„Briefe ohne Unterschrift“ - Susanne Schädlich - E-Book

„Briefe ohne Unterschrift“ E-Book

Susanne Schädlich

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Beschreibung

Als Briefeschreiben noch gefährlich war – Jetzt auch eine Ausstellung zu den »Briefen ohne Unterschrift« in Berlin

Sie schreiben Briefe und gehen ein hohes Risiko ein. Adressat: BBC London. 1949 startet die britische Rundfunksendung »Briefe ohne Unterschrift«. Anonyme Zuschriften von DDR-Bürgern werden darin verlesen, immer am Freitagabend, über 25 Jahre lang. Susanne Schädlich entdeckte diese einzigartigen Zeitdokumente und erzählt nun von den britischen Journalisten, die so lange der DDR die Stirn boten. Vor allem aber setzt sie den mutigen Absendern ein Denkmal, die der gnadenlosen Nachverfolgung durch die Stasi zum Opfer fielen – unter ihnen ein Junge aus Greifswald …

Susanne Schädlich gab mit ihrem Buch den Anstoß zur Ausstellung im Museum für Kommunikation in Frankfurt: »Briefe ohne Unterschrift. DDR-Geschichte(n) auf BBC Radio«, Beginn am 4. März 2021. Nähere Informationen hierzu: https://www.mfk-frankfurt.de/termine-liste/briefe-ohne-unterschrift/

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 251

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Das Buch

»Schreiben Sie uns, wo immer Sie sind, was immer Sie auf dem Herzen haben.«

1949 startete in London die BBC-Rundfunksendung »Briefe ohne Unterschrift«. Anonyme Zuschriften von DDR-Bürgern wurden darin verlesen, jeden Freitagabend, über 25 Jahre lang.

Susanne Schädlich entdeckte diese einzigartigen Zeitdokumente und erzählt nun von den britischen Journalisten, die so lange der DDR die Stirn boten. Vor allem aber setzt sie den mutigen Absendern ein Denkmal, die ein hohes Risiko eingingen und von der Stasi gnadenlos verfolgt wurden.

Die Autorin

Susanne Schädlich, geboren 1965 in Jena, ist Schriftstellerin und Übersetzerin. 2009 veröffentlichte sie den Bestseller »Immer wieder Dezember – Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich«. Für ihr Buch »Westwärts, so weit es nur geht« erhielt sie 2015 den Seume-Literaturpreis. Susanne Schädlich lebt in Berlin.

Weitere Informationen zu unserem Programm unter www.knaus-verlag.de

Susanne Schädlich

BriefeohneUnterschrift

Wie eine BBC-Sendung die DDR herausforderte

KNAUS

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung für externe Links ist stets ausgeschlossen.

Die »Briefe ohne Unterschrift« sind der neuen Rechtschreibung angepasst, orthographische Fehler zum größten Teil korrigiert, ansonsten Eigenheiten beibehalten worden. Auslassungen sind mit eckigen Klammern und Punkten gekennzeichnet. Die Briefe werden im Text kursiv, Zitate aus Stasiakten in Schreibmaschinenschrift dargestellt.

Aufzeichnungen der BBC zu »Funkbriefkasten« und aus dem »duty report«, handschriftliche Notizen von Austin Harrison sowie die Trauerrede von Richard O’Rorke wurden von der Autorin ins Deutsche übertragen.

Der Verlag hat sich bemüht, etwaige Rechteinhaber ausfindig zu machen. Sollte dies im Einzelfall aufgrund der Quellenlage einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir berechtigte Ansprüche selbstverständlich angemessen nachvergüten.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2017

beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagillustration: © Christie Goodwin

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-19948-7V001

www.knaus-verlag.de

»Die Vergangenheit ist die Gegenwart, nicht wahr? Wir versuchen uns da herauszulügen, aber das Leben lässt uns nicht.«

Eugene O’Neill

Prolog

Nehmen Sie den Zug, der gegen 17 Uhr in London Paddington ankommt. Gehen Sie zur U-Bahn. Fahren Sie mit der Bakerloo Line in Richtung Norden. Die zweite Station heißt Maida Vale.

Steigen Sie aus. Von dort sind es nur noch ein paar Minuten zu Fuß, hatte Mister Jones geschrieben.

Die Fahrt mit dem Zug dauerte eine gute halbe Stunde.

Ankunft um 15:59 Uhr auf Plattform 1, teilte die Stimme mit.

Von Plattform 1 war Mrs. McGillicuddy vor achtundfünfzig Jahren genau einundfünfzig Minuten später abgefahren und beobachtete von ihrem Abteilfenster aus einen Mord in einem vorbeifahrenden Zug. Einzig und allein ihre Freundin Jane Marple glaubte ihr und löste einen ihrer berühmtesten Fälle.

Auch ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich einen Fall zu lösen oder ein Geheimnis zu lüften hatte und fragte mich, Wer kennt eigentlich Mrs. McGillicuddy?

Ich hatte einen Zug gewählt, der schon eine Stunde früher aus Reading in London ankam. Wollte noch ein bisschen schlendern, einen Kaffee trinken, vielleicht eine Zigarette rauchen.

Bahnsteig 1 war voller Menschen, die dem Ausgang zustrebten. Paddington ist ein Kopfbahnhof.

Am Ende des Bahnsteigs stand eine Frau. Sie verschenkte Wassereis, eine kleine Aufmerksamkeit. Ein U-Bahnstreik hatte die Stadt lahmgelegt.

Ich verließ den Bahnhof, lief ein Stück die Praed Street entlang. Geschäfte, Tante-Emma-Läden, Restaurants, Cafés, kleine Hotels, alte Straßenlaternen, kleine Parks, die Bäume erfrischend grün, helle Häuserfassaden oder roter Backstein und weiße Fensterläden. Malerisch schön, fast schon unheimlich.

Egal wo ich war in dieser Stadt, immer hatte ich das Gefühl, dass ich das, was ich sah, schon in irgendeinem Roman gelesen hatte, und musste an den Dichter Rolf Dieter Brinkmann denken, der in London überfahren worden war, weil er den Linksverkehr nicht beachtet hatte.

Ich fand ein Café, wo ich, wie ich meinte, am schönsten draußen sitzen, einen Cappuccino trinken und eine Zigarette rauchen konnte, bevor ich mich auf den Weg zu Mister Jones machte.

Ich rauchte, genoss den Wind in sommerlicher Wärme, ein Hauch von Meer.

Einen Hauch von Meer hatte ich schon in Reading gespürt, wo ich, wenn ich nicht in dem stickigen Raum im Written Archive der BBC an einem der sechs großen Tische über unendlich vielen Briefen die Zeit vergaß, durch stille baumbewachsene Straßen lief, Menschen begegnete ich kaum.

Gäbe es nicht jedes Jahr ein berühmtes Musik-Festival, ich würde sagen, der Ort hat verschlafen.

Die Uhr sagte, ich musste los. Ich zahlte, winkte ein Black Cab heran, fuhr wieder einmal zurückgelehnt legendär. Der Fahrer kannte sich aus, ich hatte noch keinen getroffen, bei dem es nicht so war.

Mein Cabbie umfuhr die Staus in den nördlichen Teil der City of Westminster nach Maida Vale, einer wohlhabenden Wohngegend, fuhr noch berufsmäßig gewandt an der Sephardi Synagogue vorbei und sagte: »In dieser Straße wurde Alec Guinness geboren und Ben Gurion hat ganz in der Nähe gewohnt.«

Das Taxi bog in eine ruhige Straße, hielt.

»Ach ja«, sagte der Fahrer noch, »Abbey Road ist auch ganz in der Nähe, just so you know.«

Mister Jones führte mich durchs Haus in den Garten. Wir tranken Prosecco, stellten einander Fragen, antworteten mit Bedacht. Waren vorsichtig misstrauisch.

Vielleicht lag es daran, dass wir beide schreiben. Schriftsteller misstrauen Journalisten und Journalisten Schriftstellern. Vielleicht lag es daran, dass ich ihn über die Vergangenheit fragte: nach der BBC, nach Peter Johnson, nach den Briefen ohne Unterschrift. Vor allem aber nach Austin Harrison.

Nach zwei Stunden wusste ich nicht viel mehr als vorher. Das, was ich wusste, wusste ich, weil ich darüber vor einigen Monaten in Berlin gelesen hatte.

Beim Abschied sagte Mister Jones: »Auch zu meiner Zeit hieß es noch, BBC – das sind drei gefährliche Buchstaben.

Gefährlich für alle, die sich vor der Wahrheit fürchten, und besonders gefährlich für alle, die die Wahrheit hören wollen und sie unter großer persönlicher Gefahr auch tatsächlich hören.«

Eins

Austin Harrison ist ein eleganter Mann. Er trägt dunkle Anzüge, weiße Hemden, Krawatte oder Fliege, dunkle Wildlederschuhe. Seinen Mantel hat er auf den Rücksitz gelegt. Austin Harrison ist auf dem Weg zur Frühjahrsmesse. Es ist zur Gewohnheit geworden, fast schon zur Regel.

Harrison fährt mit dem Auto von Westberlin über die Autobahn in Richtung Halle. Am Autobahnkreuz Schkeuditz nimmt er den Abzweig in Richtung Leipzig. Es ist der 9. März 1967. Topmeldung des Tages: Stalins Tochter, Swetlana Allilujewa, setzt sich in den Westen ab.

Die Fahrt in den anderen Teil Deutschlands ist für Harrison eine Fahrt in ein Land, das die Zeit vergessen hat. Harrison gefällt die Doppeldeutigkeit der deutschen Sprache. Das Land, das die Zeit vergessen hat … Ein glückliches Land, dem die Zeit egal ist, oder ein Land, das von der Zeit vergessen wurde. Land, that time forgot. Im Englischen ist es viel eindeutiger.

Der Besuch von Leipzig ist für Harrison wie der Besuch bei einer einst wohlhabenden älteren Dame.

Zweimal im Jahr lädt sie ein in ihren geschmückten Salon, wo Getränke und Essen serviert werden wie sonst nie, legt ihr schönstes Kleid an und erwartet wie in Gedanken an vergangene Zeiten, und in der Hoffnung auf bessere, ihre Gäste.

In Sonderzügen reisen sie an, zu sehen, was die Republik und andere Länder in der Innenstadt und auf dem Gelände der Technischen Messe am Völkerschlachtdenkmal zu bieten haben.

Huren sind in der Stadt. Sie hoffen auf gute Umsätze oder auf einen Mann aus dem Westen. Brandneue Taxis Marke Wartburg warten an den Straßenrändern.

Die ältere Dame empfängt für neun Tage die Welt, Leipzig ist für neun Tage das »Guckloch« für jene, die sonst wenig von der Welt zu sehen bekommen.

In Leipzig will Harrison Informationen sammeln. Darum sucht er überall das Gespräch. Während der Messezeit ist es einfacher als sonst, Kontakt zu Menschen aufzunehmen, sich zu unterhalten. Zur Messezeit ist es weniger gefährlich, wirkt weniger verdächtig. Möglicherweise ist es schwieriger, verfolgt und beobachtet zu werden. Harrison ist trotzdem vorsichtig. Nicht seinetwegen, mehr der Menschen wegen, mit denen er spricht.

Er ahnt, dass er verfolgt und beobachtet wird. Vielleicht weiß er es auch.

Er reiste am 9. 3. 67 gegen 9:30 Uhr von Westberlin kommend über den GÜ Drewitz mit dem PKW Volkswagen poliz. Kennz. B-AK 754 in die DDR ein.

Hauptmann Kluge von der HA* XX wird erst Stunden später informiert, telefoniert dann sofort mit Leipzig.

Ab 13 Uhr wurde der PKW von ‚Werfer‘ im Stadtgebiet Leipzig gesucht.

Harrison fährt nicht erst zu den Bekannten, es ist schon fast 14 Uhr, sondern direkt in die Innenstadt. Er muss sich akkreditieren lassen und im Ausländertreffpunkt Geld wechseln.

Er schlendert durch die Stadt. Straßen und Geschäfte sind geschmückt mit Fähnchen und Fahnen, sozialistisch-internationale Dekoration. Er sieht sich die Auslagen in Schaufenstern an. Harrison hört verschiedene Sprachen. Schlösse er die Augen, könnte er meinen, er sei anderswo, wo er sich auskennt.

Wie immer, wenn er hier ist, geht er im Schuhmachergässchen in das Zentrale Antiquariat des Volksbuchhandels. Wie immer, wenn er hier ist, geht er in die Mädlergasse. Auch die Mädlergasse hängt voller Fahnen, Werbefahnen für die Aussteller der Keramik- und Glasbranche. Zu jeder vollen Stunde erklingt das Glockenspiel. In der Mädlergasse ist Auerbachs Keller.

Bei den vielen Menschen muss Harrison denken,

»Die kommen eben von der Reise,

Man sieht’s an ihrer wunderlichen Weise;

Sie sind nicht eine Stunde hier.«

Im Parkhotel bestellt sich Harrison eine Kleinigkeit und ein Glas Wein, liest die »Times«, unterhält sich mit drei Männern, die mit ihm am Tisch sitzen, über Perlon und Polyakryl, englische Zigarettenmarken und solche aus der DDR, über Ulbricht und Stoph, über tropische Früchte und die SED. Harrison spricht Deutsch.

Nach dem Essen ins Kunstkabinett und weiter zum Neumarkt in das Warenhaus Centrum. Auf blauen Schildchen mit gelber Schrift fordert pastellfarbene Damenunterwäsche aus Synthetik dazu auf, für den VII. Parteitag zu kämpfen.

Harrison macht sich Notizen. Auch im Haus der vielen Artikel.

Gegen 19 Uhr geht er in den Ratskeller.

Bei weiteren Kontrollen im Stadtgebiet wurde der PKW mit dem angegebenen polizeilichen Kennzeichen B– AK 754 um 19.00 Uhr auf dem Parkplatz 9 an der Universitätsstraße– Goethestraße aufgenommen.

Harrison sucht sich einen freien Platz im zweiten Saal an einem Tisch, an dem schon ein Mann und eine Frau sitzen. Der Mann und die Frau sind Mann und Frau.

Harrison sagt, er sei aus England.

Der Mann sagt, er sei das erste Mal zur Messe gefahren. Eigentlich habe er sich auf den Ausflug gefreut. Doch bei allem Respekt, wie die Westler sich hier benähmen! Zögen abends grölend durch die Straßen, für Parkplätze zahlten sie Bakschisch, führten sich auf, als wären sie was Besseres, diese Kapitalisten.

Die Frau sagt, sie verstehe nichts von Politik, egal mit welchem Ismus sie daherkomme.

Er wolle der Partei ihre guten Absichten nicht absprechen, sagt der Mann.

Harrison fällt ein: »Den Teufel spürt das Völkchen nie,

Und wenn er sie beim Kragen hätte«.

Er fragt den Mann, ob er die Absicht habe, irgendwann damit anzufangen, der Partei die guten Absichten abzusprechen?

23.35 Uhr kam ‚Werfer‘ aus der Innenstadt zum PKW. Er sprach am PKW noch ca. 3 Minuten mit einer Parkwächterin. Anschließend fuhr er vom Parkplatz.

Auf der Ernst-Thälmann-Straße lässt Harrison einige Wagen überholen, fährt weiter auf der Torgauer Straße bis Heiterblick.

In der Kurve vor der Brücke hält er. Lässt einen Wagen an sich vorbei, setzt seinen Weg fort in Richtung Thekla bis Portiz. Dort wohnen die Bekannten.

Es ist fast Mitternacht. Er schließt den Wagen ab, geht zur Haustür. Klingelt. Die Tür geht auf, die Begrüßung ist überschwänglich.

Der Ort Portiz wurde nach Betreten der Wohnung von ‚Werfer‘ abgesperrt. Der PKW stand vor dem Wohnhaus ohne Licht abgeparkt auf der rechten Straßenseite.

Der nächste Arbeitstag beginnt für Harrison gegen Mittag, die Nacht war noch lang geworden.

Er fährt zuerst zum Pressezentrum.

Er erkundigte sich nach Briefmarken nach Westberlin. Anschließend beschrieb er 5 Ansichtskarten und frankierte sie. In den Briefkasten Martin-Luther-Ring/Markgrafenstraße warf er sie ein.Sonderleerung durch Abt. M. Bei den Briefen handelt es sich um interessante berufliche, politische und familiäre Mitteilungen. Zu bemerken ist, dass die Briefe in englischer Sprache geschrieben sind und nicht in allen Einzelheiten sicher übersetzt werden konnten.

Die Briefe werden erst am folgenden Tag mit der richtigen Stempelung weitergeleitet.

Am Nachmittag streift Harrison, etwa 175 groß, sein dunkles Haar nach hinten gekämmt, die Augenbrauen buschig, durch Straßen und Geschäfte wie am Vortag. Gang: läuft aufrecht, zeitweise linke Schulter etwas tiefer haltend. Bekleidung: dunkelgr. Anzug, Nadelstreifen, weißes Hemd, gemustert, roter Binder, grüne Wildlederschuhe, trägt beim Lesen und Schreiben dunkle Hornbrille.

Wie am Tag zuvor isst er eine Kleinigkeit im Ratskeller. Mit ihm am Tisch sitzen ein Monteur und dessen Frau.

Gegen neun Uhr abends sitzt er im Restaurant des Parkhotels.

Er machte sich sehr viele Notizen. Er schrieb dabei ziemlich klein. Beiwerk: l.Hand kleiner Finger zwei große goldene Ringe, rechte Hand Ringfinger goldener Ring, schwarzer Stein.

Harrison arbeitet eineinhalb Stunden konzentriert. Anschließend begibt er sich zur Telefonzentrale.

Hier führte ‚Werfer‘ ein ca. 5 Minuten langes Telefongespräch (22.35 bis 22.40Uhr).

Nach dem Telefonat verlässt er das Hotel und fährt nach Portiz.

23.28 Uhr wurde ‚Werfer‘ im Zimmer gesehen. Es hatte den Anschein als entkleidet er sich. 23.57 Uhr ging das Licht aus.

Am Sonnabend zieht es Harrison nicht zur Messe, sondern nach Markkleeberg. Er ist fasziniert von dem Gedanken, dass fast jedes noch so kleine Kaff in Deutschland eine brutale Geschichte hat. Auch Markkleeberg. Hier war die Entscheidungsschlacht gegen Napoleon, damals die größte Feldschlacht der Weltgeschichte. Hier betrieben die Nazis ein KZ-Frauenlager. In der Nacht des 13. April 1945 wurden die Frauen auf den Todesmarsch geschickt, bei eisigem Regen durch die verdunkelten Straßen von Leipzig.

1945 kamen zuerst die Amerikaner, die Sowjets übernahmen.

»Pech gehabt«, hat der Freund, den Harrison besuchen wird, einmal gesagt.

Harrison biegt in eine Seitenstraße.

Fuhr diese entlang bis zu ihrem Ende, hielt hier an, musterte hier ein Beobachterfahrzeug und die Umgebung, kehrte um, fuhr zurück und weiter nach Markkleeberg-Ost. Hier fuhr ‚Werfer‘ zum Brunnenweg.

Harrison parkt.

Um 11.30 betrat ‚Werfer‘ das Haus.

Am Nachmittag fährt er zurück nach Leipzig.

Am Abend besucht er eine Vorstellung der Pfeffermühle, danach will er einen Absacker trinken. In der Gaststätte Sofia.

Zwei Männer treten an seinen Tisch, fragen, ob noch Platz sei. Die zwei Männer setzen sich.

Der eine sagt, er sei Werkmeister in einem Textilveredelungswerk in Löbau, der andere, er sei dort Werkleiter und zur Messe delegiert worden.

Harrison sagt, er sei zu Besuch aus England hier.

Der Werkleiter spricht Englisch und trinkt gern.

Die, die ihn delegiert haben, wissen, dass er gern trinkt. Das sei kein Hinderungsgrund, finden sie, eher von Vorteil.

Harrison bestellt für alle Bier.

Weil Harrison gerne Deutsch spricht, unterhalten sie sich weiter auf Deutsch über Leipzig und die Messe.

Harrison sagt, er habe den Eindruck, es fehle hier an Freiheit.

Der Werkmeister sagt, das sei relativ. Er wolle lieber über England sprechen.

Der Wachtmeister fragt Harrison, ob er ein Haus habe.

Die drei Männer trinken.

Harrison sagt, dass er sogar ein wunderschönes Haus außerhalb von London habe, in Fingringhoe, einem Dorf südlich-östlich von Colchester. Fünf große Zimmer, zwei Bäder, eine Küche und eine große Wohndiele. Nach und nach baue er das Landhaus aus. Es habe auch einen wunderbaren Rosengarten. Er fahre jeden Tag mit dem Zug in die Stadt.

Harrison soll mehr von London erzählen.

»Swinging London«, sagt Harrison. »Changing London. Down with the old, up with the new.«

»Was wollen Sie damit sagen«, fragt der Werkleiter.

Ein Kollege hätte ihn kürzlich gefragt, sagt Harrison, ob ein Blinddarm unabhängig werden, sozusagen seine eigene Politik in dem ihn beherbergenden Körper machen könne?

Der Werkmeister sagt: »Diejenigen, die schon einmal eine Blinddarmentzündung hatten, würden diese Frage vielleicht bejahen.«

Harrison sagt, der Kollege habe gemeint, man könnte fast annehmen, der Blinddarm habe sich selbständig gemacht, weil er doch so schrecklich wehtue.

»Uns tut nichts weh«, sagt der Werkleiter.

»In Wirklichkeit ist es doch so«, sagt Harrison, »dass der Wurmfortsatz nur auf irgendeinen Reiz reagiert, der ihm vom übrigen Körper verabreicht wird, und sollte er wirklich aufmucken, wird er eben entfernt.«

Der Werkmeister will viel lieber noch mehr über London hören. Von Pubs, Vergnügungslokalen und von englischen Frauen.

»London«, sagt der Werkmeister ein wenig zu sehnsüchtig.

Der Werkleiter hört das und blickt missbilligend.

Harrison sagt, ähnlich sei es mit dem politischen Blinddarm, der SED Westberlin, die gerade vor den Westberliner Wahlen auf Reize aus Ostberlin reagiere.

Der Werkleiter sagt: »Sie trauen sich was.« Er sagt nicht, dass er für die Maßnahme BBC eingesetzt worden ist.

Harrison fragt, ob es möglich sei, nach Löbau zu fahren.

»Schon möglich«, sagt der Werkleiter.

Beim Abschied gibt Harrison dem Werkleiter seine Visitenkarte und bittet ihn, ihm eine Postkarte zu schreiben. Seine Sekretärin sammle mit Leidenschaft Briefmarken. Sie würde sich freuen über eine Briefmarke aus der DDR.

Der Werkleiter sagt: »Warum nicht.«

Am Sonntagmorgen reist Harrison ab. Er nimmt die Autobahn in Richtung Halle bis zum Autobahnkreuz Schkeuditz.

Bei der Autobahnauffahrt in Richtung Berlin wurde um 10.00 Uhr die Beobachtung beendet.

Harrison denkt, er hätte dem Werkmeister und dem Werkleiter sagen können, was sein Kollege noch gesagt hatte: Der politische Blinddarm, die SED in Westberlin, gebe zwar vor, aus eigener Entscheidung zu agieren, aber wer könne das schon wirklich von einem Blinddarm annehmen.

* Abkürzungen werden im Glossar erläutert.

Zwei

Harrison, Johnson, Jones. Ich könnte sagen, ich bin rein zufällig auf diese Namen gestoßen. Aber ich glaube nicht an Zufälle.

Vor einigen Monaten war die Bitte an mich herangetragen worden, einen Beitrag für eine Publikation zu schreiben. Über meine Recherchemethoden, die literarische Verarbeitung des gefundenen Materials in meinen Büchern.

Ich holte Akten hervor, die wesentlicher Bestandteil meiner Arbeit gewesen waren. Auch die von IM »Schäfer«, dem Onkel. Ja, der. Oder, der schon wieder. Ich kann nichts dafür, dass er der Onkel ist. Er ist nun einmal da, und er geht auch nicht mehr weg. Auch nicht das, was er getan hat. Darüber habe ich schon geschrieben.

Zyniker könnten sagen: Soll sie ihm doch dankbar sein, er dient als unerschöpfliche Quelle.

Dankbar bin ich. Aber nicht ihm, sondern dafür, dass die Akten existieren.

Unterbewusst hofft der Leser, in diesem Falle ich, doch noch etwas Entlastendes zu finden.

Jedenfalls, ich blätterte. Dann das:

Dr. Schädlich, erf. HA XX 12 Op. Vg. ‚Werfer‘.

Werfer! Das hatte ich bisher überlesen.

Immerhin, ein operativer Vorgang lässt hoffen.

Der Onkel recherchierte für seine Dissertation und hatte seit 1968 Kontakt zu Leuten von der BBC, auch zu einem Mann namens Johnson. Der Kontakt war über einen Bekannten zustande gekommen.

Drei Jahre später kündigte sich bei dem Onkel ein weiterer BBC-Mann an. Sein Name: Jones.

Ein Brite, die BBC, ein Treffen.

Dann las ich, dass der Onkel den bevorstehenden Besuch seinem Parteisekretär meldete.

Bei seiner Mitteilung über das angemeldete Gespräch hatte Dr. Schädlich sich angeboten, alles auf Tonband aufzunehmen, wenn ihm ein Mikrofon übergeben würde.

Keine Entlastung. Mehr musste ich nicht wissen.

Es gibt diese seltenen Momente, in denen ich bei etwas, das ich lese oder höre, aufmerke. Wie bei einer Begegnung mit jemandem, mag sie noch so flüchtig sein.

Ich las: ‚Briefe ohne Unterschrift‘ ist eine spezielle Sendung, die im Rahmen der psychologischen Kriegsführung gegen die DDR der Untergrabung der Bevölkerung zur Partei- und Staatsführung der DDR sowie der Propagierung und Provozierung aktiver und passiver ‚Widerstandshandlungen‘ dient.

Das war er, dieser seltene Moment. Ein halber Satz: »›Briefe ohne Unterschrift‹ ist eine spezielle Sendung.«

Und ich las: Hauptanliegen der Bearbeitung ist die Aufklärung und Liquidierung der feindlichen Stützpunkte der BBC-Mitarbeiter Harrison und Jones in der DDR.

Wie ginge Miss Marple vor?

Vielleicht fiel mir Miss Marple ein, weil ich von Johnson, Harrison und Jones las, von der BBC, dem Londoner Rundfunk.

Vielleicht fiel mir Miss Marple ein, weil der Himmel grau war, die Bäume kahl. Weil es schneite. Weil der Blick aus dem Fenster schwarz-weiß war. Wie die Bilder im Fernsehen, in dem ich früher Miss-Marple-Filme gesehen hatte.

Gegenüber Miss Marple war ich ein wenig im Vorteil. Zu ihren Zeiten gab es noch kein Internet.

Ich gab »Briefe ohne Unterschrift« ein.

Nichts.

Ich gab »Austin Harrison« ein. Ein Schriftsteller und Journalist, geboren 1873, gestorben 1928. Das konnte nicht der richtige sein.

Ich gab »Austin Harrison« und »Briefe ohne Unterschrift« ein. Treffer!

Eine historische Aufnahme vom Deutschen Rundfunkarchiv.

Ich bestellte die CD.

Ich hörte: »Kennwort Rosenstock fragt, wo ist auf den englischen Kanalinseln eine deutschsprachige Gemeinde? Und gehen unsere Ostbriefe auch bestimmt durch Kurier von Westberlin nach England? Also nicht als gewöhnliche Post?«

»Von Westberlin zu mir gehen Ihre Briefe durch englische Hände. Ich weiß nicht, ob es eine richtige deutsche Gemeinde auf den Kanalinseln gibt, aber es gibt einen deutschen Wahlkonsul in Saint Clement auf der Insel Jersey« – eine Minute und sechsundvierzig Sekunden die Stimme von Austin Harrison. Sympathisch. Deutsch spricht er mit englischem Akzent.

Ostbriefe nach Westberlin und weiter per Kurier nach England?

Was hatte es damit auf sich?

Was war das für eine Sendung, »Briefe ohne Unterschrift«?

Wie lange hat es sie gegeben?

Wann wurde sie gesendet?

Vielleicht fand ich noch eine längere Tonaufnahme. Der Ausschnitt auf der CD des Deutschen Rundfunkarchivs konnte doch nicht alles sein.

Ich fand heraus, dass die Sendung im Programm des German Service der BBC nach 1945 gelaufen war. Viel mehr aber auch nicht.

Der Mangel an Quellenmaterial machte die Suche nicht leicht. Ich tröstete mich damit, dass ich mit »Johnson, BBC und German Service« im Internet den Hinweis auf ein Buch fand: »Stimme der Wahrheit, German Language Broadcasting by the BBC.« Endlich etwas Konkretes.

Peter B. Johnson wird darüber geschrieben haben, dachte ich. Ich bestellte das Buch. Zwei Sätze über Harrison. Mehr nicht.

Je mehr ich mich auf die Suche nach Antworten begab, desto mehr Fragen stellten sich.

Je mehr ich suchte, desto mehr Antworten fand ich, vor allem in den Stasiakten.

Grundlage der Sendung bilden Hörerbriefe, die sowohl aus der DDR als auch aus anderen sozialistischen Ländern, Westdeutschland und Westberlin die BBC erreichen oder auch mit hoher Wahrscheinlichkeit frei erfunden sind.

Und: Aus dem Jahre 1957 liegen die ersten Aufzeichnungen vor, die dokumentieren, dass H. die Hetzsendung ‚Briefe ohne Unterschrift‘leitet und kommentiert.

Die Lauscher saßen also bereits ab 1957 an den Radioempfängern.

»Bei uns haben die meisten Menschen das Lachen verlernt, es gibt gar keine Fröhlichkeit mehr, auch nicht unter der Jugend.«

»Nun gibt es einen neuen Namen: Volksarmee: Die Jugend wird gezwungen, den neuen alten Rock anzuziehen.«

»Die Rundfunkstörungen in der BBC werden in der Bernburger Gegend immer toller.«

»Briefkontrollen, Bespitzelung, Milchschlangen, Butterschlangen, HO-Preise usw.«

»Schimpfen ist der Stuhlgang der Seele.«

»Es ist die Not, geistige und leibliche, die viele zwingt, gezwungen hat, ihre Heimat zu verlassen, und sie oft einem ungewissen Schicksal entgegenführt.«

»Warum holt man die UNO nicht nach Berlin? Warum wird in der UNO über die unmenschlichen Verhältnisse in der Ostzone nicht verhandelt? Wie lange will man noch warten? Bis es zu spät ist?«

»Wir können ja nicht alle weg.«

Der Staatsicherheitsdienst arbeitete fieberhaft.

Sie werden gebeten die nachstehend aufgeführte DA der BBC, die 1958 gelaufen ist, zu bestätigen. Berlin, NW 21, Emdenstraße. Des weiteren wollen Sie bitte prüfen, ob vor dem 13. Februar 1958 vom BBC Sendungen ausgestrahlt worden sind, die mit dem Kennwort „Heideblume“ bestätigt worden sind. Da diese Bestätigung zum Abschluss eines Op. V. benötigt wird, wird um baldmöglichste Erledigung ersucht.

Von den Schreibern der Briefe wurden also Zwischenadressen benutzt, um den eigentlichen Empfänger, die BBC, zu verheimlichen.

Die Absender schrieben unter Kennwörtern, sie wollten in der Anonymität bleiben.

Der Staatsicherheitsdienst sammelte Beweismaterial, wollte es schnellstens auswerten, um […] den BBC selbst öffentlich zu kompromittieren, und, so lese ich auch, politische Maßnahmen gegen die ‚Hörerbriefsendung‘ der BBC ‚Briefe ohne Unterschrift‘ einzuleiten.

Und Mister Jones? Aus den Stasiakten wusste ich seinen Vornamen. Treharne.

Ich gab »Treharne Jones« und »BBC« im Internet ein, fand ein paar Eintragungen, unter anderem in einem Business-Online-Portal. Einmalig darf man das Mitglied kontaktieren, auch ohne dessen Mailadresse zu kennen. Ich schrieb also. Dear Mister Jones …

Dann die Enttäuschung: Ihre Nachricht konnte leider nicht zugestellt werden.

Ein paar Tage später eine Mail von Jones.

Die Nachricht war doch zugestellt worden.

Treharne Jones war die erste leibhaftige Spur.

Drei

233 Ordner, von 1955 bis 1975, für jedes Jahr mindestens zwölf, also mindestens für jeden Monat einer. Mancher umfangreicher als der andere, oft täglich etliche Zuschriften.

In Reading hatte ich sie entdeckt, in dem stickigen Raum mit den sechs Tischen angefangen zu lesen.

Lieber Londoner Rundfunk,

Haben Sie eine Ahnung, was Sie uns geben? Jeden Abend ein Märchen von Freiheit, oder eine Fata Morgana der Freiheit für uns, stand in einem Brief von 1958.

1958. Das Jahr, in dem das Ministerium für Kultur gegen »westliche Dekadenz« in Tanz- und Unterhaltungsmusik vorging. Ab sofort mussten sechzig Prozent aller öffentlich gespielten Musik aus der DDR und den sogenannten Bruderländern kommen.

Das Jahr, in dem statt einer Taufe die erste sozialistische Namensgebung vollzogen wurde und bei den Wahlen zur Volkskammer einmal mehr 99,7 % der Wahlberechtigten für die Einheitsliste stimmten.

Das Jahr des ersten Berlin-Ultimatums der UdSSR.

Das Jahr auch, in dem sich manch einer, der die Sendung »Briefe ohne Unterschrift« verfolgte, und es waren nicht wenige, fragte, ob es überhaupt einen Zweck hatte, solche Briefe zu schreiben.

Oft war die Anrede: LiebeGisela.Lieber Martin. Oder einfach Lieber Freund. Doch nicht an Gisela oder Martin wurde geschrieben, sondern an Austin Harrison, die BBC, den Londoner Rundfunk. Das war der liebe Freund.

Briefe an Annemarie fand ich einige. Manchmal war Annemarie auch eine Tante, oder eine Schwester.

Liebe Schwester Annemarie!

Dass ich es nicht leicht habe, weißt Du ja, Du weißt auch, wo unsder Schuh drückt. Mein Enkel ist noch jung. Das weißt Du ja auch, der Klaus. Er ist gerade im wehrtüchtigen Alter. Was meinst Du denn, wie es jetzt im neuen Jahr wird? Ob es zu einer Wehrpflicht bei uns kommt? Sag mal Deine Meinung, die Du hast. Ich höre doch gern auf Deinen schwesterlichen Rat,

las ich in einem Brief aus dem Jahr 1955.

1955 hatte in der DDR noch das »Freiwilligenprinzip« für junge Männer ab achtzehn Jahren gegolten.

Freiwilligkeit – ein dehnbarer Begriff. Es wurden umfangreiche Rekrutierungsmaßnahmen durchgeführt, die Partei- und Staatsorgane übten Druck auf die Jugendlichen aus, damit sie »freiwillig« in die Kasernierte Volkspolizei, die militärische Vorläuferorganisation der Nationalen Volksarmee (NVA), eintraten.

Ein Schreiber machte sich diese Gedanken:

Kann man von uns Jugendlichen Widerstand gegen das heute bei uns herrschende Regime erwarten. Diese Frage soll man mal ganz ruhig stellen. Ich z. B. selber. Ich besuchte 11 Jahre nur kommunistische Schulen und musste die marxistisch leninistische Doktrin hineinfressen. Sie wurde eingepaukt. Von niemandem geglaubt, aber ernsthaft gelehrt und zum Teil auch ernsthaft gelernt. Man musste ja.

Wer wollte schon ein schlechtes Zeugnis nach Hause bringen? Die Eltern schwanken auch oft, weil sie ihren Kindern nur eine gute und vor allem friedliche Zukunft geben möchten. Weiß ich, wie es früher wirklich war. Erwachsene widersprechen sich, Geschichtsbücher verfälschen die Wahrheit. »Was ist Wahrheit?« Es ist schwer, überall durchzufinden, ohne Schaden zu nehmen. Und hab ich nicht vielleicht trotzdem, obgleich ich das Gegenteil glaube, doch einen Schaden bekommen.

Es gab kaum etwas, worüber die Hörer nicht schrieben.

In einem Brief von April 1960 las ich:

Theoretisch gibt es in der SBZ alles. Praktisch sieht das so aus: Apfelsinen in Chemnitz, Blumenkohl in Rostock u. Dresden, Äpfel in Erfurt und Leipzig, Zwiebeln in Magdeburg, saure Gurken in Schwerin, Bananen in Cottbus, Radieschen in Görlitz usw. Das nennt man im SED-Jargon »Warenstreuung«!

Klein-Friedel, Bautzen schrieb:

Im Radio ist auch heute wieder nichts zu hören. Keine Nachrichten, kein »Tagebuch«, kein »Verwunderter Zeitungsleser«. Und nun nichts zu lesen. Nur Schriftsteller auf…tschenko oder…kowsky. Gute Sachen, gar nichts gegen zu sagen, aber man will nicht immer nur Gutes. Welles oder Conan Doyle wären mir heute gerade recht, doch die sind verpönt und nicht zu kriegen. Was bleibt mir noch, als Good Night everybody.

Die Befürchtungen eines Vaters oder einer Mutter von Anfang August 1960:

Überall in Elternkreisen hört man jetzt das ominöse Wort »Ganztagserziehung«, und es verbreitet nach allem, was wir in der letzten Zeit erlebt haben, nur Angst und Schrecken. […] Hat man an den Schulen nicht schon genug experimentiert? Sind unsere Kinder nur noch Versuchskarnickel, ähnlich den bedauernswerten Tieren, mit denen man in der Vivisektion arbeitet? Und sind wir Eltern nur noch Staatsangestellte für den Zweck, diesem Ungeheuer von einer Partei Kinder zu zeugen, mit denen sie umgehen darf, wie es ihr beliebt? […]

Ich fand Briefe von Soldaten.

Es ist kein Geheimnis, dass die NVA Angehörigen 3–4 Mal wöchentlich zu den Abendbrotportionen die »gute Sahna« aufgetischt bekommen. […] Ich sprach das einmal im Politunterricht an. Der Schulungsoffizier sagte mir auf den Kopf zu, ich sei ein politischer Tiefflieger.

So sieht es auch mit anderen Dingen bei uns aus. Die Stimmungen in den Einheiten sind bei den Soldaten und auch den Unteroffizieren (davon sind auch einige Offiziere nicht ausgeschlossen) nicht die Besten. Soldaten, die gerade 1 Jahr ihren Dienst versehen, aber haben schon, auf Deutsch gesagt, die Schnauze voll. Hier hört man den ganzen Tag weiter nichts als– Erhöhung der Einsatzbereitschaft. Und das ewige Gequatsche von den kriegslüsternen westlichen Imperialisten. Ich sage Ihnen, das habe ich satt. Ich und alle wie wir hier sind, werden gezwungen, eine bis zwei Zeitungen zu bestellen.

Aber nur die Überkandidelten lesen sie. Schon fünf Minuten nach der Ausgabe der Zeitungen findet man sie auf der Toilette wieder. Selbst nach dem Dienst ist man nicht Mensch über sich selbst. Alles ist bei uns in Arbeit aufgeführt. Es heißt: Sportarbeit, Kulturarbeit und Parteiarbeit. Das ist auch so ein Ding mit der Partei. Ich bin auch drin. Könnte mich heute noch ohrfeigen deswegen. Ich will mich hier nicht rausreden, aber es ist Tatsache. Als ich geworben wurde, gab ich zu verstehen, dass ich politisch noch nicht klar sehe. Man hat mich überrumpelt. Nach einigen Aussprachen wurde ich gewählt. So ungefähr hat man es mit mir auch bei der Weiterverpflichtung gemacht. […] Ich könnte noch stundenlang weiterschreiben, will aber für heute schließen. […]

Manch Absender war überraschend kreativ.

Im November 1963 unter der Überschrift