Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Wohin, bitte, geht's zum Glück? Und wo liegt das Paradies? Die Geschichtenerzählerin Susanne Niemeyer weiß es. Und erzählt davon. Das Paradies liegt zum Beispiel in der 43. Straße. Der Eintritt steht jedem frei. Das Glück wartet vor der Tür. Wer sucht, der findet. Hier und anderswo. Der schrullige Herr Wohllieb macht vor, wie es geht. Mit seiner liebenswerten Sicht der Welt eröffnet er neue Perspektiven und zeigt, dass sich hinter jeder Ecke eine neue Richtung auftut. 40 Geschichten vom alltäglichen Gelingen. Überraschend. Einfach. Anders als gedacht.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 59
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Ein einfach-leben-Buch
© Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2017
www.herder.de
Alle Rechte vorbehalten
Die Illustrationen sind von Susanne Niemeyer
Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal
Umschlagmotiv: © rtguest – shutterstock
E-Book-Konvertierung: post scriptum, Vogtsburg-Burkheim / Hüfingen
ISBN (E-Book) 978-3-451-81247-7
ISBN (Print) 978-3-451-00655-5
Herr Wohllieb hat zwei Paar Schuhe. Ein grünes und eins für besondere Tage. Das für besondere Tage sieht neuer aus.
Herrn Wohlliebs Mutter sagte immer: »Was neu ist, muss man schonen!« Und dann legte sie das just erworbene Küchentuch in den Schrank. Als sie starb, lagen dort 71 unbenutzte Tücher.
Was soll man mit so vielen Küchentüchern?, denkt Herr Wohllieb ratlos. Dann sieht er auf seine Schuhe hinab. Es sind die grünen.
Morgen, beschließt er, trage ich die anderen. Und dann wird das ein besonderer Tag.
***
Der Tag, an dem Herr Wohllieb den Möglichkeitssinn entdeckt, ist ein Dienstag. Dienstag ist Sophie-Tag. Sophie-Tag bedeutet Rhabarberkuchen. Herr Wohllieb liebt Sophies Rhabarberkuchen, wegen der dicken Schicht Baiser.
»Ist Ihnen schon mal aufgefallen«, fragt Herr Wohllieb, »wie viele grüne Sachen es gibt?«
»Sicher«, murmelt Sophie, ohne von ihrem Kuchen aufzusehen, »grüne Wiesen, grüne Bäume.«
»Ja, aber auch Ampelmännchen, Wasabi-Nüsse und diese kleinen, grünen Käfer, die so schön metallisch glänzen.«
»Ach«, sagt Sophie. »Was werden Sie mit dieser Erkenntnis anfangen?«
»Das weiß ich noch nicht.« Herr Wohllieb macht eine unbestimmte Geste. Er hat noch nie verstanden, warum alle Dinge gleich auf ihren Nutzen hin geprüft werden müssen. »Man braucht ein Auge für so etwas. Es muss einem erst auffallen, bevor man etwas damit anfangen kann. Stellen Sie sich vor, Sie würden jeden Tag auf ein anderes Detail achten. Heute widme ich meine Aufmerksamkeit der Farbe Grün.«
»Weshalb nicht Gelb?«
»Grün gefällt mir besser. Aber Sie können auch Gelb nehmen. Am Mittwoch achte ich auf alles, was angenehm riecht, am Donnerstag auf das, was glücklich macht, am Freitag auf Sachen, die mit T beginnen, und am Samstag auf Dinge, die nichts kosten. Sonntag denke ich mir dann etwas Neues aus«, beschließt Herr Wohllieb seine Aufzählung zufrieden. »Ich habe die leise Ahnung, es gibt eine Menge zu entdecken.«
Herr Wohllieb mag gestreifte Bettwäsche. Er würde nicht in Punkten schlafen. Punkte verwirren ihn. Streifen sind gerade Linien, die von A nach B verlaufen. Man kann ihnen folgen, auch im Traum. Es gibt Menschen, die gern querfeldein gehen, so einer ist Herr Wohllieb nicht. Da muss man ständig aufpassen, wohin man tritt, ob ein Sumpf vor einem liegt oder ob man in einer Sackgasse landet, ob man auf eine Schlange tritt oder im Kreis geht.
Herr Wohllieb mag die Vorstellung, dass Wege Linien sind, Linien über die ganze Erde, und irgendwo geht noch jemand auf derselben Linie, und Herr Wohllieb ist nicht allein. Das Wissen reicht ihm. Sie brauchen einander nicht zu treffen, er und der Mann in China sind auf derselben Linie. Und weil es viele solcher Linien gibt, kann man auch einfach nebeneinander hergehen, Platz genug ist ja, und Platz ist eine andere Sache, die Herrn Wohllieb glücklich macht.
Einen Platz braucht jeder auf der Welt, und ein Bett und Bettwäsche, denkt Herr Wohllieb, sollte es auch für jeden geben.
»Was ich mich frage, ist«, beginnt Herr Wohllieb, »ob es wohl mehr glückliche oder mehr unglückliche Menschen gibt.«
»Und?«, fragt Sophie, »was denken Sie?«
»Ich denke«, sagt er, »es gibt mehr glückliche Menschen. Sie wissen es nur nicht. Mich zum Beispiel macht eine Tasse Kaffee mit gesüßter Sahne glücklich oder das Nachlassen eines Juckreizes. Heute Morgen befand ich mich eine Weile Auge in Auge mit einem Buchfinken. Er sah mich so forschend an, als wollte er abwägen, ob eine Bekanntschaft mit mir lohnenswert wäre. Und dann roch ich den Frühling, gemischt mit dem Geruch eines Waschmittels, und plötzlich sah ich Butterblumenwiesen vor mir – und auch wenn ich wusste, dass das ein Bild der Werbung ist, war es dennoch schön.«
Sophie nickt. »Aber es ist nichts Besonderes, oder? Das gibt es doch jeden Tag.«
»Eben«, sagt Herr Wohllieb. »Das ist es ja! Was, wenn gar nicht das Glück das Besondere wäre, sondern das Unglück? Das einem deshalb so riesig und so ungeheuerlich vorkommt, weil es die Ausnahme ist? Vielleicht ist das Glück das Alltägliche, und wir vergessen bloß, es wahrzunehmen. So wie wir vergessen, über das Blau des Himmels zu staunen.«
Und weil Herr Wohllieb Herr Wohllieb ist, meint er es genauso, wie er es sagt.
Dass Herr Wohllieb ein leichtsinniger Mensch sei, kann man nicht behaupten. Eher im Gegenteil. Aber was ist das Gegenteil von Leichtsinn?
»Schwermut«, schlägt Sophie vor. Herr Wohllieb ist nicht sicher, ob das stimmt. Denn schwermütig ist er nicht, obwohl es ihm tatsächlich manchmal schwerfällt, mutig zu sein. Es gibt Menschen, die balancieren auf Brückengeländern oder sie springen von einem hohen Berg, als wären sie Vögel. Herr Wohllieb ist kein Vogel, so viel ist sicher. Wenn schon, dann wäre er eher ein Erdmännchen. Vielleicht auch ein Igel, weil ein Igel sich zu schützen weiß und niemals so tun würde, als könnte er fliegen. Außer im Kopf. Und das ist etwas ganz anderes. Herr Wohllieb unternimmt regelmäßig Ausflüge im Kopf, denn da kann nichts passieren, jedenfalls nichts, das einem den Hals bricht. Auf der anderen Seite kann gerade im Kopf sehr viel passieren. Genau genommen spielt sich darin schließlich das ganze Leben ab. Herr Wohllieb unternimmt jeden Morgen eine Reise durch seine Gedanken; vorzüglich geht das auf einem Daunenkissen, wenn der Tag noch frisch und die Geräusche gedämpft sind. Es ist eine so ungeheure Reise, und sie endet nie, weil hinter jedem Gedanken ein neuer Gedanke liegt und alle Richtungen möglich sind. Ist man zum Beispiel beim Thema Atomschmelze in eine Sackgasse geraten, wendet man sich einfach dem schönen Wort Alabasterglanz zu, und schon tauchen neue Gedanken auf. Und genau das ist wie fliegen, morgens um halb sechs.