Hello, Stranger - Will Buckingham - E-Book

Hello, Stranger E-Book

Will Buckingham

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Beschreibung

Nach dem Tod seiner Partnerin verschließt sich der Philosoph und Reiseschriftsteller Will Buckingham nicht in Gram und Trauer. Im Gegenteil: Er reißt buchstäblich die Türen auf. Für sich, für neue Bekannte, und für Fremde, die zu Freunden werden.

Angesichts der Erfahrungen aus der Pandemie und der damit erzwungenen Einsamkeit, aber auch im Lichte der globalen Migrationsströme bringt Will Buckingham in seinem Buch eine Vielzahl an Erkenntnissen aus Philosophie, Anthropologie, Geschichte und Literatur zusammen. Er zeigt uns, wie unsere Traditionen der Begegnung mit anderen die Probleme unserer Zeit entschärfen können. Mit großer Lust am Erzählen und berührenden Geschichten über Einsamkeit, Exil und Freundschaft – von der Antike bis in unsere Zeit, von Birmingham bis Myanmar – fragt er sich, wie wir unsere instinktive Fremdenfeindlichkeit beiseitelegen und stattdessen unserer ebenso angeborenen Neugier auf das Andere, das Fremde, das Neue, Geltung verschaffen können.

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Seitenzahl: 455

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Zum Buch

Angesichts der Erfahrungen aus der Pandemie und der damit erzwungenen Einsamkeit, aber auch im Lichte der globalen Migrationsströme bringt Will Buckingham in seinem Buch eine Vielzahl an Erkenntnissen aus Philosophie, Anthropologie, Geschichte und Literatur zusammen. Er zeigt uns, wie unsere Traditionen der Begegnung mit anderen die Probleme unserer Zeit entschärfen können. Mit großer Lust am Erzählen und berührenden Geschichten über Einsamkeit, Exil und Freundschaft – von der Antike bis in unsere Zeit, von Birmingham bis Myanmar – fragt er sich, wie wir unsere instinktive Abneigung gegen das Fremde beiseitelegen und stattdessen unserer ebenso angeborenen Neugier auf das andere, das Neue, Geltung verschaffen können.

Zum Autor

WILL BUCKINGHAM, Jahrgang 1971, ist ein wandernder Akademiker. Er trägt einen Doktortitel in Philosophie, einen Mastertitel in Anthropologie und bei Gelegenheit auch einen Rucksack. Er lebte lange Zeit zu gleichen Teilen in Südostasien und Großbritannien und hat bereits zahlreiche Bücher veröffentlicht: erzählerische, philosophische und solche, von denen man gemeinhin glaubt, sie seien »nur für Kinder«.

WILL BUCKINGHAM

Hello, Stranger

WIE MIR DIE BEGEGNUNG MIT FREMDEN HALF, MICH SELBST ZU FINDEN

Aus dem Englischen von Felix Mayer

Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Hello, Stranger. How We Find Connection in a Disconnected World« beim Verlag Granta Books, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe Juli 2022

Copyright © 2022 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright der Originalausgabe: © Will Buckingham, 2021

Covergestaltung: semper smile, München

Coverabbildung: nach einem Entwurf und unter Verwendung eines Motivs von © Dan Mogford

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

JT ∙ Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-26438-3V001www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Im Gedenken an Elee Kirk (1977–2016)

Wenn Freunde aus entfernten Landen zu Besuch kommen – ist das nicht eine große Freude?

Konfuzius

Inhalt

Einleitung

Erster Teil

1 Willkommen zu Hause

2 Der Fremde vor der Tür

3 Herein!

4 Eine Frage der Ehre

5 Festlichkeiten

6 Abschied

7 Geister

Zweiter Teil

8 Pilger

9 Wer da?

10 Menschenmassen

11 Ärger mit den Nachbarn

12 Einsamkeit

Epilog: Die Türen offen halten

Nachwort des Autors

Danksagungen

Anmerkungen und Literaturhinweise

Register

Einleitung

Es war ein wolkenverhangener Tag Anfang August. Am Vormittag kam ich zurück nach Hause, betrat den Flur und rief nach dem Kater, der mich mit einem Miauen begrüßte und auf mich zu tappte. Ich beugte mich zu ihm hinab und streichelte ihn. In der zurückliegenden Woche hatte ich mich kaum um ihn gekümmert. Die letzten sieben Tage hatte ich bei Elee im Hospiz verbracht und war nur hin und wieder nach Hause gefahren, um ihn zu füttern. Jetzt hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn so vernachlässigt hatte. Ich schloss die Haustür und ging in die Küche. Der Kater folgte mir, neugierig und hungrig.

Auf der Arbeitsfläche stand eine große Plastikschüssel mit vegetarischem Kedgeree; ein Freund hatte es vorbeigebracht, der einen Schlüssel für das Haus besaß. Damals hatten viele unserer Freunde einen Schlüssel, ich wusste schon gar nicht mehr, wer alles. Auf dem Deckel lag ein Zettel mit einer handschriftlichen Notiz: Falls du keine Lust hast zu kochen.

Ich sah hinaus in den Garten hinter dem Haus. Die Sonne schob sich allmählich zwischen den Wolken hindurch. Ich dachte daran zurück, wie Elee gut eine Woche zuvor unser gemeinsames Heim in aller Eile verlassen hatte, ohne irgendetwas mitzunehmen. Wir hatten geglaubt, sie wäre nach ein paar Stunden im Krankenhaus wieder zu Hause. Wir hatten gedacht, uns blieben noch viele Tage, ja sogar Wochen, bevor es zu Ende gehen würde. Doch als wir im Krankenhaus ankamen, brachte man sie direkt auf die Aufnahmestation. Von dort wurde sie ins Hospiz verlegt, und Elee kam nie wieder zurück.

Nach der Woche im Hospiz war ich völlig erschlagen. Ich hatte auf einem Stuhl neben ihrem Bett geschlafen, ihre Hand gehalten, sie betrachtet, während ihre Gedanken wanderten und sich verloren, und auf das Ende gewartet. Jetzt war sie nicht mehr da, ich war wieder zu Hause, und das Haus war leer. Ich war zu erschöpft, um zu weinen. Ich brauchte Schlaf. Dreizehn Jahre gemeinsamen Lebens, und jetzt diese Leere. Noch kannte ich die Trauer nicht, die Wogen, in denen sie kommt und geht. Ich konnte nur abwarten, was sie in mir auslösen würde, was für einen Menschen sie aus mir machen würde.

Am Nachmittag informierte ich unsere Freunde und Familien. Auch auf Facebook postete ich, dass Elee gestorben war. Eine Flut an Nachrichten war die Folge, von Freunden, aber auch von Leuten, die ich nicht kannte. Ich war dankbar für so viel Anteilnahme, aber es war zu viel. Ich antwortete auf einige der Nachrichten, klappte den Laptop zu und fragte mich, was ich jetzt mit mir anfangen sollte.

Wenn wir trauern, so die Dichterin Naja Marie Aidt, setzen wir »keine Hoffnungen in die Zukunft, wir können uns keine Zukunft mehr vorstellen oder sie spüren. Wir können nicht eine Stunde, Viertelstunde, Minute vorausschauen. Wir können nichts planen. Wir befinden uns in einer zukunftslosen Zeit.«1 Die Trauer lähmt uns, sie raubt uns die Zukunft. Was tun, wenn die Welt in Trümmern liegt? Mein erster Impuls war, mich zurückzuziehen. Mich in meine Trauer einzurollen wie ein wundes Tier. Sie der Welt vorzuenthalten, als wäre diese Trauer etwas Einzigartiges, etwas Außergewöhnliches, als müsste sie gehütet werden wie ein Schatz – und als gehörte sie nur mir allein. Ich wollte mich zusammenkauern und mich in der Muschelschale des Verlusts verkriechen.

Am Abend kochte ich mir etwas und spielte mit dem Gedanken, mich zu betrinken. Auf dem Sideboard stand eine halb volle Flasche Single-Malt-Whisky. Das sollte reichen. Doch mir war nicht nach Trinken. Ich machte mir ein Glas heiße Milch und ging ins Bett. Der Kater schlich mir nach und schmiegte sich an mich. Am frühen Morgen hatte er genug von meinem Schluchzen und meiner Unruhe und ging wieder nach unten.

Am nächsten Tag saß ich nach einer halb durchwachten Nacht wieder am Esstisch. Ich dachte daran, wo Elee und ich im Lauf der Jahre überall zusammen gewohnt hatten, an die vielen Gäste, die wir empfangen hatten, Freunde, aber auch Fremde. Ich dachte daran, wie Menschen gekommen und gegangen waren, wie durchlässig unser Zuhause immer gewesen war, wie es geatmet hatte.

»Mein Zuhause ist durchscheinend, aber nicht aus Glas«, schreibt der Dichter Georges Spyridaki. »Es hat eher die Natur von Nebelschwaden. Seine Wände ziehen sich zusammen und dehnen sich aus, ganz nach meinen Wünschen. Manchmal hole ich sie ganz nah zu mir heran, wie eine schützende Rüstung … Dann wieder lasse ich die Wände meines Hauses in ihrem eigenen Raum aufblühen, der sich unendlich weit erstreckt.«2

Ich brauchte Raum zum Atmen. Jetzt mehr denn je. Ich musste die Wände um mich herum zusammenziehen und sie sich dann wieder öffnen lassen. Das Einatmen und das Ausatmen des Lebens.

Ich klappte den Laptop auf und postete eine kurze Nachricht. Ich schrieb, dass ich verwundet war. Und wie weh das tat. Aber dass ich mich nicht abkapseln wollte. Sondern mit anderen zusammen sein. Wieder Verbindung aufnehmen.

Kommt vorbei, schrieb ich. Ich koch was.

Ein Verlust reißt ein Loch in die Welt. Er macht uns verwundbar, hinterlässt eine Scharte, eine Lücke. Wir verlieren die Orientierung, die Nadel unseres Kompasses irrlichtert herum. Ein Verlust negiert die Zukunft, denn er blickt nur in die Vergangenheit. Doch kein Verlust raubt uns alles. Und manchmal weht durch diese Lücke, diese Scharte, eine Brise der Erneuerung. Während wir spüren, dass unser Innerstes zerbrochen ist, und unsere eigene Schwachheit erkennen, kommt ein Fremder auf uns zu und umarmt uns, und diese Umarmung stellt die Brücke zu etwas Neuem dar. Die Beziehung zu einem anderen Menschen, schreibt der Philosoph Emmanuel Levinas, ist eine Beziehung, die auf die Zukunft gerichtet ist.3

Einige Tage, nachdem Elee gestorben war, ging ich zu Fuß durch die Stadt. Mein Fahrrad, das ich vor dem Bahnhof abgestellt hatte, war mir gestohlen worden, und ich kochte innerlich angesichts des rücksichtslosen Timings. (»An den Dieb, der mein Fahrrad geklaut hat«, schrieb ich auf Facebook. »Du hättest dir einen besseren Zeitpunkt aussuchen können. Und auch ein besseres Rad.«)

Auf der Straße sprach mich eine fremde Frau an. Sie sammelte Spenden für einen wohltätigen Zweck. Sie war Mitte zwanzig und wirkte offenherzig und gut gelaunt. »Hallo«, sagte sie. »Sie sehen aus, als wären Sie ein netter Mensch. Haben Sie eine Minute Zeit?«

Ich zögerte. Auf ihrer Weste trug sie ein Logo. Sie sammelte Spenden für die Brustkrebsforschung.

»Was wissen Sie über Brustkrebs?«, fragte sie.

Ich hätte lügen können. Oder die Frau einfach stehen lassen. Ich spürte einen Kloß im Hals. Doch dann dachte ich mir: Warum soll ich ihr nicht die Wahrheit sagen? »Viel«, antwortete ich. »Meine Freundin ist vor Kurzem daran gestorben. Sie hat ihre letzten Tage im Hospiz verbracht.«

Die Frau sah mich eine Weile schweigend an. Dann fragte sie: »Wie hieß sie?«

Die Frage überraschte mich. Es war die denkbar einfachste Frage, und ich empfand sie als Geschenk. »Elee«, sagte ich.

Die Frau lächelte und berührte mich am Arm. »Ich glaube, eine Umarmung würde Ihnen guttun«, sagte sie. Dann umarmte sie mich und drückte mich so fest an sich, dass ihre Plastikweste knisterte. Eine Umarmung, die Mitgefühl bekundete, eine gemeinsame Vergewisserung, welche Bürde das Leben sein kann.

»Danke«, sagte ich weinend, den Kopf auf ihre Schulter gelegt. Ich war völlig überwältigt. »Danke vielmals.«

*

In den Tagen und Wochen nach Elees Tod hatte ich die unterschiedlichsten Bedürfnisse. Ich brauchte die Einsamkeit. Ich brauchte meine Freunde, die Menschen, die mir am nächsten standen und ebenfalls einen Verlust erlitten hatten. Ich musste meine eigenen vier Wände wie eine schützende Rüstung ganz nah zu mir heranholen. Und ich musste sie sich ausdehnen lassen, damit Menschen hereinkommen konnten. Zu meiner Überraschung brauchte ich jedoch auch in hohem Maß fremde Leute um mich, Menschen, die noch nie von Elee gehört hatten und weder Ursache noch Beschaffenheit meiner Trauer kannten. Ohne mir dessen bewusst zu sein, hatte ich mein ganzes Leben lang immer wieder den Kontakt zu fremden Menschen, fremden Gedanken und fremden Situationen gesucht. Ich hatte Menschen in mein Haus eingelassen, die ich nie zuvor gesehen hatte, und selbst viel Zeit bei Fremden verbracht. Diese Zusammenkünfte hatten mein Leben nachhaltig geprägt, aber erst nach Elees Tod erlebte ich, dass der Kontakt zu Fremden ein wirksames Gegengift gegen die lähmende Kraft der Trauer sein kann. Die Bedienung im Café, die mich fragte, wie es mir ging (meine Antwort war natürlich gelogen). Die Obsthändlerinnen auf dem Markt (»Na, Schätzchen, wie geht’s, wie steht’s?«). Die anderen Fahrgäste auf dem Bahnsteig, mit denen ich verschwörerische Blicke wechselte, als auf der Anzeige der Hinweis aufleuchtete, dass der Zug ausfiel. Die Männer, die kamen, um den Fußboden einzulassen (und die wir schon Wochen zuvor bestellt hatten). All das waren Kleinigkeiten. Aber in den Tagen, Wochen und Monaten nach Elees Tod zeigten mir solche Begegnungen mit Fremden auf beruhigende Weise, dass die Welt sich weiterdrehte und nicht nur aus Trauer bestand.

Der Fremde, so der Soziologe Georg Simmel, ist zugleich nah und fern. Dieses von Nähe und Ferne bestimmte Verhältnis ist, so ergänzt er zuversichtlich, »natürlich eine ganz positive Beziehung«4. Offenbar hatte Simmel nie erleben müssen, dass ihm ein Fremder zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt das Fahrrad stiehlt. Und obwohl keine Beziehung ausschließlich positiv ist – jedes Ding hat Licht- und Schattenseiten –, wurde mir in der Zeit nach Elees Tod klar, dass der Umgang mit Fremden, nicht zuletzt wegen der Perspektiven, die er eröffnet, auch etwas Befreiendes haben kann. Fremde sind nicht in unsere Welt und unser Leben verstrickt, und diese fehlende Verbindung kann die Last, die wir tragen, leichter machen. Daher werden Fremde bisweilen unerwartet zu Vertrauten. Ihnen bringen wir, so Simmel, »oft die überraschendsten Offenheiten und Konfessionen, bis zu dem Charakter der Beichte«5, entgegen.

Als mich die Frau umarmte, die auf der Straße Spenden für die Brustkrebsforschung sammelte, fühlte ich mich buchstäblich erleichtert. Wie ein Gläubiger, der den Beichtstuhl verlässt, hatte ich wieder zu der Gewissheit gefunden, dass die Welt, selbst wenn sie in Trümmern liegt, neu aufgebaut werden kann.

In diesem Buch geht es um Fremde, um die Hoffnung auf Neues, zu der sie Anlass geben, aber auch um die Furcht vor Unheil, die sie in uns wecken. Darum, wie hilfreich es in den vermeintlich aussichtslosesten Situationen sein kann zuzulassen, dass unser Zuhause und unsere Welt tiefer atmen und durchlässiger werden. Unser Gehirn ist in der Lage, den Überblick über etwa hundertfünfzig Personen zu behalten. Von diesen hundertfünfzig Menschen können wir zu Recht sagen, dass wir sie kennen; mit ihnen stehen wir mehr oder weniger kontinuierlich in Verbindung. Diese Leute fänden es nicht befremdlich, wenn wir sie bei einer zufälligen Begegnung auf einen Kaffee einladen oder ihnen aus der häuslichen Quarantäne heraus eine Unterhaltung über Zoom vorschlagen würden. Über diese Menschen glauben wir zumindest ein wenig zu wissen; wir glauben, ihr Innenleben in gewissem Maß zu kennen und zu wissen, wie sie ticken.6

Die längste Zeit in der Menschheitsgeschichte bildete dieser Personenkreis die Gruppe, zu der wir gehörten: Menschen, die uns nahestanden, unsere Verwandten, Freunde und Verbündeten. Mit ihnen gingen wir durchs Leben, fochten die Kämpfe des Alltags aus und genossen die höchsten Freuden. Sie waren das überschaubare Grüppchen, mit dem wir uns unser Fleckchen Erde teilten. Ihre Anzahl entspricht der Anlage unseres Gehirns; unser Neokortex (der den Hauptteil der Großhirnrinde ausmacht) kann nur eine begrenzte Anzahl fremder Leben verfolgen, ohne den Überblick zu verlieren.

In früheren Zeiten, als unsere Vorfahren als Jäger und Sammler in kleinen Verbünden zusammenlebten, waren fast alle in der Gruppe miteinander verwandt. Tauchte ein Fremder auf – ein Unbekannter, der Aufsehen erregte –, zog er entweder nach einer Weile weiter oder wurde, falls er blieb, bald selbst ein Teil dieses Verwandtschaftsgeflechts. »Wer zu so einer Gemeinschaft stößt (außer vielleicht der einsame Anthropologe)«, so Robin Dunbar, »nimmt schon bald einen Platz in diesem Netz verwandtschaftlicher Beziehungen ein, indem er jemanden aus der Gemeinschaft heiratet und mit ihm oder ihr Kinder hat.«7 Als ich Mitte der 1990er-Jahre auf den ostindonesischen Tanimbar-Inseln anthropologische Forschung betrieb, sagte meine Gastgeberin Ibu Lin gerne, ich solle mich als ihren Adoptivsohn betrachten. Und als solchem, so fügte sie hinzu, müsse sie für mich eine Frau finden, das sei ihre Pflicht. Verwandtschaft kommt weniger in Abstammung zum Ausdruck als in der gemeinsamen Sorge für künftige Generationen. Wer einheiratet, wird ein Teil dieser Zukunft, Teil des Netzwerks gegenseitiger Zugehörigkeit.

Bis etwa ins Jahr 1800 lebten die Menschen größtenteils in solchen kleinen Gemeinschaften, in denen jeder jeden kannte. Man war umgeben von Verwandten, Nachbarn und Freunden; Fremde dagegen bekam man nur selten zu Gesicht, und wenn, dann war ihr Auftauchen in aller Munde.8 Doch dann krempelte die industrielle Revolution alles um und setzte eine unumkehrbare Entwicklung der Verstädterung in Gang, die noch immer andauert. Weiterhin strömen die Menschen in Ballungsräume, in denen Abermillionen Fremde leben. Da ist es nicht verwunderlich, dass die Anspannung steigt.

*

Im Vergleich zu den knapp acht Milliarden, die heute unseren Planeten bevölkern, ist die überschaubare Anzahl von hundertfünfzig Vertrauten geradezu verschwindend gering. Auch wenn wir noch so geflissentlich und unermüdlich in konzentrischen Kreisen ein Netz der Zugehörigkeit knüpfen und uns damit ein Gefühl des Zuhauseseins verschaffen, verschwimmen diese Kreise schon bald wieder und lösen sich in verwirrenden Menschenmengen auf, die uns unbekannt sind und bleiben. Wie sollen wir mit so viel schwindelerregender Fremdheit umgehen, mit so viel Unergründlichem, mit all diesen Massen?

Die Art, wie wir auf Fremde reagieren, hat immer zwei Seiten – sie ist ein Kribbeln, das aus Furcht und sich auftuenden Möglichkeiten besteht, aus freudiger Erregung und Angst. Fremde sind schwer zu durchschauen oder einzuordnen.9 Wir wissen nicht, was ein Fremder denkt oder was er vorhat. Wir wissen nicht, wozu er imstande ist, ob er zur Gewalt neigt oder von einer exotischen Krankheit befallen ist. Fremde entziehen sich unserem Zugriff, unserer Macht und unserem Verständnis. Und es gibt so viele von ihnen. Die Angst vor fremden Menschen ist vielgestaltig. Sie ist Angst vor dem, was die Fremden möglicherweise im Schilde führen. Sie ist Angst vor Überlastung, weil wir schon alle Hände voll zu tun haben, schon genug Leute, um die wir uns kümmern müssen. Sie ist Angst davor, dass unsere fragilen Kreise der Zugehörigkeit zerbrechen und die Menge der Fremden uns überrollt. Sie ist Angst vor Veränderung, vor dem Neuen – sei es gut oder schlecht –, das Fremde in unser Leben bringen.

Die Angst vor dem Fremden ist tief in uns Menschen verwurzelt, und für gewöhnlich halten wir sie für ein Übel. Doch sie muss sich nicht in jedem Fall zu Hass oder Feindseligkeit verfestigen. Sie erwächst zunächst ganz einfach aus der Unkenntnis des Fremden, aus der berechtigten Angst vor den möglichen Gefahren, die dieses Unbekannte mit sich bringt. Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie empfindlich und verletzlich wir sind und wie brutal dagegen die Welt, erfasst uns ein Schauder. Dieses Zittern durchwirkt schon die ältesten Texte der Menschheit. Man findet es in der Odyssee, einem Epos, in dem die Zweiheit aus Verheißung und Bedrohung durch das Fremde eine zentrale Rolle spielt, der schmale Grat zwischen Gastlichkeit und Feindseligkeit, zwischen herzlicher Aufnahme und Gewalt. Auch in der Bibel ist es gegenwärtig, ebenso im Gilgamesch-Epos und den Texten der chinesischen und der indischen Antike. All diese Texte entstanden, als die Menschen anfingen, in Städte zu strömen, als die Probleme, die Fremde mit sich brachten, immer zahlreicher wurden, und sich immer drängender die Frage stellte, was es bedeutet, in einer Welt zu leben, in der man die meisten der Menschen um sich herum nicht kennt.

Angst ist jedoch nur ein Teil der Haltung, mit der wir Fremden begegnen. Neugier gehört genauso dazu. Fremde verheißen ungeahnte Möglichkeiten, eine Zukunft, die wir uns noch nicht ausmalen können. Das (wenn auch nicht spiegelbildliche) Gegenstück zur Angst ist die Faszination, die das Neue auf uns ausübt, die blanke Neugier, die in uns erwacht, wenn wir mit dem Fremden und Unvertrauten konfrontiert sind. Diesen Freundschaftsschluss mit dem Fremden, diesen Wunsch, mit Fremden in Kontakt zu treten, nannte man in der griechischen Antike philoxenia, Gastfreundschaft. Auch im Neuen Testament ist davon die Rede. »Vergesst nicht, Gastfreundschaft zu üben«, heißt es im Brief an die Hebräer, 13, 2. »Denn ohne es zu wissen, haben manche auf diese Weise Engel bei sich aufgenommen.« Aus den ältesten Texten der Menschheit spricht nicht nur ein deutliches Bewusstsein für die Gefahren, die Fremde darstellen, sondern in ihnen pulsiert auch die prickelnde Erregung angesichts der unendlichen Möglichkeiten, die sich auftun, wenn wir uns dem anderen öffnen. Sie bezeugen das zutiefst menschliche Bedürfnis, mit dem Unbekannten in Kontakt zu treten.

Jede Begegnung mit dem Neuen wird begleitet von einem komplexen Geflecht aus Neugier und Furcht, Gastfreundschaft und Angst vor dem Fremden. Diese Mischung aus Angst und Faszination kommt auch in der Sprache zum Ausdruck. Die englischen Wörter host (Gastgeber), guest (Gast), hospitality (Gastlichkeit), hostility (Feindseligkeit) und hostage (Geisel) – ganz abgesehen von hotel, hostel und hospital – haben eine gemeinsame Wurzel. Der Philosoph Jacques Derrida führt (im Anschluss an den Linguisten Émile Benveniste) all diese Begriffe auf die Wurzel *hosti-pet zurück (der Asterisk zeigt an, dass es sich hier um eine rekonstruierte Wortform handelt).10 Diese Wurzel besteht aus zwei Teilen; der erste, hosti, bedeutet »Fremder«, der zweite, pet, bedeutet »Potenzial« oder »Kraft«. Fremde brachten schon immer Ungewissheit mit sich: Engel oder Teufel? Neue Perspektiven oder Bedrohung? Diesen Fragen wohnt Kraft inne. Und sie bergen das Potenzial zur Veränderung – zum Guten wie zum Schlechten.

In unserer Welt sind wir von Fremden umgeben, und das verstärkt unsere Isolation und unser Alleinsein. Wir sind soziale Wesen, leben auf engstem Raum, gepfercht in Hochhäuser und U-Bahn-Waggons, und wir drängen uns auf überfüllten Gehsteigen durch die Menge. Dennoch tun wir uns schwer, mit anderen Kontakt aufzunehmen. Die Verstädterung beschleunigt die Vereinsamung, und in Ballungsräumen steigt die Anzahl derer, die allein leben.11 In den letzten zweihundert Jahren hat sich unsere Lebensweise grundlegend verändert. Früher lebten die meisten Menschen in agrarisch geprägten Gesellschaften, wo mehrere Generationen unter einem Dach wohnten, die soziale Mobilität nur schwach ausgeprägt war und man kaum weite Reisen unternahm. Damals war klar, zu welcher Sippe man gehörte, welche Gruppe die eigene war. Heutzutage sind unsere Existenzen viel kleinteiliger, wir sind mobiler, viele Menschen leben allein, und unsere Beziehungen sind flüchtiger und oft nur von kurzer Dauer.12 Das führt dazu, dass wir uns schmerzlich einsam fühlen. Uns dürstet nach der Verbindung mit anderen Menschen, nach der Erfüllung, die es mit sich bringt, unser Leben gemeinsam mit anderen zu leben, aber diese Verbindung ist meist nur schwer zu erreichen. »Wir haben kein Wort für das Gegenteil von Einsamkeit«, schreibt Marina Keegan. »[…] Es ist nicht ganz Liebe und nicht ganz Gemeinschaft; es ist einfach dieses Gefühl, dass da Leute sind, eine ganze Menge Leute, die alle an einem Strang ziehen.«13 Das Paradox des städtischen Lebens liegt darin, dass wir mit mehr Menschen in Kontakt treten können als jemals zuvor, aber dennoch das Gefühl der Gemeinschaft vermissen, nach dem wir uns so sehnen. Und diese Einsamkeit, die sich schleichend immer weiter ausbreitet, hat verheerende Folgen. Sie wirkt sich auf unser körperliches und seelisches Wohlbefinden aus. Sie belastet das Immunsystem massiv.14 Sie greift unsere Gesundheit an. Auf diese Tatsache wurde schon so oft hingewiesen, dass sie zum Allgemeinplatz wurde: Wir sind von unzähligen Menschen umgeben, irren durch unsere persönlichen Welten und durch unsere Leben, und dennoch bleiben wir allein, ohne Verbindung zu anderen.

In diesem Buch lote ich Möglichkeiten aus, wie wir diese beiden Probleme angehen können: das Leben inmitten von Fremden und die Einsamkeit. Ich will Türen aufstoßen und Wege aufzeigen, wie wir wieder Kontakt mit anderen aufnehmen können, um dadurch unsere Isolation zu überwinden, im Leben aus dem Vollen zu schöpfen, gastfreundlicher miteinander umzugehen und uns für die Verheißungen zu öffnen, die das Fremde mit sich bringt. Auf der Suche nach Kniffen, mit denen wir uns von den großen und schwer in den Griff zu bekommenden Problemen der Isolation und der Angst vor dem Fremden befreien können, lenke ich den Blick auf die unterschiedlichsten Kulturen, Wissensgebiete und historischen Epochen und verbinde dabei Geschichten aus Philosophie, Literatur, Geschichtswissenschaft und Anthropologie. Diese Schwierigkeiten mögen zwar unüberschaubar erscheinen, doch auch der menschliche Einfallsreichtum ist grenzenlos, und manchmal finden sich Lösungen dort, wo man sie am wenigsten erwartet hätte.

Im ersten Teil dieses Buches gehe ich den zwischenmenschlichen Beziehungen in ihrer ganzen Nähe und Intimität nach. Ich betrachte die Orte, die wir unser Zuhause nennen, die Art, wie sie atmen und den Atem anhalten. Ich gehe der Frage nach, wie es sich anfühlt, einen Fremden zu empfangen oder selbst als Fremder empfangen zu werden. Ich erkunde die subtilen Choreografien der Rituale, mit denen wir in das Leben anderer eintreten, die Regeln für den Umgang miteinander, die uns im selben Maß einander verpflichten und voneinander trennen, die Freuden, die Gäste und Gastgeber gemeinsam genießen, mögliche Stolperfallen, den unvermeidlichen Augenblick des Abschieds sowie den Moment, in dem wir uns den Lebenden entfremden, wenn wir die Schwelle vom Leben zum Tod überschreiten.

Im zweiten Teil greife ich etwas weiter aus und betrachte nicht nur die Orte, an denen wir zu Hause sind, und die engen Beziehungen, die wir im Leben haben, sondern gehe auch der Frage nach, wie wir unsere Gesellschaften so gestalten können, dass sie uns ein gutes Leben ermöglichen. In der zweiten Hälfte des Buches geht es um die Wege, die Reisende und Migranten zurücklegen, und darum, wie sie unter Schwierigkeiten Grenzen und Schwellen überschreiten. Es geht um die Janusköpfigkeit von Städten und Menschenmengen, das Gewimmel kollektiver Verzückung und den Schmerz der Einsamkeit. Darum, wie wir mit unseren Nachbarn besser auskommen können. Und schließlich geht es darum, was Gemeinsamkeit in einer Welt bedeuten könnte, die ständig in Bewegung ist und in der Fremdheit die Norm darstellt.

Die Fremden, die uns umgeben und die in der Überzahl sind, werden bleiben. Also haben wir die Wahl. Wir können uns zurückziehen und behaupten, all das interessiere uns nicht, und es gehe uns nichts an, was diese Leute treiben. Wir können so tun, als betreffe uns ihr Leben nicht. Wir können zulassen, dass die Angst vor dem Fremden und mit ihr die Fremdenfeindlichkeit die Oberhand gewinnen, und eine kriegerische Haltung einnehmen und die Fremden unter uns verjagen, kontrollieren und verleumden. Doch weder Gleichgültigkeit noch Feindseligkeit führen zu einer gemeinsamen Zukunft, die uns ein gutes Leben ermöglicht. In diesem Buch lote ich eine dritte Option aus, die zwar mühevoller ist, sich letztlich jedoch mehr auszahlt: den Fremden die Tür zu öffnen, in vollem Bewusstsein, wie viel Angst wir dabei haben und wie verletzlich wir uns damit machen. Ihnen die Tür zu öffnen, sie willkommen zu heißen und in ihrer ganzen Fremdheit anzunehmen, sodass wir gemeinsam zu besseren und kreativeren Lebensweisen finden.

Erster Teil

1 Willkommen zu Hause

Im Jahr 58 v. Chr. befand sich der berühmte römische Redner Marcus Tullius Cicero weitab der Heimat. Er war nach Thessaloniki ins Exil gegangen und fristete nun sein Leben in dem drückend heißen Sommer an der Küste des Ägäischen Meeres. Das Exil empfand er als unerträglich. Inmitten von Fremden sank er in eine schwere Depression. Weil das Heimweh ihn verzehrte und er keine andere Beschäftigung hatte, schrieb er eifrig Briefe in die Heimat, die von Wut, Trübsal und Einsamkeit zeugen. Er war seinem engsten Umfeld entrissen und bot, wie er an seinen Bruder Quintus schrieb, »das Bild eines lebendigen Toten«1. Kein Mensch, so behauptete er, habe je solches Elend erfahren, solche Not. Seine Bürgerrechte waren ihm entzogen worden, die Rückkehr in die Stadt, die er so liebte, war ihm verwehrt, er war von Familie und Heimatland getrennt, und mit alldem ging ihm auch das Gefühl für sich selbst verloren. »Ich vermisse nicht nur mein Landgut und meine Familie«, schrieb er, »sondern auch mein früheres Ich. Denn wer bin ich jetzt noch?«

Wir alle könnten uns vergleichbare Fragen stellen: Wer sind wir, wenn die fragile Verbindung mit unserem Zuhause fehlt, die Bande, die uns an einen Ort knüpfen, an eine Gemeinschaft, an das kleine Fleckchen Erde, auf dem wir Fuß gefasst haben und wo wir uns nicht als Fremde fühlen? Das Zuhause ist ein heiliger Ort, an dem wir gegen die mannigfaltigen Unwägbarkeiten der Welt gefeit sind. Unser Zuhause prägt uns, und wenn wir verstehen wollen, was es bedeutet, fremd zu sein, müssen wir zunächst verstehen, was es bedeutet, sich zu Hause zu fühlen.

Cicero war ins Exil gegangen, nachdem ein lange währender Streit mit seinem Rivalen Publius Clodius Pulcher eskaliert war. Vier Jahre zuvor hatte Clodius einen Skandal provoziert, als er sich, verkleidet als Lautenspielerin, in eine Feierlichkeit zu Ehren von Bona Dea, der Göttin der Keuschheit, eingeschlichen hatte. Diese heilige Zeremonie war Frauen vorbehalten und wurde von den Vestalinnen geleitet, den Priesterinnen Vestas, der Göttin des Herdfeuers. Die Feierstunde fand im Haus von Julius Caesar statt, unter strengster Geheimhaltung und unter der Obhut von Caesars Frau Pompeia. Plutarch zufolge war Clodius in Pompeia verliebt, und sie »stieß ihn nicht zurück«2. Clodius verkleidete sich und schlich sich in Caesars Haus zu einem Stelldichein mit der Geliebten. Mit der Tarnung als Musikerin kam er zunächst durch – auch weil ihm, wie Plutarch berichtet, von Natur aus kein Bart wuchs –, doch dann verriet er sich, als er mit einer Sklavin ein Gespräch anfing. Erschreckt von seiner tiefen Stimme, durchschaute diese seinen Aufzug und schlug Alarm.

Es war ein gesellschaftlicher Skandal, wie er im Buche steht, eine brodelnde Mischung aus Religion und Politik, Macht und Begehren, Geschlechtertabus, den Gesetzen des Heiligen und Grenzüberschreitung. Clodius wurde der Gottlosigkeit angeklagt, worauf als Höchststrafe die Hinrichtung stand. Bei der Gerichtsverhandlung sagte Cicero gegen ihn aus.3 Der Prozess dauerte zwei Jahre, doch letztlich wurde Clodius freigesprochen. Damit hätte es ein Ende haben können, wäre Clodius nicht im Jahr 58 v. Chr. zum Volkstribun gewählt worden. In diesem Amt erwies er sich als skrupelloser Populist, der den Mob zu Gewalttaten aufhetzte, um seine Macht zu festigen.

Auch auf Cicero hatte er es abgesehen. Er erließ ein Gesetz, nach dem Beamte bestraft werden konnten, die es zu verantworten hatten, dass römische Bürger ohne Gerichtsverhandlung hingerichtet worden waren. Das Besondere daran: Dieses Gesetz galt auch rückwirkend. Fünf Jahre zuvor hatte Cicero an der Aufdeckung der Verschwörung des Catilina mitgewirkt, mit der dieser die Macht in der römischen Republik an sich hatte reißen wollen. Um die Verschwörung niederzuschlagen, hatte Cicero das Kriegsrecht ausgerufen und die Hinrichtung der fünf Hauptschuldigen angeordnet. Mit dem Gesetz, das Clodius nun durchsetzte, nahm er Cicero ins Visier. Sobald es in Kraft war, wurde Cicero angeklagt und verurteilt.

Die Strafe, die Cicero auferlegt wurde, lautete auf aquae et ignis interdictio, »Verbot von Wasser und Feuer«. Niemand durfte ihn fortan gastfreundlich empfangen und ihm Wasser zu trinken oder einen Platz am Herdfeuer anbieten, was einer gesellschaftlichen Ausgrenzung gleichkam. Auf diese Weise jedes sozialen Umgangs beraubt, blieb ihm nur der Weg ins Exil und damit der Verzicht auf sein Haus, seine Bürgerrechte und eine dauerhafte Bleibe. Er verlor alles, was sein Zuhause ausgemacht hatte.4

Die bittere Ironie dieser Vorgänge sah wohl auch Cicero selbst. Begonnen hatte alles damit, dass Clodius eine Zeremonie der Vestalinnen, der Priesterinnen des Herdfeuers, entehrt hatte. Und es endete damit, dass Cicero von seinem eigenen Herdfeuer verjagt wurde sowie von den Herdfeuern all derer, die ihm lieb und teuer waren.

Im Exil ging es mit Cicero bergab. Er verlor an Gewicht. Er spielte mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen. Er weinte unaufhörlich. Der Ausschluss von Wasser und Feuer, die erzwungene Abwesenheit von Zuhause, war unerträglich schmerzhaft.5 Er raste vor Wut, vergoss Tränen, fand nicht zur Ruhe. Doch während die Monate des Exils vergingen, erwuchs aus der Wut, der Sehnsucht nach Zuhause und der Depression der feste Entschluss zur Rückkehr. Die Briefe, die er in die Heimat sandte, wurden forscher und angriffslustiger. Er wandte sich mit Petitionen an die Machthaber und führte ins Feld, die interdictio sei nicht rechtmäßig und müsse für null und nichtig erklärt werden. Er drang darauf, dass das von Clodius erlassene Gesetz außer Kraft gesetzt und er selbst begnadigt wurde. Zur selben Zeit änderte sich in Rom die politische Lage. Rufe nach Ciceros Wiedereinsetzung in seine Ämter wurden laut. Clodius reagierte, indem er die Plebs zur Gewalt anstachelte, um so seine Autorität zu untermauern. Daraufhin mobilisierten die Anhänger Ciceros ihre eigenen Leute, und es kam zu regelrechten Straßenschlachten.

Als Clodius’ Amtszeit als Tribun zu Ende ging, bekamen Ciceros Unterstützer wieder Oberwasser. Als dieser im Exil aus Briefen aus der Heimat erfuhr, dass die Stimmung in Rom zu seinen Gunsten umschlug, verließ er Thessaloniki und ging nach Durrës an der Adriaküste, um die politischen Strömungen gegebenenfalls nutzen zu können. Von dort aus konnte er kurzfristig nach Rom zurückkehren, sobald die Lage es erlaubte.

In Rom ließ Clodius währenddessen Ciceros Villa dem Erdboden gleichmachen, um ihm den einzigen Ort zu nehmen, an den er hätte zurückkehren können. Anstelle des Gebäudes errichtete er einen der Libertas, der Göttin der Freiheit, geweihten Tempel. Dann jedoch überschlugen sich die Ereignisse: Am 4. August 57 v. Chr. erließ der Senat ein Gesetz, das Cicero die Rückkehr erlaubte. Dieser beendete daraufhin sein Exil, bestieg ein Schiff nach Brindisi und reiste von dort aus weiter nach Rom.6 In der Hauptstadt wurde er bei seiner Ankunft gefeiert. Ganz Rom hatte genug von Clodius. Alles, was in der Stadt Rang und Namen hatte, hieß den Rückkehrer willkommen. In einem Brief berichtete Cicero seinem Freund Atticus: »Als ich an die Porta Capena kam, füllte das Volk die Stufen der Tempel von oben bis unten und brachte mir durch lebhaftes Händeklatschen seine Glückwünsche zum Ausdruck.«7

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Cicero war wieder dort, wo er hingehörte. Aber er war noch nicht wieder zu Hause. Zwar hatte man ihm sein Grundstück zurückgegeben, doch befand sich dort noch immer der Tempel der Libertas. Damit stand Cicero vor einem Dilemma. Er konnte seine Villa neben der Statue wieder aufbauen lassen und den Rest seiner Tage im Schatten dieses Monuments verbringen, das Ausdruck seiner Schmach war, oder er konnte die Statue entfernen lassen. Letzteres war jedoch nicht ohne Weiteres machbar. In der römischen Republik konnte man nicht nach Lust und Laune Statuen schleifen. Damit machte man sich der Gottlosigkeit schuldig, und dafür wurde man leicht zum Tod verurteilt. Niemand wusste das besser als Cicero.

Am 29. September trat Cicero in eigener Sache vor das Collegium Pontificum, die höchste religiöse Instanz in Rom. Dort hielt er die Rede De domo sua (»Über sein Haus«), ein ausgebufftes rhetorisches Meisterwerk. Er verfolgte darin zwei Argumentationsstränge. Erstens sei die religiöse Widmung des Grundstücks ungültig, da Clodius dabei nicht die vorgeschriebene Zeremonie durchgeführt habe. Außerdem sei Clodius ein gottloser Schurke. Was könne man denn schon von einem Mann erwarten, der sich in Frauenkleidern verbotenerweise in eine religiöse Feier einschleicht? Zweitens, so Cicero, sei vielmehr die domus, das Haus, ein heiliger Ort. »Was ist unantastbarer, was stärker durch religiöse Bräuche aller Art geschützt als das Haus eines jeden Bürgers?«, so fragt er. »Hier sind die Altäre, die Herdfeuer, die Penaten; hier finden die Opfer, die Kulthandlungen, die Riten statt; hier ist ein Asyl, für jedermann so heilig, dass man niemanden von dort wegführen darf.«8

Ciceros zweigleisige Strategie war erfolgreich. Das Collegium entschied zu seinen Gunsten. Clodius musste eine Niederlage einstecken, und der berühmte Redner und Staatsmann erhielt sein Land zurück. Auf Kosten der Öffentlichkeit ließ er die Statue entfernen und sein Haus wiederaufbauen.

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Das Bedürfnis nach einem Ort, an dem wir uns zu Hause fühlen, ist tief in uns Menschen verwurzelt. Ebenso tief kann die Sehnsucht gehen, die wir empfinden, wenn wir weit von diesem Zuhause entfernt sind. Doch der Mensch ist nicht das einzige Lebewesen, das sich ein Zuhause einrichtet und es immer wieder verändert. Viele Tiere formen ihre Umgebung zu einem sicheren Rückzugsort, geben der Welt, die sie vorfinden, eine eigene Gestalt. Überall im Tierreich finden sich Baue, Nester, Netze, Gespinste und Höhlen. Webervögel errichten wahre architektonische Wunderwerke. Biber gestalten ganze Ökosysteme nach ihren Bedürfnissen um. Schimpansen bauen Schlafplätze aus Ästen, die sie zuvor sorgfältig ausgewählt haben, und suchen sich dafür Stellen in den Baumkronen, die zugleich stabil und bequem sind. Dort schlummern sie in Sicherheit, hoch oben über dem Waldboden.9 Schwalben bauen Nester aus lehmhaltiger Erde. Die geckenhaften Männchen der Laubenvögel nutzen ihre architektonischen Künste zu einer manchmal etwas albernen Selbstdarstellung: Zur Balz errichten sie irrwitzige Nester, prächtige Heimstätten, die Weibchen anlocken sollen. Termiten erbauen gewaltige Hügel, die Tempelanlagen gleichen. Einsiedlerkrebse sind die Hausbesetzer der Tierwelt: Sie leben in Heimstätten, die von anderen Tieren verlassen wurden. An Flussufern bauen die Larven der Köcherfliege aus Sand, Steinchen und einem Sekret, das an Seide erinnert, ihre Wohnröhren, in denen sie sich verpuppen. Als Kind habe ich diese Köcher oft aus dem Wasser geholt. Ich war fasziniert davon, dass so kleine Geschöpfe in der Lage sind, solche Bauwerke zu errichten.

Die spezifisch menschliche Sehnsucht nach einem Ort, an dem wir uns zu Hause fühlen, gründet in der Verletzlichkeit, die uns als natürliche Geschöpfe auszeichnet, in der mangelnden Robustheit unseres Körpers und dem Bedürfnis nach einem Rückzugsort, an dem wir uns zusammenrollen und uns sicher fühlen können. Die Philosophin Martha Nussbaum beschreibt, wie wir Menschen schon recht früh lernen, dass es »Formen von Verletzbarkeit gibt, die das Leben für alle bereithält: körperliche Gebrechlichkeit, Krankheiten, Schmerz, Wunden, Tod«10. Wir können uns diesen Dingen nicht entziehen, aber wir können sie lindern, indem wir uns mit einer schützenden Hülle umgeben und an dem Ort, den wir errichtet haben, Geborgenheit suchen.

Unser menschlicher Begriff von einem Zuhause steht zwar in einer Reihe mit den Versuchen aus der Tierwelt, sich in der eigenen Verletzlichkeit zu schützen, doch er ist weitaus komplexer als ein Nest von Webervögeln, der Schlafplatz eines Schimpansen oder die ausgehärtete Wohnröhre einer Köcherfliege. Wenn wir von unserem Zuhause sprechen, meinen wir damit nicht nur einen bestimmten Ort, eine Gegend, eine Region oder ein bestimmtes Fleckchen Erde. Ein Zuhause ist, wie der Anthropologe John S. Allen ausführt, »mehr als nur eine Stelle in der Landschaft, an der eine Person lebt«. Bei uns Menschen hat das Zuhause »einen bevorzugten Rang in unserer Wahrnehmung, unserem Denken und Empfinden«11. Diese kognitive Dimension, diese emotionale Wucht des Begriffs »Zuhause« unterscheidet menschliche Heimstätten von allen anderen Heimstätten im Tierreich. Ein Zuhause ist zugleich ein Ort, eine Gruppe von Menschen und ein lichterloh brennendes Knäuel aus Gefühlen und Projektionen. Mit unserem Zuhause sind wir emotional stark verbunden. Wir genießen die Behaglichkeit, die wir empfinden, wenn wir dort sind, wo wir hingehören. Die Sehnsucht nach Zuhause empfinden wir als schmerzhaft. Und aus all diesen Gründen ist Ciceros Behauptung, das Zuhause sei ein heiliger Ort, alles andere als übertrieben. Denn Zuhause ist nicht nur der Ort, an dem wir zufällig leben. Und es sind auch nicht nur die Menschen, denen wir uns zugehörig fühlen, der Kreis der Familie und der engsten Freunde. Zuhause bedeutet auch das tiefsitzende Gefühl, an einem Ort zu Hause zu sein. Die Sorglosigkeit, mit der wir leben, wenn wir wissen, dass ein Ort unser Ort ist, in kognitiver und emotionaler Hinsicht getrennt von der uns fremden Welt, die ihn umgibt. Die Art und Weise, wie wir den Haushalt führen, wie wir den Raum ordnen, in dem wir leben. Das Bedürfnis, ein Nest zu bauen, zu kuscheln, uns an unsere Liebsten zu schmiegen und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu schaffen. Ein Zuhause ist, wie Verlyn Klinkenborg schreibt, »ein Ort, den wir höchstens für einen kurzen Moment mit den Augen eines Fremden betrachten können«12; ein Ort, an dem wir nicht dazu aufgefordert werden müssen, uns »wie zu Hause zu fühlen«, weil wir dort nicht »wie zu Hause«, sondern tatsächlich zu Hause sind.

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Selbst für diejenigen unter uns, die mit Religion nichts am Hut haben, umweht die Vorstellung des Zuhauses ein Hauch des Heiligen. Zu den frühesten Gottheiten der Menschheitsgeschichte gehören solche, die das Herdfeuer schützen. Die älteste religiöse Schrift Indiens, der Rigveda, enthält über zweihundert Lobgesänge auf Agni, den Gott des heiligen Herdfeuers. »(Auch) wir (möchten ihm) lieb sein, die wir ein gutes Opferfeuer haben«, heißt es in einer der Hymnen. »Denn wenn die Götter ein gutes Opferfeuer haben, so haben sie auch uns Erwünschtes verschafft. Wir denken, dass wir ein gutes Opferfeuer haben.«13 Agni hat seine Entsprechung in der griechischen Göttin Hestia sowie in der römischen Vesta. Beide Namen gehen auf eine proto-indoeuropäische Wurzel zurück, die so viel bedeutet wie »verweilen« oder »nächtigen«.14 Cicero sprach von Vesta als der »Schützerin der innersten Dinge«15. Während anderen Göttern Statuen errichtet wurden, brannte im antiken Rom im Tempel der Vesta ein Feuer. Gehütet wurde es von den Vestalinnen, in deren Kreis Clodius sich erfolglos einzuschleichen versuchte. Darüber hinaus kannte man in Rom auch Götter des häuslichen Herdfeuers, die Penaten, die allerdings schon zu Ciceros Zeiten als entsetzlich veraltet galten. In China dagegen wacht noch immer Zao Shen, der Gott des Herdes, über das Geschehen in den Küchen und den Familien, und jedes Jahr kehrt er in den Himmel zurück, um dem Jadekaiser zu berichten, was sich alles ereignet hat.

Wir wissen nicht, zu welchem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte der Glaube an diese Herdgötter entstanden ist. Da Götter schon immer ein Teil des Weltbildes der Menschen waren und Feuer – scheinbar beherrscht von einem eigenen Willen – sich nur schwer bändigen lässt, ist es durchaus vorstellbar, dass die ersten dieser Gottheiten zu der Zeit aufkamen, als die Menschen die ersten Versuche unternahmen, das Feuer unter ihre Kontrolle zu bringen. Doch wann genau in unserer gemeinsamen Vergangenheit diese Götter auch in die Welt gekommen sein mögen – erst durch die Erfindung der Feuerstelle konnten Orte entstehen, die wir ein Zuhause nennen.

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Die Geschichte des menschlichen Heims beginnt mit der Bändigung des Feuers, doch die Archäologen sind sich noch uneins, auf wann genau dieser Wendepunkt zu datieren ist.16 Doch wann auch immer unsere Vorfahren zum ersten Mal eine Feuerstelle errichtet und beim gemeinsamen Betrachten der Flammen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit empfunden haben, einige der aufschlussreichsten frühen Zeugnisse menschlicher Behausungen stammen nicht aus Siedlungen des Homo sapiens, sondern von Feuerstellen unserer Verwandten, der Neandertaler. An den Funden aus deren Siedlungen lässt sich ablesen, wie allmählich die Vorstellung von Heim und Zuhause entstand, mit all ihren komplexen kognitiven Verflechtungen: der Bedeutung des Heims für das vielschichtige soziale Leben, der Gleichsetzung von Ort und Gemeinschaft sowie der Vorstellung vom Zuhause als einem Ort, der fortwährend neu gestaltet wird, sodass er in einer sich verändernden Welt Beständigkeit bietet. Oder, wie Laura Spinney es im New Scientist ausdrückt: »Die Neandertaler waren möglicherweise die ersten Stubenhocker.«17 Sie bildeten Gemeinschaften und schufen sich kleine Behausungen, in denen sie zusammen aßen und schliefen. Sie gaben ihrem häuslichen Raum eine Ordnung und damit auch dem gemeinschaftlichen Leben.

In der archäologischen Fundstätte Abric Romaní in der Nähe von Barcelona sind noch die Überreste von Feuerstellen zu sehen, um die herum Generationen von Neandertalern lebten, aßen und starben. Abric Romaní war siebzigtausend Jahre lang bewohnt, von 110 000 bis 40 000 v. Chr. Zahlreiche Feuerstellen sind dort erhalten, neben denen oft Tierknochen gefunden wurden. Der Forscherin María Gema Chacón zufolge kann man dort, wo die Archäologen tief in die Erde gegraben und diese Feuerstellen entdeckt haben, manchmal noch den Geruch von gebratenem Wild riechen. Hier lebte über Hunderte Generationen hinweg eine sich ständig erneuernde Gemeinschaft aus zehn bis zwanzig Menschen mehr oder weniger pausenlos zusammen. In einer Welt voller Gefahren bot das gemeinsame Heim Schutz. Schon in diesen frühesten menschlichen Gemeinschaften sorgte man füreinander und wappnete sich so gegen die Bedrohungen durch wilde Tiere, Krankheiten, Gebrechlichkeit, Wind und Wetter und Naturkatastrophen, sowie in späteren Jahren durch diesen lästigen Homo sapiens, der möglicherweise seinen Teil dazu beitrug, dass die Neandertaler irgendwann ausstarben.18

Der Mensch ist ein soziales Wesen, und den effektivsten Schutz haben sich Menschen immer durch Zusammenschluss mit ihresgleichen verschafft, indem sie Gruppen bildeten, in denen sie sich gegenseitig unterstützten. Diese Netzwerke gegenseitiger Unterstützung erstreckten sich oft über das eigene Heim hinaus und schlossen auch Nachbarn und andere Außenstehende mit ein. Der Abric Romaní liegt an einer geschützten Stelle; das Leben dort war jedoch nicht nur im Hinblick auf Verteidigung organisiert, sondern auch als Hausgemeinschaft.19 Die Funde erzählen von der Sicherheit, die Menschen einander gewährleisten, wenn sie in Gemeinschaft leben. Um die Feuerstellen herum finden sich Belege für gemeinschaftliche Feste. Der Speiseplan der Neandertaler war erstaunlich reichhaltig: gebratenes Wild, aus Knochen gewonnene Brühe, geräuchertes Fleisch und dazu Wildkräuter als Gewürze. Doch unsere Verwandten feierten nicht nur im überschaubaren Kreis der Familie, sondern sie luden auch Gäste zum Essen ein. Oft waren um die Feuerstelle mehr Leute versammelt, als die Gemeinschaft Mitglieder zählte. Um den Zusammenhalt mit Außenstehenden zu stärken, eignet sich nichts besser als eine Party.20 Wenn man um das flackernde Feuer herumsitzt und Brocken von gebratenem Wild mit dem kräftigen Geschmack von Rauch und Kräutern verspeist, entsteht ein Gefühl der Wärme und der Zugehörigkeit zur Gruppe. Dann weiß man, dass man bei den anderen Halt findet.

Unser Zuhause verleiht uns Rückhalt in der Welt. Bei der Auswahl von Orten, die sich als Zuhause eigneten, bevorzugten unsere Ahnen Stellen, die Schutz boten und eine reiche Vegetation, wo es frisches Wasser gab, viele Tiere, die sie jagen konnten, und wenige Raubtiere. Sie ließen sich gern auf niedrigen Hügeln und im halb offenen Gelände nieder – dort, wo man freie Sicht hatte, sich im Notfall aber auch verstecken konnte. Eine Stelle wie der Abric Romaní – durch die natürliche Lage geschützt, aber doch zur Welt hin offen –, war nahezu ideal. Diese Merkmale finden sich auf der ganzen Welt in künstlerischen und religiösen Repräsentationen des Paradieses: schattige Höhlen, die vor der Hitze der Sonne, vor Regen und den Gefahren schützen, die in der Welt lauern; hügelige Landschaften; Wäldchen und schattige Haine; Bäume, deren Äste schwer von Früchten sind; fischreiche Flüsse; wilde Tiere, die dort trinken, ohne jede Scheu vor den Menschen. Der Religionswissenschaftler Jani Närhi schreibt hierzu: »Repräsentationen des Paradieses spiegeln einen Idealzustand der Evolution wider, der in dieser Welt jedoch unerreichbar bleibt.«21 Der Traum vom Paradies ist aber nicht nur der Traum von einer bestimmten Umgebung, sondern auch von einer bestimmten Art des Zusammenlebens, von einer Gemeinschaft, die im Frieden mit sich selbst lebt. Für soziale Wesen wie den Menschen ist das Paradies auch von sozialen Faktoren geprägt: Es zeichnet sich dadurch aus, dass man ein harmonisches Zusammenleben führt, sich gemeinsam amüsiert und in kühlen Höhlen oder in Pavillons und Hütten, die über die Landschaft verstreut sind, Zeit miteinander verbringt. Aus dem Blickwinkel der Evolution betrachtet, ist dieses erträumte Paradies – ein Ort des Überflusses, an dem wir in Gemeinschaft leben und gedeihen – eine ideale Umgebung, in der wir bestmöglich aufblühen können. Und wenn die Welt uns im Stich lässt – was unausweichlich passieren wird –, versuchen wir mit vereinten Kräften, sie nach unseren Vorstellungen umzugestalten. Dann machen wir einfach das Beste daraus. Denn wir sind ein erfinderisches Völkchen, wir richten uns an Orten häuslich ein, wie sie unwirtlicher nicht sein könnten, und verwandeln sogar das ewige Eis und Sandwüsten in Oasen der Fülle.

Die Vorstellungen, die Menschen sich von einem Heim, einem Zuhause machen, waren schon immer höchst unterschiedlich und wandelbar. Das Zusammenspiel von Ort, Gemeinschaft und Vorstellungskraft hat im Lauf der Geschichte zu einer verblüffenden Bandbreite menschlicher Behausungen geführt: Paläste und Wohnhöhlen, Nomadenzelte und Langhäuser, Einfamilienhäuser und Sozialwohnungen. Nicht weniger vielfältig sind die Muster, nach denen Menschen ihre Hausstände in sozialer Hinsicht ordnen. »Ein Zuhause ist nicht nur ein Ort«, schreibt die Anthropologin Fran Barone, »sondern eine Erfahrung, die von einem Raum geprägt ist, von Nähe, Liebe und Gemeinsamkeit, von Tätigsein und Aktivität.«22 Welche konkreten Formen dieses Tätigsein und diese Aktivität annehmen, fällt je nach Weltgegend anders aus. In vielen Regionen Nordeuropas ist das eigene Heim der Raum der Ruhe und des Privaten; hier lebt die Kernfamilie, man empfängt kaum Besuch, und die Grenze zwischen innen und außen ist klar markiert. In anderen Ecken der Welt bieten Häuser Raum für mehr, und es geht dort lebhafter zu. In manchen Kulturen haben Häuser Räume, die nur der Unterbringung und der Unterhaltung von Gästen dienen. In wieder anderen Regionen, etwa in manchen Gegenden im Iran, kann so gut wie jedes Zimmer eines Hauses – mit Ausnahme von Küche und Bad – zu den unterschiedlichsten Zwecken verwendet werden.23 Für manche Menschen ist ihr Zuhause ein unverrückbarer Ort, der Ort, an dem die eigene Familie schon seit Generationen lebt. Andere, wie etwa die Angehörigen von Nomadenvölkern, haben ihr Zuhause mal hier, mal dort. Für solche Menschen ist Heimweh weniger die Sehnsucht nach einem bestimmten Platz in der Welt, sondern eher nach Fortbewegung, nach Wegen und Pfaden anstatt nach Orten.24

Unser Heim, unser Zuhause kann vielerlei Formen annehmen, und wir können es laufend neu definieren und umgestalten. Nie war diese Neudefinition notwendiger als heute, in einer Welt, die von zunehmender Vereinsamung und wachsender Angst vor Fremden geprägt ist. Mit Anfang dreißig lebte ich in Birmingham. Als ich einmal abgebrannt war, nahm ich einen Job bei einem europaweiten Projekt an, einer Umfrage, die ermitteln sollte, wie zufrieden ältere Menschen mit sich und ihrem Leben waren. Die Arbeit war nicht besonders prestigeträchtig: Ich klapperte die Straßen ab, klopfte bei wildfremden Leuten, und wenn ich dort ältere Menschen antraf, fragte ich sie, wie es ihnen so ging. In den ersten Wochen war ich im Stadtteil Aston unterwegs, einer notorisch armen und heruntergekommenen Gegend. Damals war dieses Viertel auch einer der Brennpunkte in der nicht enden wollenden Spirale gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen den beiden größten Gangs der Stadt, der Johnson Crew und den Burger Bar Boys. Als ich für Aston eingeteilt wurde, sagte mein Chef, ich solle vorsichtig sein, doch ich fühlte mich dort von Anfang an willkommen und wie zu Hause. Die Türen der Reihenhäuser standen offen. Die Leute saßen auf den Treppen und unterhielten sich. Kinder spielten auf der Straße Fußball. Die Eltern winkten mich zu sich an die Haustür, um ein Schwätzchen zu halten. Auch die alten Leute waren warmherzig. Sie baten mich herein, und während ich den endlosen Fragebogen durchging, drängten sie mir Tee, Kaffee und Kuchen auf und hin und wieder auch ein Gläschen Rum.

Nachdem ich Aston abgegrast hatte, bekam ich eine ruhige, gehobene Wohngegend am anderen Ende der Stadt zugeteilt. Dort verschanzten sich von der Straße zurückversetzte Einfamilienhäuser hinter Eisengittern. Die Anwesen waren gespickt mit Überwachungskameras. Die Straßen waren begrünt, aber totenstill. Niemand schlenderte die baumbestandenen Boulevards entlang, nur jene, die einen Hund als Vorwand hatten. Nirgendwo spielten Kinder. Diese Häuser hatten eine Verteidigungshaltung eingenommen, waren Barrikaden gegen die Bedrohungen der Welt. Ich ging die Straßen entlang und drückte auf die Klingeln neben den Eisentoren. Meist kam keine Reaktion. Die Bewohner hatten mich durch die Kameras gesehen, als Außenseiter eingeordnet und sich entsprechend entschieden. Nur selten krächzte die blecherne Stimme eines unsichtbaren Hausbewohners aus der Gegensprechanlage, der sich über die Störung ärgerte und misstrauisch fragte, was ich denn wolle.

Mehrere Tage lang versuchte ich in diesem Viertel mein Glück, doch nie wurde ich hereingebeten. Kein einziges Mal. Niemand grüßte mich auf der Straße. Niemand bot mir Kuchen, Tee oder Rum an. Niemand hatte Lust auf ein Schwätzchen. Nach einer Woche reichte es mir. Ich hatte die Schnauze voll von dieser undankbaren Arbeit und kündigte.

Im Lauf der Geschichte haben die Menschen ihr Heim auf die unterschiedlichsten Weisen gestaltet, doch in den städtisch geprägten Gesellschaften der Gegenwart geht die Tendenz immer mehr zu einer sehr speziellen Vorstellung von Zuhause – vom Zuhause als Festung, die Fremde abwehren soll, ein sicher abgeschirmter Bereich, dessen Mauern gegen die Gefahren von außen schützen. Der Gedanke, dass ein Heim den Charakter einer Festung hat oder haben sollte, geht auf den Anwalt Sir Edward Coke zurück, einen Zeitgenossen Elisabeths I. »Das Haus eines jeden Mannes«, so Coke in seinen Institutes of the Lawes of England, »ist ihm Schloss und Festung; es gewährt ihm sowohl Schutz gegen Gewalt und Schädigung als auch Ruhe.«25 Diese Auffassung entlehnt Coke von Cicero, dessen Aussage »et domus sua cuique est tutissimum refugium« er paraphrasiert (»das Haus eines jeden ist ihm die sicherste Zuflucht«).

Zu dieser Ansicht gelangte Coke im Zuge eines komplexen Gerichtsverfahrens. Am Neujahrstag des Jahres 1604 hatte ein Mann namens Peter Semayne beim Zivilgericht Klage gegen George Beresford eingereicht, weil dieser ihm eine beträchtliche Summe Geld schuldete. Dabei gab es nur ein Problem: Beresford war tot. Doch es bestand noch Hoffnung. Beresford hatte in Blackfriars mit einem gewissen Richard Gresham im selben Haus gewohnt, dem er nach seinem Tod seinen gesamten Besitz vermacht hatte. Also gingen die Beamten des Sheriffs zu Gresham, um das Haus zu beschlagnahmen und so die Schulden einzutreiben. Doch Gresham verweigerte ihnen den Zutritt. Nach einem Disput auf der Türschwelle zogen die Beamten wieder ab, und Semayne und Gresham trafen sich vor Gericht wieder.

Die Frage, die das Gericht zu klären hatte, war nicht, wer der rechtmäßige Eigentümer des Anwesens war. Es ging um mehr: Hätten die Männer des Sheriffs gewaltsam in Greshams Haus eindringen dürfen? Nach eingehender Beratung entschied das Gericht: Nein. Wenn der Hausherr sie nicht einließ, hatten sie kein Recht, das Haus zu betreten. »Gresham«, so schloss das Gericht, »hat nur getan, was das Recht ihm erlaubt, i. e. die Türen seines Hauses verschlossen zu halten.«26

In Cokes Augen war dieses Urteil von großer Bedeutung, denn es schrieb den Grundsatz fest, dass die Macht des Staates an der Türschwelle des eigenen Hauses endet. Hundert Jahre später definierte William Pitt den Begriff des eigenen Heims über das Recht, anderen den Eintritt zu verwehren: »Auch der ärmste Mann kann in seiner Hütte den Mächten der Krone Trotz bieten. Mag sein Haus auch morsch sein und das Dach schwanken, und mag der Wind hindurchjagen; mögen auch Stürme eindringen, möge der Regen eindringen – der König von England darf nicht eindringen.«27 Das eigene Zuhause ist der Ort, an dem ein Fremder keine Rechte geltend machen kann – und sei es der König höchstpersönlich.

Heutzutage ist die Vorstellung, dass das eigene Heim eine Art Festung darstellt, in der wir uns gegen die Welt verbarrikadieren, völlig normal geworden und erregt nicht mehr das geringste Aufsehen. Befördert wird diese Vorstellung durch die Zunahme von Hightech-Sicherungssystemen, die das souveräne Territorium unseres Zuhauses rund um die Uhr beobachten, überwachen und beschützen. Doch in aller Regel bescheren uns solche Festungen kein Mehr an Sicherheit. Das Gegenteil ist der Fall: Das Anwachsen dieses Maschinenparks der Selbstverteidigung birgt die Gefahr, dass wir immer mehr das Gefühl haben, in einer Welt zu leben, die von allgegenwärtigen, ungreifbaren Gefahren überschattet ist.

Die Anthropologin Setha Low hat ihr Leben lang geschlossene Wohnanlagen erforscht und dabei dokumentiert, wie besessen wir von dem Gedanken häuslicher Sicherheit sind. Sie schreibt, dass die Vorsichtsmaßnahmen, die wir ergreifen, um unsere Häuser zu sichern, »unsere Angst vor Verbrechen oftmals eher größer werden lässt, als sie zu vermindern«. Wenn wir hohe Zäune errichten, Kameras anbringen und die Rollläden herablassen, wenn wir in fremden Menschen eine Bedrohung unseres Wohlergehens sehen, dann separieren wir uns vom sozialen Gefüge der Gesellschaft. Unsere Verbindungen zur Welt jenseits unserer vier Wände werden brüchig, und das wiederum führt zu einem stärkeren Gefühl der Verletzlichkeit und des Bedrohtseins. Das Ganze ist ein Teufelskreis, denn wenn wir uns verletzlicher fühlen, ergreifen wir »noch umfassendere Vorsichtsmaßnahmen […] und werden dadurch in sozialer Hinsicht noch isolierter«28.

Forschungsarbeiten aus der ganzen Welt zeigen, wie diese wachsende Sorge um die eigene Sicherheit Unterschiede zwischen sozialen Schichten und ethnischen Gruppen verstärkt. Und diese Unterschiede sind der Nährboden für Misstrauen und Angst.29 Die Interviews, die Setha Low in den USA mit vornehmlich weißen Hausbesitzern aus der Mittelschicht geführt hat, zeigen, dass die Angehörigen dieser privilegierten gesellschaftlichen Gruppe trotz aller Sicherheits- und Abwehrmaßnahmen vor allem von »Angst, einem Gefühl der Unsicherheit, Sorgen, Paranoia und Unbehagen« geplagt werden.30 Eine der Befragten, eine Frau namens Helen, erklärte Low, warum sie in einer geschlossenen Wohnanlage lebte. Eine weiße Freundin von ihr, so erzählte sie, lebte in der Nähe von Washington, D.C. Eines Tages hatte ein Fremder vor ihrer Tür gestanden und ihr etwas verkaufen wollen, »und da hat sie Angst bekommen, denn sie war weiß, und er war schwarz, und Schwarze sah man in der Gegend sonst kaum«. Die Hausbesitzerin »hatte richtig Schiss« und kaufte dem Händler etwas ab, aber nur, um ihn so schnell wie möglich wieder loszuwerden. »So eine Situation ist furchtbar«, sagte Helen abschließend. »Und mir ist wichtig, dass ich mich sicher fühlen kann.«31