Herr Hübner und die sibirische Nachtigall - Susanne Schädlich - E-Book

Herr Hübner und die sibirische Nachtigall E-Book

Susanne Schädlich

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Beschreibung

Die Geschichte war ihr Schicksal. Erschütternd und tief bewegend - eindringlich und fesselnd erzählt: Zwei außergewöhnliche Biographien, zwei Menschen, die trotz jahrelanger Haft in den Zeiten des kalten Krieges ihren Mut und ihre Lebenskraft nicht verloren. Dresden 1948. Ein Gefängnis der Sowjetischen Militäradministration, ein Mann und eine Frau. Ihre Sprache - ein Klopfzeichen durch die Zellenwand: Dietrich Hübner, 21 Jahre alt, seit Kriegsende Mitglied der Liberaldemokratischen Partei, und Mara Jakisch, 43 Jahre alt, Operettensängerin und Filmschauspielerin. Er hat sich geschworen, für Demokratie und Freiheit zu kämpfen. Ein gefährliches Engagement. Längst hat sich die SED mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht formiert und verfolgt ihre politischen Gegner. Mara Jakischs Leben sind der Gesang und die Schauspielerei. Es zieht sie wieder auf die Bretter der großen Bühnen. Dann die Anschuldigungen: Spionage für die westlichen Besatzungsmächte. Beide werden zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt. Dietrich Hübner kommt nach Bautzen, dann nach Brandenburg-Görden, Mara Jakisch in den Gulag nach Sibirien. Der Kampf um die eigene Würde beginnt, gestärkt von der Hoffnung auf andere Zeiten.

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Seitenzahl: 213

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Susanne Schädlich

Herr Hübner und die sibirische Nachtigall

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

WidmungEr dachte, Wenn ich [...]Am Tag, wenn er [...]Mara wollte eigentlich Pianistin [...]Werner und Christa beteten [...]Zwei Posten mit Gewehren [...]Regen, dachte Mara. [...]Wenn er an die [...]Der Zug fuhr durch [...]Ein Posten in blauer [...]Die Suppe kam in [...]In einem Raum ein [...]Elf Monate war er [...]Wenn Mara nicht schlief, [...]Der Schrei kam aus [...]Anfang Januar 1953 wurden [...]Manchmal wünschte er, er [...]Mara lehnte ihr Gesicht [...]Im neuen Jahr schrieb [...]Ende September 1955 kam [...]Am 22. Juni 1956 [...]Anfang November 1956 schrieb [...]In Brandenburg-Görden verschärfte sich [...]Im April 1954 erreichte [...]Noch im Oktober 1957, [...]Seit einem Jahr schon [...]April 1955. Mara saß [...]Am 23. Oktober 1962, [...]Der letzte Brief, den [...]Keil schlug vor, einen [...]Am Morgen des 24. [...]Der Sommer wurde heiß. [...]Die Tür der Zelle [...]Am 13. Juli 1963 [...]Am 15. Juli erneute [...]Am 25. Juli 1963 [...]Mara hatte das Klavier [...]Am 15. Oktober 1963 [...]Zum Jahreswechsel erhielt Rechtsanwalt [...]Am 14. August 1964 [...]Mara strich behutsam mit [...]Am Tag nach seiner [...]Wenn Roland ihn besuchte, [...]Es ist Sommer. [...]DanksagungGlossarQuellen
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Ingeborg gewidmet

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Er dachte, Wenn ich weglaufe, erschießen sie mich gleich hier.

Die beiden russischen Männer in Zivil hatten ihn in die Mitte genommen. Sie liefen die Straße hinunter, an der Ecke parkte ein Wagen. Er mußte sich auf die Rückbank setzen. Die russischen Männer setzten sich links und rechts neben ihn.

Das Auto fuhr los, dahin, wo er wohnte. Die russischen Männer betraten die Wohnung mit ihm. In der Wohnung saß schon einer vom Kommissariat 5. Die Politische Polizei mit den Eltern am Tisch in der Küche.

Das Messer, mit dem seine Mutter Kartoffeln geschält hatte, lag neben Schalen auf Zeitungspapier und ungeschälten Kartoffeln. Es waren drei.

Vater und Mutter sahen ihn an, Angst in den Augen.

Stumme Sätze flogen hin und her.

Mein Junge!

Alles wird gut, Mutter.

Mein Sohn!

Vater, es wird sich aufklären.

Die russischen Männer gingen durch die Wohnung, nahmen Bücher aus dem Bücherschrank und packten sie in einen Karton, nahmen Papiere aus seinem Schreibtisch und steckten sie in eine Aktentasche. Danach kamen sie zurück in die Küche.

Sein Vater erhob sich, beide Hände auf den Tisch gestützt. Langsam, doch nicht, weil die Prothese ihm das Gehen erschwerte, ging er zum Fenster und blickte hinaus.

Als er mit den russischen Männern und dem Mann von der Politischen Polizei die Wohnung verließ, hörte er die Stimme seines Vaters, »Nun lasset alle Hoffnung fahren.«

 

Er mußte in den Wagen steigen, der vor der Haustür geparkt war. Die russischen Männer setzten sich wieder neben ihn, links und rechts, der eine die Aktentasche mit den Papieren auf den Knien, der andere den Karton mit den Büchern.

Der Wagen fuhr an, hinter den Gardinen des Küchenfensters sah er Vater und Mutter.

Er wußte nicht, ob er Angst haben sollte. Er hatte Angst.

Er wußte nicht, ob er gleichgültig sein sollte. Er war gleichgültig.

Die Zunge klebte am Gaumen, die Hände waren feucht, gefaltet in seinem Schoß.

Alltäglichkeiten rasten vorbei, von denen er erst viel später wissen würde, daß sie sich ihm in sein Hirn gebrannt hatten.

Er sah die Südvorstadt, das Bayerische Viertel. Zerbombte Villengegend. Baumlos fast. Er sah die Technische Universität. Das Landgericht am Münchner Platz.

Der Wagen hielt.

In lauter Sprache der Befehl: Aussteigen.

Die zwei russischen Männer in Zivil schoben ihn in das Gebäude, übergaben ihn zwei russischen Männern in Uniform, die packten ihn links und rechts am Arm. In zügigem Schritt ging es eine Treppe hinunter. Halt vor einer Tür. Er sollte die Schnürsenkel aus den Schuhen ziehen. Den Gürtel abgeben.

Der eine sagte, »Nix klopfen. Nix sprechen.«

Der andere sagte, »Nix liegen. Nix schlafen.«

Er hörte den Schlüssel im Schloß, das Verhallen von Schritten.

Er stand in einer Zelle.

Er blickte in das Licht der Glühbirne an der Decke.

Er blickte zu dem offenen Kübel.

Er dachte, Ruth wartet doch auf mich.

Er sah Strohmatten auf den Holzpritschen.

Er dachte, Es muß ein Irrtum sein.

Er sah die Blende vor dem Fenster.

Er dachte, Heute ist Dienstag, der 13. Juli 1948.

Er sah die Risse in den Wänden.

Er dachte, Morgen lassen die mich wieder gehen.

 

Am Morgen gaben sie ihm ein Stück Brot und einen Becher heißes Wasser.

Mittags eine Schüssel mit einer Suppe aus Wasser.

Abends nichts.

Die Glühbirne an der Decke blieb an.

Am Donnerstagmorgen gaben sie ihm ein Stück Brot und einen Becher heißes Wasser.

Mittags eine Schüssel mit einer Suppe aus Wasser.

Der Posten sagte kein Wort.

Hinlegen erst am Abend. Also lief er. Entlang den Wänden, die ihm Felsen wurden, unter der Glühbirne, die ihm die Sonne war.

Am Freitag, am 16. Juli, holten sie ihn.

Treppen hoch. Der Posten trieb ihn an, dawai, bis zu einem Zimmer. Im Zimmer ein Schreibtisch. An der Wand hinter dem Schreibtisch ein Bild von Stalin. Hinter dem Schreibtisch unter dem Bild von Stalin ein Offizier. Neben ihm, stehend, ein Mann in Zivil. An den Stirnseiten des Schreibtisches zwei in Uniform. Vor dem Tisch ein Stuhl.

Setzen. Mit dem Gesäß auf der Stuhlkante. Nicht anlehnen. Die Hände auf die Knie gestützt. Rücken gerade.

»Name?« sagte der Offizier.

Er sagte seinen Namen. Hübner. Dietrich.

Der Offizier blätterte in Papieren.

»Kleine Spion?« sagte der Offizier.

Er schüttelte den Kopf.

»Dann große Spion« sagte der Offizier.

Er schüttelte den Kopf.

»Ich bin überhaupt kein Spion.«

Von einem der Uniformierten ein Schlag ins Genick. Und noch einer. Mit der Handkante ins Gesicht.

»Also, was gemacht?« sagte der Offizier.

»Ich weiß nicht, was Sie mir vorwerfen«, sagte er.

Der in Zivil übersetzte.

»Wir werfen nicht vor, wir wollen hören, was du gemacht. Nun?«

Der Offizier zündete sich eine Zigarette an. Die anderen zündeten sich Zigaretten an. Sie rauchten und redeten Russisch. Sie tranken aus Bechern. Der Offizier zerriß das Protokoll.

Er saß, Gesäß auf der Stuhlkante, nicht anlehnen, die Hände auf die Knie gestützt, Rücken gerade.

»Also?« sagte der Offizier.

 

Stunden später lag er auf der Holzpritsche auf dem Rücken, die Hände auf der dünnen Decke, das Licht blieb an.

Er dachte an den Sonntag im Juni 1948, drei Tage nach der Währungsreform. Er war im Zug von Berlin nach Dresden, stand auf dem Gang am offenen Fenster. In einem Abteil saß Joachim Kraner, Geschäftsführer der Bezirksgruppe Walter Rathenau, mit anderen aus der Liberaldemokratischen Partei. Er setzte sich nicht zu ihnen. Er schloß die Augen und ließ die Landschaft im Rhythmus der Gleisschwellen mit dem Wind an sich vorbeiziehen.

Kraner trat zu ihm. Hielt ihm die offene Schachtel Zigaretten hin. Er rauchte nicht. Kraner zündete sich eine Zigarette an. Blies den Rauch durchs offene Fenster, der Wind blies ihn zurück auf den Gang.

Kraner sagte, »Ach, waren Sie auch in Berlin?«

»Ja, in der Oper. Fliegender Holländer.«

Kraner sagte, »Sie sind ein tüchtiger Mann. Ihr Vorgesetzter Täschner spricht von Ihnen in den höchsten Tönen. Ganz unter uns, ich habe jetzt einen Verbindungsmann in Schöneberg, einen Fabrikbesitzer. Er ist stellvertretender Vorsitzender der Berliner LDP/FDP. Der hat Kontakte zu den Amerikanern und den Franzosen. Die sind interessiert an Informationen. Und wir sind interessiert, diese Informationen zu liefern. Mit Täschner war ich auch schon in Berlin, bei einem französischen Oberst. Die Franzosen sind der Meinung, daß es durchaus wieder zum Krieg kommen könnte. Wir müssen etwas tun, so wie die Lage jetzt ist.«

Kraner blies Rauch.

Er wußte, daß es als Gruppe gefährlich war. Er wußte auch, es mußte etwas geschehen.

Herbert Täschner hatte ihn schon angesprochen. Hatte ihm vorgeschlagen, eine Widerstandsgruppe zu gründen. Hatte gefragt, ob er andere kenne, die an der gemeinsamen Sache interessiert seien.

Kraner warf die Zigarette aus dem Fenster.

»Ich fahre seit Januar regelmäßig nach Berlin und bringe denen wirtschaftlich, militärisch und politisch relevante Informationen.«

Er sagte »Hm.«

 

Einige Tage danach suchte Kraner ihn auf.

»Ich fahre nach Berlin. Wollen Sie etwas mitgeben?«

Er gab Kraner ein Päckchen für das Parteibüro in Schöneberg. Darin befand sich auch ein verschlüsselter Bericht über die wachsende Unterdrückung der Liberaldemokratischen Partei in Sachsen. Den Schlüssel hatte er mit Mischnick nach dessen Flucht aus Dresden ausgemacht.

Wolfgang Mischnick war Anfang April 1948 zu ihm gekommen und hatte gesagt, »Du mußt mir helfen.«

Er sagte, »Gut, was soll ich tun?«

Sie packten Papiere in Koffer, Parteiinformationen, persönliche Unterlagen.

Er fuhr mit den Koffern von der Altstadt in die Neustadt. Er sah aus dem Fenster der Straßenbahn. Er setzte sich nicht. Auf Trümmerbergen spielten Jungen. Auf Trümmerbergen spielten Mädchen. Mädchen und Jungen von Frauen, die Trümmer in Schubkarren luden. Eine Frau lud keine Trümmer in eine Schubkarre, sie stand auf einem Trümmerberg, ihr Rock wehte leicht im Wind. Ein Mann hatte einen Fotoapparat. Sie lächelte.

Die Straßenbahn hielt auf dem Vorplatz des Bahnhofs. Er stieg aus, blickte sich nicht um, sondern ging, vorbei an einem Stand, an dem Kartoffeln verkauft wurden, davor zwei ältere Frauen mit Einkaufsbeuteln, zügig zum Gleis.

Er wartete auf den Zug nach Berlin und starrte auf das Blatt, das vor ihm auf dem Boden lag. Ein einzelnes grünes Blatt, von dem er sich fragte, welcher Baum es in welcher Ferne verloren hatte.

Ob der Zug pünktlich sein würde, war ungewiß. Vom Dampf einer Lokomotive war noch nichts zu sehen. Vielleicht verlor er sich im Morgennebel.

Der Bahnsteig füllte sich mit Menschen. Seinen Freund, dem er an diesem Tag bei der Flucht helfen sollte, sah er nirgends.

Er blickte zur Seite, nicht suchend, sondern beobachtend, interessiert oder gelangweilt, so als vertriebe er sich die Zeit, während er wartete wie ein normaler Reisender, ein Urlaubsreisender mit zwei Koffern, sollte er tatsächlich beobachtet werden.

Irgendwo auf dem Bahnsteig zwischen den Frauen mit Kopftüchern und den hemdsärmeligen Männern oder Männern in Anzügen oder Arbeitskleidung wartete auch Mischnick, begleitet von seiner Sekretärin.

Irgendwo zwischen den Frauen und Männern warteten der Vater der Sekretärin und ein zweiter Freund. Sie sollten zwei Plätze im Abteil besetzen.

Mischnick und die Sekretärin sollten getrennt einsteigen, kurz vor der Abfahrt des Zuges. Sobald sie eingestiegen waren, sollten der Vater der Sekretärin und der Freund wieder aussteigen. So war die Verabredung.

Er sollte in einem anderen Abteil Platz nehmen. Er sollte mitfahren, um sicherzugehen, daß alles gutging.

Die Zugfahrt wurde ihm lang. Gerne hätte er sich zum Freund und der Sekretärin gesetzt. Gerne hätte er geredet.

Sie redeten erst in Berlin, als sie sich zu dritt mit Koffern und Taschen zu einem Hotel begaben. Im Hotel verabschiedeten sie sich, und er fuhr nach Dresden zurück.

Kurze Zeit danach sagte Täschner, »Mischnick hat seine Austrittserklärung aus der Stadtverordnetenfraktion nicht abgegeben. Der LDP geht dadurch ein Mandat verloren. Beschaffen Sie die Austrittserklärung.«

Er fuhr nach Berlin. Mischnick sagte, »Ich habe sie abgegeben.« Und gab ihm den Durchschlag.

Sie fragten sich nicht, ob es eine Falle war.

 

Am Dienstag vor drei Tagen, am 13. Juli, war er wie immer in die Dienststelle gekommen. Er hatte Täschner begrüßt, wie man einen Vorgesetzten begrüßt.

Täschner grüßte nicht zurück.

Täschner sagte, »Der Kraner ist gestern verhaftet worden und andere auch. Ich muß zur Sowjetischen Militär-Kommandantur, sehen, was da los ist. Hübner, Sie sind jetzt mein Stellvertreter. Setzen Sie sich an meinen Schreibtisch, telefonieren Sie und finden Sie heraus, wer verhaftet worden ist. Machen Sie eine Liste.«

 

Nach zwei Stunden kam Täschner zurück.

Er gab ihm die Liste.

Fünf Minuten später kam die Sekretärin zu ihm und sagte, »Da sind zwei russische Herren, die möchten Sie sprechen.«

»Ja bitte?«

»Name?«

»Hübner. Dietrich.«

»Wir bitten Sie mitzukommen.« Ganz höflich.

 

Als die Stunde heran war, ab der er sich hinlegen durfte, holten sie ihn.

Der Offizier sagte etwas auf Russisch.

»Du weißt, wo du bist? Da, wo Goebbels sagt, GPU«, übersetzte der in Zivil.

»Gossudarstwennoje Polititscheskoje Uprawlenije«, sagte der Offizier.

Der in Zivil sagte, »Politische Büro.«

Die beiden Uniformierten lachten.

Er dachte, Tscheka, Lubjanka, Sibirien, Tod.

Er saß auf der Stuhlkante, fing an zu zittern.

Einer stieß ihn herunter, schlug, trat, erst in den Bauch, danach, weil er sich krümmte, in den Rücken.

»Cheute reden«, sagte der Offizier.

Er dachte, Ihr bekommt mich nicht dazu.

Die russischen Stimmen hörte er nicht mehr. Er war auch nicht mehr in diesem Raum.

Er organisierte Tanzveranstaltungen und Theaterabende. Die brachten Geld in die Parteikasse. Das sprach sich herum bis zum Bezirksverband, bis zum Landesverband. Mischnick, der ein paar Jahre älter war als er, von dem er viel lernte und der sein Freund wurde, hörte davon. Durch ihn war er in den Landesausschuß für Jugend und Nachwuchsfragen gekommen. Im Ausschuß hatten sie eine eigene Verfassung für Sachsen diskutiert. Gegen Ausschüsse für Jugend und Nachwuchsfragen konnten die Russen nichts haben. Es war eine Hintertür.

Er war im Kurhaus in Bühlau, auf dem Landesvertretertag der LDP 1946. Viele junge Parteimitglieder waren gekommen, weil es Schwierigkeiten mit der SED und der Sowjetischen Militäradministration gab. Das Zimmer war verraucht. Die Stimmen redeten durcheinander. Einer fragte, »Wie ist das mit dem Schutz der Funktionäre, die werden verhaftet, reihenweise.«

Mischnick sagte, »Man wirft den Liberalen vor, daß sie in der Nazizeit ihre Idee nicht bis aufs Schafott verteidigten. Das wollen wir uns nicht ein zweites Mal nachsagen lassen.«

Landtagswahlen im Oktober. Für die Druckfreigabe der Wahlplakate schrieb Mischnick hinter den Punkt eine Null zuviel: 10.0000 statt 10.000. Der russische Kontrolloffizier schrieb die Zahl ohne Punkt ab und bewilligte nicht zehntausend, sondern einhunderttausend Plakate. Die Liberalen holten bei den letzten freien Wahlen 24,6 Prozent der Stimmen und wurden zweitstärkste Partei hinter der SED.

Er war in Eisenach. Sommer 1947. Parteitag mit Vertretern aus dem Westen. Auch Theodor Heuss. Der sagte, »Es reicht nicht, daß man eine Reinigungsanstalt herbeiholt und die braune Farbe abputzen läßt, um eine andere Farbe aus bereitgestellten Kübeln aufzuschmieren.«

Sie hielten Kontakt zu den westlichen Jugendlichen. Er fuhr nach Berlin, übernachtete bei einer Tante in Kreuzberg. Ging in Schöneberg ins Büro der FDP/LDP. Nahm Zeitungen und politische Schriften mit zurück nach Dresden und verteilte sie an Parteifreunde.

Sie waren jung und träumten von Freiheit und Demokratie nach all den Jahren.

 

Im Raum brannte der Kanonenofen. Sie ließen ihn schmoren und aßen Tomaten und tranken Bier. Sie ließen sich Zeit.

Er gab das zu, was sie wußten und von dem er nichts wußte. Er gab zu, weil er nicht wußte, was mit Roland, seinem Bruder, war.

Er dachte, Vielleicht kann ich ihn schützen.

Der Offizier rauchte. Der Offizier lachte. Der Offizier sagte, »Abführen.«

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Am Tag, wenn er nicht liegen durfte, lief er. Über Berge und durch Täler.

In der Nacht, wenn er hätte liegen dürfen, holten sie ihn, um eins oder um vier.

Nach vierzehn solchen Tagen hielt er seinen Hosenbund, wenn er vor dem Posten herlief, dawai, zum Verhör.

Nach vierzehn solchen Tagen sollte er sich nicht setzen, sondern stehen, mitten im Raum, Hände an der Hosennaht.

Der Offizier sagte etwas auf Russisch. Der in Zivil übersetzte, »Gjund Gjübner, jetzt lese ich Protokoll vor.«

Der Offizier las auf russisch. Der in Zivil übersetzte die Aussagen von einem Mann, den er kannte. Kraner.

»Gjund Gjübner, erkennst du das an? Antworte.«

Er schüttelte den Kopf.

»Willst du Gegenüberstellung?«

Er dachte, Dann wird es noch schlimmer.

Er sagte, »Nein.«

Der in Zivil sagte, »Unterschreib Protokoll.«

Er sagte, »Ich unterschreibe nicht. Das ist auf russisch.«

Schlag auf den Hinterkopf.

Schläge in den Rücken.

Schlag ins Genick, daß er zusammensackte.

Er kniete am Boden.

Tritte in die Nieren.

Das Zimmer wurde schwarz.

Der in Zivil sagte, »Wir können auch totschlagen, und wir haben Zeit.«

Er dachte, Mischnick. Der hatte gesagt, er werde erpreßt. Er solle die jungen Mitglieder der Liberaldemokratischen Partei überzeugen, in der Freien Deutschen Jugend mitzuarbeiten. Im Gegenzug ein Posten. Ein Studium. Mischnick hatte gesagt, das widerspreche seiner Überzeugung.

Nachdem Mischnick das gesagt hatte, standen Männer vor seinem Haus. Der sowjetische Kontrolloffizier für die Liberaldemokratische Partei hatte gedroht, Mischnick werde wie die Kriegsverbrecher in Nürnberg am Galgen enden.

Bald danach war Mischnick zu ihm gekommen und hatte gesagt, »Du mußt mir helfen.«

Er dachte, Bevor sie mich totschlagen, unterschreibe ich.

 

Am Morgen gaben sie ihm dreihundert Gramm Brot, einen Klecks Marmelade, eine Handvoll Zucker und Tee. Mittags Wassersuppe mit Graupen. Es waren fünf. Von dem Tag an hat er sie gezählt.

Abends blieb die Tür zu.

Am Tag darauf dreihundert Gramm Brot und etwas Zucker. Mittags Sauerkrautsuppe. Das Wasser schlürfte er weg, bis das Dicke da war. Manchmal waren es drei Löffel.

Auschwitzverpflegung, dachte er.

Drei Wochen nachdem er unterschrieben hatte, wurde die Zellentür geöffnet.

Raustreten, Gesicht zur Wand.

Er bekam Angst. Er hatte einiges gehört. Auch Schüsse.

In der Mitte des Kreuzbaus, auf einer freistehenden Kanzel, zu der Eisenbrücken führten, stand einer mit einem Gewehr.

Vom Mittelbau gingen die Zellen ab. Im Mittelbau durfte er gehen. Im Mittelbau stank es.

An die frische Luft kam er nach einem Vierteljahr.

Alle vierzehn Tage von da an.

 

Um eine Stimme zu hören, sprach er mit sich selbst. Manchmal dachte er in Versen. Denn wie ein Grabgemach türmt sich die Wand um dich, Der lebend du ein Toter bist.

Er schlug mit den Fäusten gegen die Wand. Zerschlug sie fast am Stein und dachte, Kein Stein stöhnt auf und keine Wand

zerspringt

Und aus der Grube deines Herzens dringt

Ein Schrei

Doch tote Wände

Hörn kein Schrein.

 

Nachdem jemand geklopft hatte, klopfte er zurück. Wenn er nach oben oder unten klopfte, nahm er einen Gegenstand. Er durfte sich nicht erwischen lassen. Ließ er sich erwischen, nähmen sie den Strohsack raus, das wenige, das es zu essen gab, würde noch weniger.

Wasser zum Waschen gab es, wenn eine Schüssel gegeben wurde. Niemals ein Buch.

Dann ein Mann.

Er dachte, Der erste Mensch nach einem halben Jahr.

 

Aurich war Meteorologe. Aurich erzählte von Wetterstationen in den Bergen, wo er den Wind gemessen hatte, erzählte vom Regen.

Er erzählte von Norwegen.

Sie erzählten sich die Weite des Blicks. Aurich vom Gipfel eines Berges über Täler, er über Fjorde und das Meer.

Zu zweit spielten sie Theater, Der Raub der Sabinerinnen.

Wenige Wochen lang teilten sie miteinander. Den Platz, das Brot, den Kübel.

Klopapier gab es keins. Einmal zerschnittene Seiten von einem Telefonbuch. Er lernte die Vornamen und Nachnamen auswendig. Die Namen bekamen Gesichter.

Einige Wochen war er zusammen mit Hempel und Krüger. Hempel war Posaunist. Hempel betete. Für seine Frau, die auch verhaftet worden war, und für seine sechs Kinder.

Krüger war bei Otto Skorzeny gewesen, der das SS-Kommando zur Befreiung des gestürzten italienischen Diktators im September 1943 geführt hatte. Deckname der Operation war Eiche. Krüger war Eichenlaubträger.

Zu dritt froren sie, wollten sie nur schlafen. Aber Liegen am Tage war verboten. Also saßen zwei. Der dritte stand an der Zellentür. Manchmal schlichen die Posten auf Socken heran. Der an der Tür gab den anderen ein Zeichen, und sie fingen an zu murmeln, damit die Posten denken konnten, sie unterhielten sich. So schliefen sie reihum im Sitzen. Krüger, Hempel und er.

Krüger bekam einen Furunkel an der Oberlippe.

Er Phlegmone. Er bekam Fieber. Die Ärztin war eine Hebamme. Sie nannten sie Filzlaus-Paula.

Filzlaus-Paula sagte, »Meine Apotheke kleine Apotheke. Ich habe keine Medizin.«

Krügers Fieber war höher. Er tupfte von dem bißchen Wasser, das sie hatten, Krügers Stirn ab und gab ihm zu trinken.

Nicht Krüger, sondern er muß den Eindruck gemacht haben, als ob er bald hinüberginge. Halb tot bekam er für ein paar Tage Sonderverpflegung. Ein Stück Fleisch, Kartoffelbrei, extra Brot. Er teilte. An einem Tag kriegte der eine das Fleisch, am nächsten der andere den Kartoffelbrei. So ging das reihum. Krüger, Hempel und er.

In der Nebenzelle waren Frauen. Sie nannten sie Mädchen. Sie hatten bessere Verpflegung, weil sie Frauen waren. Wenn die Frauen zum Waschen gehen durften, versteckten sie für die Männer zwei Kulen Brot in einem Loch in der Wand. Eine Kule, das waren dreihundert Gramm.

Manchmal hörte er die Frauen weinen. Wenn er die Frauen weinen hörte, wollte er nur noch zu Ruth.

Einmal hörte er eine der Frauen singen. Es war wie ein Traum.

Eine der Frauen hieß Mara. Mara Jakisch, hatte sie geklopft.

Die Operettensängerin. Er hatte sie auf der Bühne gesehen. Zierlich. Brünett. Welliges Haar. Die Augen blau. Die Augenbrauen geschwungen. Lippen rot geschminkt. Ein Engelsgesicht.

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Mara wollte eigentlich Pianistin werden. Vater und Mutter Jakisch zögerten, sie waren einfache Leute. Weil sie aber ihrer Tochter keinen Wunsch abschlagen konnten, sparte der Vater, und die Mutter haushaltete strenger. Sie kauften ein Klavier, stellten es in die Dresdner Wohnstube und ermöglichten den Klavierunterricht. Mara hatte Talent. Die Eltern fragten sich, woher sie es wohl habe.

Wenn Vater und Mutter an die Zukunft ihrer Tochter dachten, wäre besonders für Vater Jakisch ein handfester Beruf beruhigender gewesen.

Bei einem Schulauftritt, Mara war vierzehn, hörte ein Kundiger sie singen. Er schlug Umsatteln vor. Also verzichtete Mara auf den Klavierunterricht und studierte Gesang.

Das erste Engagement fand sie am Opernhaus in Bautzen. Mara war gerade achtzehn. Gefallen an tragischen Rollen fand sie nicht. Sie wollte das Publikum amüsieren.

Sie packte einen Koffer und sang an Theatern und Operettenhäusern vor. Rückschläge entmutigten sie nicht.

Vater und Mutter Jakisch schwiegen in Sorge, wenn die Tochter nach Dresden zurückkehrte und sagte, »Beim nächsten Mal klappt es bestimmt.«

So war es.

Am Mellini-Theater in Hannover. Dort stieg sie zur ersten Soubrette auf und von Bühne zu Bühne zum Stern am deutschen Operettenhimmel. Sie brillierte in Gräfin Mariza, in Das weiße Rößl, in Gigi.

Von Hannover ging sie nach Chemnitz. Auch da ein festes Engagement.

Vater und Mutter Jakisch staunten. Sie waren stolz auf ihr einziges Kind. Sie fieberten mit, fuhren zu Vorstellungen. Wenn Mara keine Verpflichtungen hatte, fuhr sie nach Dresden zu den geliebten Eltern.

 

Mara liebte das Leben. Das Abenteuer. Die Herausforderung.

1934 stand sie am Bahnhof in Chemnitz. Sie hatte lange überlegt. Die gesicherte Bühnenlaufbahn aufgeben und den Lockungen des Films folgen? Der Ruhm Hans Söhnkers, ihres einstigen Partners, beflügelte sie.

Vater und Mutter Jakisch glaubten ihren Augen kaum, als sie die Tochter schon 1934 in Der letzte Walzer als Schaschinka neben Camilla Horn und Adele Sandrock auf der Leinwand sahen. Ein Jahr später stand Mara zusammen mit Paul Kemp, Fita Benkhoff und auch wieder mit Adele Sandrock in Der schüchterne Casanova vor der Kamera. Eine kleine Rolle nur, aber immerhin. 1936 feierte sie mit den Filmen Der lustige Witwenball, Regie Alwin Elling, in dem sie die Anni spielte, Ida Wüst die Frau Krüger und Paul Henckels den Direktor König, und in Hummel-Hummel, erneut in der Regie von Alwin Elling und wieder an der Seite von Paul Henckels, ihre ersten großen Erfolge.

Der Bühne blieb sie dennoch treu. Im Großen Schauspielhaus, seit 1933 Theater des Volkes, sang sie ab 1936 als erste Soubrette. 1937 in die Göttin der Vernunft von Johann Strauß.

Mara konnte glücklicher nicht sein.

Und dann begegnete sie ihm. Bei den Proben zu Der Bettelstudent. Seine Stimme kannte sie schon. Für den Film Es geht um mein Leben in der Regie von Richard Eichberg, in dem Mara mit Theo Lingen gespielt hatte, sang er die Titelmelodie.

Beinahe täglich standen sie nun als Liebespaar auf der Bühne. Mara lernte Erwin Hartung kennen.

Er stammte aus Wilkowo in Polen. Sein Abitur hatte er 1918 in Bromberg gemacht. Danach zog es ihn ans Theater. Er trat in den Haller Revuen im Admiralspalast auf, war Schauspieler und Sänger. Einer der gefragtesten. Er sang auch »Heil Deutschland«, »Am Adolf-Hitler-Platz steht eine junge Eiche« und den Hitlerjugendmarsch »Unsre Fahne flattert uns voran«.

Arisch-evangelisch war er gleich 1933 bis ins dritte Glied. So schrieb er es in den Antrag auf Mitgliedschaft in die Reichsfachschaft Film in die Rubrik ›Rassische Abstammung‹.

 

Mara dachte daran nicht.

Mara dachte daran, ihn so oft wie möglich zu sehen. Erwin, der schön war und ein strahlendes Lächeln hatte und ihr Herz gefangennahm, mit dem sie zusammen in Robert Stolzes Himmelblaue Träume im Theater des Volkes sang und Zukunftspläne schmiedete.

Am 4. Januar 1939 sagten Mara und Erwin auf dem Standesamt in Berlin-Zehlendorf einander das Ja.

Vater und Mutter Jakisch waren dagegen. Sie hielten ihren Schwiegersohn für einen Bonvivant.

Mara wollte das nicht hören.

Auf das Hochzeitsfoto würde sie eines Tages schreiben, »Sieht glücklich aus, später viele Tränen.«

Im Oktober 1939