Herbertgeschichten - Elisabeth Schrom - E-Book

Herbertgeschichten E-Book

Elisabeth Schrom

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Beschreibung

Dramatik des Gewöhnlichen •Eine neue Stimme für die Schweizer Literatur •Ein ausserordentlich gewöhnlicher Protagonist, aussergewöhnlich erschaffen •Episodische Erzählung mit Sogwirkung Wie vertreibt sich einer, der weder Familie noch Ziele hat, nach seiner Pensionierung seine Zeit? Er geht einkaufen, putzt, geht spazieren, kocht. Jede Woche trifft er pünktlich im Park auf seinen Freund Rudolf, und dann sitzen sie eine Weile auf ihrer Bank. Jedes Jahr über Weihnachten macht er eine Reise. Ausserdem erfreut er sich an den Gegenständen, die er im Laufe der Jahre gesammelt hat. Die besten Jahre hat Herbert hinter sich, aber auch er hat noch Träume. Er träumt von einer Putzfrau, die sich um seine umfangreiche Sammlung kümmert. Auch von einem gemeinsamen Leben mit einer Frau träumt er manchmal, aber die Bekanntschaft mit Ivana entwickelt sich nicht so, wie er sich das vorgestellt hat. Herberts Leben mag unspektakulär verlaufen, aber je näher man ihn kennenlernt, desto mehr lässt sich mit ihm lachen, manchmal auch über ihn, oder mit ihm über die Welt sinnieren. Man merkt, Herbert ist einer, der weiss, was er hat: seine Nachbarin Frau Kramer, seinen Freund Rudolf und dessen Frau Edith und seine Unabhängigkeit.

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Seitenzahl: 129

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ELISABETH SCHROM

HERBERTGESCHICHTEN

 

 

Elisabeth Schrom

HERBERT­GESCHICHTEN

Erzählung

 

Mit freundlicher Unterstützung von:

© 2016 Zytglogge Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Angela Fessler

Coverfoto: Claudia Saladin

Gesetzt aus: Frutiger LT Std, Garamond Premier Pro, Palatino LT Std

ISBN: 978-3-7296-0911-2

eISBN (ePUB) 978-3-7296-2092-6

eISBN (mobi) 978-3-7296-2093-3

 

E-Book: Schwabe AG, www.schwabe.ch

 

www.zytglogge.ch

Inhalt

Herbert erwacht aus einem Traum

Im Stiegenhaus

Herbert geht in den Stadtpark

Herbert und Rudolf im Stadtpark

Leo

Herberts Wohnung

Stilecht

Die Annonce

Der Abend

Schalttage

Das Ende

Die Katze

Kein Thema

Auf der Insel

Feriengrüße

Der Weihnachtsabend

Ein stiller Tag

Das Klassentreffen

Am Matterhorn

Hier spricht Edith

Hochzeit

Heimhilfen

Wenn ich einmal tot bin

Über das Buch

Über die Autorin

Herbert erwacht aus einem Traum

Herbert erwachte. Von seinem eigenen Schrei erwachte er. Genau in dem Augenblick erwachte er, als ein riesiger Chinese ein mächtiges Schwert hob, um ihm den Kopf abzuschlagen. Mit aufgerissenen Augen starrte er ins Nichts, bis das Nichts sich erbarmte und die Kontur seiner Schlafzimmerdecke annahm.

Guten Morgen Herbert, sagte Herbert nach einer Weile und wischte sich mit dem Pyjamaärmel über die schweißnasse Stirn. Dann gähnte er, hob die Beine aus dem Bett und tastete nach seinen Hausschuhen.

Beinahe wäre er auf David getreten. Auf David, der auf dem Rücken lag, die fadendünnen Beinchen leicht angewinkelt in die Luft gestreckt. Vor zwei Tagen erst hatte er den Heuschreck in seinem Schlafzimmer entdeckt. Grasgrün hatte er an der Wand gesessen und seine Fühler bewegt. Herbert versuchte ihn zu fangen. Fangen, um ihn vom Balkon aus in die Freiheit zu entlassen, doch jedes Mal, wenn er versuchte, seine Hand über das Tier zu legen, war der Heuschreck weggesprungen, als wollte er Fangen spielen mit ihm.

Das hast du nun davon, sagte Herbert und bückte sich. Er legte David auf seine Handfläche. Er spürte ihn kaum, so leicht war er.

Gestern Abend hatte er noch gelebt. Er war auf die Bettdecke gesprungen und hatte zugesehen, wie Herbert in einem Buch las.

Hallo, wie geht es, kleiner David?, hatte Herbert über den Brillenrand hinweg gefragt, weil er sich neben dem Heuhüpfer wie Goliath vorgekommen war.

Ein schlechtes Omen, wenn der Tag mit dem Tod begann. Wenn es auch nur der Tod eines Heuschrecks war. Womöglich würde ihn ein Auto anfahren. Es könnte auch ein Ziegelstein vom Dach fallen, oder er könnte eine Herzschwäche erleiden. An solchen Tagen blieb man besser daheim. Ob Rudolf begreifen würde, dass er nicht in den Stadtpark kommen konnte, weil er einen toten Heuschreck neben seinem Bett gefunden hatte? Aber Rudolf würde nicht begreifen. Rudolf ging jeden Dienstag in den Stadtpark. Ausnahmslos. Sogar an dem Dienstag, als seine Schwiegermutter starb, war Rudolf in den Stadtpark gegangen. Man müsse einen gewissen Rhythmus beibehalten, hatte er gesagt, besonders nach der Pensionierung.

Als er in seine Frühstückssemmel biss, tropfte Erdbeermarmelade auf seine Hose. Hatte er nicht gleich gewusst, dass ein schlechtes Omen über dem Tag lag? Er zog seine Hose aus und versuchte, den Erdbeerfleck auszuwaschen. Das Wasser färbte den hellgrauen Stoff dunkelgrau, die dunkelgraue Fläche breitete sich aus, und bald hatte sich das halbe Hosenbein in dunkles Grau verwandelt, so dass man weder erkennen konnte, wo die Erdbeermarmelade hingetropft war, noch ob der Fleck schon weg oder immer noch da war. Herbert zog eine kurze Hose an. Karierte Bermudashorts, die er vor Jahren im Ausverkauf erstanden hatte. Rudolf würden sie nicht gefallen, die Bermudas. Rudolf würde nie kurze Hosen tragen. Nicht in unserem Alter. Aber weshalb sollte man sich an einem offiziellen Hitzetag mit langen Hosen abquälen?

Im Stiegenhaus

Finden Sie das in Ordnung, fragte Frau Kramer, dass jetzt jede Woche zwei Afrikaner kommen, um das Stiegenhaus durchzufeudeln?

Durch eben dieses Stiegenhaus wollte Herbert, aber sie hatte ihm den Weg verstellt und stand jetzt direkt vor ihm, die Hände in die Hüften gestemmt. Gulasch, dachte er, als er den kräftigen Geruch wahrnahm, der aus ihrer geöffneten Wohnungstür strömte. Sie würde es morgen aufwärmen und übermorgen auch, und im Haus würde es wieder tagelang nach Gulasch riechen.

Was meinen Sie mit durchfeudeln?, fragte er.

Na, mit einem Feudel, sagte sie.

Ist das ein Putzlumpen?, fragte er.

Ja, sagte sie, auf Hochdeutsch heißt das Feudel.

Das Wort Feudel gibt es nicht, sagte er, das habe ich noch nie gehört.

Wetten, dass es im Duden steht?, fragte sie. Aber er wollte jetzt nicht wetten, er wollte in den Stadtpark gehen. Vom unteren Stockwerk war ein gleichmäßiges Wischen zu hören.

Ich habe nichts gegen Afrikaner, sagte er. Er war den beiden schon öfter begegnet, wenn sie das Stiegenhaus reinigten, und er hatte jedes Mal die Schultern bedauernd hochgezogen wegen der Abdrücke, die seine Schuhsohlen auf den nassen Stufen hinterließen. Aber wahrscheinlich war es ihnen gleichgültig, dass jemand über die nassen Stufen ging. Sie waren Angestellte eines Putzinstituts, so etwas wie Hausmeisterehre kannten sie nicht.

Bei Frau Lischka war das anders gewesen. Frau Lischka, das war lange her, damals hatte er noch kurze Hosen getragen – echte kurze Hosen, keine Bermudashorts –, und es war in dem großen alten Mietshaus gewesen, in dem er mit seinen Eltern gewohnt hatte. Jeden Freitag war Frau Lischka mit ihrem Kübel bis zum Dachboden hochgestiegen. Sie atmete schwer, und das Geländer ächzte, wenn sie sich darauf abstützte. Von oben nach unten wischte sie die Stiegen mit einem Putzlumpen, der so grau war wie das Wasser in ihrem Blechkübel. Keiner der Hausbewohner wagte sich aus seiner Wohnung, wenn Frau Lischka sich mit ihrem Kübel langsam von Stockwerk zu Stockwerk bis zum Erdgeschoss hinunterarbeitete. Herbert stand immer hinter der Wohnungstür und wartete, bis im Parterre die Tür der Hausmeisterin endlich ins Schloss fiel. Dann schlich er am Rand des feuchten Flurs entlang zu den Treppen, hielt inne beim leisesten Geräusch und rutschte dann über den Messinghandlauf hinunter. Vor der Statue des heiligen Antonius, die in einer eingemauerten Nische stand, schlug er rasch das Kreuzzeichen. Lass bloß Frau Lischka jetzt nicht rauskommen, betete er im Vorüberrutschen, und wenn er endlich auf der Straße stand, atmete er auf. Sie mochte das nicht, dass man über ihre frisch gewaschenen Treppen ging, aber noch weniger mochte sie, dass man sich auf den glänzend polierten Messinghandlauf setzte. Einmal stand sie plötzlich am Treppenabsatz, und er konnte nicht mehr bremsen und rutschte direkt in die gelben Blumen auf ihrer blauen Schürze hinein. Sie fielen beide hin, und als sie wieder hochgekommen waren, holte die Hausmeisterin aus und gab ihm eine Ohrfeige, die noch eine ganze Weile auf seiner Wange brannte. Vor Frau Lischka musste man sich in Acht nehmen. Sie wusste über jeden etwas. Sie wusste, dass Frau Stangl vom ersten Stock beim Krämer hatte anschreiben lassen oder dass der Friseur vom dritten Stock wieder betrunken heimgekommen war. Sie wusste, dass Herbert sich Schokolade übers Hemd gegossen hatte, und dass seine Hosentaschen ewig von Himbeerbonbons verklebt waren, wusste sie auch. Über Herbert wusste sie überhaupt alles, denn jeden Monat wusch sie die große Wäsche für seine Mutter. Einen ganzen Tag lang stand sie in der dampfenden Waschküche hinter einem hölzernen Trog, der mit Seifenlauge gefüllt war, und sie schleuderte mit ihren kräftigen Armen die Wäschestücke auf dem Waschbrett rauf und runter. Jedes Mal klagte die Mutter dem Vater, dass die Frau Lischka viel zu viel Seife verbrauchen würde. Aber der Vater schwieg und zog seine Zeitung höher vors Gesicht. Nicht einmal er hätte gewagt, Mutters Klage bei Frau Lischka vorzubringen, obwohl sich der Vater sonst vor niemandem fürchtete.

Früher war das anders, sagte Frau Kramer jetzt. Erinnern Sie sich, als wir den Swoboda noch hatten? Irgendwie persönlicher ist das gewesen.

Sie meinen, der Swoboda hat die Stiegen persönlicher gewischt?, fragte Herbert.

Mit dem Swoboda konnte man reden, sagte Frau Kramer. Er hat mir immer zum Geburtstag gratuliert und einmal hat er mir sogar eine Lampe aufgehängt. Der war nicht nur ein Hausmeister, der war auch ein Mensch, verstehen Sie?

Wahrscheinlich würden Ihnen die Afrikaner auch zum Geburtstag gratulieren, wenn sie wüssten, wann Sie ihn haben, sagte Herbert.

Sie würden mir nie gratulieren, weil das Putzinstitut immer wieder andere Afrikaner zum Putzen herschickt.

Ich glaube, Ihr Gulasch brennt an, sagte Herbert, der noch nie daran gedacht hatte, dass es vielleicht immer wieder andere Afrikaner waren, die ins Haus kamen, um die Stiegen zu wischen. Außerdem musste er jetzt in den Stadtpark, Rudolf saß bestimmt schon auf der Bank und fütterte die Spatzen. Und während Frau Kramer in ihre Küche lief, um in ihrem Gulasch herumzurühren, ging Herbert auf Zehenspitzen die Treppen hinunter, zog bedauernd die Schultern hoch, als er an den beiden Afrikanern vorbei kam, und dachte, dass es bestimmt dieselben waren, die schon letzte Woche das Haus gewischt hatten.

Herbert geht in den Stadtpark

Schon von weitem sah er die alte Frau, die ihm in der Birkenallee entgegenkam. Die Frau ging mit kleinen Schritten und stützte sich dabei auf eine fahrbare Gehhilfe, die sich gleichzeitig mit ihr vorwärts bewegte. So alt sollte man nicht werden, dachte Herbert, dass man auf eine Gehhilfe angewiesen war. Einige junge Burschen mit erhitzten Gesichtern kamen vom Fußballfeld gelaufen und überholten die Frau.

Sie, rief sie den Burschen zu, die sofort stehen blieben und sich umdrehten.

Ich habe am Radio gehört, sagte sie, dass Männer, die kurze Hosen tragen, Prostata kriegen. Die Burschen lachten verlegen und sahen an ihren Beinen hinab, und auch Herbert sah auf seine nackten Waden hinunter.

Und die Frauen Brustkrebs, sagte die alte Frau. Dabei legte sie den Kopf zur Seite, als wolle sie ihn auf ihre Achsel fallen lassen oder als wolle sie selbst besser hören, was sie eben gesagt hatte.

Die sagen viel am Radio, antwortete einer der Fußballspieler halb an die Frau, halb an seine Kameraden gewandt.

Herbert, der nun auf gleicher Höhe mit ihr war, versuchte, ungesehen hinter der Frau vorbeizuschleichen.

Sie!, rief sie, als er knapp an ihr vorüber war. Er tat, als hätte er sie nicht gehört, und ging weiter, und auch die Burschen nützten die Gelegenheit, um weiterzugehen, so dass sie nun alleine dastand, die Hände auf das Fahrgestell, den Kopf auf die Seite gelegt.

Herbert und Rudolf im Stadtpark

Sie saßen auf einer Bank im Schatten einer Kastanie und schauten aufs Wasser.

Merkwürdig, sagte Herbert, dass so ein Fluss dauernd fließt.

Wenn er nicht fließen würde, wäre es kein Fluss, sagte Rudolf, es wäre ein Teich oder ein See. Er zupfte Krumen aus dem weißen Inneren einer Semmel. Ein Spatz flog heran, ein zweiter, dann waren es zehn oder fünfzehn. Rudolf lächelte, als sich die kleinen Vögel um seine Füße scharten.

Aber dass das Wasser immer gleich fließt, sagte Herbert, immer spritzt es an derselben Stelle hoch, stülpt sich eine Welle über einen Stein. Nie macht das Wasser eine Pause.

So ist das eben, sagte Rudolf und bohrte seinen Finger tiefer in die Semmel.

Und wie viel Zeit das Wasser hat, sagte Herbert.

Wie kommst du auf den Gedanken, das Wasser hätte Zeit? Das Wasser weiß überhaupt nicht, was Zeit bedeutet. Rudolf schüttelte den Kopf, ich finde eher, Flüsse machen einen hektischen Eindruck mit ihrer fortwährenden Bewegung.

Herbert beobachtete den Finger, der hartnäckig in der Semmel herumwühlte.

Siehst du den Spatz, der neben meiner linken Fußspitze sitzt? Wie der sich dauernd putzt, bemerkte Rudolf.

Vielleicht ein Weibchen, sagte Herbert.

Wahrscheinlich, sagte Rudolf, obwohl sich das Geschlecht von Vögeln ziemlich schwer bestimmen lässt.

Seit wann trägst du kurze Hosen?, fragte er, nachdem sie wieder eine Weile geschwiegen hatten.

Schon immer, sagte Herbert. Ich habe bereits als kleiner Junge kurze Hosen getragen. Ich hatte sogar mal eine Tiroler Lederhose mit Hosenträgern und einem Hosenladen, den man rauf- und runterklappen konnte.

Sie sehen ein wenig wie Spielhöschen aus, meinte Rudolf und betrachtete Herberts Knie.

Meine Sommerhose hat einen Fleck, wenn du es genau wissen willst. Herbert wollte jetzt über Wichtigeres reden. Hast du gelesen, dass sie die Renten kürzen wollen?, fragte er.

Du brauchst eine Frau, sagte Rudolf.

Fang nicht wieder damit an. Ich brauche keine Frau, höchstens eine Putzfrau. Aber wenn sie uns die Renten kürzen, werde ich mir eine Putzfrau nicht leisten können. Das sage nicht nur ich, sagte Herbert, das betrifft auch eine Bekannte von mir, die ebenfalls eine Putzfrau bräuchte.

Du und deine Bekanntschaften, sagte Rudolf und fuhr fort, Edith hat eine Freundin, eine Ungarin, die –

Danke, ich bin nicht interessiert, unterbrach ihn Herbert, denn die Liste von Ediths unbemannten Freundinnen war ohne Ende.

Es ist schön, wenn man weiß, zu wem man gehört, versicherte Rudolf und zog an seinem Krawattenknopf.

Erzählst du mir deshalb alle paar Wochen, dass du dich von Edith scheiden lassen möchtest?

Das sagt man so, wenn man verstimmt ist. Rudolf riss die leere Semmelhülle auseinander und begann auch diese zu zerzupfen, man sagt es, aber es ist ohne Bedeutung. Als von der Semmel nichts mehr übrig war, zog er wieder an seinem Krawattenknopf.

Wenn er nur nicht so entsetzlich spießig wäre, dachte Herbert, und Rudolf dachte in diesem Augenblick Ähnliches von sich selbst, denn eigentlich hätte er seine Krawatte lieber abgenommen. Eigentlich hätte er an einem Hitzetag wie diesem gar keine Krawatte umbinden sollen. Wahrscheinlich tat er es, weil früher alle seine Kunden Krawatten getragen hatten. Die Kunden, die hinter ihren Schreibtischen saßen, während er ihre Telefone angeschlossen, umgeleitet, repariert oder ausgetauscht hatte. Er tat dies im blauen Arbeitsmantel ohne Krawatte. Er hatte sie nur sonntags umgebunden, zu seinem Anzug, dem guten, den er trug, wenn er mit Edith essen ging. Obwohl er nur diesen einen Anzug hatte, sprach Edith immer von seinem guten Anzug. Sie bestand darauf, dass er ihn möglichst oft trug, es hätte sich sonst nicht gelohnt, dass er ihn damals gekauft hatte, als er zur Beförderung seines Chefs eingeladen gewesen war. Sie hatten sogar ein Theaterabonnement erwogen, um den Anzug regelmäßig auszuführen. Aber als sie einmal ins Theater gegangen waren, als Probelauf sozusagen, waren sie in ein modernes Stück geraten, ein sehr modernes Stück. Eine der Schauspielerinnen lag den ganzen Abend in einer Badewanne auf der Bühne, und Rudolf meinte, die müsse am Ende der Vorstellung entsetzlich schrumplige Haut gehabt haben. Da hatte Edith beschlossen, für so etwas würden sie ihr Geld nicht ausgeben, Anzug hin oder her. Rudolf trug also seinen Anzug nur sonntags oder an festlichen Anlässen, an Beerdigungen, oder wenn er zum Zahnarzt musste. Die Krawatte hingegen band er immer um, bevor er die Wohnung verließ. Ohne Krawatte wäre er sich vorgekommen wie eine Frau, die in Lockenwicklern in die Stadt ging.

Hast du noch Zeit für ein Bier?, fragte Herbert.

Ich kann nicht, wir haben Wäsche heute, sagte Rudolf und stand auf, vielleicht nächste Woche.

Also dann, sagte Herbert.

Bis Dienstag, sagte Rudolf. Dann ging ein jeder in seiner Richtung davon.

Leo

Für ein Bier wäre wirklich noch Zeit gewesen, dachte Herbert, als er zu seiner Wohnung zurückging, aber Rudolf hatte seine Prinzipien. Wenn Leo noch leben würde – mit dem war immer etwas los gewesen.

Jeden Samstagabend hatte er vor der Tür gestanden. Frisch rasiert, Jackett ausgebürstet, eine Schachtel Pariser in der Tasche. Über den kahlen Stellen festgesprayt lag Leos Resthaar. Er litt unter seiner beginnenden Glatze. Es war im Kopf. Leo träumte von Traumfrauen. Die sich von ihm abwandten. Seiner Glatze wegen, die sich nicht verdecken ließ, höchstens überbrücken.

Ohne Herbert wäre Leo nicht ausgegangen am Samstagabend. Herbert hatte volles Haar. Leicht gewellt. Und starke Backenmuskeln. Mit Herbert konnte man sich sehen lassen.