Ausgezeichnete Arbeit, Frau Kollegin!«).

Aus dem Nähkästchen geplaudert: Ich habe einmal ein kleines Buch geschrieben, das in die öffentliche Debatte, ob unter bestimmten Umständen die Wiedereinführung der Folter legitimierbar und mit dem Grundgesetz-Artikel I,1 vereinbar sei, eingreifen sollte. Das Buch wurde, obwohl zu Teilen rein juristisch argumentierend (was sich Juristen von einem, der nicht vom Fach ist, selten gefallen lassen), positiv angenommen. Nun ergab es sich, daß ein führender Jurist dieses Landes, mit dessen Ausführungen ich mich kritisch beschäftigt hatte, irgendwann einen Aufsatz schrieb, der mir eine Korrektur seiner früheren Ansichten auszudrücken schien. Ich merkte nun, daß mich das nicht nur von der Sache her interessierte, sondern daß mir die Phantasie – mehr war das nicht –, diese Veränderung sei auf Grund der Lektüre meines Büchleins erfolgt, außerordentlich gefiel. Nicht nur: die Situation hat sich verbessert, sondern: ich habe sie verbessert. Ohne solche Phantasien – die ich mir natürlich nicht immer bewußt gemacht habe, die man sich generell nicht immer bewußt macht – hätte ich das Buch gar nicht geschrieben. An einer Sache, die man für gut hält, bloß mitzuwirken, ist in der Regel kein zureichender Grund zum Handeln, sondern man will einen entscheidenden Beitrag leisten. (Und die Wirklichkeit kommt dem narzißtischen Antrieb entgegen: Da man, handelnd, keinen großen Überblick hat, sondern nur den Ausschnitt der Welt sieht, in dem man gerade tätig ist, vergrößert sich das eigene Tun notwendigerweise. In der Notaufnahme kann so – bei aller nervtötenden Routine – jeder angelegte Verband zu einem Beitrag zur Rettung der Welt werden. Und für den, der den Verband bekommt, ist das auch so.)

Worauf das hinausläuft, ist das Folgende: Der Held ist jemand, der seinen Narzißmus in einem Maße lebt, das der Alltag normalerweise nicht zuläßt (und vor allem: uns nicht gestattet, und das von uns im Alltag selten anderen gestattet wird). Der Held ist jemand, der dennoch Anerkennung, Bewunderung, Liebe erhält, ja zum Übermenschen (»Heros«) verklärt wird. Nicht trotz, sondern wegen seines Narzißmus, dessen Ausleben wir in unschuldiger Bewunderung ansehen können und der in uns die besagte Saite zum Klingen bringt, weil er einen a-sozialen Trieb als Antrieb für Handlungen nützt, die sozialen Tugenden entsprechen. Man könnte von einem »schuldlosen Narzißmus« sprechen, aber es ist wohl eher unsere Bewunderung, die uns schuldlos vorkommt, weil wir meinen, die sozial produktiven Tugenden zu bewundern, wo wir doch sein wollen wie der, der sich über die Welt der anderen erhebt. Wäre das anders, wir würden eben die Resultate schätzen, nicht die Taten und den, der sie vollbracht hat, bewundern. Die Resultate repräsentieren das gemeinschaftliche Gute (wenn wir uns – kulturell – einig sind, was das ist, was, siehe oben, oft nicht der Fall ist), Helden das über die Gemeinschaft sich Erhebende, die extrem gesteigerte, also seltene Form des Handelns für das Allgemeine – und so gibt es immer eine Kluft zwischen dem, was wir schätzen, weil es dem Allgemeinen zugute kommt, und der Bewunderung für den Helden.

Susan Neiman hat in ihrem Kapitel über die »Heroes of Enlightenment« Sätze zitiert, die das sozial Produktive der narzißtischen Antriebe dokumentiert. Sarah Chayes: »I sometimes feel I’m laying my body down as a bridge over the chasm that Bush and Bin Laden are trying to open.« Der nächste Satz lautet: »Not that I suppose my efforts are large enough to make a difference.«[24] Wäre dieser zweite Satz nicht, der erste wäre purer Größenwahn. Aber wäre der erste nicht, der zweite wäre pure Resignation. Es braucht das Realitätsprinzip des zweiten Satzes kombiniert mit der narzißtischen Phantasie des ersten, um etwas auszurichten – und um unsere Bewunderung zu erzeugen. – »I don’t want to act for the record!« schreit Shulman einen Mitarbeiter an und dementiert expressis verbis den Helden-Status (oder das Bedürfnis, nach ihm zu streben). Doch dann folgt nicht etwa: »This misery has to come to an end«, oder: »We have to help to end this misery«, sondern: »I just want this misery to end.«[25] Es braucht solche Gedanken, solche Sätze. »You are not going down there to try to be heroes […] You have a job to do«,[26] sagt Bob Moses zu den weißen Freiwilligen, die bei der Kampagne in Mississippi mitmarschieren wollen. Das war nötig, um die Aktionsbereitschaft einzuhegen. Gleichzeitig wird berichtet, daß Moses ein hinreißender Redner war, dem es gelang, Martin Luther King als Redner zu deklassieren. Niemand ist ein guter Redner, der sich nicht als Redner genießt.

Ohne unsere Sehnsucht, unseren Narzißmus bewundern zu lassen (und dieses in der Identifikation zu phantasieren), gäbe es keine Helden. »Es erscheint«, schreibt Freud, »[…] daß der Narzißmus einer Person eine große Anziehung auf diejenigen anderen entfaltet, welche sich des vollen Ausmaßes ihres eigenen Narzißmus begeben haben […] der Reiz des Kindes beruht zum guten Teil auf dessen Narzißmus, seiner Selbstgenügsamkeit und Unzugänglichkeit, ebenso der Reiz gewisser Tiere, die sich um uns nicht zu kümmern scheinen, wie der Katzen und großen Raubtiere, ja selbst der große Verbrecher und der Humorist zwingen in der poetischen Darstellung unser Interesse durch die narzißtische Konsequenz, mit welcher sie alles ihr Ich Verkleinernde von ihm fernzuhalten wissen.«[27] – Man bedenke, wie diese Charakteristik des Narzißmus – Selbstgenügsamkeit, Gleichgültigkeit – der klassischen Definition des »Erhabenen« entspricht.

Wäre das anders, könnten wir keine Helden bewundern, die Dinge tun, die uns moralisch eigentlich nicht in den Kram passen oder die wir wenigstens selber nicht tun würden. In den Rocky-Filmen muß der Protagonist von seinem Trainer (und ganz zuletzt, als letzter Anstoß, von seiner Frau) narzißtisch aufgerüstet werden, er muß nur noch den Kampf und den Triumph am Ende sehen, nicht mehr die Familie oder was auch immer. In Rocky IV kommt es dahin, daß sein Gegner, ein linientreuer Sowjetbürger, der für die Glorie des Vaterlands der Werktätigen in den Ring steigt, am Ende seinem Publikum zuruft: »Ich kämpfe für mich! – für mich!«, was den oberflächlichen politischen Sinn hat, daß der im Kollektiv Großgezogene endlich erkennt, daß jeder seines eigenen Glückes Schmied ist, aber vor allem bedeutet, daß er ohne Mobilisierung seiner narzißtischen Energien nicht durchhalten kann. Rockys Ecke rüstet dessen Grandiosität mit Appellen an seine Aggressivität auf: »Schlag den russischen Affen tot!« Nach dem Kampf folgt, natürlich, ein Appell für Frieden und Völkerverständigung, und Gorbatschow applaudiert, aber das ist Zugabe.

Nun aber zu Achill, der nie fehlen darf, wenn es um Helden geht, und zu einem Film, der mit einem gewissen Recht keine guten Kritiken bekam, der aber in zwei Szenen sehr genau das wiedergibt, was der griechische Inbegriff des Helden ist, Wolfgang Petersens Troja mit Brad Pitt als Achill. In der ersten dieser zwei Szenen wird Achill (die Sache spielt vor dem Feldzug nach Troja, aber Achill ist schon als, wenn das Oxymoron erlaubt ist, freiwilliger Held vom Dienst für Agamemnon tätig) von einem Knaben aus seinem Zelt, wo er dekorativ nackt unter einer Felldecke mit einer namenlosen Frau in postkoitalen Träumen versunken ist, geholt: Er solle gegen den besten Krieger des gegnerischen Heeres antreten, alle warteten auf ihn und so weiter. Achill eilt aus dem Zelt, rüstet sich, steigt aufs Pferd, der Knabe sagt, der ihn erwarte, sei der größte Mann, den er je gesehen habe, »ich würde nicht gegen ihn kämpfen wollen.« Achills Antwort: »Darum wird sich auch niemand an deinen Namen erinnern.«

Darum geht es, daß man sich an seinen Namen erinnert, koste es, was es wolle. Der zweite Ausschnitt zeigt die Landung der Griechen an der Küste Trojas mit optischen Anspielungen auf den Film The Longest Day, aber sonst archaisch-griechisch. Der riesigen griechischen Flotte voraus eilt ein Schiff mit schwarzem Segel, es ist das Achills und seiner Krieger, der Myrmidonen. Der Strand ist wohlbewehrt, Hindernisse, angespitzte Pfähle und so weiter, vor allem voller kampfbereiter trojanischer Krieger.

Kamera auf Brad Pitt, der mit dem Schwert auf den Strand weist: »Wißt ihr, was euch da erwartet?«, und wir Zuschauer, die wir Kriegsfilme gewohnt sind, erwarten etwas wie »Die Hölle!« und »Haltet durch, Männer!«, aber das wäre nicht griechisch, Achill ruft: »Die Unsterblichkeit! Holt sie euch!« Hier hat man den Narzißmus eines mörderischen Helden, der einer Kriegerkultur entstammt. Auch den eines todesbereiten Helden, denn er weiß, daß er vor Troja fallen wird, nur nicht wann. Solchen kriegerischen Narzißmus kann nur der Pazifist ganz zurückweisen. In Kriegen – ungerechtfertigten wie gerechtfertigten – braucht es solche Leute wie Winkelried, der die Lanzen der Gegner packt und sich das Bündel in die Brust stößt, um eine Gasse zu brechen, wie diejenigen, die als erste die Festungsmauer ersteigen – mit meist letalem Ausgang, und wenn nicht, mit einer der höchsten Auszeichnungen bedacht, die Rom zu vergeben hatte. Spielberg widmete dem D-Day ein Heldenepos (Saving Private Ryan).

Im Falle Achills nun zeigen sich die Risiken eines narzißtisch übersteuerten Helden der Gewalt. Seine in der Ilias geschilderte Zeit vor Troja ist ein Wechselbad von narzißtischen Kränkungen und destruktiver Raserei. Zunächst zieht er sich vom Kampf zurück, weil er nicht standesgemäß behandelt wird. Der Heerführer Agamemnon nötigt ihm seine Kriegsbeute, die schöne Briseis, ab, dann wird sein Liebhaber und minor-size-hero Patroklos von Hektor mit ihm verwechselt, dann kämpft Achill wieder, wütet unter den Trojanern, doch kurz bevor er Aeneas erschlagen kann, wird dieser von den Göttern vom Schlachtfeld entrückt, er wütet umso mehr, und nach allerlei kämpferischen Großszenarien stellt er Hektor, tötet ihn, sagt dem Sterbenden, er werde dessen Leichnam die konventionellen Ehren nicht erweisen, und statt mit den übrigen Griechen die Stadt zu erstürmen, kehrt er ins Lager zurück, um dem Leichnam des Patroklos ebenjene dem Hektor verweigerten Ehren zu erweisen, und schleift die Leiche Hektors hinter seinem Streitwagen her. Er hat damit – ich sagte es schon – den Komment des Gentleman-Kriegers verlassen. Homer macht deutlich, daß für ihn das Gemetzel an den Trojanern ebensowenig schrecklich oder gar verwerflich ist (man denke: ein Mann gegen Hunderte!) wie der Sieg über Hektor – erst bei der Behandlung des Leichnams beginnt der Abstieg aus den Sphären des Heldentums.

Daß Achill sich zuvor vom Kriege zurückgezogen hatte, ist wie sein Wiedereintritt in den Kampf das Thema der Ilias: »Singe, Göttin, den Zorn des Peleiaden Achilleus« (Latacz hat für Zorn »Groll«), und zwar ist die Behandlung, die ihm vom Heerführer Agamemnon zuteil wird, geeignet, den aristokratischen Krieger zu kränken – aber geht er in seiner Kränkung nicht zu weit, wenn er den Griechen Niederlagen wünscht, damit sie wissen, was sie an ihm haben? Nun, jedenfalls ist diese Bitte aus dem Geiste narzißtischer Übersteuerung zu verstehen, und wie um diese zu strafen, fällt ihr ja auch Patroklos zum Opfer, was zum Wiedereintritt Achills in den Kampf und zu seinem endlichen Aus-der-Rolle-Fallen nach Hektors Tod führt.

Eigentlich ist Achill ja kein Held, wie wir heute meinen, daß er im Buche stehe. Zunächst versucht er, dem Krieg zu entgehen, indem er sich auf den Rat seiner Mutter hin als Frau verkleidet unter Frauen versteckt und erst durch eine List des Odysseus entlarvt wird, dann beschwert er sich permanent bei seiner Mutter, der Meergöttin Thetis, über die Kränkungen, die er über sich ergehen lassen muß.

Mutter, weil du mich nur zu kurzem Leben gebarest,

Schuldete mir der Olympier wohl besondere Ehre,

Zeus mit donnernder Macht! Doch jetzt gewährt er mir gar nichts!

Siehe, des Atreus Sohn, der gewaltige Fürst Agamemnon,

Hat mich entehrt und behält mein Geschenk, das er selbst mir entrissen!

Also sprach er mit Tränen; ihn hörte die herrliche Mutter

– er klagt nämlich so laut, daß man es bis auf den Meeresgrund hört.

Eilend tauchte sie auf aus den schäumenden Fluten wie Nebel,

Setzte sich dann dem bitterlich weinenden Sohn gegenüber,

Streichelte ihn mit der Hand und sprach ihm zu mit den Worten:

Liebes Kind, was weinst du, und was betrübt dir die Seele?

Er erzählt seiner Mutter, was vorgefallen ist, und sie sagt:

Wehe mein Kind […]

Jetzt aber stirbst du so bald und mußt noch leiden wie niemand!

Sie ist es, die dem Sohn empfiehlt, sich vom Kampf fernzuhalten. Als Patroklos fällt, jammert Achill so, daß man fürchtet, er werde Selbstmord begehen, und wieder so laut, daß man es bis auf den Grund des Meeres hört. Thetis eilt zu ihrem Sohn und wiederholt die schon bekannten Worte:

téknon, ti klaíeis …

Liebes Kind, was weinst du, und was betrübt dir die Seele?

Weder das Weinen und Klagen noch die Anrede »Mein Kind« müssen uns befremden. »Mein Kind« (téknon) ist die Anrede der Eltern ihren Kindern gegenüber, auch wenn sie erwachsen sind. Und das Weinen?: Nun, die griechischen Heroen reagierten durch die Bank primärprozeßhaft und nicht nach unserem heutigen Rollenverständnis.

Thetis ist es, die für die Rüstung sorgt, in der Achill später Hektor besiegt. Das alles ist, griechisch, nicht befremdlich. Eher befremden könnte uns, daß die Ehrverletzung schwerer wiegt als der baldige Tod, aber das zeigt uns nur, daß wir von einer aristokratischen Kultur lesen – auch bei uns hat sich der Brauch des Duells, wo ebenfalls das Leben wenigstens riskiert wurde, um eine Kränkung aus der Welt zu schaffen, lange gehalten. – Nun bewahren aber die Mythen und die Hypostasierungen aristokratischer Gesellschaften zu heroischen Zeitaltern in Geschichten, die man Pseudo-Erinnerungen nennen könnte, allerlei psychologische Wahrheiten – direkt und indirekt. Direkt: Freud deutete nicht den Ödipus-Mythos, sondern wies darauf hin, daß in Sophokles’ König Ödipus der ödipale Konflikt im Medium der Traumdeutung bereits erwähnt wird. Indirekt: In der Konstellation Achill / Thetis wird die Ambivalenz der Mutterliebe dargestellt. Einerseits die Liebe, die so weit geht, daß der Sohn sich lächerlich machen soll, wenn er nur der Mutter erhalten bleibt (seine Verkleidung als Frau unter Frauen, aus der ihn Odysseus erlöst, indem er ihm Waffen zeigt, zu denen Achill sofort greift); auch die Anteilnahme an der Kränkung des Sohnes hat, durch den Rat, sich des Kampfes zu enthalten, diesen Zug, aber eben auch, daß die Kränkung des durch die Mutter wenigstens halb-göttlichen Sohnes mehr wiegt als der gesamte Krieg, der ohne ihn, so das Orakel, nicht gewonnen werden kann. So oder so – er ist unentbehrlich, und es ist nicht zuletzt die Mutter, die ihm das unermüdlich sagt.

Daß Achill Briseis nicht bekommt, stört ihn nicht wegen des verlorenen Objekts, sondern wegen der Kränkung. In Patroklos liebt er den Achill-Look-alike. Die Mutter stabilisiert ihn, indem sie ihn tröstet und indem sie seinen Narzißmus anheizt – auf mütterlich ambivalente Weise: Sie möchte einen Helden-Sohn und gleichzeitig einen, der sich nicht in Gefahr begibt. Am Ende führt Achill nicht zu Ende, was er begonnen hat. Er kämpft nach dem Sieg über Hektor den Kampf nicht bis zum Sieg über die Stadt, die er doch entscheidend geschwächt hat, er erobert nicht Troja an der Spitze des griechischen Heeres, sondern wendet sich ab, um Patroklos, seinem Alter ego, eine Zeremonie der Verklärung zu widmen und um den Leichnam des Hektor zu schänden. Aus dem latent a-sozialen Helden wird ein anti-sozialer Berserker.

Helden kann es nicht geben, ohne daß ihr Ich in ungewöhnlichem Maße ihre Person bestimmt. Daß man sich an seinen Namen erinnern werde, sagt Achill in dem Film Troja, und Susan Neiman sagt über David Shulman und die anderen Friedensaktivisten, die palästinensischen Familien helfen, ihre agrarische Subsistenz aufrechtzuerhalten: »they will remember who helped them stay«.[28] Helden kann es nicht geben, wo sie nicht als Personen bewundert werden. Und Helden kann es nur geben, wenn sie jene narzißtische Saite in uns zum Klingen bringen, die kräftig anzuschlagen wir normalerweise nicht die Gelegenheit haben oder eben allenfalls in der Phantasie, »something outside the usual routine« zu tun.

Ich habe zu Beginn den Begriff des Helden aus einer Parodie des Nibelungenliedes zu gewinnen gesucht – nun endlich zu John Lennon. »Working Class Hero« beginnt mit der eingangs zitierten Zeile:

As soon as you’re born they make you feel small

und geht weiter mit:

By giving you no time instead of it all

Till the pain is so big you feel nothing at all

und dann folgt der Refrain, der durch den Sound und den Vortrag so klingt, als wäre tatsächlich nichts plausibler als das:

A working class hero is something to be.

Das ganze Lied ist eine Aufzählung von Demütigungen, Schmerzen und die Schilderung einer Abrichtung hin zu einem funktionierenden, ja auch durchaus erfolgreichen Gesellschaftsmitglied –

When they tortured and scared you for twenty-odd years

Then they expect you to pick a career

When you can’t really function you’re so full of fear

A working class hero is something to be.

Was ist das? Der Held der Arbeiterklasse als Ausweg aus einer demütigenden Kleinbürgerkarriere? Redet so ein Held der Arbeiterklasse, vielleicht im Rückblick? Redet so ein Held? Nein, so reden Helden nicht, die einen nicht wie die andern. So reden die, die Helden sein wollen und denen die Phantasie so weit durchgeht, daß sie meinen, sie wären wirklich welche. John Lennon war ein wunderbarer Musiker (einer der besten Rock’n’Roll-Sänger, die es gegeben hat, hören Sie sich noch einmal »Twist and Shout« an), der allerlei erfreuliche und unerfreuliche Streiche in der Öffentlichkeit gespielt hat, aber »a working class hero«? Wollte er selbst das auch sein? »Just follow me« – man stelle sich das eingangs beschriebene Bild vor Augen: gereckter Arm, geballte Faust, Ballonmütze – ein Working-class-hero-look-alike. Kein Achill, nicht einmal ein Patroklos. Aber ein zeit seines Lebens narzißtisch Übersteuerter, bis hin zu seiner Selbstabschließung im New Yorker »Dakota«, gewiß in der Meinung, die Welt drehe sich ohne ihn wenigstens anders – »singe, Göttin, den Zorn …« –, einer Selbstabschließung, aus der er (wie Montaigne aus seiner Exklusion mit den Essais, in denen er »Ich« sagte wie keiner vor ihm) mit einigen betörend schönen Liedern, besser aussehend denn je, wieder auftauchte und in seinem letzten Interview seinen früheren Allüren den Laufpaß gab – und dann wurde er erschossen, und der gewaltsame Tod der großen Narzißten verklärt sie immer, er mag so banal sein wie der Autounfall von Albert Camus.

Doch einen Augenblick noch. Der Song vom »Working Class Hero« ist doch eigentlich eine deprimierte Selbstauskunft. Von der Pose mit Ballonmütze und geballter Faust bleibt nur das Eingeständnis, woher es kommt. Das Geständnis, daß auf der Couch des Analytikers gemacht werden könnte, Lennon aber der ganzen Welt macht, das Geständnis, daß da einer so klein gemacht worden ist, daß er sich selbst verloren hätte, hätte ihn nicht eine Phantasie aufgefangen. Er habe sich immer gewundert, hat er später erzählt, daß niemand bemerkt habe, daß er ein Genie sei. Lennon hat übrigens Auskunft gegeben, wie das alles anfing. Seine Mutter hatte ihn früh bei seiner Tante in Pflege gegeben, von deren Haus er auf das Waisenhaus, das den Namen »Strawberry Fields« trug, blickte, und als sich die Mutter wieder um den Halbwüchsigen kümmern wollte, wurde sie von einem betrunkenen Polizisten totgefahren. Das Lied »Mother« mit seiner Refrain »Mother don’t go / Daddy come home!«, gesteigert bis zu einem heiseren Schrei, gibt deutlicher Auskunft über frühen und schrecklichen Objektverlust (wie man so sagt) als viele Texte anderer Leute, die auch von so etwas handeln.

»Mother don’t go / Daddy come home!« – der Stoff, aus dem die Helden sind? Der Stoff, mit dem unsere Helden-Phantasien befeuert werden? Manche Helden gewiß, manche Phantasien auch. Bei manchen wird die Unmöglichkeit, die Leere zu füllen, das Scheitern der Kompensation zu mörderischer Wut. Das sind vielleicht die, von denen die großen Geschichten erzählen. Das muß aber so nicht sein. Entscheidend ist, was die Helden – mit solchem Hintergrund oder ohne ihn – aus sich machen. Und was sie uns bedeuten, hängt an unseren narzißtischen Bedürfnissen – und unseren zivilisatorischen Präferenzen.

Dietrichs mißlungene BrautwerbungÜber Heldengeschichten

»Dietrichs mißlungene Brautwerbung« hieß eine Zwischenüberschrift der Nacherzählung der Sagen um Dietrich von Bern in Gerhard Aicks Deutschen Heldensagen. Ich mochte die Passage nicht. Einmal gehörte eine solche Brautwerbung – sie findet durch einen Abgesandten statt, einen »Rosenkavalier« sozusagen – nicht in eine »Heldensage«, wie mir damals schien, und zweitens schon gar nicht als mißlungene. Aber ignorieren konnte ich sie nicht – sie brachte in den melancholisch-endzeitlichen Ton, der die Dietrich-Sage ausmacht und ihre literarische Qualität begründet, einen privaten, gleichsam bürgerlich-traurigen Zug hinein, der – das weiß ich nun – unerläßlich dazugehört. »Dietrichs mißlungene Brautwerbung« – ich habe diesen Zwischentitel nie vergessen, sprechen wir über ihn, wenn wir von »Helden« sprechen.