Hellhole - Wenn der Teufel bei dir los ist … - Gina Damico - E-Book

Hellhole - Wenn der Teufel bei dir los ist … E-Book

Gina Damico

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Beschreibung

Der lustigste Bösewicht, den die Fantasy je gesehen hat!

Max ist ein stinknormaler Nerd. Mit stinknormalen Nerd-Hobbys (Games) und stinknormalen Nerd-Problemen (zu wenig Kohle für Games und keine Freundin). Doch als eines Tages ein ausgewachsener Teufel – rot, mit Hörnern und einem unglaublich derben Wortschatz – in seinen Keller einzieht, steht Max‘ Leben plötzlich Kopf: Burk macht sich auf der Couch breit, spielt den ganzen Tag Playstation und futtert alle Fastfood-Snacks auf, die sich im Haus befinden. Um jeden Preis muss Max den Teufel loswerden, schon um seiner schwerkranken Mutter den Schock ihres Lebens zu ersparen. Doch dann schlägt Burk ihm einen Deal vor: Er rettet das Leben von Max' Mutter, wenn dieser ihm eine Luxusvilla mit Whirlpool besorgt. Und schlagartig wird aus dem unscheinbaren Max ein kriminelles Mastermind wider Willen …

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Seitenzahl: 433

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Die amerikanische Originalausgabe

erschien unter dem Titel »Hellhole« bei Houghton Mifflin Harcourt, New York.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung August 2015 bei Penhaligon, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Gina Damico

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015

by Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Redaktion: Judith Weißschnur

Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-16576-5

www.penhaligon.de

Für meine Paten Lolly und Onkel Dave,

die von jeher so begeistert von meiner Existenz waren

und es immer sein werden.

1

Max’ Verbrecherkarriere nahm ihren jämmerlichen Anfang mit dem Diebstahl einer glitzernden pinkfarbenen Wackelkopffigur in Form einer Katze.

Seine Chefin war nur Augenblicke zuvor aus dem Hinterzimmer gestürmt. »Waldgrüner Honda Civic, Kennzeichen BNR eins-sieben-fünf!«, brüllte sie mit ihrem schweren griechischen Akzent und watschelte mit wogendem Busen und wippendem, rot gefärbtem, aufgeplustertem Haar zur Tür des kleinen Tankstellenshops hinaus. Stavroula Papadopoulos war weder jung noch körperlich fit, aber sie hatte bereits an die dreißig Jahre keinen Tankbetrüger kampflos davonkommen lassen, und sie würde jetzt nicht damit anfangen.

Max’ Blick folgte ihrem hüpfenden Haar zu der verlassenen Zapfsäule, wurde dann aber von der Katze entführt, die in all ihrer Pracht neben der Kasse thronte. Er konnte sein Glück kaum fassen.

Sie ist atemberaubend, dachte er.

Realistisch betrachtet war das Ding abscheulich – billig gemacht, miserable Lackierung, und außerdem fiel es mehr oder weniger von selbst auseinander. Stavroula musste es in einem dieser beschissenen Geschenkartikelkataloge entdeckt haben, die sie so liebte. Max hätte normalerweise nicht einmal im Traum daran gedacht, das Ding an sich zu nehmen, ganz egal, welchen unwiderstehlichen Zauber es auch verbreiten mochte, aber etwas Seltsames war über ihn gekommen. In der einen Minute hatte es noch dort auf dem Tresen gestanden, satt und katzenartig und made in China, und in der nächsten hatte es plötzlich in seinen Händen gelegen und angefangen, Glitter auf seiner Haut zu verteilen.

Er wischte sich die Hände an der steifen Uniformweste ab – und dann, als er erkannte, dass ihn das nur noch mehr belasten würde, zog er die Weste aus, drehte sie auf links und legte sie wieder an. Die Katze pfefferte er in seinen Rucksack, und ihr Kopf hüpfte auf und nieder, als wollte sie sagen: Jjjaaa, mein Herr, ich bin Diebesgut!

Schweiß benetzte Max’ T-Shirt. Seine Hände zitterten, und er hatte ein flaues Gefühl im Magen. Er ermahnte sich, damit aufzuhören, sich zusammenzureißen. Das war wirklich kein passendes Benehmen für einen Verbrecher.

Er war nun ein hartgesottener Krimineller, und es war Zeit, dass er sich auch so verhielt.

Der siebzehnjährige Max Kilgore litt unter dem unglückseligen Fluch eines Namens, der viel cooler war als die Person, an der er klebte. Max Kilgore, das war ein Name, der Visionen von Bruce Willis heraufbeschwor, wie jener mit einer einzigen Maschinenpistole jeden einzelnen Polizisten in Los Angeles niedermähte, dann einen Helikopter mit dem Lasso einfing, den Hollywood-Schriftzug klaute und eine Armee Cyborgs in die Luft jagte, alles im Namen der Vergeltung.

Aber der echte Max Kilgore war nicht der Typ, der Regeln brach. Er erledigte jeden Abend seine Hausaufgaben. Er redete nicht während des Unterrichts. Er hielt sich an jede Fahrradverkehrsvorschrift aus dem Fahrradverkehrsvorschriftenbuch – das er in der Bibliothek angefordert und von der ersten bis zur letzten Seite gelesen hatte, aus Furcht, es könnte ihn irgendwann ein Police Officer anhalten, ein Gedanke, bei dem er am liebsten Herz und Nieren erbrochen hätte. Ärger war etwas für Kids mit Piercings und wohldefinierten Wadenmuskeln, und da er weder noch hatte, fügte er sich wie ein chronisch paranoider Bewährungssträfling.

Soweit Max es beurteilen konnte, lagen seiner Phobie keinerlei traumatische Erlebnisse in der Kindheit zugrunde, denn die war relativ glücklich verlaufen. Sein Vater war schon lange von der Bildfläche verschwunden, ein »gammeliger Hippie«, mit dem zu schlafen seiner Mutter zufolge eine »Mutprobe« gewesen sei und den sie bald darauf aufgrund seiner »mangelnden Körperhygiene und väterlichen Hingabe« aus dem Haus geworfen hatte. Die entstandene Lücke hatte seine Mutter wunderbar gefüllt und ihn aufgezogen, als wäre das Dasein einer Alleinerziehenden für sie so natürlich wie saubere, patchoulifreie Luft zu atmen.

Natürlich hatte Max es ihr auch leicht gemacht, folgsam wie er war. Und bis zur zehnten Klasse waren sie gut allein zurechtgekommen, nur sie beide. Nun war das Leben ein bisschen schwerer. Nun musste er, statt echte amerikanische Dollar für ein Plastiktier zu bezahlen, dessen Augen in verschiedene Richtungen blickten und dessen Ohren aussahen, als wären sie von jemandem entworfen worden, der noch nie eine Katze gesehen hatte, das Gesetz brechen und es stehlen.

Und das nicht einmal im Namen der Vergeltung.

Das Geräusch bimmelnder Glocken holte Max zurück in die Wirklichkeit. Stavroula kehrte in den Laden zurück, und eine Flut griechischer Worte – vermutlich von der verunglimpfenden Sorte – strömte über ihre Lippen. »Der Zweite in dieser Woche«, giftete sie. »Dafür ich meine alte Heimat verlassen? Für Kopfschmerzen und Gauner?«

»Kopfschmerzen und Gauner«, das war Stavroulas Lieblingswendung – Max bekam sie drei- oder viermal in jeder seiner Schichten im Gas Bag zu hören –, und mit ihr meldete sich sein schlechtes Gewissen, weil er sie bestohlen hatte. Miesepetrig mochte sie ja sein, aber Stavroula hatte ihm einen Job gegeben, als er ihn dringend gebraucht hatte, und er wusste, sie hatte es nicht leicht, seit sie vor ein paar Jahren nach dem Tod ihres Mannes dessen Geschäft übernommen hatte.

Aber es war nur ein kurzes Zucken seines Gewissens. Eines, mit dem er leben konnte.

»Bah!« Immer noch aufgebracht riss sie die Hände in die Luft. »Morgen kaufe ich Schrotflinte.«

Die Furcht, erwischt zu werden, beeinträchtigte Max’ Sprachzentrum. »Das haben Sie letzte Woche schon gesagt«, brachte er stockend hervor.

»Letzte Woche kaufe ich Pistole. Diese Woche kaufe ich Schrotflinte.«

»Was wir wirklich brauchen, ist ein dressierter Velociraptor.«

Sie verzog das Gesicht wie stets, wenn er eine seiner Dinosaurierbemerkungen von sich gab. Dann runzelte sie die Stirn und beugte sich über den Tresen, bis er jedes einzelne Barthaar über ihrer Oberlippe erkennen konnte. »Ich hasse Diebe.« Sie kniff die Augen zusammen. »Ich verachte Diebe.«

Sie weiß es, dachte er voller Entsetzen, und katzenförmige Schatten huschten durch sein Blickfeld. Sie weiß es, und sie wird die Polizei rufen, und die werfen mich ins Gefängnis, und ich muss herausfinden, wie man Zigaretten als Währung benutzt, oder ich werde die Hure irgendeines Häftlings – ach, wen will ich eigentlich verarschen, ich werde die Hure irgendeines Häftlings, ganz egal, was ich tue …

Gerade, als Max überzeugt war, der Schweiß, der sich auf seiner Stirn sammelte, müsse im nächsten Moment als ebenso majestätischer wie ekelhafter Wasserfall über sein Gesicht herabstürzen, schlug Stavroula mit der Faust auf den Tresen. »Füll die Mini-Salamis nach!«

Max atmete auf und gab sich große Mühe, kein nervöses Quieken mitzuliefern. »Meinen Sie die Slim Jims?«

»Das ich doch gesagt. Thin Jims.«

Vielleicht konnte Heiterkeit den faulen Geschmack der bösen Tat übertünchen. »Genau!«, flötete er.

Als er sich zu Boden kauerte, um den letzten Karton Slim Jims unter dem Tresen hervorzuholen – Audie würde ja so sauer sein –, schob er die verräterische Katze tiefer in seinen Rucksack, und erst als sie vollständig außer Sicht war, sank sein Puls wieder auf normale Werte ab. Alles in Ordnung, skandierte er tonlos im Takt seines Herzschlags. Du warst außerhalb des Aufnahmewinkels der Überwachungskamera, und sie hat in ihrem Büro so oder so nie zugesehen, und wenn doch, dann hat sie spätestens dann damit aufgehört, als die Schnapsdrossel sich zur Ruhe gesetzt hat. Du bist sicher.

Inzwischen nahm Stavroula ihr iPhone und wählte die Nummer des Polizeireviers. »Hallo, Rhonda? Ja, schon wieder einer. Nein, dieses Mal ich nicht zerbrochen Windschutzscheibe …«

Auf dem Weg zurück in ihr Büro rasselte sie die Buchstaben und Zahlen des Nummernschilds herunter und knallte dann die Tür zu. Erleichtert strich sich Max mit der Hand über die feuchte Stirn und seinen lächerlichen Schopf, der schwarz und kurz war, abgesehen von der Vorderseite, auf der ihm die Fransen wie die Markise eines Pariser Cafés über das Gesicht hingen. Ältere Leute sagten bisweilen, das wäre »eine Frisur, nach der man die Uhr stellen« könne, was immer das bedeuten sollte. Max nahm an, es hieß einfach, dass sein Kopf ständig aussah wie ein Baseballhelm und er nichts dagegen tun konnte.

Auch wenn er allmählich den größten Teil seiner Fähigkeiten zurückerlangte, war er immer noch nervös. Als könnte er jeden Moment von Gott niedergestreckt werden oder von irgendeinem göttlichen Wesen, das für die Ahndung von Kleindiebstählen zuständig …

Sein Mobiltelefon vibrierte.

Max’ Augen traten aus den Höhlen. Ist das die Polizei? Haben sie irgendwie mitangesehen, was ich getan habe? Ruft die Polizei erst an, ehe sie die Leute festnimmt?

Er sah zu, wie das Telefon über den Tresen tanzte, ein beiges, ziegelsteinförmiges Plastikding, entworfen speziell für ältere Leute, mit riesigen Tasten und dem frustrierenden Nachteil, die Anruferkennung nicht anzuzeigen. Im Grunde hatte er in seinem Budget gar keinen Spielraum für ein Telefon gehabt, aber die Geschichte mit seiner Mutter verlangte von ihm, ständig erreichbar zu sein.

Seine zitternde Hand schlug gegen den Tresen, als er nach dem Beigen Wunder griff und sich wieder einmal wünschte, er besäße ausreichend Geld, um sich ein Kommunikationsgerät zuzulegen, das mehr war als nur ein verstärktes Kokosnussradio. »Hallo?«, meldete er sich widerstrebend.

»Hast du das Zeug?«, antwortete eine schroffe Stimme.

Das war nicht die Polizei und auch kein höheres Wesen. Obwohl Audie vielleicht etwas Göttliches in sich hatte – wie sonst konnte sie ahnen, dass Max gerade in diesem Moment die Slim Jims nachfüllte? »Tut mir leid, Aud, diese Woche kann ich nichts abzweigen«, sagte Max und riss den Karton auf. »Das ist unser letzter Karton. Ich muss erst nachbestellen.«

»Dann bestell nach, Punk!«, entgegnete seine beste Freundin, und aus jedem Wort strömte pure, konzentrierte Fröhlichkeit. Wäre Audie eine Süßigkeit, dann wäre sie eine Tüte Skittles: leuchtend bunt, glänzend und prall gefüllt mit echtem Fruchtgeschmack.

Max dagegen wäre eine Schüssel alter Lakritze, fade und unerwünscht. »Ich mach das echt nicht gern«, erklärte Max und wedelte mit den großen Händen. »Der Typ vom Kundenservice heißt Izzy und mit ihm zu reden ist total unangenehm. Jedes Mal schweigen wir uns an, bis ich am Ende sage: ›Es ist nicht leicht, was, Izzy?‹, und das färbt einfach auf mich ab.«

»Ja«, stimmte Audie unverblümt zu. »Izzy scheint ein echter Freak zu sein.«

»Wem sagst du das?«

Audie seufzte und spielte zweifellos mit ihren drahtigen Dreadlocks, wie sie es immer tat, wenn ihre Geduld auf die Probe gestellt wurde. Die Leute sagten, sie sähe aus wie eine Kreuzung aus Rihanna und einer Palme, aber für Max würde sie immer das Mädchen von nebenan sein, das ihn dazu gebracht hatte, einen Wurm zu verspeisen, als sie sechs waren. Und einen Leuchtkäfer mit sieben. Wochenlang hatte er geschworen, der Käfer hätte sein Pipi zum Glühen gebracht, bis sie von ihm verlangt hatte, ihr den Beweis zu liefern, worauf das Thema auf mysteriöse Weise in Vergessenheit geraten war.

»Wie auch immer«, sagte sie. »Kommst du zum Spiel?«

Max räusperte sich und senkte den Blick, tat, als zähle er die Pennys in der Kleingeldschale, obwohl Audie ihn gar nicht sehen konnte. »Ich kann nicht.«

»Ach, komm schon«, jammerte sie und hörte sich ein bisschen gekränkt an. »Du warst in dieser Saison noch bei keinem einzigen Spiel! Was hast du freitagabends denn immer so Wichtiges vor? Und jetzt sag nicht, du hättest ein heißes Date.«

»Ich habe aber ein heißes Date.«

»Mit jemandem, der noch keine siebzig Millionen Jahre tot ist?«

»Hey, du solltest wissen, dass der Ichthyosaurus communis durch die neue 3-D-Darstellung so lebendig ist wie nie zuvor!«

»Du kannst wie der Discovery Channel reden, so lange du willst, ein Fossilienbuch und ein Eimer Gips ergeben trotzdem keine Orgie.«

»Igitt, Aud.« Max errötete, als sein Blick auf das Regal mit den Schmuddelblättern hinter dem Tresen fiel, und er schaltete hastig zu seiner Reflexion im Fenster um. Mit seinen großen braunen Augen und der schmalen, spitzen Nase wäre er mühelos als Schleiereule durchgegangen. Audie versicherte ihm stets gern, dass es haufenweise Mädchen gäbe, die auf dieses Aussehen stehen würden – sie nannte das den ausgezehrt-britischen Standup-Comedian-Stil –, fügte aber stets den Vorbehalt hinzu, dass er diese Mädchen erst im College kennenlernen würde, wenn er sich dem Wissenschaftsclub anschlösse oder »wo immer die Lahmärsche zusammentreffen«.

»In einer Streberschar?«, konterte Max häufig.

»Einer Trantütentruppe?«, gab Audie dann zurück.

»Einer Deppenbrigade?«

»Einem Jungferngeschwader?«

Und so weiter.

Er stellte die Slim Jims zurück in das Regal unter dem Tresen. Natürlich legte er sie für sie zurück; das tat er immer.

»Ich meine ja nur«, sagte Audie. »Wenn du die Kunst des Small Talks nicht einmal im Umgang mit einem bekloppten Fleischverkäufer meisterst, wie willst du dann je mit einer Frau reden?«

»Du bringst die Dinge auf den Punkt.«

Audie brüllte etwas im Hintergrund, ehe sie wieder ins Telefon sprach. »Muss los. Danke für das lustige Gespräch. Komm zum Spiel.«

»Bis dann. Gern geschehen. Ich kann nicht, aber dir viel Glück.«

Sarkastisch gab Audie noch ein gemurmeltes »Kann nicht« von sich und legte auf.

»Tut mir leid«, sagte Max zu dem stummen Telefon.

Und es tat ihm auch leid. Aber ein Date war ein Date.

Er wühlte in seinem Rucksack – diesmal ohne auf die dämonische Glasaugenkatze zu achten –, bis er sein Kreuzworträtselbuch und einen Stift gefunden hatte. Dann bereitete er seine Digitaluhr vor, einen billigen Klumpen Gummi und Plastik mit dem Logo von Jurassic Park, die er aus zwei Gründen nie abnahm: (1) Sie war ein halb ironisch gemeintes Geschenk seiner Mutter zu seinem elften Geburtstag gewesen, und sein Nicht-mehr-ganz-Kind-Ich hatte ihr geschworen, sie nie abzunehmen; und (2) hatte er sie inzwischen zu seiner ganz persönlichen Kreuzworträtseluhr umfunktioniert. Ja, gut, es gab noch einen dritten Grund: Insgeheim liebte er sie.

Sein derzeitiger Rekord stand bei zwölf Kreuzworträtseln in sechs Stunden. Er aktivierte den Countdown der Uhr, kniff die Augen zusammen und sprach mit der Stimme eines Hintergrundsprechers bei einer Filmvorschau.

»Und LOS geht’s.«

Sechs Stunden und acht Kreuzworträtsel später piepte die Uhr. Max warf seinen Stift auf den Tresen und schlug mit der Faust auf das abgegriffene Buch. »Verdammt, Zweiunddreißig senkrecht! In den glühenden Eingeweiden der HÖLLE sollst du schmoren!«

Als er sich wieder gefasst hatte, packte er alles zurück in seinen Rucksack und hob ihn vorsichtig auf, um keinen Glittersturm auszulösen. Er war so nah dran, den Katzenraub durchzuziehen.

Bemüht, das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken, rief er zum Hinterzimmer: »Ich gehe dann, Stavroula!«

Die Tür öffnete sich, und Stavroula kam heraus und näherte sich dem Tresen. »Sicher, du willst nicht bleiben bis Ladenschluss? Ich bezahle Überstunden! Du kannst sparen für eigene Auto? Oder mit nette Mädchen ausgehen?«

»Nein danke.« Auf direktem Wege ging er zum Ausgang, weil er fürchtete, sie könnte spontan einen Röntgenblick entwickeln und von ihm verlangen, dass er den Inhalt seines Rucksacks ausleerte. »An jedem anderen Abend würde ich, das wissen Sie.«

»Psff«, hörte er sie schnauben, als er hinausging. »Du und deine kostbaren Freitage.«

Kaum war er um die Ecke gegangen und hatte sein Fahrradschloss geöffnet, seufzte Max erleichtert auf. Er war davongekommen. »Ein peRRRRRfektes Verbrechen«, schnurrflüsterte er und empfand gleich darauf das dringende Verlangen, sich selbst zu prügeln.

Die Stadt Eastville war für vier Dinge bekannt: das angesehene Krankenhaus, die angesehene Highschool-Footballmannschaft, den angesehenen Granitsteinbruch und den saumäßig blöden Namen. Niemand konnte glaubhaft erklären, wovon Eastville östlich liegen sollte, weil es sich in einem weitgehend verlassenen Gebiet fern des Highways in der Wildnis des westlichen Massachusetts befand – westlich von Boston, westlich von Springfield, westlich von allem, was irgendwie bedeutsam wäre. Östlich lag Eastville nur von einem: dem großen, hässlichen Hügel (von den Einheimischen liebevoll Hässlicher Hügel genannt), der von einer Vielfalt an Sträuchern und Dornenbüschen bewachsen war, die im Sommer braun aussahen und im Winter brauner. Sie leuchteten nicht einmal in dichtem Schnee, weil der Schnee nicht auf ihnen haften wollte, sondern angeekelt vor ihren kratzigen Zweigen zurückschrak.

Während er durch die Stadt strampelte, warf Max einen Blick auf den Hügel, überrascht, dass er seine Umrisse erkennen konnte. Normalerweise war E’ville alles andere als hell, aber dank der Lichter aus dem Footballstadion, die von den niedrig hängenden Wolken reflektiert wurden, sah es aus, als hätte eine Kuppel die Stadt mit einem glühenden roten Lichtschimmer überzogen.

Die frische Septemberluft biss ihm ins Gesicht. Lauter Jubel brandete über dem O’Connell-Stadion auf, als er vorüberfuhr, und dann hörte er Audies Stimme aus den Lautsprechern dröhnen. In der hundertjährigen Geschichte der Schule hatte es noch nie eine Stadionsprecherin an der Eastville High gegeben – nicht bis zu dem Tag, an dem Audie zum Sportdirektor gegangen war, ihm ihr unwiderstehliches Lächeln präsentiert und ihn darüber in Kenntnis gesetzt hatte, dass sie eines Tages bei ESPN arbeiten würde, und sollte er sich Hoffnungen machen, jemals Karten für den Super Bowl zu ergattern, dann müsse er ihr den Job geben.

Er gab ihr den Job.

»Und was willst du später mal werden, junger Mann?«, murmelte Max vor sich hin und ahmte dabei haargenau Audies Mutter nach.

Ein Strafgefangener, maunzte die Katze in seinem Rucksack in seiner Fantasie. Auf dich wartet der Todestrakt, Freundchen. Wahrscheinlich landest du auf dem Stuhl. Ich bin eine sehr wichtige Katze. Damals, auf meinem Heimatplaneten, war ich eine Königin. Hörst du? Eine Königin!

Max gewöhnte sich nur schwer an seine kriminelle Laufbahn.

Er umrundete den Parkplatz des Food Baron, hielt vor dem Ausgang an und warf einen Blick auf seine Uhr. Es war 21:03 Uhr, informierte ihn das T-Rex-Skelett. Er nahm exakt 4,81 Dollar aus der Tasche und wartete.

Zwei Sekunden später öffnete sich mit leisem Zischen die Automatiktür. Heraus lugte eine feucht glänzende Flasche prickelnden Apfelweins. Max tauschte sie gegen das Geld und ließ sie virtuos in seinen Rucksack gleiten.

»Hey, Paul«, sagte er zu der Person, die gerade noch an dem Apfelwein gehangen hatte, einem kleinen, pickligen Jungen mit einer Food-Baron-Schürze.

»Selber hey«, lautete die Standardantwort.

Paul war der einzige andere Schüler gewesen, der letztes Jahr nach Schulschluss zu Mr. Donellys Paläontologieclub gekommen war, ein Unterfangen, das unübersehbar schon von Beginn an zum Scheitern verurteilt gewesen war. (Selbst Mr. Donnelly war nicht ausreichend interessiert gewesen, um persönlich in Erscheinung zu treten.) Also hatten sie zu zweit dort gesessen und sich über ihre jeweils bevorzugten geologischen Perioden ausgetauscht – Jura für Max, Kreide für Paul. Von da an hatten sie sich täglich zum Mittagessen zusammengesetzt, und so war Paul langsam und versehentlich zu Max’ Freund geworden – zumindest gab er einen passablen Notnagel ab, nun, da sich Audie zu großer Beliebtheit erfreute.

Und das war gut so, denn Paul sah sogar noch mehr nach Lahmarsch aus als Max. Unter dem lockigen rötlich braunen Haar trug er eine Brille, die in einem Altersheim sicher nicht fehl am Platz gewesen wäre, und er hatte einen Überbiss samt vorstehenden Zähnen, die eine epische Schlacht gegen eine kompliziert aufgebaute Zahnspange schlugen. Aber Paul war ein netter Kerl, wenn auch ein bisschen schwerfällig, und seine Neigung, ein und dasselbe Wort ständig und ununterbrochen zu wiederholen, wirkte manchmal ein bisschen störend.

»Viel zu tun?«, fragte Max.

»Kann man sagen. Wir haben eine große Lieferung Kürbisse bekommen, aber die waren dreckig, also musste ich jeden einzelnen abwaschen.«

»Krass!«

»Willst du vielleicht einen frisch gewaschenen Kürbis kaufen?«

»Nein, danke, der Apfelwein reicht mir. Schönen Abend noch.«

Weiter ging es mit den Besorgungen. Max bog nach links auf die Main Street ab – die Gründer von Eastville hatten offensichtlich jeden Tropfen ihrer Kreativität für den Namen der Stadt aufgebraucht – und radelte an dunklen Geschäften vorbei, die größtenteils wegen des Footballspiels früher geschlossen hatten. Nur ein paar waren immer noch offen – ein schrulliger Geschenkwarenladen, dessen Besitzer mit Sport nichts im Sinn hatten, und eine Pizzeria, vor der Max mit geübtem Schwung zum Stehen kam.

»Hi, Mario«, sagte er beim Eintreten.

Mario, der Pizzabäcker, lächelte ihn unter seinem buschigen Schnauzbart an und öffnete die Ofentür. Max hatte nicht einmal bestellen müssen; die große Käsepizza wartete bereits auf ihn, so wie an jedem Freitagabend um 21:05 Uhr.

Er bezahlte die Pizza, und dann – vermutlich, weil er immer noch high war von dem erfolgreichen Diebstahl und sich ganz irre vorkam – bestellte er noch eine Portion Zwiebelringe.

Mario zog die Brauen hoch. »Großer Abend?«

Max steckte die Zwiebelringe ein. »Sie machen sich keine Vorstellung!«

Das gedrungene Gebäude im Ranchhausstil, das Max erwartete, sah gewohnt finster und Unheil verkündend aus, ganz der ungepflegte Haufen Schindeln und Schlagläden, den die Kinder der Nachbarschaft gern mit der Bleibe einer Hexe verglichen. Seine einst weiße Aluminiumverkleidung hatte längst eine kränklich-braune Farbe angenommen. Der Rasen war ungemäht und gelb, versengt von der spätsommerlichen Hitze; Audies Vater hatte Max oft mit Strafe gedroht, weil er ihn nicht mähte, wenn auch nur spaßeshalber, denn immerhin sah so sein eigener Rasen im Vergleich noch makelloser aus.

Der hintere Garten war eine ganz andere Sache.

Max klappte den Briefkasten auf, in dem er zwei Rechnungen und eine DVD fand. Die Rechnungen betrachtete er mit einem Stirnrunzeln, aber die DVD brachte einen winzigen freudigen Funken in seinem Inneren zum Leuchten. Grinsend warf er den ganzen Inhalt des Briefkastens in seinen Rucksack und ging die Einfahrt hinauf.

Seine Katze – eine echte Katze namens Ruckus, nicht die gestohlene Plastikmonstrosität – begrüßte ihn fauchend an der Tür und rieb sich an jedem verfügbaren Stück Haut. Ruckus’ bevorzugtes Hobby bestand darin, auf den Kühlschrank zu klettern und sich auf glücklose Küchenbesucher zu stürzen, bis diese gezwungen waren, blutend und zerkratzt den Rückzug anzutreten. »Au!«, brüllte Max und schalt sich im Stillen für den Lärm. Rote, schwellende Kratzspuren zeigten sich auf seiner Haut. »Aus dem Weg, du Ausgeburt Satans«, flüsterte er und scheuchte den orangeroten Fellball von dannen.

Zwei Champagnerflöten aus Plastik, eine Flasche Apfelwein, ein Haufen Pappteller und die Zwiebelringe stapelten sich auf dem Pizzakarton, als Max hinaus in den Korridor ging. Vor der ersten Tür auf der rechten Seite hielt er inne, dann kam ihm eine Idee, und er stellte alles auf den Boden und nahm stattdessen die Wackelkopffigur aus seinem Rucksack.

Er öffnete die Tür einen Spalt weit und steckte den missgestalteten pinkfarbenen Kopf hindurch. »Mau!«, quiekte er.

»Ruckus, bist du das?«, fragte eine Stimme in dem Raum. »Mein … mein Gott, was hast du dir angetan? Du hast dich umgestylt! Mal sehen, ich ahne ein Peeling, Paillettenimplantate, korrigierende Augapfelchirurgie und … ist das … eine Enthauptung?«

»Mau.« Max ließ die Katze nicken und den auf einer Feder sitzenden Kopf auf und ab hüpfen.

»Nun, Liebling, du siehst umwerfend aus. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis du deine eigene Show auf Bravo bekommst. Du wirst das intelligenteste Wesen der ganzen Fernsehlandschaft sein.«

Kichernd trat Max ein und beugte sich über die Gitter des Pflegebetts, um seiner Mutter einen Kuss zu geben. »Gefällt sie dir?«

»Sie ist aaaaatemberaubend«, antwortete sie und lieferte ihm eine perfekte Imitation der lächerlichen Art, wie die Damen auf QVC das Wort auszusprechen pflegten, und ihre funkelnden Augen bildeten einen erschütternden Kontrast zum Rest von ihr. Hervorstehende Schlüsselbeine, fahle Haut, eingefallene Wangen – sie sah, so dachte Max, sogar noch dünner aus als am Morgen, als er sich mit einem Kuss von ihr verabschiedet hatte, um zur Schule zu gehen.

Aber er ließ sich nichts anmerken. »Ich dachte, du könntest sie mögen«, sagte er und gab ihr die Katze.

»Schau! Egal, wo ich sie hinhalte, sie starrt immer noch her«, sagte sie bewundernd. »Wo um alles in der Welt hast du sie aufgetrieben?«

Max hoffte, dass seine Stimme ungezwungen klang, als er erklärte: »Bei der Arbeit.«

Stirnrunzelnd stellte sie die Katze auf ihren Nachttisch, wo sie sich zu einem altmodischen Pager, einer Koboldpuppe, einer Art Einhorn-Engel-Figürchen und einem einäugigen Koala in einem Prinzessinnenkleid gesellte, eine kitschige Ungeheuerlichkeit aaaaatemberaubender als die andere. Dieser Goodwill Store war wirklich eine Schatztruhe gewesen, bis er vor einigen Monaten geschlossen hatte, um als vornehme Boutique wieder zu eröffnen, in der selbst die geschmacklosesten Schneekugeln außerhalb von Max’ finanzieller Leistungsfähigkeit lagen.

»Ich hoffe, es war nicht zu teuer«, sagte sie. »Hat Stavroula dir Rabatt gegeben?«

Er nickte und war zur Abwechslung wirklich dankbar über den Haarvorhang, der seine Augen verdeckte. »Ja. Einen großen.«

»Oder hast du sie vielleicht gestohlen?« Jeder Muskel in Max’ Körper spannte sich, bis ihm klar wurde, dass sie nur einen Scherz gemacht hatte. »Vielleicht bist du die geheimnisvolle Schnapsdrossel«, zog sie ihn auf. »Raubst all diese Schnapsläden aus und lässt dich jeden Abend direkt vor meiner Nase volllaufen.«

»Ha!«, lachte Max gekünstelt. »Ja, klar, Mom.«

Das war knapp. Schnell, lenk sie mit Molkereiprodukten ab.

Er holte die Pizza aus dem Flur und stellte sie neben ihren von der Decke verhüllten Beinen auf das Bett. »Möge die Petty Pizza Pity Party … beginnen«, sagte er und öffnete den Karton.

Seine Mom atmete tief ein und stöhnte. »Hervorragend. Und – meine Güte, Zwiebelringe? Ich bin im Himmel. Warte – bin ich etwa gestorben und in den Himmel gekommen, ohne etwas davon zu wissen? Ist das, was hier läuft, eine Sixth Sense-Situation?«

Max gluckste und schenkte Apfelwein in die Plastikflöten, ehe er sich auf den zerschlissenen Lehnsessel neben dem Bett fallen ließ. »Wie war dein Tag?«

»Oh, endlos aufregend«, sagte sie verbittert und nahm sich mit je einer Hand ein Stück Pizza und einen Zwiebelring. »Was möchtest du gern hören? Soll ich dir von der neuesten Nautiluswerbung erzählen? Oder über den letzten Haufen blöder Schmucktussen bei The Price is Right? Oder – ach, das ist eine lustige Geschichte – wie ich aufgestanden bin, um mir die Zähne zu putzen, und mich plötzlich so schwach gefühlt habe, dass ich die Zahnbürste in die Toilette fallen lassen habe?«

»Du hast deine Zahnbürste in die Toilette fallen lassen?«

»Ja. Was mich daran erinnert – ich muss dich bitten, mir meine Zahnbürste aus der Toilette zu holen.«

»Wird gemacht.«

Sie schlang ein Stück Käse hinunter und bedachte ihn mit einem traurigen Lächeln. »Ach, Maxter, was täte ich nur ohne dich?«

Chronische Herzinsuffizienz war nicht annähernd so komisch, wie der Name in übertragener Bedeutung glauben machen könnte. Max’ Mom war jung – sie hatte ihn bekommen, als sie nur ein paar Jahre älter gewesen war als er jetzt –, darum war eine Virusinfektion die einzige Erklärung, die die Ärzte zu bieten hatten. Sie hatte das Virus überlebt, aber ihr Herz war nur knapp davongekommen, und seither wurde sie mit jedem Tag schwächer. Als Krankenschwester war sie zumindest imstande gewesen, sich selbst um ihre Medikation zu kümmern, aber sowohl sie als auch Max wussten, dass sie längst über den Punkt hinweg war, an dem sie noch auf Besserung hätten hoffen können.

Ihre ehemaligen Kollegen flehten sie an, sich ins Krankenhaus zu legen, aber sie lehnte stets ab. (»Ja, genau, als könnte ich mir nichts Schöneres wünschen, als dass die Hälfte meiner Kollegen meinen ausgezehrten Körper anstarrt und dabei gemütlich plaudert. ›Komm rein, Phil, schnapp dir einen Tropf, dann kann die Party losgehen!‹«) Souverän, stur und irrsinnig autark hatte sie die letzten zwei Jahre des Siechtums von der Gesellschaft zurückgezogen zugebracht, weil sie nicht gewollt hatte, dass außer ihrem Sohn irgendjemand sie in diesem geschwächten, kläglichen Zustand zu sehen bekam. Ihre Eltern hatten sie vor die Tür gesetzt, als sie mit ihm schwanger geworden war, und sie hatte seit Jahren keinen Kontakt zu irgendeinem ihrer Familienangehörigen gehabt, also hatte sie gelernt, sich auf niemanden außer sich selbst zu verlassen.

Und Max.

Max hatte die zusätzliche Verantwortung, sich um seine Mutter zu kümmern, nicht gestört; sie hatte so viele Jahre das Gleiche für ihn getan, da schuldete er ihr doch gewiss die gleiche Zuwendung. Aber wenn ihn nicht die ganze Nacht die Vorstellung, sie könnte plötzlich einen Herzstillstand erleiden, wachhielt, dann machte er sich unentwegt Sorgen über die finanzielle Misere. Jeden Moment, den er nicht in der Schule zubrachte, verbrachte er bei der Arbeit in der Tankstelle. Er machte einen Bogen um alle außerschulischen Aktivitäten und Sozialisationsprozesse, was nicht allzu viel zu besagen hatte, da er sowieso nicht wusste, was das Wort zu bedeuten hatte. Er war kaum in der Lage, Essen auf den Tisch zu bringen und die monatlichen Rechnungen zu bezahlen, ganz zu schweigen von den Kosten für die medizinische Versorgung seiner Mutter. An die dringend benötigte Herztransplantation, die er sich nie würde leisten können, brauchte er gar nicht erst zu denken.

Er warf einen Blick auf den Pager auf ihrem Nachttisch, den, der durch das Krankenhaus angewählt würde, sollte je ein Ersatzorgan vom Himmel fallen. Noch aber war kein Alarm losgegangen, und Max hatte die Hoffnung, dass das je geschehen würde, beinahe aufgegeben.

»Also, was läuft heute Abend?«, fragte seine Mom und stürzte sich auf das zweite Stück. Eigentlich sollte sie all diesen Käse gar nicht essen, aber bei der Vorstellung eines Lebens ohne Mozzarella hatte sie gedroht, sich selbst anzuzünden, also hatten ihre Ärzte ihr exakt zwei Stücke pro Woche zugestanden, was nach ihrer Rechnung so viel wie vier waren. »Wenn John Cusack dabei ist, muss ich mir erst das Haar kämmen.« Sie strich sich mit den Fingern durch eine dünne, leblose Strähne und schnaubte verächtlich. »Immer vorausgesetzt, ich bin stark genug, um einen Kamm zu halten.«

Max schüttelte den Kopf. »Du bist zu gut für John Cusack. Der hat schon seit Jahren keinen anständigen Film mehr gemacht.«

»Hüte deine Zunge, junger Mann. Teen Lover …? Lloyd Dobler, der mit einem Tonbandgerät vor ihrem Schlafzimmerfenster steht? John Cusack ist einer der Besten in den ganzen Vereinigten Staaten – was ist das?«

Als er die DVD aus dem Rucksack gezogen hatte, war eine der überfälligen Rechnungen herausgefallen. Er steckte sie wieder hinein. »Nichts.«

Das ist erst die zweite Mahnung, dachte er. Vor der letzten kappen die uns die Stromzufuhr eh nicht.

»Hey, ich habe eine Frage an dich«, sagte er fröhlich und hielt die DVD hoch. »Was passiert, wenn zwei hoffnungslos romantische Geschäftskonkurrenten sich im realen Leben hassen und im Internet ineinander verlieben?«

Ihre Augen leuchteten auf. »E-m@il für Dich!«

Sie klatschte in die Hände, als er die DVD in den Player legte. »Oh, Max, du bist der Beste. Du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich das gebraucht habe.«

Aus Gründen, die bald offensichtlich werden sollten, standen kitschige Liebeskomödien für das »petty« ihrer wöchentlichen Petty Pizza Pity Partys.

»Stirb, Meg Ryan!«, brüllte Max’ Mom den Bildschirm an, als die Schauspielerin durch ihren Kinderbuchladen stolzierte. »Du sollst von einem Regal voller Harry Potters zerquetscht werden und STERBEN.«

»Wird nicht funktionieren«, gab Max zu bedenken. »Ihre Frechheit wird sie retten.«

»Und außerdem wird Tom Hanks sie aus unerklärlichen Gründen umso liebenswerter finden.« Sie kniff die Augen zusammen. »Was für ein Depp. Wohnt auf einem Boot. Bootspenner.«

»Mom, du bist die einzige Person auf dem ganzen Planeten, die Tom Hanks nicht ausstehen kann.«

»Gut«, sagte sie und knibbelte Käsestückchen vom Boden der Pizzapackung. »Dann werde ich die Freude haben, ihn umzubringen.«

Sie fuhren fort, den Film zu zerreißen, basierend auf Analysen, die mal tiefgründig waren (»Weißt du, warum er es nötig hat, im Internet Kontakt zu suchen? Weil die Frauen ihn auslachen, wenn er persönlich vor ihnen steht und sie sehen, wie klein sein …« »Mom, hör auf.«), mal rachsüchtig (»Die tut nur, als wäre sie erkältet. Niemand sieht so süß aus, wenn er völlig verrotzt ist.«), und mal grausam (»Margeriten sind die freundlichsten Blumen? Wer redet denn so einen Müll? Abgesehen von Leuten mit einem Hirnschaden.«). Auch Max beteiligte sich an den verbalen Spitzen, obwohl er manche Filme dieser Art insgeheim ganz gern sah. Immer gab es ein Happy End, ein kostbares Gut, auf das man sich im realen Leben nicht verlassen konnte.

Außerdem vermittelte Tom Hanks ihm Hoffnung. Der Kopf des Mannes sah aus wie eine gefüllte Ofenkartoffel, trotzdem bekam er am Ende immer das Mädchen.

Als schließlich »Ende« Buchstabe für Buchstabe auf dem Bildschirm erschien, gefolgt von einem Cursor, der kurz verweilte und es dann wegklickte (»Lahm.«), rieb Max sich die Augen und stand auf. Seine Mom lehnte sich mit einem zufriedenen Seufzer an ihre Kissen.

»Danke, Liebling«, sagte sie und drückte seine Hand. »Das hast du gut gemacht.«

»Ich gebe mir Mühe.« Er schnappte sich Pizzakarton und Rucksack, beugte sich herab und küsste sie auf die Stirn. »Gute Nacht, Mom. Hab dich lieb.«

»Ich hab dich auch lieb, Babe«, antwortete sie mit flatternden Lidern. »Danke, noch mal, für die Mutantenkatze.«

Leise lachend zog Max die Tür hinter sich zu. Für einen Moment dachte er daran, in den Keller zu gehen und sich ein paar Stunden an die Xbox zu setzen, in der Hoffnung, Audie vielleicht doch eines Tages in Madden zu schlagen, doch die Kopfschmerzen, die ihre Ranken durch seinen Schädel trieben und sich in den Raum hinter seinen Augen bohrten, sprachen dagegen. Er sagte sich, es müsse an dem Stress liegen, den ihm der Diebstahl der Katze bereitet hatte. Ganz bestimmt nicht an der Mühe, die es ihm am Ende des Films bereitet hatte, die Tränen zurückzuhalten.

Er konnte nicht anders. Tom und Meg waren einfach zu liebenswert.

Als er in seinem Zimmer war, ließ er den Rucksack samt den überfälligen Rechnungen einfach auf den Boden fallen. Er würde sich morgen darum kümmern. Oder, genauer, er würde den Kontostand des Familienbankkontos kontrollieren, sich bestätigen lassen, dass sowieso nicht genug Geld da war, um die Rechnungen zu bezahlen, und sie in den Mülleimer werfen.

Er fiel in sein Bett, konnte aber nicht schlafen. Stattdessen starrte er zum Fenster hinaus und genoss den perfekten Ausblick auf den Hässlichen Hügel, doch dessen Banalität deprimierte ihn nur noch mehr. Der vertraute Refrain What am I gonna do, what am I gonna do raste durch seinen Kopf wie eine ganze Herde zähnefletschender Schuldeneintreiber. Eine Sorge führte zur anderen, eine Kettenreaktion ohne absehbares Ende.

Nun ja, es gab ein Ende – aber darüber wollte er gar nicht nachdenken.

Er warf sich von einer Seite zur anderen, wälzte sich im Bett herum, doch der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Er sah zu, wie die Ziffern der Uhr auf seinem Nachttisch Minute um Minute herabklappten – 2:59, 3:00, 3:01 – bis er endlich nicht mehr fähig war, auch nur eine weitere Minute der Sorge zu ertragen, und sich anzog und zu seiner Schaufel griff.

2

Keine Minute später war Max draußen, bekleidet mit seiner schäbigsten Jeans und einer Jacke, die viel zu leicht für die inzwischen empfindlich kalte Luft war. Nicht dass er in Gefahr gewesen wäre, sich zu verirren und an Unterkühlung zu sterben; er kannte die überwucherten Wanderwege des Hässlichen Hügels wie seine Westentasche. So wie jeder andere in E’ville, schließlich war das der einzige Platz, der halbwegs geeignet war, um ein bisschen herumzumachen. Oder auch ein bisschen mehr.

Oder, soweit es Max betraf, um Löcher zu buddeln.

Abgesehen davon, dass er bemerkenswert grässlich war, war der Hässliche Hügel noch für etwas anderes berühmt: Vor ungefähr zehn Jahren hatte ein Paläontologe von der Harvard University ein seltenes Fossil unter seiner hässlichen Erde entdeckt. Es war so selten, dass sie es nicht hatten identifizieren können, und soweit Max wusste – was einiges war, da er Dr. Cavendish, den Professor und Expeditionsleiter, regelmäßig deswegen angemailt hatte –, waren sie in diesem Punkt bis heute überfragt.

Die Entdeckung hatte seinerzeit eine Menge Aufmerksamkeit erregt – Eastville hatte es sogar für einen oder zwei Tage in die bundesweiten Nachrichten geschafft. Aber kaum legte sich die Aufregung, verschwand auch jegliches wissenschaftliche Interesse mit ihr. Die ursprünglichen Entdecker waren einige gelangweilte Studenten gewesen, die geglaubt hatten, Paläontologie 101 wäre ein sicherer Weg zu einem A, und sich längst anderen Dingen widmeten, und die wenigen waschechten Paläontologen, die vor Ort aufgetaucht waren, um das Gebiet fachgerecht abzusuchen, hatten weiter nichts zutage gefördert als mehr hässliche Erde und haufenweise benutzte Kondome. Und so hatten schließlich alle aufgegeben.

Mit Ausnahme von Max.

Die Entdeckung war genau in die Zeit gefallen, in der seine kindliche Saurierbesessenheit auf ihrem Höhepunkt angelangt war, was in ihm ein Feuer entfacht hatte, das so intensiv war, dass er es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, die Forschung voranzutreiben. Er war so versessen darauf, das Nächste große Fossil aufzuspüren, dass er bei jeder Gelegenheit mit der Schaufel in der Hand den Hügel hinaufstapfte und buddelte, bis seine Hände schwielig und seine Kleider schweißgetränkt waren. Zwar fand er nie etwas, doch machte ihm das Graben Spaß, und die bloße Möglichkeit begeisterte ihn ausreichend, dass er immer wieder zurückkam. Natürlich war er in den letzten paar Jahren durch die Gesundheitsprobleme seiner Mutter nicht mehr in der Lage gewesen, allzu häufig herzukommen, aber dann und wann stieg er um der alten Zeiten willen doch wieder auf den Hügel.

Oder um Frust abzubauen.

Und so setzte Max vom Gipfel aus seine Schaufel an, versenkte sie tief in der Erde und grub. So arbeitete er mit wehklagenden Muskeln eine geschlagene Stunde. Erdwälle wuchsen um ihn herum, während er an verschiedenen Punkten sein Glück versuchte. Der Wind brannte in seinem verschwitzten Gesicht, aber es fühlte sich gut an, und der Schmerz in seinen Armen war ein guter Schmerz – er trug seine Sorgen und Kümmernisse Stück für Stück davon.

Max leuchtete mit der kleinen Taschenlampe an seinem Schlüsselring in das gerade ausgehobene Loch. Als er nichts entdecken konnte, steckte er die Lampe wieder in die Tasche, wählte eine andere Stelle und fing erneut an. Schaufel rein in den Boden, Erde raus aus dem Boden, rein, raus …

Rein …

Rein…?

Die Schaufel rutschte immer tiefer, verschlungen von der Erde. Max verlor das Gleichgewicht und stolperte voran, konnte sich aber im letzten Moment abfangen – direkt bevor der Boden vor ihm einzustürzen begann.

Er schrie auf und warf sich zurück, um nicht hineinzufallen, landete flach auf dem Rücken und hastete zurück wie eine Krabbe, wühlte sich mit Händen und Füßen fort von dem herabsackenden Boden. Der Abgrund wuchs und wuchs, und ein tiefes Donnern hallte durch die Luft, als würde der Planet selbst knurren.

Dann: Stille.

Max tastete in seiner Tasche nach der Lampe, schaltete sie ein und richtete den Lichtstrahl in die Finsternis. Die Erde stürzte nicht mehr in die Tiefe, aber der Schaden war bereits angerichtet. Vor ihm dehnte sich ein gewaltiges, finsteres Loch aus.

Zitternd stand Max auf und fing an, den Hohlraum zu umrunden, und seine Verwirrung wurde mit jedem Schritt größer. Es war ein perfekter Kreis mit einem Durchmesser von ungefähr zwei Metern. Staub brannte in seinen Augen, und ein säuerlicher Gestank legte sich erstickend auf seine Bronchien. Außerdem nahm er einen scheußlichen Geschmack auf seiner Zunge wahr, ganz ähnlich dem, der sich einstellte, wenn man direkt nach dem Zähneputzen Orangensaft trank. Aber von vereinzelten, unheimlichen Klicklauten abgesehen, konnte er rein gar nichts hören.

Vorsichtig trat Max einen Schritt näher an den Rand, sah aber nichts außer Dunkelheit. Das Loch war so tief, dass das Licht seiner Taschenlampe nicht bis zum Grund reichte. Eine sanfte Woge warmer Luft blies ihm ins Gesicht, und der Geruch von Schwefel kitzelte ihn in der Nase. Und in diesem Moment – er war sicher, dass er sich das nur einbildete, aber das nahm dem Gefühl nichts von seiner Intensität – kam ein überwältigendes Irgendetwas über ihn, eine Empfindung, die er noch nie zuvor erlebt hatte, ein Durcheinander aus Trauer und Schrecken, einem Gefühl des Erstickens und tiefem Kummer.

Max war schon Hunderte von Malen auf dem Hässlichen Hügel gewesen, allein im Dunkeln, aber dies war das erste Mal, dass er sich ernsthaft fürchtete.

»Was zum Henker …?« Seine Stimme zitterte.

In diesem Moment schickte die pulsierende Luft eine kleine Aschewolke empor – schwarz, leicht wie die Luft, eine Gothic-Schneeflocke. Sie schwebte aus dem Loch, sank dann herab und landete auf Max’ Handrücken. Er wollte sie fortwischen, aber alles, was er erreichte, war, dass sie sich wie ein schwarzer Schmierfleck auf seiner Haut ausbreitete.

ENDE DER LESEPROBE