Herr Freytag und Miss Kafka retten die Welt - Philipp Multhaupt - E-Book

Herr Freytag und Miss Kafka retten die Welt E-Book

Philipp Multhaupt

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Beschreibung

Am Stadtrand steht ein alter Wasserturm. Herr Freytag wohnt im zweiten Stock, im Keller der Hausmeister Scardanelli, mit dem er manchmal über die Welt oder die Poesie spricht, und unter dem Dach eine amerikanische Studentin, die kaum in Erscheinung tritt. Tagsüber sitzt Herr Freytag in seinem Antiquariat, liest in altehrwürdigen Klassikern von längst vergangenen Abenteuern, von Räubern und Gräfinnen, von Schätzen und ihren Bewahrern, während das wahre Leben eher an ihm vorbei zieht. Doch das ändert sich schlagartig, als eines Abends die Amerikanerin wortwörtlich durch die Decke in sein Leben stürzt. Und das ist erst der Anfang, denn die junge Frau will die Welt retten. Gemeinsam mit Herrn Freytag. Eine wahrlich schöne Geschichte über Erinnerungen und Erwartungen, über die Jugend und das Alter, über Träume und Einsamkeit, fremde Sprachen und vergessene Bücher.

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periplaneta

PHILIPP MULTHAUPT: Herr Freytag und Miss Kafka retten die Welt. Eine Heißluftballonräubergeschichte mit Schaf.

1. Auflage, Juni 2020, Periplaneta Berlin, Edition Drachenfliege © 2020 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags. Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Lektorat: Sarah Strehle Cover: Nicole Altenhoff Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-140-0 epub ISBN: 978-3-95996-141-7

Philipp Multhaupt

Herr Freytag und Miss Kafka retten die Welt

Eine Heißluftballonräubergeschichte mit Schaf

periplaneta

Das erste Kapitel

Stellt Herrn Freytag vor, den Helden dieser Geschichte; behandelt manches, worüber er Bescheid weiß, vieles, worüber er sich wundert, und ist überhaupt ganz verdächtig harmlos.

Der alte Wasserturm stand am Stadtrand von Mabonagrin, in der Nähe längst stillgelegter Eisenbahnschienen, die nach Gottweißwohin führte, und auch der Wasserturm war schon lange kein Wasserturm mehr, sondern ein Wohnturm. Herr Freytag wohnte im zweiten Stock und Scardanelli im Keller und unter dem Dach wohnte die Amerikanerin, aber man begegnete ihr nie, sodass sie in der Vorstellung ihrer Hausgenossen mehr Mondschein als Mensch blieb.

Herr Freytag und Scardanelli begegneten sich dagegen häufiger, und sie waren so etwas wie Freunde. In Scardanellis Fall verwunderte das nicht allzu sehr; für ihn war es einfacher, mit der ganzen Welt Freundschaft zu schließen, als sie in Freunde und Feinde einzuteilen und beständig abwägen zu müssen, wer nach neuesten Erkenntnissen zu welchem Lager gehörte.

Die Beziehungen, die Herr Freytag zu seinen Mitmenschen unterhielt, waren dagegen meist weder feindlicher noch freundlicher Natur, sondern spielten sich irgendwo dazwischen ab. Für die Menschen auf den Straßen der Stadt jedenfalls, denen in jedem belanglosen Gespräch, in jedem schwachen Händedruck der bedauerliche Makel des Wirklichseins anhaftete, hatte er nicht viel übrig. Herr Freytag war Inhaber der Buchhandlung Alter Kaiser, einem kleinen Laden in der Mabonagriner Altstadt, der sich über die Jahre schleichend in ein Antiquariat verwandelt hatte. Die Geschäfte gingen mäßig, was daran liegen mochte, dass Herr Freytag daran festhielt, das Sortiment nach seinen eigenen Vorlieben statt denen seiner Kunden zu gestalten. Er führte jetzt kaum noch zeitgenössische Literatur, weil er der unumstößlichen Überzeugung war, dass das Buch seine besseren Tage längst hinter sich hatte. Die Buchbinder der Gegenwart waren keine Künstler mehr, sie stellten leblose Gebrauchsgegenstände her, uniforme Pappeinbände unter hässlichen Schutzumschlägen und nach Chlor stinkende Taschenbuchquader, deren Rücken die sinnliche Rundung eines gebundenen Buches fehlte. Es gab keine Ledereinbände mehr und kaum noch solche aus Leinen, und es gab keine Ornamente. Herr Freytag vermisste die wirbelsäulenartigen Buchrücken mit ihren vorstehenden Bünden, er vermisste die goldgeprägten Titel, die Lesebändchen und die farbigen Schnitte, die marmorierten Vorsätze, die arabesken Pflanzenranken und geheimnisvollen Symbole auf Rücken und Einband, die ihm jedes alte Buch zum Zauberbuch gemacht hatten, als er noch Kind war.

Außerdem, da war er sich sicher, waren die alten Geschichten die besten; die, in denen es Gut und Böse noch gab, einen Anfang und ein Ende. Heutzutage nahmen es die Leute zu genau mit der Wirklichkeit, um gute Geschichtenerzähler sein zu können, und es gab keine Poeten mehr, nur noch Schriftsteller. Erfundene Romanhelden mussten sprechen wie im wirklichen Leben, sie durften nicht »Ach!« sagen oder »Weh mir!« Sie durften ihre Gewissensqualen nicht in Blankverse fassen, ihre Geliebte nicht mit einem Sommertag vergleichen oder über die grünäugige Eifersucht klagen. Sie durften keine wortgewaltigen Reden halten und keine leidenschaftlichen Liebeserklärungen machen, sie mussten stottern und stammeln und radebrechen wie jeder normale Mensch, und Herr Freytag verstand nicht, wozu man sie dann überhaupt erfinden musste. In seinen Laden jedenfalls ließ er solche fragwürdigen Helden nicht herein. In seinem Laden gab es Drachentöter und Balladensänger, da wurden Geschichten erzählt, die Sprache aus ihrem Alltagsgefängnis befreit – und wer eintrat, ließ die Wirklichkeit, überhaupt ein ganz albernes Wort, vor der Ladentür zurück.

Wenn man Freunde hat, weiß man einiges über sie, aber man weiß nicht alles, und manchmal ist das, was man weiß, nicht einmal das Wichtigste. Von Scardanelli wusste Herr Freytag drei Dinge. Dazu gehörte, dass der Hausmeister jeden Abend in seiner kleinen Kammer neben dem Heizkeller saß und Gedichte schrieb. Herr Freytag kannte keines dieser Gedichte, aber er fühlte sich geehrt genug, Kenntnis von ihnen zu haben. In einer Welt, in der das geschriebene Wort Hinweistafeln und Geschäftsbriefen vorbehalten war, waren Gedichte immer ein Geheimnis, und wen man über ein Geheimnis in Kenntnis setzte, dem zeigte man, dass man ihm vertraute und ihn wertschätzte.

Scardanelli hatte Herrn Freytag eines Abends im Hausflur eingeweiht, den er die Turmhalle zu nennen beharrte, obwohl es das Wort weder im Deutschen noch im Italienischen gab, aber vernünftige Einwände gegen seinen Gebrauch gab es schließlich ebensowenig, und hatte in solchen Fällen nicht schon Shakespeare, und sowieso, und überhaupt. Herr Freytag war gerade von der Arbeit gekommen und Scardanelli, in Ausübung seiner Hausmeisterpflichten (die natürlich vielmehr Turmhüterpflichten waren), hatte auf der obersten Stufe der Kellertreppe gestanden und ihn freundlich begrüßt. Scardanellis Begrüßungen endeten in der Regel auf ein Fragezeichen.

»Kennste du Schiller?«, hatte er gefragt. »Goethe? Conosci?«

Herr Freytag hatte genickt. »Gut sogar. Beinah persönlich.«

Ernst hatte Scardanelli sein Nicken erwidert, als seien sie gemeinsame Mitwisser einer literarischen Verschwörung. »Sono poeti. Wie sagt man auf Deutsch? Habe ich den ganze Tag überlegt, aber bin ich nicht eingefallen.«

»Dichter«, hatte Herr Freytag gesagt.

»Ah, si«, hatte Scardanelli entgegnet, zufrieden, das vergessene Wort zurückerobert zu haben. »Bin ich auch Dichter. Bin ich nicht gut wie Goethe, aber bin ich bald besser wie Schiller.«

Und er hatte auf dem Absatz kehrtgemacht und war ohne ein weiteres Wort die Kellertreppe heruntergestiegen, um seinen Pflichten nachzukommen, der des Turmhüters oder der des Dichters, die in ihren grundlegenden Anforderungen dieselben sind. Er wohnte mietfrei und bezog ein bescheidenes Gehalt für die Instandhaltung des Turms, zu der sich die Grauerin auf ihre alten Tage nicht länger selbst befähigt sah. Als Herr Freytag vor einigen Jahren eingezogen war, war Scardanelli schon da gewesen. Was ihn und die Grauerin verband, wie ihr Abkommen einst zustande gekommen war, wusste er nicht; aber sie mussten wohl alte Bekannte sein, auch wenn Scardanelli um einiges jünger war als sie.

Das Dichterbekenntnis im Hausflur hatte Herr Freytag damals erst später am Abend in seiner ganzen Größe erfasst. Es war längst dunkel gewesen, die Amerikanerin im Zimmer über ihm hatte Musik gespielt und Herr Freytag hatte in seiner kleinen Wohnung beim Abendbrot gesessen, als es ihm plötzlich bedeutungsschwer aufgegangen war: Scardanelli war ein Poet.

»Ich möchte wissen«, hatte Herr Freytag laut ins Zimmer hineingesagt, denn in den vielen Jahren, in denen sonst niemand da gewesen war, hatte er die durchaus nicht ehrrührige Angewohnheit angenommen, mit sich selbst zu sprechen; »ich möchte wissen, was er wohl für Gedichte schreibt.«

Und seitdem versuchte er, es sich vorzustellen. Ganz vergeblich natürlich. Aber er fand solches Vergnügen daran, dass er seine Bemühungen nicht einstellen mochte. Fragen wollte er Scardanelli freilich nicht. Wenn sie sich unterhielten, dann niemals über sein Dichterhandwerk. Ein Dichter, fand Herr Freytag, soll dichten und nicht schwätzen, und er wollte Scardanelli nicht zu Verhaltensweisen verleiten, die seiner Poesie zum Nachteil gereichen konnten. Wenn sie sprachen, dann meist über ganz prosaische Dinge. Das Wetter zum Beispiel, oder was in der Zeitung stand, oder das tägliche Brot.

So hatte Herr Freytag die zweite Sache in Erfahrung gebracht, die er über Scardanelli wusste: Dass nämlich eine Hauptanforderung seines Berufes darin bestand, den ständig überfluteten Fußboden des Heizkellers einigermaßen trocken zu halten. Der Heizkessel leckte schon seit Jahren, aber die alte Grauerin konnte sich von ihrer kleinen Rente eine Reparatur nicht leisten, oder sie wollte nicht.

»Da muss man was tun«, sagte sie jedes Mal, wenn man sie auf den Missstand ansprach oder wenn sie ihn selbst zur Sprache brachte. »Aber das Geld muss ja da sein.« Und damit war das Thema erledigt. Wahrscheinlich hatte das Leck im Kessel sie über die Jahre mehr Geld gekostet als eine Reparatur. Aber sie war stur, die Grauerin, sie rechnete nach ihrer eigenen Mathematik, und Handwerker mochte sie sowieso nicht.

Dennoch blieb sie angesichts der finanziellen Notlage nicht untätig; sie spielte Lotto. Herr Freytag musste ihr jeden Montag einen Schein aus dem Tabakladen gegenüber vom Alten Kaiser mitbringen und gab ihn, nachdem sie ihn ausgefüllt hatte, am Dienstag wieder dort ab. Wo sie ihre Kreuze setzte, das unterlag strenger Geheimhaltung.

»Dass Sie mir ja nicht auf die Zahlen linsen, Herr Freytag!«, mahnte sie jeden Dienstagmorgen, und Herr Freytag linste nie auf die Zahlen; das wusste die Grauerin, und wenn sie auch offenes Misstrauen bekundete, im Stillen vertraute sie ihm. Gewonnen hatte sie noch nie etwas, aber davon ließ sie sich nicht entmutigen. Eine wie die Grauerin hoffte nicht auf ihr Glück, sie plante es, sie war sich sicher, dass sie eines Tages gewinnen musste, und dann würden bessere Zeiten anbrechen im Wasserturm, eine goldene Ära.

Solange allerdings diese Ära noch auf sich warten ließ, tropfte das Wasser langsam, aber stetig aus dem Kessel, verteilte sich über den Boden und musste in regelmäßigen Abständen mit einem Aufnehmer gebändigt werden, damit der Keller nicht überflutet wurde. Das zu verhindern lag in Scardanellis eigenem Interesse, schließlich grenzte die kleine Kammer, in der er wohnte und seine Gedichte schrieb, direkt an den Heizkeller, und bei Vernachlässigung seiner Pflichten wäre er unweigerlich der Erste im Haus mit nassen Füßen gewesen. Also wischte er und beschwerte sich nicht, denn es war eine wichtige, nützliche Aufgabe, die nicht weniger als die Dichtkunst dem Allgemeinwohl diente. Dreimal am Tag zog er seine gelben Gummistiefel an, griff zum Aufnehmer und machte sich an die Arbeit, und jedes Mal pfiff er dabei das gleiche Lied vor sich hin, eine Melodie, die Herrn Freytag vage bekannt vorkam, die er aber nicht zu benennen vermochte. Sie klang nach vergessenen Erinnerungen und brachte Bilder aus einer verlorenen Kindheit noch vor der Geburt zurück. Aber die Grenze zur mystischen Erfahrung überschritt Herr Freytag bei allem poetischen Empfinden nie ganz, wenn er den Turmhüter sein Arbeitslied pfeifen hörte. Spätestens bei der dritten Wiederholung nämlich begann ihm die ewig gleiche Tonfolge mit verlässlicher Ernüchterung auf die Nerven zu gehen.

Und noch ein Drittes wusste Herr Freytag über Scardanelli: Obgleich er allein wohnte, nie Besuch bekam und selten ausging, war er ein ausgiebig verwandtschafteter und bekanntschafteter Mann. Nach eigenen Angaben hatte er eine Frau gehabt (von der er inzwischen getrennt lebte); er hatte sechs Brüder und ungefähr vierzehn Kusinen sowie eine Großmama mütterlicherseits (oder väterlicherseits, das konnte je nach Erzählung wechseln), die sich noch bester Gesundheit erfreute. Ferner zwei Großväter, eine Anzahl von Onkeln, über die er sich nie ganz sicher war, die sich aber seinen Schilderungen nach auch schwer auseinanderhalten ließen, weil sie alle dick waren und Zigarren rauchten. Mitunter berichtete er gar im Flüsterton von der einen oder anderen Geliebten. All diese Verwandt-, Bekannt-, Lieb- und Damschaften aber lebten noch in Italien; er allein hatte sich auf die abenteuerliche Reise nach Germanien begeben, von der zu erzählen er nie müde wurde.

Es war einer der Anlässe, die ihn geschwätzig werden ließen. Stürme und Seeungeheuer und Taschendiebe tummelten sich in diesen Erzählungen, böse Kapitäne und gutherzige Maschinisten, und Herr Freytag nahm an, dass nicht ein Wort stimmte, aber er hörte trotzdem gern zu, vielleicht umso lieber. Er hatte dann immer den Stummfilm vor Augen, in dem ein kleiner Landstreicher auf einem wackligen Frachter ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten einreist – nur dass er sich anstelle des würdevoll watschelnden Einwanderers in weiten Hosen und mit schwingendem Spazierstock einen leicht schwankenden Scardanelli in Gummistiefeln und mit einem Aufnehmer in der Hand vorstellte. Dass es ein Stummfilm war, tat der poetischen Wahrscheinlichkeit dieser Vorstellung nicht unbedingt Abbruch. Scardanellis Veranlagung zum Schwätzen hielt sich für gewöhnlich in Grenzen, und er sprach nur, wenn er der Meinung war, dass es sein musste. Geschichten mussten erzählt, Fragen gestellt und Antworten nicht immer, aber doch manchmal gegeben werden. Alles andere war verzichtbar. Auf diese einfache Formel schienen sich – Herrn Freytags Erfahrung nach – die Gesetzmäßigkeiten seiner Konversationsbereitschaft reduzieren zu lassen.

Das also waren die drei Dinge, die der Buchhändler von Scardanelli wusste, und nach mehr fragte er nicht. Von der Amerikanerin wusste er gleichfalls drei Dinge, aber anders als in Scardanellis Fall konnte er trotzdem nicht sagen, wer sie war, denn dafür waren es nicht die drei richtigen Dinge. Er wusste, dass sie Studentin war und Amerikanerin eben, aus Amerika, und dass sie irgendwann im Frühjahr das kleine Dachzimmer über seiner Wohnung bezogen hatte, ohne dass er sie beim Einzug zu Gesicht bekommen hatte. Die Grauerin hatte es ihm erzählt, das war alles.

Auch später hatte er sie nie gesehen. Gelegentlich hörte er ihre Schritte auf der Treppe, zu merkwürdigen Zeiten, und manchmal drang nachts Musik aus ihrer Wohnung, sehnsüchtige Geigenmelodien, Klavierstücke wie fallender Regen, manchmal heller, manchmal dunkler Gesang. Dann versuchte er sich vorzustellen, wie sie aussehen mochte. Er war sich inzwischen ziemlich sicher, dass sie kurzes schwarzes Haar hatte und zierliche Handgelenke und Augen so braun wie zwei junge Kastanien, solche, die noch ganz weich waren. Aber das zählte natürlich nicht zu den Dingen, die er tatsächlich wusste, obwohl es sich manchmal so anfühlte.

Die Grauerin hielt nicht viel von ihr. »Die hockt da den ganzen Tag auf ihrer Stube und kommt nicht raus«, sagte sie misstrauisch. »Studiert man so in Amerika?«

»Vielleicht macht sie ein Fernstudium«, schlug Herr Freytag vor.

»Da braucht sie doch nicht übern großen Teich schippern für«, sagte die Grauerin, und Herr Freytag fand, dass sie Unrecht hatte, schließlich musste doch ein Studium in der Ferne für eine Amerikanerin, eine junge zumal, in jedem Fall ein Fernstudium sein, ein Fernstudium und ein Fremdstudium, und überhaupt.

»Wer hat denn gesagt, dass sie jung ist?«, fragte die Grauerin.

»Na ja«, sagte Herr Freitag, kratzte sich am Kopf, obwohl es ihn gar nicht juckte, und wusste nicht, warum er sich schämte. »Wo sie doch studiert.«

»Ach, das hat ja nichts zu sagen.« Die Grauerin winkte ab. »Studieren könnt ich auch noch, dass Sie’s wissen, und ich bin vierundsiebzig.«

»Was würden Sie denn studieren?«

»Dass ich könnte, hab ich gesagt, nicht, dass ich würde.« Die Grauerin schüttelte den Kopf. »Ist doch alles nix Gescheites, was man heutzutage studieren kann. Fernsehwissenschaft und Sexismus und alternative Erziehung und lauter so Klumpatsch. Da lernt man mehr über die Welt, wenn man beim Fenster steht und rausguckt.« Sie stand oft beim Fenster und guckte raus, die Grauerin, und nichts entging ihr.

»Aber sie ist doch jung, die Amerikanerin?«, hakte Herr Freytag nach.

»Ja, jung ist die schon«, sagte die Grauerin. »Aber nichts Besonderes, Herr Freytag, unter uns gesagt. Nichts Besonderes. Der steigen die Burschen bestimmt nicht nach.«

»Vielleicht will sie das ja auch gar nicht«, sagte Herr Freytag.

»Ha!«, sagte die Grauerin. Wenn sie lachte, konnte man es mit einem kräftigen Atemzug verwechseln oder mit einem scharfen Reizhusten oder mit einem bellenden Hund, aber Herr Freytag kannte ihre Gewohnheiten und wusste Bescheid. »Vielleicht.«

Und dann widmete sie sich ihrem Haushalt und Herr Freytag ging in seine Wohnung, um zu lesen, und die Amerikanerin saß in ihrem Zimmer und wusste von alledem nichts.

Das zweite Kapitel

Handelt von einer Schauspielerin, die von der Bühne fällt, vom stolzen Anführer der Rettungssanitäter und von einem neuen Kontinent.

Und dann also brach eines Sonntags im Juni, es war kurz nach Mitternacht, die Amerikanerin durch die hundert Jahre alte Holzdecke wie eine von der Bühne gefallene Schauspielerin und landete auf Herrn Freytags Bett. Herrn Freytag kam das, wie man sich denken kann, reichlich ungelegen. Er saß in seinem Sessel und las gerade eine Geschichte, deren Held einen erfundenen Menschen in die Wirklichkeit hinüberträumte, als es über ihm auf einmal laut knackte. Gleich darauf, noch bevor er sich wundern konnte, gaben die Holzdielen nach und in einer splitternden, polternden Gewitterwolke aus Schutt und Staub und Todesangst stürzte die Amerikanerin zu ihm herab wie ein gefallener Engel der Erde entgegen, nur schmächtiger und kleiner, und eine Frau war sie eben. Herr Freytag trug sich gewöhnlich mit Würde und Eleganz, aber auf derart brachiale Weise in einer so intimen Beschäftigung wie der des Lesens überrascht zu werden, ließ selbst ihn die Fassung verlieren. Er sprang vom Stuhl auf, dass er beinah lang hinstürzte, ließ das Buch fallen, das er in der Hand gehalten hatte, und nahm beiläufig, aber nicht ganz ohne Ärger die angestoßene Ecke wahr, die es sich im Fallen zuzog. Dann wandte er sich dem Unglück in der Mitte seines Schlafzimmers zu.

Der Lattenrost hatte dem Aufprall der Amerikanerin nicht standgehalten. Jetzt lag sie da, klein, blass und mager, die Gestalt eines Kindes. Ihr Kleid war bis über die Hüfte hochgerutscht, und Herr Freytag schämte sich, dass ihm das als Erstes auffiel. Er spürte den Drang, das Kleid zurückzuziehen, ihre Blöße zu bedecken und sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Aber er traute sich nicht, sie dort zu berühren, wo es Missverständnisse geben konnte, und außerdem war er nicht sicher, ob er ihren Körper bewegen durfte, medizinisch betrachtet. Ihr linkes Bein ragte in einem Winkel über die Bettkante, der abstrakter Mathematik besser angestanden hätte als der menschlichen Anatomie. Sie rührte sich nicht.

Vielleicht ist sie tot, dachte Herr Freytag, obwohl er versuchte, es nicht zu denken, und er erschrak ein bisschen, mehr vor dem Gedanken als vor der Möglichkeit.

Aber die Amerikanerin war nicht tot. Als er näher ans Bett trat, blickte sie mit starren, weit aufgerissenen Augen zu ihm auf, wie ein Kind, das sich wachzuhalten versucht, obwohl es von Müdigkeit überfallen wird. Ihr Blick war fiebrig.

»Wie fühlen Sie sich?«, fragte Herr Freytag.

»Falsch«, sagte sie. Ihr Mund bewegte sich kaum.

»Was ist passiert?«

Sie versuchte zu sprechen, schien es sich dann aber anders zu überlegen, verdrehte die Augen, neigte den Kopf zur Seite, übergab sich wenig graziös auf Herrn Freytags Kopfkissen und wurde ohnmächtig.

Herr Freytag hatte oft davon gelesen, aber noch nie hatte er tatsächlich jemanden in Ohnmacht fallen sehen. Er hatte es sich dramatischer vorgestellt. Hilflos stand er dabei.

»Sind Sie tot?«, fragte er im höflichsten Tonfall, dessen er noch fähig war; er fürchtete, sie könne die Frage als Beleidigung auffassen. Aber sie gab keine Antwort. Herr Freytag lief ein paar Mal im Zimmer auf und ab. Er strich in einer sinnlosen Geste das Bettlaken um die Amerikanerin herum behelfsmäßig glatt. Dann hob er das Telefon ab, hielt es einen Augenblick in der Hand und wählte die Notrufnummer.

»Feuerwehr und Rettungsdienst Mabonagrin, wo genau ist der Notfallort?«

»Was?«, rief Herr Freytag. »Nein, keine Feuerwehr, hier ist kein Feuer, einen Notarzt brauch ich.«

»Da sind Sie schon richtig. Wo genau ist der Notfallort?«

»Im alten Wasserturm«, sagte Herr Freytag. »Mein Name ist Freytag, mit Ypsilon. Hier, ähm, hier ist eine Frau durch die Decke gebrochen, die ist ganz blass, und ihr Bein ist kaputt, und sie hat mir aufs Kopfkissen gespuckt, und jetzt ist sie ohnmächtig, oder vielleicht ist sie tot, sie bewegt sich nicht mehr, und sie ist Amerikanerin.«

»Reagiert sie, wenn Sie sie ansprechen? – Herr Freytag?«

»Was soll ich denn sagen?«

»Fragen Sie, ob sie Sie hören kann.«

Er beugte sich zu ihr herunter, das Telefon noch am Ohr. »Können Sie mich hören?«, fragte er. »Können Sie mich hören?« Der Geruch ihres Erbrochenen stieg ihm in die Nase und er spürte selbst einen starken Brechreiz. Wie krieg ich das bloß da raus, dachte er, wie soll ich da heute Nacht schlafen. Er richtete sich wieder auf. »Nein, sie hört nicht.«

»Herr Freytag, wir schicken Ihnen einen Rettungswagen. Wie lautet Ihre Rückrufnummer?«

Herr Freytag überlegte. Zuerst fiel ihm seine Bankverbindung ein, dann seine Postleitzahl, dann die Telefonnummer seines Elternhauses, unter der es längst keinen Anschluss mehr gab, und endlich, als er schon in Panik war, seine eigene Nummer. Er platzte damit heraus, hastig und unverständlich, als der Mann am anderen Ende gerade die Frage wiederholte, und musste sie danach noch ein zweites Mal durchgeben. Der Mann vom Rettungsdienst bedankte sich und legte auf. Herr Freytag blieb am Telefon stehen und malte sich aus, wie die Rettungskräfte jetzt zu ihrem Wagen stürzten und sich ihrerseits ausmalten, was sie vorfinden würden. Er fragte sich, welches Bild sie sich vom Gesicht der Amerikanerin machen mochten, und von seiner Wohnung, und ob er mit seiner Vorstellung genauso falsch lag, wie sie wohl mit der ihren liegen mussten, und ob sie in ihren gegenseitigen Versuchen, sich ein Bild voneinander zu machen, irgendwo in der Mitte aufeinandertreffen mochten. Dann fiel ihm auf, dass er noch immer den Hörer umklammert hielt. Als er ihn aus der Hand legte, fühlte er sich schutzlos und ohne Verteidigung.

Zwölf Minuten wartete Herr Freytag auf den Krankenwagen. Zuerst ließ er die Amerikanerin nicht aus den Augen. Sie wachte nicht auf, aber ihre Brust hob und senkte sich regelmäßig. Dann lehnte er sich in seinem Lesesessel zurück und lauschte auf ihre Atemzüge, den Blick auf das Loch in der Decke gerichtet. Es sah aus wie der Umriss eines unbekannten Kontinents. Herr Freytag versuchte, dem Kontinent einen Namen zu geben. Dann überlegte er, wie das Mädchen auf seinem Bett eigentlich heißen mochte. Er wusste es nicht, vielleicht wusste es niemand; sie war immer nur die Amerikanerin gewesen. Schließlich, ohne dass er in einer der beiden Fragen zu einem Ergebnis gelangt wäre, hörte er ein leises Husten, vielleicht war es als Lachen gemeint, dann ein Schniefen, und als er sich von der Decke abwandte, grinste die Amerikanerin ihn mit zusammengebissenen Zähnen und feuchten Augen an. Es waren kleine, braune Kastanienaugen, genau wie in Herrn Freytags Vorstellung, und das rührte und erschreckte ihn zugleich.

»Ich will ja nicht sterben«, sagte sie. »Ich will ja gar nicht sterben.« Es klang überrascht.

Herr Freytag nickte. Das war solide, Nicken war grundsolide, da konnte man nichts falsch machen. »Sie müssen doch auch nicht sterben«, sagte er dann, obwohl er sich nicht restlos sicher war. Aber es war schließlich das, was man in diesen Situationen so sagte, was er in einer Geschichte an dieser Stelle gesagt hätte, und Geschichten hatten ihre Regeln, an die man sich als anständige Romanfigur zu halten hatte.

»Jeder muss sterben«, sagte die Amerikanerin.

»Aber Sie doch noch nicht«, sagte Herr Freytag. »Sie sind doch noch jung.«

»Beim Sterben ist jeder jung«, erwiderte sie und klang in ihrer Altersweisheit noch jünger, als sie war.

Am Fuß des Turms fuhr unterdessen mit Blaulicht, aber ohne Sirene, die Ambulanz ein. Herr Freytag unterbrach seine Aufmunterungsversuche nicht ohne eine gewisse Erleichterung, sprang auf und trat ans Fenster. Die Leute, die alles schwarzsehen, dachte er ärgerlich, haben bei dem Thema eben immer die Oberhand.

»Sehen Sie«, sagte er laut und tippte mit dem Finger gegen die Scheibe, »das sind die Rettungssanitäter. Die retten Sie jetzt.«

»Gut«, sagte sie.

Herr Freytag machte eine hilflose Verbeugung, die sich in der Hektik eher parodistisch ausnahm, seine gute Absicht aber durchaus erkennen ließ. Dann stolperte er zur Wohnungstür, stürzte in den Hausflur und eilte die Treppe hinab. Im Treppenhaus kam ihm auf halbem Weg die Rettungsmannschaft entgegen, die Grauerin musste ihnen geöffnet haben, denn sie stand im Flur und sah mit verkniffener Miene zu ihm hoch, und er erkannte unter den Sanitätern nicht ein Gesicht aus seiner Phantasie wieder.

»Herr Freytag!«, rief die Grauerin. »Vielleicht sind Sie so nett und erklären mir, was hier los ist? Die Herren halten sich ja bedeckt.« Und sie warf den Rettungssanitätern einen empörten Blick zu, während diese sich an Herrn Freytag vorbeidrängten und sich, was nur selten vorkam, von den empörten Blicken der Grauerin nicht beeindrucken ließen.

»Die Amerikanerin hat sich ein Bein gebrochen«, erklärte Herr Freytag.

»Ja so«, sagte die Grauerin und nickte. »Hat ja auch ordentlich gerummst.«

Herr Freytag nickte zurück, ganz ernst und solide, und die Grauerin schüttelte den Kopf, und sagte, »Nee, nee, du«, und bevor sie sich nach den genauen Umständen erkundigen konnte, war Herr Freytag schon dem Sanitätstross gefolgt. Als er den Rettern in ihrer rotgelben Arbeitskleidung nach oben hinterhereilte, fühlte er sich ihnen trotz seines Bademantels ebenbürtig, und obwohl sie ihn noch vor dem zweiten Stock abhängten, war er ihr stolzer Anführer.

In dieser Nacht bekam Herr Freytag nicht viel Schlaf. Nachdem die Sanitäter die Amerikanerin abtransportiert hatten, säuberte er Kopfkissen und Laken so gut er konnte mit warmem Wasser, einem Spülschwamm und etwas Seife, zog eine neue Garnitur auf – und erst dann fiel ihm ein, dass das Bett sowieso nicht mehr zu gebrauchen war.

Gegen drei Uhr früh löschte er das Licht, nahm in seinem Lesesessel Platz, legte die Füße hoch, lehnte sich zurück ... und dann saß er in der Dunkelheit und konnte nicht einschlafen. Das Loch in der Zimmerdecke war ihm jetzt unheimlich, es war wie der Eingang in ein seltsames Insektennest oder das Tor zu einer anderen Dimension, und obwohl er es besser wusste, fühlte er sich beobachtet. Er wünschte sich ein Deckbett, das er bis zum Kinn ziehen konnte, aber die Sommernacht war dafür zu heiß. Um seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, stellte er weiterführende Überlegungen zu der Amerikanerin an, die jetzt mit gebrochenem Bein im Krankenhaus lag. Sie hatte den Sanitätern ihren Namen gesagt, aber dass es ihr Name war, hatte er in seinem abwesenden Zustand erst verstanden, als die Silben längst verklungen waren, und jetzt konnte er sich nicht mehr erinnern.

Stattdessen versuchte er sich an die Melodien zu erinnern, die er nachts aus ihrer Wohnung vernommen hatte, aber er war nicht sehr musikalisch und hatte kein gutes Gedächtnis für Klänge und Tonfolgen. Als Nächstes versuchte er sich zu erinnern, wie er sich früher anhand der Musik ihr Gesicht vorgestellt hatte, als er es noch nicht kannte, aber die Vorstellung von damals war jetzt komplett von der Wirklichkeit ihrer angsterfüllten Augen, ihres hochgerutschten Kleides, überlagert. Herr Freytag starrte in die Dunkelheit, ein heilsames Mittel gegen das Durcheinander in seinem Kopf.

Wie gut sie Deutsch gesprochen hat, dachte er, man sollte es nicht für möglich halten. Aber er war fast enttäuscht, als ihm das bewusst wurde, und Amerika verlor ein wenig von der geheimnisvollen Traumpatina, die es über Jahre hinweg für ihn angenommen hatte.

Das dritte Kapitel

Ersucht den Leser um Nachsicht, dass sich seine Handlung im Krankenhaus zutragen muss; erfreulicherweise findet sich dort aber etwas Hoffnung auf die Rettung der Welt.

Als Herr Freytag am nächsten Morgen erwachte, den Kopf tief im Nacken, mit Blick auf die vertrauten, intakt gebliebenen Teile der Zimmerdecke, war er müde und verspannt und konnte sich nicht bewegen. Was ihn aufgeweckt hatte, war ein energisches Klopfen an der Wohnungstür. Er hätte es gern ignoriert, aber wer immer draußen stand, wusste, gemessen an diesem energischen Rhythmus, mit großer Wahrscheinlichkeit, dass er drinnen war, also hatte es keinen Zweck. Er erhob sich vorsichtig und ohne zu rasche Bewegungen aus dem Sessel und hielt den Kopf auf dem Weg zur Tür leicht schräg. Erst als er aufzuschließen versuchte, wurde ihm klar, dass er am vergangenen Abend gar nicht abgeschlossen hatte, nachdem die Rettungskräfte die Amerikanerin abtransportiert hatten. Er öffnete. Auf der Schwelle stand die Grauerin und sah ihn an, als sei er der alleinige Verursacher sämtlicher Missstände auf der Welt und der Erfinder des Montagmorgens sowieso.

»Guten Morgen, Frau Grauer«, sagte er.

»Guten Morgen«, erwiderte sie knapp und kam gleich zum Punkt. »Herr Freytag, Sie haben ein Loch in der Decke«, sagte sie. Es klang wie eine Redewendung, die ihm bescheinigen sollte, er sei nicht mehr im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte.

»Ja«, sagte Herr Freytag, »ich weiß.«

»Das kann so nicht bleiben. Da muss man was tun.«

Sie drängte sich an ihm vorbei ins Zimmer, mit Nachdruck, als habe er ihr den Zutritt verwehrt, und trat ihm dabei auf den Fuß; versehentlich, nahm Herr Freitag an. Kommentarlos fuhr sie mit dem Zeigefinger über die Kommode neben der Tür, die von einer dünnen Staubschicht bedeckt war, und ihr Finger hinterließ einen Streifen im Staub, der wie ein Schnitt aussah, eine Wunde, ein Weg ohne Anfang und Ende. Sie bedachte das zusammengebrochene Bett mit einem missbilligenden Blick und hob dann die Augen zur Zimmerdecke, wo sich die Umrisse des unbekannten Kontinents abzeichneten, den die Amerikanerin letzte Nacht erschlossen hatte und der immer noch seiner Benennung harrte. Sie kniff die Augen zusammen wie eine Scharfschützin und rieb sich fachkundig das Kinn.

»Ja, da muss man die Handwerker rufen«, sagte sie. Dasselbe hatte sie vor längerer Zeit bei der ersten Inaugenscheinnahme des tropfenden Heizkessels gesagt. »Aber nicht gleich. Das Geld muss ja da sein.«

»Natürlich«, stimmte Herr Freytag zu, und obwohl ihm die Aussicht wenig behagte, so lange mit einem Loch in der Decke leben zu müssen, bis das Geld da war, ließ er die Sache damit auf sich beruhen. Er war jemand, der Missstände lieber ertrug, als sich über sie zu beschweren, denn eine Beschwerde änderte in den seltensten Fällen etwas und zerstörte in den meisten nur das harmonische Miteinander. Herrn Freytag lag viel am harmonischen Miteinander, wenn ihm auch nicht sonderlich viel am Miteinander im Allgemeinen lag; aber man kam schließlich nicht drumherum und im Gegensatz zum konfliktfreudigen Miteinander ließ sich der harmonische Umgang mit anderen Menschen dankenswerterweise auf ein Minimum beschränken. Er dachte an die Amerikanerin, die mit einem Loch im Fußboden würde leben müssen, wenn sie zurückkam, und er hoffte, sie möge sich zu ihrer beider Vorteil vielleicht konfliktfreudiger im Umgang mit der Grauerin erweisen als er.

»Ja, die Amerikanerin«, sagte die Grauerin, als habe sie seine Gedanken belauscht. »Was ist denn nu mit der?«

»Liegt im Krankenhaus.«

»Freilich. Und wie lange?«

»Ich weiß nicht.«

»Sie sollten sie mal besuchen«, sagte die Grauerin. »So viel Anstand haben Sie doch.«

»Ich kenne sie ja kaum«, sagte Herr Freytag.

»Eben«, sagte die Grauerin. »Da bollert die bei Ihnen durch die Decke und Sie machen sich nicht mal die Mühe, sie kennenzulernen. Unmöglich ist das.«

»Sie will vielleicht ihre Ruhe«, sagte Herr Freytag.

»Sie müssen ja nicht gleich so bei ihr reinplatzen wie sie bei Ihnen«, sagte die Grauerin und sah auf die Armbanduhr. »Bleibt das Geschäft heute geschlossen?«

Herr Freytag schrak zusammen. Die Grauerin schüttelte den Kopf und sagte »Nee, nee, du«, und überließ ihn dann seinen hastigen Vorbereitungen, während sie sich in ihre Wohnung zurückzog und den Tee fürs zweite Frühstück aufsetzte.

Die Buchhandlung Alter Kaiser öffnete an diesem Morgen eine halbe Stunde später als sonst. Herr Freytag sorgte für gerade so viel Ordnung, wie sie ein Antiquariat vertragen kann. Er sortierte zuerst die auf dem Boden gestapelten Neuzugänge, unter denen sich auch eine besonders schöne Prachtausgabe der Abentheuer­lichen Geschichte eines französischen Heißluftballonräubers von Jean Jacques Vernaire fand. Dann nahm er am Schreibtisch Platz, der unter Büchern und Rechnungen und Quittungen und sonstigen Papieren kaum noch als solcher erkennbar war. Er versuchte zu lesen, erst in einem frühen Gedichtband von Jagomir Borga, später in den Abenteuern des Heißluftballonräubers, die er als Kind geliebt hatte und immer noch liebte. Aber er konnte sich nicht konzentrieren und verlor sich schließlich in einer Farbillustration des in der Baumkrone festsitzenden Heißluftballons, die er wohl eine Stunde lang anstarrte.

Gegen Mittag verkaufte er ein paar Romane aus der Wühlkiste. Danach machte er eine Stunde Pause und wählte in einem Bettenfachgeschäft in der Innenstadt einen neuen Lattenrost aus, zur Lieferung. Am Nachmittag betrat die zierliche alte Slawistikprofessorin den Laden, die fast jeden Nachmittag kam, und fragte nach einem vergriffenen Werk über das Frauenbild Jegor Antoniewskijs, mit dem Herr Freytag aber nicht dienen konnte. Um Punkt sechs Uhr stand er von seinem Bürostuhl auf, sperrte ab und machte sich auf den Heimweg. Ins Krankenhaus ging er nicht. Aber er hatte ein schlechtes Gewissen deswegen.

In der Turmhalle begegnete er Scardanelli, der gerade in seine Gummistiefel stieg. Neben der offenen Kellertür lehnte der Aufnehmer an der Wand. Scardanelli sah von seinen Füßen auf und lächelte Herrn Freytag zu, stopfte dann gewissenhaft und mit ernster Miene die Hosenbeine in die Stiefel, nur um sich anschließend mit demselben freundlichen Lächeln wie zuvor wiederaufzurichten. Er griff nach dem Aufnehmer und stieß ihn mit einem dumpfen Pochen wie eine Standarte auf den Holzboden.

Gleich bricht der hier auch noch ein, dachte Herr Freytag.

»Letzte Nacht«, sagte Scardanelli und stieß nach einer dramatischen Pause erneut zu.

»Ja«, sagte Herr Freytag. »Letzte Nacht.«

»Haste du geschlafen?«

»Nicht gut«, sagte Herr Freytag, »nicht viel.«

Scardanelli nickte. »Würde ich auch nicht schlafen mit eine Loch in die Decke. Durch die eine Frau ist gefallen.« Er verzog das Gesicht. »Iste zu psichologisch.«

»Und jetzt liegt sie im Krankenhaus.«

»Krankenhaus.« Wieder verzog Scardanelli das Gesicht. »Kein schöne Wort, Krankenhaus«, sagte er nach einer Weile. »Wann heiße anders, hätte die Leute weniger Angst.«

»Vielleicht besuche ich sie morgen«, sagte Herr Freytag, als sei das seine eigene Idee gewesen und wäre gar keine große Sache, als besuche er jede Woche ein rundes Dutzend Amerikanerinnen im Krankenhaus, und überhaupt.

»Musste du machen, Herr Freytag«, sagte Scardanelli und schlug zur Bekräftigung dieser Ansicht ein drittes Mal seine Turmhüterstandarte auf den Boden. »Musste du machen. Gehört sich, dass man besucht kranke Leute.«

»Ja, aber doch nur welche, die man kennt«, warf Herr Freytag ein.

»Ach«, sagte Scardanelli sehr deutsch und versuchte, dergleichen Bedenken mit einer wegwerfenden Handbewegung zu zerstreuen. »Kennen wir doch die Amerikanerin.«

»So?« Herr Freytag war nicht überzeugt. »Aber da geht es ja schon los. ‚Die Amerikanerin‘, Herr Scardanelli. Wir wissen nicht einmal, wie sie heißt.«

Scardanelli überlegte. Er wusste es wirklich nicht.

»Machte nichts«, sagte er dann und sein Gesicht hellte sich auf. »Ist sie bestimmt die einzige Amerikanerin in Krankenhaus.« Er klopfte Herrn Freytag auf die Schulter und verschwand mit seiner Turmhüterstandarte im Kellereingang.

Herr Freytag lauschte der absteigenden Tonleiter seiner Schritte auf der Treppe und wünschte sich, ein Denkmal auf einer versteckten Waldlichtung zu sein, drei Meter hoch und aus Erz, gänzlich unbelangt von alltäglichen Obliegenheiten.

Natürlich ging er auch am nächsten Tag nicht ins Krankenhaus. Er saß im Antiquariat, von zehn Uhr morgens bis sechs Uhr abends, und las in der Abentheuerlichen Geschichte eines französischen Heißluftballonräubers, obwohl er sie schon kannte. Irgendwann aber entfernten sich wie schon am Vortag seine Gedanken von der Geschichte und wanderten der Amerikanerin zu. Das war bemerkenswert, denn wenn er ein Buch las, das ihm gefiel, kam so etwas selten vor. Diesmal war es das Farbportrait der bildschönen italienischen Gräfin Calvina Calvino, das er lange Zeit musterte, ohne umzublättern. Er fragte sich, ob die Amerikanerin das Buch wohl kennen mochte und kam zu dem Schluss, dass sie es wahrscheinlich nicht kannte, weil sie eine Amerikanerin war und der Dichter ein Deutscher mit französischem Pseudonym. Aber er dachte sich, dass es ihr womöglich gefallen könnte, weil sie ihm vom jenem Schlag Mensch zu sein schien, dem Abenteuergeschichten mit Heißluftballons und italienischen Gräfinnen gefallen.