Helltal - Mathias Aicher - E-Book
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Helltal E-Book

Mathias Aicher

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  • Herausgeber: Knaur eBook
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Eine Jugendfreundschaft, eine zerstörte Ehe und ein grausiger Mordfall in der deutschen Provinz. Ein spannender Kriminalroman, der Privatermittler Mike Madsen tief in die Abgründe seiner eigenen Vergangenheit führt. Der Ex-Cop und Privatdetektiv Mike Madsen bekommt überraschend Besuch von seinem alten Freund Stefan Sindelar, mit dem er zusammen in einem 2000-Seelen-Dorf namens Helltal am westlichen Rand des Pfälzerwaldes aufgewachsen ist. Obwohl die beiden sich seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen haben, bittet Sindelar Madsen um Hilfe: Er wird per Haftbefehl wegen des Mordes an Egon Trautmann, dem neuen Lebenspartner seiner Ex-Frau Claudia – Madsens damaliger großer Liebe –, gesucht. Sindelar bestreitet den Mord und will, dass sein alter Freund den richtigen Mörder findet. Zurück in der Ex-Heimat führt Madsen die Spur des Mörders immer tiefer in seine eigene Vergangenheit. Langsam kommt er einem dunklen Geheimnis auf die Spur, das er, Sindelar und Claudia seit mehr als dreißig Jahren verdrängt haben. Dieses Geheimnis zerstörte damals die Freundschaft der Dreierbande und Sindelars Ehe. Ist es außerdem der Grund für den Mord an Trautmann? Und welche Rolle spielen Madsens Mutter Bettina und deren beste Freundin Maria, Claudias Mutter? Je näher Madsen dem Mörder kommt, desto mehr beschleicht ihn ein furchtbarer Verdacht. »Helltal« von Mathias Aicher ist ein eBook von Topkrimi – exciting eBooks. Das Zuhause für spannende, aufregende, nervenzerreißende Krimis und Thriller. Mehr eBooks findest du auf Facebook. Werde Teil unserer Community und entdecke jede Woche neue Fälle, Crime und Nervenkitzel zum Top-Preis!

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Mathias Aicher

Helltal

Kriminalroman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Eine Jugendfreundschaft, eine zerstörte Ehe und ein grausiger Mordfall in der deutschen Provinz. Ein spannender Kriminalroman, der Privatermittler Mike Madsen tief in die Abgründe seiner eigenen Vergangenheit führt.

Der Ex-Cop und Privatdetektiv Mike Madsen bekommt überraschend Besuch von seinem alten Freund Stefan Sindelar, mit dem er zusammen in einem 2000-Seelen-Dorf namens Helltal am westlichen Rand des Pfälzerwaldes aufgewachsen ist. Obwohl die beiden sich seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen haben, bittet Sindelar Madsen um Hilfe: Er wird per Haftbefehl wegen des Mordes an Egon Trautmann, dem neuen Lebenspartner seiner Ex-Frau Claudia – Madsens damaliger großer Liebe –, gesucht. Sindelar bestreitet den Mord und will, dass sein alter Freund den richtigen Mörder findet.

Zurück in der Ex-Heimat führt Madsen die Spur des Mörders immer tiefer in seine eigene Vergangenheit. Langsam kommt er einem dunklen Geheimnis auf die Spur, das er, Sindelar und Claudia seit mehr als dreißig Jahren verdrängt haben. Dieses Geheimnis zerstörte damals die Freundschaft der Dreierbande und Sindelars Ehe. Ist es außerdem der Grund für den Mord an Trautmann? Und welche Rolle spielen Madsens Mutter Bettina und deren beste Freundin Maria, Claudias Mutter? Je näher Madsen dem Mörder kommt, desto mehr beschleicht ihn ein furchtbarer Verdacht.

Inhaltsübersicht

IntroTeil 11. Nofretete2. Muschi-Musik3. Chemistry4. Hinter den Bergen bei den sieben Zwergen5. ZuckermutterTeil 26. Holmes7. Long live Rock ’n’ Roll8. Ex-Fettsack9. Von Schäfern und Jägern10. Das entfernte Echo einer allumfassenden Dunkelheit11. Verbrannte Erde12. Pakt mit dem Teufel13. Wiem, co robiliście14. Freakshow15. Highway Star16. Die Akte17. Musensaal18. Zuverlässige QuellenTeil 319. Burnin’ for you20. Temporäre Abwesenheit von Leere21. Privataufnahmen22. Zurücksehen ist Blut, Tränen und Tod23. Die Büchse der Pandora24. Zurück in die Zukunft25. Die KollekteTeil 426. Der Mensch an sich ist widerstandsfähiger, als man glauben könnte27. Walther P3828. Richter und Henker29. Cowboy Song30. Der Corrado31. Los EndosDanksagung
[home]

 

 

 

Das Vergangene ist nicht tot;

es ist nicht einmal vergangen.

 

William Faulkner, Requiem für eine Nonne

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Intro

Loving is easy

Der wohlvertraute metallische Geschmack in meinem Mund.

Seine kalten, glasigen Augen, die mich anstarren und gleichzeitig durch mich hindurchsehen.

»Was hab ich denn getan?«, frage ich mit belegter Stimme, obwohl ich die Antwort weiß. Ich habe ihn wütend gemacht. Sehr wütend.

»Was hab ich denn getan?«, äfft er mich nach, während er den Gürtel seiner Hose löst. Den Gürtel mit der faustgroßen Gürtelschnalle aus Metall. »Du weißt genau, was du getan hast!« Er wickelt sich das eine Ende des Gürtels um seine Faust, sodass das andere Ende mit der Gürtelschnalle hin und her baumelt.

»Bitte …«, flehe ich und weiß gleichzeitig, dass mein Flehen nichts ändern wird, denn jetzt kommt das, was immer kommt, wenn ich ihn wütend gemacht habe.

»Halt’s Maul, du Drecksau!«, zischt er mir direkt ins Gesicht. Sein Atem riecht nach Alkohol, Zigaretten und Verwesung. Ich wende den Blick ab, schlage die Augen nieder. Aus Erfahrung weiß ich, dass es an diesem Punkt besser ist zu schweigen. Mehr Widerworte bedeuten nur noch mehr Schmerzen.

»Glaub bloß nicht, dass mir das Spaß macht! Es ist deine Schuld, dass ich das tun muss!«

Ich starre weiter zu Boden.

»Dreh dich um«, blafft er. »Gesicht zur Wand!«

Ich drehe mich um, wende mein Gesicht der Wand zu. Betaste mit der Zungenspitze vorsichtig meine aufgeplatzte Oberlippe. Schmecke immer noch mein Blut.

»Bück dich!«

Ich bücke mich.

»Hosen runter!«

Ich lasse meine Jeans bis auf die Knöchel runter.

»Den Schlüpfer auch!«

Ich ziehe den Slip nach unten.

Eine Textzeile der neuen Single von Barclay James Harvest schießt mir durch den Kopf:

Loving is easy with both eyes closed

You know that’s the best way to feel it

Ich schließe die Augen. Höre, wie der Gürtel pfeifend die Luft durchschneidet. Dann kommen die Schmerzen. Ich versuche, nicht zu weinen und schon gar nicht zu schreien. Diesen Triumph werde ich dem Schwein nicht gönnen!

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Teil 1

Circumstances

All the same

We take our chances

Laughed at by time

Tricked by circumstances

Plus ça change

Plus c'est la même chose

The more the things change

The more they stay the same

RUSH, Circumstances

1. Nofretete

Die Leichenstarre hatte schon eingesetzt, als er sie, eingewickelt in ihre gelbe Lieblingsdecke und fest gegen die Brust gedrückt, zu seinem Wagen trug.

Sie fühlt sich so leicht an, dachte Mike Madsen. Zwei Kilo. Höchstens. Vor ein paar Monaten hatte sie noch das Doppelte bis Dreifache gewogen. Es war weit nach Mitternacht. Der Bürgersteig der menschenleeren Fechnerstraße war mit nassem blassgelbem Laub übersät. Irgendwo heulte eine Polizeisirene. Als er in der Pfalzburger Straße bei seinem Porsche 928 ankam, bemerkte er eine Krähe; sie saß in dem Baum, unter dem sein Wagen parkte, und beäugte ihn mit schief gelegtem Kopf. Er presste Püppi mit einer Hand an sich, fummelte mit der anderen den Autoschlüssel aus seiner Cargohose und entriegelte den Wagen mit der Fernbedienung. Die Krähe gab einen Laut von sich, der eher nach einem Seufzer als nach einem Krächzen klang. Er sah nach oben. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Dann flatterte die Krähe zeternd davon.

Madsen öffnete die gläserne Heckklappe. Im Kofferraum stand eine bis obenhin vollgemüllte rote Plastikbox. Mit einer Hand nahm er sie heraus, kippte den kompletten Inhalt auf den Bürgersteig und legte Püppi vorsichtig in die Box. Die gelbe Decke zog er ein Stück beiseite, sodass ihr Köpfchen frei lag. Ihre Augen waren offen, aber sie sahen ihn nicht mehr. Chronische Niereninsuffizienz. Die häufigste Todesursache bei älteren Katzen. Sie war um 18.52 Uhr in seinen Armen gestorben. In drei Monaten wäre sie 17 Jahre geworden.

»Hör zu, Dicke, hab grad ’nen Anruf bekommen, ich muss noch was erledigen«, flüsterte Mike Madsen heiser. »Leider hab ich nicht die geringste Ahnung, wie lange das dauern wird. Falls alles gut läuft, bin ich gegen Morgengrauen fertig.«

Er streichelte sanft die Stelle hinter ihrem linken Ohr, was sie bis vor wenigen Tagen noch wohlig hätte schnurren lassen. »Ich weiß, du stehst nicht so auf Autofahren, aber es geht nicht anders. Wir müssen doch dein neues Zuhause besichtigen. Es wird dir gefallen, ganz bestimmt. Der Park ist riesig. Und du bist nicht die einzige Katze dort.«

Madsen zog die Decke über ihr Köpfchen und schloss die Heckklappe. Eine eiserne Faust schloss sich um sein Herz, und die Trauer drohte es zu zerquetschen.

***

Sie stand in der Lederwarenabteilung von Karstadt, wo sie zärtlich über eine Picard-Tasche streichelte und betont gelangweilt die Umgebung scannte.

Madsen hatte von Duja, einer alten Freundin aus der Gastroszene, die er letzte Woche im Pow-Wow getroffen hatte, einen Tipp bekommen: Er würde die Frau mit dem Nofretete-Tattoo, deren Foto er ihr gezeigt hatte, an Dujas Arbeitsplatz antreffen. Und so war Madsen zum Kit Kat gefahren und hatte sich vor Ort selbst davon überzeugt, dass es sich wirklich um sein Zielobjekt handelte. Anschließend hatte er in seinem Porsche darauf gewartet, dass Nofretete endlich ihr Wochenende feiertechnisch beenden und dahin fahren würde, wo er sie sich schnappen konnte. Allein. Alles andere war keine Option. Doch sie hatte das Wochenende leider nicht allein beendet. Ein Hering in einem schlabbrigen, traurig grauen Kapuzenpulli, mit dem sie sich ein Taxi teilte, hatte sie begleitet. Das Taxi hatte nach einer knappen halben Stunde Fahrt in der Holsteinischen Straße, einer kleinen Parallelstraße der Schloßstraße, in Steglitz gehalten. Der Hering hatte gezahlt, Nofretete geküsst und war dann in dem gediegenen Altbau mit der Hausnummer 27 verschwunden. Nofretete war weiter in Richtung Schloßstraße und Karstadt geschlendert.

Jetzt drehte sie der Überwachungskamera, die ihr am nächsten war, den Rücken zu. Geschickt sorgte sie dafür, dass ihre Umhängetasche ein Stück über die Schulter auf Hüfthöhe glitt, hielt sie mit zwei Fingern offen und ließ in einer fließenden, geschmeidigen Bewegung die Picard-Tasche darin verschwinden. Dann zog sie den Reißverschluss ihrer Umhängetasche zu und wandte sich in Richtung Ausgang. Madsen versperrte ihr den Weg. »Das lassen wir besser«, meinte er, während er den Reißverschluss ihrer Tasche aufzog, die Picard-Tasche rausholte und zurück ins Regal stellte. »Das würde die Situation doch nur unnötig verkomplizieren, oder?«

Sie starrte ihn sprachlos an.

»Anja Koch, nehme ich an«, sagte Madsen. »Deine Eltern erwarten dich in Lichtenrade. Schon seit über zwei Monaten. Ich würde dich bitten, keinen Ärger zu machen und einfach mitzukommen.« Mit einer auffordernden Geste wies er in Richtung Ausgang.

»Was soll der Scheiß? Wer bist du?«, krächzte Anja Koch.

»Der Geist, der stets verneint. Oder einer der Ritter, die nie nie sagen. Such’s dir aus«, erwiderte Madsen, fummelte seinen Privatdetektivausweis aus der Jackentasche und hielt ihn ihr hin. »Mike Madsen, Detektei Groh. Darf ich bitten?« Er deutete erneut in Richtung Ausgang.

»Und was, wenn ich mich weigere?«

»Keine Option. Mein Job ist es nicht, mit dir zu diskutieren, sondern dich nach Hause zu bringen. Und zwar auf kürzestem Weg.« Madsen packte sie am Oberarm und zerrte sie in Richtung Ausgang. Durch eine abrupte Bewegung zur Seite riss sie sich von ihm los. »Ich geh nirgendwohin! Und schon gar nicht mit dir, du Penner!«

»Doch, das wirst du. Und weißt du, warum? Weil du mir was schuldest.«

Anja Koch starrte Madsen an, als sei er komplett durchgeknallt, unberechenbar und zu allem fähig.

»Das Schlimmste war nicht, dass sie mich verlassen hat. Sie war alt und krank, ihre Zeit war gekommen«, sagte Madsen leise. »Das Schlimmste war, dass ich immer noch die Hoffnung gehabt hatte, sie würde sich wieder erholen und alles würde wieder gut. Nur um dann irgendwann festzustellen, dass gar nichts gut wird und es unsere letzten gemeinsamen Wochen waren. Und wo war ich den größten Teil dieser Zeit? Ich hab meinen Job gemacht und versucht, dich aufzutreiben. Ich hab dir meine Zeit geopfert. Zeit, in der ich für sie hätte da sein sollen. Du hast mich um die letzten Wochen mit ihr gebracht. War es das wert? Nein, das war es nicht wert! Du warst es nicht wert! Es ist mir scheißegal, was du empfindest, wo du herkommst oder wo du hingehst. Alles, was mich interessiert, ist, endlich diesen Scheißjob zu Ende zu bringen! Und das werde ich! Ob es dir passt oder …«

Bevor Madsen den Satz beenden konnte, riss Anja Koch ihr Knie hoch und jagte es Madsen mit voller Wucht in die Kronjuwelen. Beide Hände im Schritt sackte er zu Boden und japste nach Luft. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sie durch den Ausgang auf die Schloßstraße rannte. Er schloss stöhnend die Augen.

***

Der Himmel über dem Nollendorfplatz schimmerte grau und matt wie die Haut eines an den Strand gespülten toten Wals. Die schwere Eichentür der Detektei Groh fiel hinter Madsen ins Schloss, und er stand wieder auf der Straße. Dieses Mal war es der Nolli, letztes Mal die »Detektei Groß & Kessler« am Kudamm, davor »Lingen/Siebert« in der Torstraße in Mitte und davor die Rechtsanwälte »Schmitt und Kollegen« in der Uhlandstraße. Er hatte mal wieder einen Job geschmissen. Einen sicheren, relativ gut bezahlten Job. Nicht zum ersten Mal, seit ihn das Berliner Drogendezernat rausgeworfen hatte. Sein Leben war eine verdammte Endlosschleife. Die einzige Beständigkeit darin war die Unbeständigkeit. Nie anzukommen war zum Normalzustand geworden. Vielleicht war er es auch einfach nur leid, sich von siebzehnjährigen Drogenschlampen in die Weichteile treten zu lassen.

Es war kurz nach zwölf. Madsen war jetzt seit über vierundzwanzig Stunden auf den Beinen, seine Eier waren inzwischen auf die Größe von Tennisbällen angeschwollen, und die Kopfschmerzen hämmerten erbarmungslos von innen gegen seine Schläfen. Alles, was er wollte, war so schnell wie möglich Püppi beerdigen und dann nach Hause, um endlich zu schlafen. Nur noch schlafen und vergessen, dass er ab jetzt allein war. Dass sein Zuhause ohne sie kein Zuhause, sondern nur noch eine Butze sein würde. Er steckte sich eine an und machte sich auf den Weg in Richtung Motzstraße, wo er den Porsche geparkt hatte.

Nach knapp zwanzig Metern setzte Madsens Herz einen Schlag lang aus. Gegenüber dem HotelSachsenhof, wo der 928er hätte stehen sollen, parkte ein älterer Audi A4 Avant. Er eilte weiter in Richtung Martin-Luther-Straße. Auch hier kein 928er. Rasch ging er zurück in Richtung Nollendorfplatz. Es begann zu nieseln. Er stellte den Kragen seiner Lederjacke hoch, als er eine bellende Stimme hörte: »Na, Sportsfreund. Was macht die Kunst?«

Madsen fuhr herum. An der Ecke zum Nolli parkte ein nagelneuer schwarzer Mercedes CL. Soweit er das von seinem Standort aus erkennen konnte, die AMG-Variante. Sehr wahrscheinlich der CL 65 mit zwölf Zylindern. Er kannte nur einen, der ihn mit »Sportsfreund« anreden würde und sich so eine Schleuder leisten konnte: Lemmy.

Die Seitenscheibe des CL war heruntergelassen, und Lemmy winkte ihm grinsend zu. Das Blut rauschte in seinen Ohren, als er sich wie in Trance in Lemmys Richtung in Bewegung setzte.

»Weißt du, wie viele 928er 1982 gebaut wurden?«, fragte Lemmy, als Madsen in gebührendem Sicherheitsabstand vor dem CL zum Stehen kam.

»Nein. Sag du’s mir«, murmelte Madsen.

»4510. Und ich hab jetzt einen davon.« Lemmy lachte. Laut, dröhnend, kehlig. »Nein, hab ich ja gar nicht«, fuhr er gespielt nachdenklich fort. »Rein technisch gesehen hat ihn Sobi und bringt ihn gerade an einen sicheren Ort. Aber da Sobi ja für mich arbeitet, kann ich wohl doch behaupten, dass ich jetzt einen habe. Kennst du Sobi? Er liebt Oldtimer. Und er kann die im Schlaf knacken. Wobei ich dein Baby auch noch selbst hätte knacken und kurzschließen können. Aber dann hätte ich ja mein Baby hier stehen lassen müssen.« Er strich zärtlich über das Lenkrad des CL. »Und das hätte sie mir sicher übel genommen. Du weißt ja, wie Frauen sind.« Er musterte Madsen mit einem Blick, für den abfällig die Untertreibung des Jahrzehnts gewesen wäre. »Nein, wahrscheinlich weißt du das nicht«, murmelte er, wickelte einen Schokoriegel aus und warf die Verpackung aus dem Fenster. Sie landete direkt vor Madsens Füßen. Twix. Hieß früher mal Raider, schoss es Madsen durch den Kopf.

»Manchmal gibt es schon lustige Zufälle«, fuhr Lemmy fort. »Da steh ich so an der Ampel Schloßstraße, Ecke Schöneberger Straße, als ein metallicblauer Porsche 928 S auf die Schloßstraße in Richtung Schöneberg einbiegt. Und ich kenne nur einen in Berlin, der einen metallicblauen 928er S fährt. Leider hat sich der Halter seit über einem Jahr nicht mehr in unserer netten kleinen Runde blicken lassen. Könnte eventuell daran liegen, dass er mir noch Kohle schuldet. Wie viel schuldest du mir noch, Madsen?«

»Keine Ahnung. Zehn Riesen oder so«, murmelte Madsen.

»Nicht ›oder so‹. Zehn Riesen, Alter. Plus Zinsen. Aktuell sind das ziemlich genau 18 876 Euro. Und wie lange warte ich da jetzt schon darauf?«

Madsen wollte etwas erwidern, schaffte es aber nicht.

»Du hast eine Woche, um den Wagen auszulösen, Madsen. Ansonsten verkaufe ich ihn weiter. Und ganz sicher nicht an einen Händler aus Berlin.«

Lemmy lachte, schob sich dann das letzte Stück des Schokoriegels in den Mund, leckte seine dicken, behaarten Wurstfinger ab und steckte sich eine an. Die Schokoriegelverpackung wurde von einem Windstoß in Richtung Nolli weggeweht.

»Falls du auf die – in deinen Augen natürlich naheliegende – Idee kommen solltest, deine Ex-Kollegen einzuweihen, nur zu. Aber sie werden den Wagen nicht finden. Sie finden nie irgendwelche geklauten Wagen. Und weißt du, warum? Weil sie Besseres zu tun haben. Zum Beispiel mir rechtzeitig Bescheid zu geben, wann die nächste Razzia steigt.« Er strich sich grinsend über die Glatze.

»Ich hab die Kohle im Moment nicht. Gib mir zwei Wochen«, erwiderte Madsen heiser.

»Eine!«

Der Regen wurde stärker. Regentropfen krochen über den Rand der Lederjacke in Madsens Nacken. »Komm schon, Lemmy. Ich bin da an was dran«, meinte er. »Ist aber noch nicht spruchreif. Ende der Woche weiß ich mehr.«

»Ja, klar. Jeder ist immer irgendwie an irgendwas dran, das aber leider nie spruchreif ist. Eine Woche, Madsen. Die Uhr tickt!« Er ließ die Seitenscheibe hoch- und sofort wieder runterfahren. »Was ist eigentlich mit der Fahrertür? Wieso geht die von außen nicht auf?«

»Was?«

»Die Fahrertür deines Porsche geht nicht mehr auf.«

»Mir ist der Schlüssel im Schloss abgebrochen …«, murmelte Madsen.

»Typisch.« Lemmy startete den CL und ließ die zwölf Zylinder aufheulen.

»Warte!«

Lemmy sah Madsen gelangweilt an.

»Im Wagen ist noch was, was ich wirklich total dringend bräuchte …«

»Das tote Vieh, oder was?«

»Was hast du mit ihr gemacht?«, stammelte Madsen.

»Schau an, eine Sie. War sie dein Mädchen?« Lemmy lachte. »Wie war sie denn so im Bett? Hast du es ihr geil besorgt? Und sie dir?«

»Was hast du mit ihr gemacht, du Wichser?«, brüllte Madsen und drosch mit der Faust aufs Dach des CL. Lemmy schien das nicht sonderlich zu beeindrucken. »Du hast eine Woche.« Er ließ die Seitenscheibe hochfahren, trat aufs Gas und fädelte mit quietschenden Reifen in den Verkehr auf der Kleiststraße ein. Ein einzelner Regentropen kroch über Madsens Nasenwurzel. Blieb für den Bruchteil einer Sekunde zwischen Leben und Tod hängen. Fiel wie in Zeitlupe auf den nassen Asphalt zwischen seinen Füßen. Zerplatzte. Löste sich auf. Wurde Teil von etwas Größerem. Wurde Teil des Ganzen. Ich brauch ’nen Drink, dachte Madsen. Jetzt.

2. Muschi-Musik

Das Aufwachen war gnadenlos. Sein Mund war trocken, die Hoden waren immer noch geschwollen, und ein dumpfes Dröhnen füllte seinen Schädel. Madsen griff nach der Plastikwasserflasche auf dem Nachttisch und trank, wobei er sich nicht erinnern konnte, diese gestern Nacht dort abgestellt zu haben. Er setzte sich auf den Rand des Bettes, bemerkte den Putzeimer und das Erbrochene direkt daneben.

Er sah zum Katzenbaum am Fenster. Die Plüschmulde war leer. Er schlüpfte in seine Jogginghose, zog sich ein frisches Shirt über und realisierte dabei irritiert, dass die Schlafzimmertür geschlossen war. In seiner Wohnung gab es keine geschlossenen Türen. Nie. Püppi hasste geschlossene Türen. Hatte geschlossene Türen gehasst. Er konnte sich nicht erinnern, sie zugemacht zu haben. Andererseits konnte er sich aber auch nicht erinnern, wann, wie und in welchem Zustand er gestern Nacht nach Hause gekommen war.

Madsen öffnete die Tür, trat barfuß auf den Flur, bog ins Bad ab, pinkelte im Stehen und betrachtete dann sein Spiegelbild. Ein blasses, unrasiertes Gespenst mit eingefallenen Wangen, dunklen Augenringen und fettigen braunen Haaren, die mit grauen Strähnen durchsetzt waren, starrte ihn an. Er griff nach einem Gummihaarband auf der Ablage, machte sich einen Zopf und ging zurück in den Flur. Auch die Tür des Wohnzimmers war geschlossen. Zögerlich ging er auf sie zu, betrachtete sie eingehend, legte dann eine Hand auf den Griff und drückte beherzt die Klinke nach unten.

»Tori Amos, Rebekka Bakken, Aimee Mann, Sarah MacLachlan. Hörst du nur noch Muschi-Musik, oder was?« Ein barfüßiger Mann mit raspelkurzen blonden Haaren, grauen Schläfen und Kinnbart saß im Schneidersitz vor dem CD-Regal und wedelte mit einer CD in Madsens Richtung. »Und wer oder was zum Teufel ist ›Joan As A Police Woman‹?«Der Mann bemühte sich, Hochdeutsch zu sprechen, doch sein harter pfälzischer Akzent war nicht zu überhören. Das Gesicht des Mannes schimmerte blau-violett. Das linke Auge war ein Schlitz zwischen geschwollenen Hautwülsten. Wie ein Boxer, der vor ein paar Tagen über die vollen zwölf Runden gegangen war und ganz sicher nicht gewonnen hatte.

»Wo sind deine ganzen Rush-CDs, Alter? Kein Signals, kein Permanent Waves, nicht mal die Moving Pictures hab ich gefunden.«

Madsen registrierte, dass ein olivfarbener Seesack an der Couch lehnte und eine Lederjacke über dem Sessel hing. »Was soll der Scheiß? Wer bist du? Was machst du hier?«, blaffte Madsen.

»Gegenfrage zu Frage Nummer zwei: Hab ich mich so sehr verändert?« Der Mann stand auf. Madsen musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. Er trug Jeans und ein enges schwarzes T-Shirt, auf dem ein Dalmatiner einen knallroten Hydranten beschnüffelte. Darüber der Schriftzug RUSH – Signals. Er war ein Stück größer als Madsen, hatte gebräunte Haut, war muskulös und sehnig. Kein unnötiges Gramm Fett. Und er roch nach Aftershave. Nach Madsens Aftershave.

»Du erkennst deinen Blutsbruder nicht wieder?«, fragte der Mann.

»Was? Nein. Ich …«, stammelte Madsen. »Wie … bist du hier reingekommen?«

»Mit deinem Schlüssel.«

»Meinem …?«

»Unser Wiedersehen hab ich mir immer anders vorgestellt. Ich weiß auch nicht … irgendwie romantischer«, grinste der Mann. »Ich musste mir übrigens dein Aftershave ausleihen. Hab in der ganzen Hektik irgendwie vergessen, meins einzupacken.«

»Was redest du da für eine Scheiße, Mann? Wer zum Geier bist du?«

»Da kommst du sicher noch selbst drauf. Werd erst mal wach.« Er tätschelte Madsens Wange. »Nettes Tattoo übrigens.« Er deutete auf den Drachen, der Madsens Oberarm zierte, und drückte sich an ihm vorbei auf den Flur. »Kaffee?«

»Ey, warte mal. Ich …«

Der Mann bog am Ende des Flurs nach links in die Küche ab. Madsen eilte ihm hinterher. Sah ihn an der Arbeitsplatte stehen und dampfenden Kaffee aus der Glaskanne in zwei Tassen gießen. »Immer noch Milch und zwei Löffel Zucker, Smörre?«

Smörre. Kurzfassung von Smörrebröd. So hatte ihn nur einer genannt!

Irgendwelche Synapsen in den Tiefen seines Hirns hakten sich ein, begannen, sich mit anderen Synapsen zu verbinden, in Kontakt zu treten, sich auszutauschen. Dann schlossen sie den Kreis und kommunizierten.

»Sinde?«

»Wow. Das ging ja mal fix«, meinte Stefan Sindelar und schüttete zwei Löffel Zucker in eine der beiden Tassen. »Okay, ich schiebe es mal auf deinen Alkoholkonsum letzte Nacht. Wobei es Alkoholmissbrauch wohl eher treffen würde.«

Madsen sah ihn fragend an.

»Filmriss?«

Madsen zuckte mit den Schultern. Sindelar goss Milch in die Tasse, rührte um und stellte sie vor Madsen auf den Tisch. »Einer deiner Nachbarn hat mir unten aufgemacht. Na ja, dann hab ich vor deiner Wohnung gewartet. Irgendwann bist du dann aufgetaucht und hast mir zur Begrüßung erst mal vor die Füße gereihert.« Er setzte sich Madsen mit seinem Kaffee gegenüber.

»Wann war das?«

»So gegen zwei.«

»Ich brauch ’ne Kippe«, murmelte Madsen. Sindelar legte seine zerknüllte Softpackung Camel auf den Tisch. Madsen bediente sich, wobei ihm Textzeilen eines Songs durch den Kopf spukten:

Signals transmitted, message received

Reaction making impact, invisibly

»Und dann?«, hakte er nach.

»Bist du mehr oder weniger zusammengebrochen«, erklärte Sindelar. »Ich hab den Wohnungsschlüssel in deiner Tasche gefunden und dich ins Bett verfrachtet. Und danach die Kotze vor der Tür weggewischt. So was kann ich nicht ab. Du kennst mich ja.«

»Na ja«, meinte Madsen, »wir haben uns seit 1984 nicht mehr gesehen.«

»Ich hab mich nicht groß verändert. Du?«

»Gute Frage. Leider nicht wirklich beantwortbar, da mir der direkte Vergleich mit dem Mike Madsen von 1984 fehlt«, erwiderte Madsen, nahm einen Schluck Kaffee und musterte Sindelars ramponiertes Gesicht. »Du siehst ganz schön scheiße aus.«

»Ich weiß. Ist aber nur vorübergehend.«

»Sicher?«

»Ich hoffe.«

»Wo sind eigentlich deine Haare hin?«

»Weg«, meinte Sindelar sachlich. »Werden auch nicht wiederkommen. Scheiß drauf. Dinge ändern sich. Ist so. Kann man gut finden, kann man kacke finden, ändert aber nichts an den Tatsachen.« Er nahm einen Schluck Kaffee. »Was ist denn jetzt mit deinen Rush-CDs? Verkauft oder was?«

»Ich hab die nicht als CDs. Nie gehabt. Nur als Platten. Sind alle bei meinen Eltern auf dem Dachboden.«

»Nein, sind sie nicht«, murmelte Sindelar und fuhr sich mit der Zunge über einen Riss in der Oberlippe. Eine Erinnerungstieg plötzlich in Madsen auf. Wie ein Blitzlicht. Für Sekunden klar, im Nu wieder verlöschend. »Du hast recht«, murmelte er. »Ich hab sie dir geschenkt. 1984. Bei meinem Umzug nach Lautern.«

Sindelar lächelte. »Na also, geht doch. Und ich dachte schon, du hättest konsequent deine Wurzeln gekappt. Wo ist eigentlich deine Katze?«

Madsen starrte ihn an.

»Der Katzenbaum im Schlafzimmer, die Fressnäpfe, das Katzenklo im Bad. Wo ist sie? Hat sie Angst vor Fremden und sich irgendwo versteckt?«

»Sie ist Sonntagabend gestorben«, erwiderte Madsen, ohne Sindelar anzusehen.

»Scheiße. Oh, Mann, tut mir leid, Bruder.« Er kratzte linkisch mit dem Daumennagel an einem Kaffeefleck auf dem Tisch herum. »Wie alt war sie denn?«

»Sechzehn.«

»Wie lange war sie bei dir?«

»Zwölf Jahre.«

Die beiden starrten eine Zeit lang wortlos in ihre Kaffeetassen. Sindelar fummelte eine eingedellte Packung Schmerztabletten aus der hinteren Tasche seiner Jeans, drückte zwei Tabletten in seine Hand, schluckte sie und spülte mit Kaffee nach.

»Warum bist du hier?«, unterbrach Madsen das Schweigen.

»Ich sitze in der Scheiße. Und zwar richtig«, sagte Sindelar.

»Willkommen im Klub.«

Sindelar lächelte gequält. Sein Handy klingelte, und er sah aufs Display. »Sorry. Ist wichtig.« Er ging auf den Flur und nahm das Gespräch an. »Fischer! – Ja, ich bin bei ihm. Hat alles geklappt. – Keine Ahnung. Ich meld mich, wenn ich Näheres weiß. Wie sieht’s aus? Hat sich meine Vermutung bestätigt? – Scheiße, ich wusste es. Alles klar. Bis dann.« Er kam zurück in die Küche und setzte sich wieder Madsen gegenüber. Strich sich mit einer Hand über die Stoppeln auf seinem Kopf und atmete tief durch. »Ich bin auf der Flucht. Es gibt einen Haftbefehl gegen mich.«

»Weswegen?«

Madsen nahm einen Schluck Kaffee.

»Die Bullen glauben, ich hätte jemanden umgebracht«, sagte Sindelar. Madsen spotzte den Kaffee über den Tisch. »Und jetzt willst du bei mir untertauchen, oder was?«, krächzte er und wischte sich dabei mit dem Handrücken den Mund ab.

»Nein. Ich will dich engagieren. Für einen Job. Du bist der Einzige, der mir helfen kann.«

Madsen räusperte sich mehrmals, um den Hals freizubekommen. »Und was genau soll ich tun?«

»Du musst zurück nach Helltal und den richtigen Mörder finden. Ich bin unschuldig.«

***

Mike Madsen saß auf dem geschlossenen Klodeckel und versuchte nachzudenken, als es an der Badezimmertür klopfte.

»Smörre? Alles okay?«

»Hau ab!«, blaffte Madsen. »Die Antwort ist: Nein!«

»Hör zu, Bruder. Wie wär’s, wenn du erst mal …«

»Ich bin nicht dein Scheißbruder!«

»Jetzt komm da raus und lass uns in Ruhe über alles reden.«

»Da gibt’s nichts zu reden. Hau ab, Sinde! Verpiss dich!«

»Wo ist das Problem? Du bist Privatdetektiv, und ich hab ’nen Auftrag für dich. Was nimmst du normalerweise für so ’nen Job?«

Madsen erhob sich und öffnete die Tür. »Nimm deine Kohle und …« steck sie dir sonst wohin, lag ihm auf der Zunge, »… besorg dir ’nen guten Anwalt.«

Madsen drängte sich an Sindelar vorbei in Richtung Küche. Sindelar folgte ihm. »Komm schon, Smörre, was nimmst du für so ’nen Job?«

Madsen drehte sich zu ihm um. »Wie viel hast du?«

Sindelar kramte ein Bündel Geldscheine aus seiner Hosentasche und packte es auf den Tisch. »Fünftausend Euro. Noch mal fünf Mille gibt’s, wenn der Job erledigt ist. Dreitausend Euro sind von mir, den Rest haben Jörg Fischer, mein Boss, und meine Kollegen draufgelegt.«

Madsen starrte auf die Scheine. Versuchte, kurz zu überschlagen, wie viel Gehalt er noch von Groh bekommen würde und wie hoch seine aktuellen Schulden waren. Nicht mitgerechnet die Schulden bei Lemmy. Kam zu keinem Ergebnis. Von seiner finanziellen Situation hatte er wie immer nur ein sehr verschwommenes Bild.

»Und? Was sagst du?«

»Ich war beim Drogendezernat, nicht bei der Mordkommission«, murmelte Madsen. »Ich hab keine Erfahrung mit Mordermittlungen.«

»Du hattest bei deinen Jobs als Privatdetektiv nie mit Mord zu tun?«

»Doch, schon. Aber …« Madsen brach ab. Starrte wieder auf die Kohle. Fünf Mille. Und irgendwann demnächst noch mal fünf. Er rieb sich mit zwei Fingern die Augen. Tausende kleiner weißer Flecken, Blitze und Punkte tanzten auf der Innenseite seiner Lider Samba.

»Aber was?«, hakte Sindelar nach.

»Nichts aber«, sagte Madsen. »Ich bin dabei.« Hastig stopfte er die fünftausend Euro in eine Tasche seiner Jogginghose. »Es gibt da nur ein kleines Problem …«

***

Sie saßen im Café Coco an einem Tisch am Fenster mit Blick auf die Blissestraße. Madsen war frisch geduscht und rasiert, trug schwarze Jeans und ein schwarzes Hemd. Er nahm einen Schluck von seinem Milchkaffee. Das Frühstück hatte er kaum angerührt. Sindelar vertilgte sein zweites Marmeladenbrötchen. Madsen hatte ihm alles erzählt, was er wissen musste, um zu verstehen, warum Lemmy jetzt im Besitz des 928er und damit von Püppi war. Nicht erzählt hatte er ihm, warum er Schulden bei Lemmy hatte.

»Warum hast du überhaupt Schulden bei dem Kerl?«

Madsen stöhnte auf. Dann räusperte er sich. »Als ich vor ein paar Jahren in der Klemme steckte, hat Lemmy mir was geliehen«, erwiderte er, wobei er Sindelars Blick auswich. »Steuerschulden.«

»Steuerschulden?«, echote Sindelar amüsiert. »Nie im Leben. Ich tippe eher auf Spiel- oder Drogenschulden.«

Madsen rührte schweigend in seinem Milchkaffee.

»Jeder hat doch irgendwelche Leichen im Keller, Smörre. Ich bin einfach neugierig. Also: Spielschulden oder Drogenschulden?«

»Bin ich so durchschaubar?«, grummelte Madsen.

»Für mich schon.«

Madsen seufzte. »Lemmy ist ein einflussreicher Strippenzieher im Rotlichtmilieu und in der Drogenszene. Nebenbei organisiert er illegale Glücksspiele. Ich bin da vor ein paar Jahren über einen Ex-Kollegen reingerutscht. Ist ’n ziemlich exklusiver Kreis. Schwer reinzukommen, und wenn man mal drin ist, fast unmöglich, wieder rauszukommen. Anfangs lief alles super, aber irgendwann hab ich nur noch verloren. Lemmy war so großzügig und hat meine Kreditlinie immer weiter erhöht. Bis ich irgendwann den Überblick verloren habe und untergetaucht bin.«

»So ist das Leben. Mal gewinnt man, mal verliert man.« Sindelar schmierte sich ein weiteres Brötchen. »Glaubst du, du schaffst es rauszufinden, wie dieser Lemmy wirklich heißt und wo er wohnt?«

»Selbst wenn; was hätte ich davon?«

»Eine reelle Chance, dir deinen 928er und Püppi zurückzuholen. Natürlich mit meiner Hilfe.« Er grinste Madsen an.

Kurz darauf stand Madsen mit dem Handy am Ohr vor dem Café Coco und wartete darauf, dass sich sein ehemaliger Dealer Erbse meldete. Den Tipp mit Erbse hatte er von seinem Ex-Kollegen Oli Janke von der Sitte bekommen. Er meinte, Erbse würde Lemmy kennen und könne ihm sicher weiterhelfen.

»BSR, Zweigstelle Niederschönhausen. Krawuttke am Apparat von Kasulke in Vertretung von Kowalski.«

Madsen lief es eiskalt den Rücken runter. Diese Stimme. Als wäre es gestern gewesen. Als wäre der Scheißkerl nie aus seinem Leben verschwunden.

»Hi, Erbse. Ich bin’s, Madsen.«

»Madsen? Ach du heil’je Scheiße. Nee, oder? Alter, ick dreh komplettemang durch. Madsberger, ollet Kamuffel! Wat jeht? Long time no see, Baby.« Erbse lachte gackernd.

»Ziemliche long time, das stimmt«, bestätigte Madsen sachlich.

»Haste mir vermisst? Klar haste mir vermisst. Alle vermissen mir, wennse mich länger nich jesehen ham.«

»Hör zu, Mann«, sagte Madsen angespannt, »du musst mir ’nen Gefallen tun.«

»Bin ick die Heilsarmee, oder was?«

»Es geht um Lemmy.«

»Wat issen mit dem?«

»Ich hab was, was ihm gehört«, erklärte Madsen, »und er wäre sicher hocherfreut, wenn er das zurückbekommen würde. Leider weiß ich weder, wie er richtig heißt, noch, wo er wohnt, und seine Nummer hab ich auch nicht.«

»Auf jut Deutsch: Du hast Schulden bei Lemmikowski. Tja, wer hat die nich?« Erbse lachte.

»Kannst du mir weiterhelfen?«

»Möglich«, erwiderte Erbse vage. »Eventuell sehr wahrscheinlich sojar. Hör zu, Alter, wollen wir das nicht die Tage jemütlich und in aller Ruhe im Fischlabor belabern? Vielleicht kommt ja och noch Eva vorbei. Soll ick se innladen?«

Eva. Ihr damaliger Codename für Crystal Meth. Die Kurzform von Evangelium. Ihrem Evangelium. »Ich bin ab morgen im Urlaub«, sagte Madsen knapp. »Ich brauch die Infos noch heute. Es ist wirklich dringend.«

»Watt wär’n dir die Infos wert?«

»Gib sie mir einfach, wenn du sie hast, Erbse. Ich werd mich bei Gelegenheit revanchieren.«

»Wie willsten dir denn bei mir revanchieren? Indem de mir eenen bläst, oder was?«

»Weißt du was, Erbse?«

»Nö, was?«

»Fick dich, du Pisskopf.« Madsen klappte das Handy zu, als Sindelar zu ihm nach draußen kam. »Und? Wie lief’s?«, fragte er.

»Keine Ahnung, eher nicht so«, antwortete Madsen wahrheitsgemäß. Keine zwei Minuten später kam eine SMS von Erbse mit Lemmys richtigem Namen, der Adresse seines Gebrauchtwagenhandels und der Mitteilung, dass ihm das Sich-selbst-Ficken sehr viel Freude bereitet habe und es ihm ein Vergnügen sei, Madsen mit Eva 2.0 bekannt zu machen, die kein Vergleich zu Eva 1.0 Beta aus dem Jahr 1996 sei. Madsen schrieb die Infos auf einen Zettel, löschte die SMS und danach Erbses Nummer.

3. Chemistry

»Jemand, der nichts zu verbergen hat, würde sich wohl kaum so absichern«, bemerkte Sindelar beim Anblick der hohen Backsteinmauer, die das Gelände der Autohandlung J.-L. Automobile – »J« stand für Jochen und »L« für Lehberger, Lemmys Ausweisnamen – in der Moabiter Quitzowstraße vor neugierigen Blicken schützte. Die Einfahrt war mit einem ebenso hohen Rolltor gesichert.

Es begann zu nieseln. Madsen drückte sich in den Hauseingang gegenüber dem Gebrauchtwagenhandel, der nördlich an die Bahngleise der S-Bahn grenzte. Er trug eine fadenscheinige Camouflage-Cargohose und unter seiner Lederjacke ein schwarzes Kapuzenshirt. Über der Schulter hing eine Sporttasche mit Bolzenschneider, einer Taschenlampe und weiteren Gerätschaften, die Sindelar aus Madsens mageren Werkzeugbeständen zusammengesucht hatte. Plötzlich spukte ihm wieder der unbekannte und gleichzeitig vertraute Songtext im Kopf herum. »Kennst du ’nen Song, in dem vorkommt: Signals transmitted, message received. Reaction …«, fragte er Sindelar.

»Das ist jetzt Verarsche, oder?«, fragte Sindelar ungläubig. »Komm schon, Smörre. Solche Texte schreibt nur einer.«

Madsen hatte nicht die geringste Ahnung, wovon sein angeblicher Blutsbruder redete.

»Der Professor! Der beste Drummer der Welt!«

»Neil Peart?«

»Ja, klar, Neil Peart! Wer sonst?«, erwiderte Sindelar. Madsen hätte nicht sagen können, warum er sich plötzlich wieder an den Namen eines Helden seiner Jugend erinnerte. Er vermutete jedoch, dass es nicht unwesentlich mit Sindelars Anwesenheit zu tun hatte. »Und welcher Song?«, hakte Sindelar nach. Madsen zuckte mit den Schultern. Sindelar öffnete seine Lederjacke und präsentierte ihm sein T-Shirt. Dalmatiner. Roter Hydrant. Wiese.

»Signals…«, murmelte Madsen. »Wievielter Song?«

»Dritter.«

»Gib mir noch ’ne Textzeile.«

»Electricity? Biology? Seems to me it’s …«

»Chemistry«, fiel Madsen ihm ins Wort. Sindelar grinste breit und hielt ihm seine nach oben gereckte Hand entgegen. Madsen schlug ein. Sindelar zog seine Lederjacke aus und präsentierte ihm die Rückseite seines Shirts, auf der sämtliche europäischen Tourdaten von Rush aus dem Jahr 1983 aufgedruckt waren. »Heidelberg, Rhein-Neckar-Halle, 11. Mai 83. Die New World Tour. Unser erstes Rush-Konzert!«, sagte Sindelar.

Auf dem Shirt stand Heidelburg, Germany. Madsen musste grinsen.

»Ist das original von damals?«

Sindelar nickte. »Du hast dir übrigens auch eins gekauft. Aber im Gegensatz zu mir schon vor dem Konzert. Und da der Merchstand im Vorraum war, hast du The Spirit Of Radio verpasst.«

Madsen erinnerte sich. Auf einen Schlag war alles wieder da. Als wäre es nie weg gewesen …

 

Mittwoch, 11. Mai 1983. Wir sind in meinem Audi 100 LS unterwegs. Baujahr 1972, 100 PS, orangefarben, Lenkradschaltung, vier Türen. Das alte Familienauto, ein Geschenk meines Vaters zur bestandenen Führerscheinprüfung. Die A6 ist leer, der Tank voll. Wir haben ausreichend Zigaretten und zwei Sixpacks dabei. Im Kassettenrekorder die »Moving Pictures« mit der »Permanent Waves« auf der Rückseite. Im Handschuhfach weitere Tapes. Im Fußraum des Beifahrersitzes leere McDonald’s-Tüten, zerfledderte Musik- und Fußballzeitschriften, benutzte Tempos, leere Kippenpäckchen, Straßenkarten, Bifi-, Bounty- und Raider-Verpackungen. Sindelar, der wie üblich seine langen blonden Haare mit einem Lederstirnband gebändigt hat, sitzt mit einer Flasche Bier neben mir auf dem Beifahrersitz und grölt ziemlich schräg, aber textsicher wie immer »Limelight« mit. Dann dreht er sich nach hinten um und reicht ihr die Bierflasche. »Bei dir würde ich immer pretenden, dass du ein ›long-awaited friend‹ bist, auch wenn du in Wirklichkeit ein ›verfickter stranger‹ bist«, sagt er.

Sie lacht. Ob über Sindelars Spruch oder den langen Rülpser, den er als Krönung anhängt, vermag ich nicht zu sagen, aber es spielt auch keine Rolle. Es geht alleine um ihr Lachen. Ein Lachen, für das ich töten würde. Ich drehe den Rückspiegel so, dass ich ihr Gesicht sehen kann. Durchscheinende Alabasterhaut. Ein sommerbesprosstes Feldmausnäschen. Ein bezauberndes Lächeln. Die kleine sexy Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen. Volle Lippen. Der scharf geschnittene, direkt über ihren Augen endende Pony. Tiefblaue Augen. Ich glaube, den Apfelduft ihrer glatten, hell leuchtenden strohblonden Haare, die ihr über die Schultern fallen, riechen zu können. Meine Agnetha Fältskog. Für einen kurzen Moment treffen sich unsere Blicke im Rückspiegel. Sie lächelt.

Ein Versprechen.

Für immer …

 

Madsen riss sich aus seiner Erinnerung. Sindelar war wieder in seine Lederjacke geschlüpft und zog gerade den Reißverschluss bis zum Kinn hoch. Madsen versuchte sich vorzustellen, dass Sindelar und Claudia verheiratet gewesen waren, wie er ihm auf dem Weg hierher erzählt hatte. Dass sie eine zwölfjährige Tochter namens Lilly hatten. Dass er sich nach der Scheidung vor fünf Jahren irgendwelchen Schaustellern aus Pirmasens angeschlossen und Helltal verlassen hatte. Dass er Egon Trautmann, seinen Nachfolger bei Claudia, ermordet haben sollte und deswegen gesucht wurde. Er konnte sich nichts von alledem vorstellen.

»Wir sollten langsam mal loslegen«, meinte Sindelar. »Je länger wir hier rumstehen, desto verdächtiger machen wir uns. Wir müssen zur Rückseite des Grundstücks. Von hier aus sind der komplette vordere Bereich und ein Teil der Seite einsehbar.« Er bemerkte Madsens skeptischen Gesichtsausdruck. »Irgendwelche Einwände?«

»Tausende.«

»Steck sie dir sonstwo hin.« Sindelar schnappte sich die Sporttasche, überquerte die Straße und bog in einen kleinen Kopfsteinpflasterweg ein, der links vom Gebrauchtwagenhandel an den Zaun des Nachbargrundstücks grenzte. Madsen folgte ihm. Als die beiden den rückwärtigen Teil erreichten, hörte es zu nieseln auf. Es war stockdunkel und roch nach fauligem Abwasser. Direkt an die Mauer schloss sich ein verwahrlostes Stück Brachland an. Knapp zehn Meter weiter begannen die Bahngleise. Ein zerknautschtes Ölfass lag in der Nähe. Sindelar wuchtete es aufrecht, kletterte hinauf und von dort aus weiter auf die Mauer. »Dein Kennzeichen!«

»Was?«

»Das Kennzeichen deiner Schleuder. Ist das B-ED-6021?«

Madsen nickte, während in seinem Rücken eine S-Bahn vorbeidonnerte.

»Das Arschloch fühlt sich total sicher«, brüllte Sindelar über den Lärm hinweg. »Nicht mal die Nummernschilder hat er ausgetauscht.«

Madsen stieg hektisch auf das Ölfass und schwang sich auf die Mauer, wo er neben Sindelar in die Hocke ging. Im dünnen Lichtstrahl der Taschenlampe, die Sindelar nach links richtete, sah er seinen 928er. Er stand mit der langen Schnauze zur Mauer neben einem Wellblechschuppen, halb versteckt zwischen Mülltonnen, alten Reifen, Schrott und Holzpaletten. Durch die Scheibe der Heckklappe konnte man eine rote Plastikbox im Kofferraum erkennen, aber nicht deren Inhalt. Madsen ließ seinen Blick über das Gelände schweifen. Der vordere Teil des Hofs wurde durch einen auf einer Stahlstange montierten Flutlichtscheinwerfer erhellt; der hintere Bereich, in dem der Porsche stand, lag im Zwielicht. Direkt am Eingang waren um einen Bürocontainer an die zwanzig Gebrauchtwagen gruppiert; an den Windschutzscheiben hingen Zettel mit Preis und Beschreibung.

»Was ist mit Alarmanlage?«

»Glaub ich nicht«, erwiderte Sindelar und ließ die Sporttasche in den Hof fallen. »Okay. Ich seh mir mal das Torschloss …« Ein knurrendes Monster stürzte sich auf die Sporttasche und unterbrach Sindelars Ausführungen. Er leuchtete mit der Taschenlampe nach unten: schwarzes, kurzes Fell. Stummelschwanz. Ein gedrungenes, kompaktes Kraftpaket, das nur aus Muskeln und Zähnen zu bestehen schien. Der Rottweiler hatte sich in die Tasche verbissen, schleuderte sie hin und her und knurrte wütend. Der darin befindliche Bolzenschneider knallte ihm dabei mehrfach gegen den Schädel, was ihn aber nicht weiter zu stören schien.

»So viel zum Thema Alarmanlage«, murmelte Madsen. Sindelar musterte den Rottweiler, der ihn direkt anblickte, ohne mit dem Zerlegen seiner Beute innezuhalten.

»Tja, das war’s dann wohl«, sagte Madsen.

»Willst du Püppi und deinen Porsche zurück oder nicht?«, blaffte Sindelar.

»Ja, klar, aber …«

»Dann hör mit dieser negativen Scheiße auf! Ich rede mit ihm, und alles wird gut.«

»Reden? Mit wem?«, fragte Madsen irritiert. »Mit dem Besitzer des Monsters oder was?«

»Nein, mit ihm.« Sindelar deutete auf den Rottweiler.

»Soll ich schon mal ’nen Notarzt bestellen?«

Sindelar ignorierte Madsens Bemerkung und wandte sich an das Monster im Hof. »Hey, Dicker. Wie heißt du?«

Körperliche Anomalien thematisieren. Super Gesprächseinstieg, dachte Madsen. Der Rottweiler legte den Kopf schief und knurrte.

»Sein Herrchen nennt ihn, warum auch immer, Heydrich«, erklärte Sindelar. »Er selbst glaubt, er hieße Attila.«

Madsen verdrehte die Augen.

»Da kannst du noch so oft die Augen verdrehen, Smörre. Ich geh da jetzt runter und erklär ihm, was wir wollen und dass wir keine Bedrohung für ihn sind.«

»Na, denn …«, murmelte Madsen.

»Ich weiß, was ich tue«, sagte Sindelar. »Vertrau mir.«

»Vertrauen ist für Arschlöcher.«

»Fick dich, Smörre.« Sindelar drehte sich mit dem Rücken zum Hof und ließ sich vorsichtig hinabgleiten, wobei er sich am Rand der Mauer festhielt, während Madsen sich fragte, wie es sich die Bullen wohl erklären würden, die zerfetzten Einzelteile eines per Haftbefehl gesuchten mutmaßlichen Mörders aus Helltal auf dem Gelände eines Moabiter Gebrauchtwagenhandels zu finden. Sindelar ging keine zwei Meter von Heydrich/Attila entfernt in die Hocke, schlang seine Arme um die Knie und schloss die Augen. Attila ließ von der Sporttasche ab und beäugte den Mann mit dem Army-Haarschnitt und dem zerknautschten Gesicht. Nach einer gefühlten Ewigkeit erhob sich der Rottweiler und trottete in Richtung des Wellblechschuppens. Sindelar sah zu Madsen hoch. »Komm runter. Attila meint, das geht klar!«

***

Der nasse Asphalt der Berliner Straße glänzte im Scheinwerferlicht des Porsche. Sindelar war es problemlos gelungen, das Schloss des Rolltors zu knacken. Die ganze Aktion hatte keine zehn Minuten gedauert. Madsen hatte Püppi in einem der Abfallcontainer entdeckt, noch in ihre gelbe Decke eingewickelt. Unter einem Baum im Volkspark Wilmersdorf, in der Nähe des Ententeichs, hatte sie kurz nach 23 Uhr ihre letzte Ruhestätte gefunden. Madsen hatte weder Trauer noch Schmerz empfunden. Nur das vage Gefühl der Abwesenheit jeglicher Gefühle. Auf dem Rückweg zur Fechner Straße hatten sie auf Sindelars Wunsch an einer Tanke gestoppt. Er war mit einer Flasche Jack Daniel’s zurückgekommen, die jetzt zwischen ihnen hin und her ging.

»Du hast echt mit diesem Biest geredet … Wie hast’n das hingekriegt?«

»Phasenkonjugierte adaptive Resonanz«, erwiderte Sindelar.

»Ja, klar, logisch, was sonst?«. Madsen lachte auf. »Hätte ich auch selber draufkommen können. Und jetzt das Ganze vielleicht so, dass auch jemand wie ich das versteht?«

»Wer hat denn hier Abi?«

»Aber nicht in Physik.«

»Ich auch nicht.«

»Ich weiß. Deshalb wundere ich mich umso mehr.«

»Ich hab ’ne Menge Bücher zu dem Thema gelesen«, meinte Sindelar und setzte sich die Flasche an den Mund.

»Und das Thema ist was genau?«

»Quantenphysik«, erklärte Sindelar. »Informationen werden nicht von einem Teilchen zum anderen übermittelt, sondern die Wellenaspekte der Teilchen sind miteinander verbunden. Sie verhalten sich im Prinzip wie Felder elektromagnetischer Energie. Elektromagnetische Energie ist der Grundbaustein unseres Universums. Wir senden durch unsere Gedanken und Gefühle permanent elektromagnetische Signale, und die landen dann als Quantenhologramm im Nullpunktfeld.«

»Beim Denken sendet man elektrische Signale?«

»Bei dir bin ich mir da nicht so sicher«, entgegnete Sindelar, »beim Rest der Menschheit schon.« Er kicherte. Madsen nicht.

»Jeweils auf einer bestimmten Frequenz«, fuhr Sindelar nach einem weiteren Schluck Jack Daniel’s fort. »Ist so ähnlich wie bei ’nem Radio. The spirit of radio. Remember? Die Kunst ist nur, die passende Frequenz zu finden. Dann klappt’s auch, mit Tieren zu kommunizieren.«

»Kann man das lernen? Mit Tieren zu reden?«, fragte Madsen.

»Das muss man nicht lernen, es ist angeboren«, erwiderte Sindelar. »Jeder kann es. Stelle deinen Verstand ab, vertrau deinem sechsten Sinn, vertrau deiner Intuition, tritt einfach mit dir selbst in Kontakt.«

»Das ist jetzt Verarsche …?«

»Nein. Vertrau mir«, sagte Sindelar.

»Wie gesagt, Vertrauen ist für Arschlöcher.«

»Dann mach mir zuliebe mal ’ne Ausnahme.«

»Ausnahmen sind auch für Arschlöcher.«

Sindelar lachte, nahm einen weiteren Schluck und ließ einen ewig in die Länge gezogenen Rülpser vom Stapel, der stark an eine brünftige Elefantenkuh erinnerte. »Fahr mal kurz ran«, meinte er und deutete auf die Einbuchtung einer Bushaltestelle. »Ich muss mal.«

»Wir sind doch gleich in der Fechner.«

»Ich muss aber jetzt pissen, nicht gleich.«

Madsen fuhr rechts ran und stellte den Motor ab. Sindelar schlurfte mit der Whiskeyflasche in der Hand auf einen Bauzaun zu. Er packte mit einer Hand aus, während er sich mit der anderen die Flasche an den Hals setzte. Madsen kam dazu und stellte sich neben ihn. Die beiden pissten wortlos durch die Lücken des Bauzauns in die dunkle Baugrube, wobei der Jackiezwischen ihnen hin und her wanderte. »Es geht nicht um mich, Smörre«, murmelte Sindelar. »Mir ist es egal, ob ich unschuldig im Knast lande. Es geht um Lilly. Alle in Helltal würden in ihr immer nur die Tochter eines Mörders sehen – bis sie es irgendwann selbst glaubt. Ich will nicht, dass sie das glaubt, denn es stimmt nicht. Ich bin kein Mörder. Lilly ist eh schon eine Außenseiterin. Keine Ahnung, warum, ist aber so. Und mit einem mutmaßlichen Mörder als Vater erst recht.«

Madsen schwieg.

»Sie würde nie erfahren, was es heißt, Freunde zu haben«, fuhr Sindelar fort. »Freunde, die für einen da sind, egal wie beschissen man sich fühlt, egal wie man drauf ist. Freunde, die mit dir durch dick und dünn gehen, mit denen du alles teilst. Freunde, mit denen du zu einem Konzert deiner Lieblingsband fährst und die ihre letzte Kohle zusammenkratzen, damit du dir ein Bandshirt, einen Schal oder ein Tourprogramm kaufen kannst.«

Madsen erinnerte sich, dass es damals Sindelar und Claudia gewesen waren, die 1983 für sein Rush-Tour-Shirt zusammengelegt hatten.

»Freunde, wie wir es waren, Smörre.« Sindelar ließ abtropfen. »Und Claudia.«

Ein lautes dreimaliges Hupen ließ die beiden herumfahren. Ein Streifenwagen stand direkt hinter dem 928. Geistesgegenwärtig ließ Sindelar den Jack Daniel’s unauffällig ins Gras vor dem Bauzaun gleiten. Aus dem Wagen stiegen zwei Beamte, ein jüngerer mit Schnauzbart und Bodybuilderfigur und ein älterer mit Nickelbrille.

»Warte hier, ich mach schon«, murmelte Madsen. Sindelar nickte. Madsen ging auf die Beamten zu. Nickelbrille nahm den Porsche in Augenschein, während Schnauzer lospolterte. »Darf man fragen, warum Sie an einer Bushaltestelle parken?«

»Tut mir leid, Kollege.« Madsen griff in eine der seitlichen Taschen seiner Cargo.

»Langsam. Ganz langsam!«, blaffte Schnauzer und legte demonstrativ eine Hand auf seine Dienstpistole am Gürtel.

»Easy. Ich wollte nur meinen Dienstausweis zeigen«, beschwichtigte Madsen und hielt abwehrend die Hände hoch.

»Okay. Mach hinne.«

Madsen fischte betont langsam und vorsichtig seinen Dienstausweis aus der Hosentasche. »Alles im Lack, siehst du?«

»Zeigen!«

Madsen hielt ihm den Ausweis hin, wobei er mit dem Zeigefinger den Eintrag in der linken unteren Ecke verdeckte, der besagte, dass dieser nur bis Ende 1994 gültig war.

»Aha«, murmelte Schnauzer, sichtlich angefressen wegen der überraschenden Wendung. »Im Dienst?«

Madsen nickte und steckte den Ausweis eilig wieder ein. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Nickelbrille um den Porsche herumging und durch die Heckklappe in den Kofferraum äugte.

»Und der da?« Schnauzer nickte in Richtung Sindelar, der mit tief in den Hosentaschen vergrabenen Händen am Bauzaun stand.

»Ein Informant.«

»Name?«

»Bitte?«

»Sein Name.«

»Was soll das denn jetzt?«

»Es soll Kollegen geben, die manchmal nicht so genau wissen, wo die Grenze zwischen Richtig und Falsch verläuft. Und die sich mit Subjekten einlassen, die auf der Fahndungsliste stehen«, erwiderte Schnauzer.

»Er ist sauber.«

»Davon würde ich mich gerne selbst überzeugen.« Schnauzers Hand ruhte noch immer auf seiner Dienstwaffe. »Würden Sie bitte mal herkommen?«, rief er in Sindelars Richtung.

»Du bleibst, wo du bist!«, rief Madsen Sindelar zu.

»Sie kommen her. Und zwar sofort!«

»Was soll der Scheiß?«, fuhr Madsen Schnauzer an. »Das ist doch pure Schikane!«

»Erst parkst du hier verkehrswidrig, und dann wirst du auch noch pampig?«, blaffte Schnauzer. »Glaubst du, du bist was Besseres, nur weil du bei der Kripo bist? Wenn ich sage, dass wir die Personalien deines Informanten überprüfen, dann überprüfen wir die auch, kapiert?«

Aus den Augenwinkeln nahm Madsen entsetzt wahr, dass Sindelar auf sie zukam.

»Na, also. Geht doch«, meinte Schnauzer und grinste zufrieden, als Sindelar knapp einen Meter vor ihm stehen blieb. »Name?« Schnauzer zückte seinen Notizblock.

»Winnergerscht Ginner«, nuschelte Sindelar in breitestem Helltaler Pfälzisch.

»Bitte was?«

»Ei, hosche wos uff de Ohre, Buh? Winnergerscht Ginner.«

»Ginner? Was ist das denn für ein Name?«

»Ei, e Belzischer.«

»Pelzig?«

»Belzisch, Buh! Belzisch!«

Schnauzer war anzusehen, dass er kein Wort verstanden hatte, was ihn aber nicht davon abhielt, sich irgendeinen Namen zu notieren. »Wohnhaft?«

»Ei jo, allemohl«, antwortete Sindelar lächelnd.

»Wo kommen Sie her, Mann?«

»Vun Stennwiller.«

»Reden Sie Deutsch!«, blaffte Schnauzer.

»Ei, wos willsche dann? Isch du doch deitsch redde. Odda voschtesche käh Belzisch?«

Madsen sah kurz zu Nickelbrille, der inzwischen halb unter dem Porsche lag und ihn mithilfe einer kleinen Taschenlampe von unten begutachtete.

Schnauzer musterte mit zusammengekniffenen Augen Sindelars lädiertes Gesicht. »Haben Sie sich geprügelt, oder wie ist das mit Ihrem Gesicht passiert?«

»Halt emol, immer schäh galama, Buh«, pfälzerte Sindelar unbeirrt weiter. »Isch prischel misch doch net. Isch bin die Trebb runnergefoll. Mit de Klappschmier in de Hand. Han halt ned uffgebasst, isch Dinnbreddbohrer.«

»Ausweis.«

»Dud märr lääd, awer denn hann isch beim ledschde Worschdmaakt veloore. Nä, haldeemol. Des wor jo gar net uffem Worschdmaakt. Isch glaab, der leit im Grummbeerkeller vum Brewi. Also nedd in demm vom äldscht Brewi, in demm vom Jingscht. Isch hann den unnerumm quergebischelt und owerumm druffgesächt. Und unnerum noch emol dem Berkemmer Schorch, also dem Äldscht, ned dem Jingscht, gesacht, dess des so net geh würd, aber die Dreggsfutt hot misch net vestonn. Aller hopp, denk isch, des hot woscheinlich do draan geläh, dess der noch haggestrack vum Frieschobbe gewese wor. Von de Schukkebännel, die ich beim Frieschobbe oh noch vegess hon, will isch jetzt gor net erscht ohfange, verschtesche? Die Schukkebännel von de Ämezze, die uff die Sießschmier kroch sinn.«

Schnauzer warf Madsen einen fragenden Blick zu. Madsen zuckte mit den Schultern. »Pfälzer halt. Die können alles, nur kein Hochdeutsch. Ist historisch bedingt. Soll ich übersetzen?«

»Nicht nötig«, grummelte Schnauzer und klappte seinen Notizblock zu. »Fahr einfach die Scheißkarre weg.« Er stakste zurück zum Streifenwagen.

»Baujahr?« Unbemerkt war Nickelbrille zu den beiden getreten. Madsen brauchte einen Moment, um die Frage in Bezug zu seinem Porsche zu bringen.

»Zweiundachtzig.«

»Ist das die S-Version mit 310 PS?«

Madsen nickte.

»Kilometer?«

»152 000.«

»Zahnriemen gewechselt?«

»Letztes Jahr.«

»Unverbastelt?«

Madsen nickte. Nickelbrille drückte ihm seine Visitenkarte in die Hand. »Falls du den mal verkaufen willst oder musst, ruf mich an.« Er klopfte Madsen kurz auf die Schulter, ging zum Streifenwagen, klemmte sich hinters Steuer und scherte aus der Bushaltestelle aus. Madsen und Sindelar sahen dem Wagen hinterher. »Danke, Bruder«, murmelte Sindelar.

»Bedank dich bei meinem alten Dienstausweis«, meinte Madsen und zerriss Nickelbrilles Visitenkarte.

»Darf ich mal sehen?«

Madsen reichte Sindelar den Ausweis.

»Gültig bis Ende 1994?« Sindelar gab ihn Madsen zurück. »Muss man den nicht abgeben, wenn man aus dem Polizeidienst ausscheidet?«

»Muss man so tun, als könne man kein Hochdeutsch?« Unvermittelt griff Sindelar Madsen mit beiden Händen in den Nacken, zog seinen Kopf zu sich ran, legte seine Stirn an seine und schloss die Augen. »Danke, dass du Lilly die Chance gibst, wie ein normales Mädchen aufzuwachsen«, sagte er leise. Dann küsste er Madsen auf den Mund. »Ich liebe dich, Bruder. Du schaffst das, ich weiß es.«

Madsen war sich da nicht so sicher, während er sich mit dem Ärmel seiner Jacke den Mund abwischte. Kurz darauf saßen sie in Madsens Küche. »Erzähl«, sagte Madsen und schaltete sein Diktafon ein. Und Sindelar erzählte.

4. Hinter den Bergen bei den sieben Zwergen

Der Himmel war strahlend blau. Über den Baumwipfeln des Harzes brach die Sonne hervor. Madsen fummelte die Sonnenschutzblende aus der Halterung, kippte sie in Richtung der Seitenscheibe und überlegte, ob er seine Sonnenbrille eingepackt hatte. Im Handschuhfach wurde er fündig. Die fünftausend Euro von Sindelar lagen mit einem Haarband umwickelt daneben.

»Ich bin Montag gegen Nachmittag losgetrampt, da gab es noch keinen Haftbefehl gegen mich«, drang Sindelars Stimme aus den Boxen des Porsche. »Na ja, vielleicht gab es schon einen, aber ich wusste es jedenfalls noch nicht. Das hab ich dann erst durch Fischer, meinen Chef, am Handy erfahren, bei dir in der Küche, du erinnerst dich. Wie auch immer, nach dem Verhör Sonntagabend durch die Bullen war mir klar, dass sie einen Sündenbock brauchten. Als ich Montagfrüh die Schmiererei an meinem Wohnwagen entdeckt habe, wusste ich, dass die Wahl auf mich gefallen war. Als Sündenbock bin ich schon ziemlich perfekt. War ich schon immer. Muss wohl mit meinen polnisch-österreichischen Genen zu tun haben.« Sindelars bitteres Lachen ging nahtlos in einen länger andauernden trockenen Husten über. »Nein, ohne Scheiß«, fuhr er dann fort, »von außen betrachtet passt alles zusammen. Ich hab Trautmann am Abend des Mordes den Kolben eines Luftgewehrs in die Fresse gedroschen, hab gedroht, ihn umzubringen. Ich hab kein Alibi für die Tatzeit, er ist der Neue meiner Ex, ich bin vorbestraft …«

Madsen legte die Stirn in Falten.

»Wusstest du nicht, oder?«

»Nee, wusste ich nicht«, murmelte Madsen. »Woher auch? Wir hatten ja seit 84 keinen Kontakt mehr.« Er hatte das Diktafon mit einem Adapterkabel ans Autoradio angeschlossen und hörte sich jetzt die dritte Kassette an, die Sindelar allein besprochen hatte, während Madsen geduscht und gepackt hatte. Gegen drei Uhr hatte ihm Sindelar, der sich den Kinnbart abrasiert und die Haare schwarz gefärbt hatte, das Diktafon inklusive Kassetten mit den Worten »Das war’s« in die Hand gedrückt. Danach hatten sie getankt und sich über die Avus auf den Weg in Richtung Berliner Ring gemacht. Sindelar hatte ihm immer noch nicht mitgeteilt, wo er abgesetzt werden und wohin er weitertrampen wollte, aber Madsen war sich sicher, dass er einen Plan hatte. Als sie vom Stadtring auf die A10 in Richtung Hannover abbogen, sah Sindelar kurz auf die Straßenkarte in seinem Schoß. »Da müsste gleich ’ne Raststätte kommen.«

»Michendorf«, bestätigte Madsen.

»Da kannste mich rauswerfen.« Sindelar faltete die Karte zusammen und warf sie nach hinten auf die Notsitze.

»Wenn du weiter Richtung Westen musst, kann ich dich doch noch ein Stück mitnehmen.«

»Falsche Richtung.«

»Wohin zum Geier willst du?«

»Je weniger du weißt, desto besser«, sagte Sindelar. »Dann kannst du auch nichts aus Versehen ausplaudern.«

»Ich plaudere aus Prinzip nichts aus, was nicht ausgeplaudert werden soll. Und schon gar nicht aus Versehen«, erwiderte Madsen. »Also: Wo soll’s hingehen?«

»In die alte Heimat meiner Mutter, zu befreundeten Schaustellern.«

»Wohin genau?«

»Nach Kolobrzeg. Das ehemalige Kolberg. Liegt an der Ostsee«, sagte Sindelar.

»Ich weiß, wo Kolberg liegt«, antwortete Madsen. Zehn Minuten später wuchtete er an der Raststätte Michendorf Sindelars Seesack aus dem Kofferraum. Dabei fiel Sindelar ein, dass er den Jack Daniel’s an dem Wilmersdorfer Bauzaun vergessen hatte. Seiner Erinnerung nach war die Flasche noch halb voll. Er meinte, so was sei Verschwendung und sie müssten zurückfahren und den Whiskey sicherstellen. Madsen erklärte ihn für unzurechnungsfähig und lehnte aus Gründen, die letztlich wohl auch in Sindelars Interesse lagen, ab.

»Woher wusstest du eigentlich, dass ich kein Bulle mehr bin, sondern Privatdetektiv?«, fragte Madsen.

»Helltaler Buschtrommeln«, erwiderte Sindelar, während er den Seesack in Empfang nahm. »Du weißt doch, wie schnell sich so was auf ’nem Dorf rumspricht. Vor allem wenn der eigene Vater auch Bulle war. Er hat es mir dann sogar selbst bestätigt. Wir haben uns vor ein paar Jahren auf der Kerwe getroffen.« Er steckte sich eine an und hielt Madsen sein Päckchen hin. »Er hat übrigens ziemlich abgeräumt.«

»Am Schießstand?«

»Schießwagen, Smörre, nicht Schießstand. Schießstände gibt es in Schützenvereinen oder bei den Bullen, aber nicht bei uns.«

»Haben dir die Helltaler Buschtrommeln auch übermittelt, warum ich kein Bulle mehr bin?«, hakte Madsen nach.

»Nein.« Sindelar kramte sein Handy aus der Jackentasche und scrollte durchs Adressbuch. »Bevor ich’s vergesse … Meine Nummer ist so neu, dass ich nur weiß, dass sie mit 0178 anfängt. Außer dir hat die nur Fischer.«

Madsen speicherte die Nummer unter »Alex Lifeson« ab, Sindelar die von Madsen unter »Geddy Lee«.

»Der Rest der Truppe ist ab morgen in Kirchheimbolanden«, erklärte Sindelar, »da ist ab Freitag Kerwe, aber Fischer meinte, er wird noch in Helltal sein, wenn du auftauchst. Vielleicht kann er dir ja weiterhelfen.«

Madsen nickte und steckte sein Handy ein. »Wie sieht’s mit Bargeld aus?«

»Sollte erst mal reichen«, sagte Sindelar. »Wieso fragst du?«

»Komm bloß nicht auf die bescheuerte Idee, irgendwo mit EC- oder Kreditkarte zu zahlen.«

»Schon klar.«

»Sonst noch irgendwas?«

»Nicht dass ich wüsste. Jetzt liegt es an dir.« Sindelar schnippte seine Kippe in Richtung der A10. »Time to say goodbye, Smörre. War nett, dich mal wieder getroffen zu haben nach so langer Zeit. Die Umstände hätten zwar ein bisschen, tja, lustiger sein können, aber so ist das nun mal. Das Leben ist kein Wunschkonzert.«

Madsen umarmte ihn kurz und wünschte ihm viel Glück.

»Wünsch ich dir auch«, meinte Sindelar und schulterte den Seesack. Dann fiel ihm noch etwas ein, und er kramte einen Drumstick aus einer der Außentaschen des Seesacks. »Du weißt, was das ist …?«

»Vermutlich der Drumstick von Neil Peart, den du 1983 in der Rhein-Neckar-Halle, Heidelburg, Germany, ergattert hast.«

Sindelar lachte. »Aber nur, weil ich dem Typen neben mir, der den Stick gefangen hatte, die Beine weggetreten hab. Pass auf ihn auf, solange ich unterwegs bin. Das wär der Super-GAU, wenn der verloren gehen würde.«

»Kein Problem.« Madsen steckte den Drumstick in eine der seitlichen Taschen seiner Cargohose.

»Mach’s gut, Smörre.«

»Mach’s besser, Sinde.«