Herrn Ohlmanns Sehnsucht nach Brot - Björn Schmidt - E-Book

Herrn Ohlmanns Sehnsucht nach Brot E-Book

Björn Schmidt

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Beschreibung

Sechzig Jahre lang hat Hans Heinrich Ohlmann den Irrungen und Verlockungen des Menschseins biederes Mittelmaß entgegengesetzt und ist damit gut gefahren. Doch auf einmal verändert sich seine Frau und Herrn Ohlmanns Welt gerät ins Wanken ...

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Björn Schmidt

Herrn OhlmannsSehnsucht nachBrot

© 2018 Björn Schmidt

Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7469-5887-3

Hardcover:

978-3-7469-5888-0

e-Book:

978-3-7469-5889-7

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Kapitel 1

Hans Heinrich Ohlmann hatte, soweit er sich erinnern konnte - und sein Erinnerungsvermögen funktionierte gemeinhin gut –, noch nie Probleme mit Kopfschmerzen gehabt. Einmal, er war sechzehn, als man ihm einen Ball an die Birne geknallt hatte, und einmal im mittleren Erwachsenenalter als Beigabe eines grippalen Infekts – häufiger nicht. Zwar konnte man nicht behaupten, er wäre ein rundum gesunder Mensch, seine Schwachstellen kannte er wohl, das Cholesterin, der Blutdruck, aber der Kopf gehörte im Großen und Ganzen nicht dazu. Wenn er ehrlich war, und das war er zu seinem eigenen Bedauern nicht immer, war er sogar ein wenig stolz auf seinen Kopf. Sein Kopf war der eines denkenden Mannes, eines vernunftbegabten Wesens, eines Homo Sapiens Sapiens mit Hang zu gutem und deftigem Essen. Wurstsalat war eine seiner Lieblingsspeisen. Wurstsalat oder Schweinerückensteak mit Bratkartoffeln. Dazu ein frisch gezapftes Pils. Oder noch besser: Mineralwasser.

Herr Ohlmann stöhnte. Mineralwasser war genau das, was er jetzt gebrauchen konnte. Sein Hinterkopf pochte unangenehm stechend im Takt des viel zu laut tickenden Weckers. Er knüllte sein Kissen anders zusammen, um seinen Kopf so weich wie möglich darauf zu betten, aber das Pochen verstärkte sich nur noch. Nach zwei weiteren erfolglosen Versuchen, das Kissen kopfschonend umzuformen, stieß er es weg und verließ entgegen jeder Vernunft das Bett. Wegen der plötzlichen Erschütterung raste sein Hirn wie noch nie. Das Kissen hatte er schon immer gehasst. Es gehörte zu diesen schrecklich ausgebeulten Erfindungen, wie Margret sie mochte. Margret mochte auch furchtbar flauschige Daunendecken, die dicker waren als lang und einem die Atemluft auslöschten wie eine Betonwand, dafür aber die Füße, sofern man sich nicht zusammenrollte wie ein Igel, regelmäßig der Kälte auslieferten. Margret hatte das Problem nicht. Sie war kurz, nur etwa ein Meter sechzig, vielleicht auch eins zweiundsechzig, manchmal kommt es den Frauen ja doch auf die Größe an.

Herr Ohlmann schüttelte sich. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und versuchte, sich im Spiegel des Schlafzimmerschranks zu betrachten. Viel erkennen konnte er nicht, was vielleicht auch gut so war, denn es war noch recht früh am Morgen und durch den Spalt der angelehnten Tür fiel nur wenig Licht. Margret klapperte unten bereits mit dem Geschirr. Wahrscheinlich ahnte sie noch nicht einmal, dass jedes Geräusch ihm Pein verursachte, denn Margret war, was die weniger alltagsbezogenen Dinge des Lebens betraf, erstaunlich naiv. Kurios eigentlich, da sie doch sonst Gefahren witterte, wenn andere sich noch auf der sicheren Seite wähnten. Margret konnte zum Beispiel Krümel erkennen, die normale Menschen selbst unter dem Mikroskop nur erahnten, und sie hatte auch ein Händchen für Anschaffungen, die einem, wenn nicht getätigt, über kurz oder lang noch leidtun würden.

Herr Ohlmann hatte keine Lust, Margret in der Küche zu helfen, zog sich stattdessen Hausschuhe und Bademantel über und schlich unbeobachtet nach unten und von dort über die Terrassentür hinters Haus. Ein Irrsinn, im Oktober ein Gartenfest zu veranstalten. Genauso hatte es Margret Wochen zuvor auch formuliert: „Ein Irrsinn, im Oktober ein Gartenfest zu veranstalten.“ Und es war nicht einmal Anfang Oktober gewesen, sondern Samstag, der vierundzwanzigste, als Herr Ohlmann seinen sechzigsten Geburtstag feierte. Nun war Sonntag, der fünfundzwanzigste, und Herr Ohlmann wunderte es sehr, dass er in den Taschen seines Morgenmantels noch Zigaretten fand. Der Morgendunst und der Zigarettenrauch vermischten sich zu einer trüben Wolke, die in etwa dem leeren Gefühl entsprach, das sich in schmerzfreien Sekunden in Herrn Ohlmanns Kopf ausbreitete. Leer war auch der Garten und doch viel voller als gewöhnlich, denn es standen über dreißig Bierzeltgarnituren darin herum. Menschenleere Bierzeltgarnituren, gefüllt mit leeren oder halbleeren Flaschen, Gläsern, Aschenbechern. Dekoriert ganz klassisch in weiß-blau. „Blau-weiß“, hatte es Margret genannt, und Herr Ohlmann staunte selbst darüber, dass ihm die korrekte Bezeichnung „weiß-blau“ so wichtig gewesen war, lebte er doch Hunderte von Kilometern von der Grenze zum Freistaat Bayern entfernt.

Lange hatte Herr Ohlmann überlegt, wen er zu seiner Party einladen sollte. Schulfreunde hatte er ein paar recht gute gehabt, aber die letzten Kontakte waren vor über zehn Jahren eingeschlafen, und so wäre es wohl unglaubwürdig gewesen, dort noch einmal nachzuhaken. Er wusste selbst noch zu genau, wie er sich gefühlt hatte, als er mit zweiundvierzig eine Einladung zur Hochzeit eines Freundes erhalten, den er achtzehn Jahre zuvor zum letzten Mal gesehen hatte. Instinktiv hatte er Mitleid mit diesem Freund verspürt, der offenbar niemanden kannte, mit dem er seine Feier hätte aufpeppen können. Wie wäre es wohl anders zu erklären gewesen, dass der Freund ausgerechnet ihn, seinen Banknachbarn in Englisch, hatte ausgraben müssen, nur um vor gegenwärtigen Bekannten mit seiner Vergangenheit zu prahlen? Gottlob war Herrn Ohlmann, nachdem sich die erste Freude über die unverhoffte Einladung gelegt hatte, eine gute Ausrede eingefallen, die er schriftlich und unter Wahrung der Höflichkeit auf den Postweg brachte. Jedenfalls hatte er seinerseits niemanden in die Verlegenheit bringen wollen, von einer Einladung überrascht zu sein und vor der Wahl zu stehen, sich zu mittlerweile fremden Menschen begeben oder sich eine letztlich durchschaubare Ausflucht ausdenken zu müssen.

Der Kegelclub war klar. Man hatte sich in den vergangenen Jahren reihum zu runden Geburtstagen eingeladen, und wie hätte es da ausgesehen, wenn ausgerechnet Herr Ohlmann, der beinahe noch zu den Gründungsmitgliedern gehörte, da eine Ausnahme gemacht hätte? Neun Leute umfasste der Club, der den Namen „Alle Neune“ schon trug, als man noch zu sechst gewesen war. Aber nun war man zu neunt, und dies noch zu ändern – hier war sich Herr Ohlmann sicher, für seine Vereinskameraden mitzusprechen – kam wohl niemandem mehr in den Sinn. Der Kegelclub war eine ausgewogene Gesellschaft. Gewiss, mit dem einen oder anderen Mitglied hätte er in anderen Zusammenhängen womöglich weniger gut harmoniert, aber Kegeln sorgte eben an sich schon für Harmonie und brachte einen ruhig und unspektakulär zur inneren Mitte. Man saß, man erzählte, trank und rollte die Kugel – Säuglinge auf Kuscheldecken hatten es nicht besser. Einzig offene Frage in Bezug auf den Kegelclub war die nach der Einladung der Frauen gewesen. Zwei davon waren mit Margret befreundet und konnten, soviel Unverschämtheit musste und durfte sein, sogar bei der Organisation des Festes helfen. Zwei weitere hielten sich unauffällig im Hintergrund, zwei waren ihren Männern weggelaufen ohne für Ersatz zu sorgen, eine war eine äußerst unangenehme Schreckschraube und eine bereits tot – Isabelle, die hübscheste von allen. Verdammter Krebs.

Herr Ohlmann hüstelte und zog nachdenklich an seiner Zigarette. Er hatte sich schließlich entschieden, den Kegelclub mit weiblicher Begleitung einzuladen. Das passte erstens besser in das Gesamtbild und zweitens, wichtiger noch, konnte er es Margret nicht antun, auf ihre beiden fleißigen Freundinnen zu verzichten. Und nur diese beiden Freundinnen ohne die anderen Partnerinnen der Kegler einzuladen, wäre dem gemeinen Kegelbruder schwer vermittelbar gewesen. Reine Glückssache, dass ausgerechnet die Schreckschraube kurzfristig absagen musste – Halsentzündung, aber vielleicht auch nur vorgeschoben. Obwohl, Schreckschrauben und andere Sorten unangenehmer Menschen, da kannte Herr Ohlmann keine Ausnahmen, suchten eigentlich nie nach Gründen, einen mit ihrer Anwesenheit zu verschonen. Im Gegenteil, sie waren immer dort, wo man sie nicht haben wollte, und quälten einen mit lauten und unangenehmen Gesprächen. Wahrscheinlich war es wirklich eine Halsentzündung. Schade nur, dass der Mann seiner Frau zuliebe ebenfalls zu Hause hatte bleiben müssen.

In Herrn Ohlmanns Kopf pochte es wieder etwas stärker. Er hätte sich nicht so tief hinunterbeugen sollen, um die Zigarette auszudrücken. Wozu besaß man Füße? Jeder Mensch besaß Füße – auch die Arbeitskollegen. Vor allem die Kolleginnen beeindruckten gern mit hohen Absätzen unter ihren Schuhen. Auf dem Amt hörte sich das irgendwie kompetent und tatkräftig an, wenn sie damit die allabendlich geschrubbten Flure auf und ab marschierten. Als ob das Gesetzbuch laufen gelernt hätte, so hart und verbindlich takteten sie einem durch die Ohren. Aber das Gesetz konnte nicht laufen. Das Gesetz, das wusste Herr Ohlmann, der sich seit vielen Jahren damit befassen musste, aus leidvoller Erfahrung, konnte sich noch nicht einmal verständlich ausdrücken, wie hätte es da laufen sollen? Eigentlich war das Gesetz nur dazu da, den Politikern zu ermöglichen, es zu ändern. „Wir brauchen eine Gesetzesänderung“, hörte man immer wieder, wenn Politiker Arbeitsnachweise erbringen mussten, „wir brauchen ein neues Soundso-Gesetz“. Für Herrn Ohlmann hätte das Grundgesetz in seiner Ursprungsfassung voll und ganz genügt. Genau genommen war ihm selbst das noch zu viel, und er hätte, die biblischen zehn Gebote als Basis nehmend, mit sich selbst die Übereinkunft getroffen, es auf die Goldene Regel zu beschränken: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg' auch keinem andern zu“ war wenigstens ein Gesetzestext, den jeder verstehen konnte. Aber die Kolleginnen mit den lauten Schuhabsätzen verkauften selbst die verzwicktesten Unterparagraphen noch derart seriös, dass man meinen konnte, sie wüssten, wovon sie redeten.

Leicht war es nicht, aus den einhundertzweiunddreißig Beamten und Angestellten seines Amtes eine zumutbare Zahl einladbarer Gäste herauszudestillieren. Er hätte sich natürlich auf die zwanzig Personen beschränken können, die in seiner eigenen Abteilung tätig waren, aber erstens konnte er die nicht alle leiden, und zweitens hätte er einigen guten Bekannten aus anderen Abteilungen damit schmerzliches Unrecht zugefügt. Der Skatrunde aus der Mittagspause zum Beispiel. Oder den Wanderfreunden aus der Betriebssportgruppe. Herr Ohlmann entschied sich schließlich für achtzehn Männer und neun Frauen, denen er sich aus den unterschiedlichsten Gründen zugetan oder zumindest verpflichtet gefühlt hatte. Unter den Frauen waren auch drei mit regelmäßig stark erhöhten Schuhabsätzen gewesen, und Herr Ohlmann hatte ihretwegen überlegt, auf die Einladungskarten etwas von gartengerechter Kleidung zu schreiben, es dann aber belassen. Erwachsene Menschen würden schon in der Lage sein, im Lampionschein den schwerwiegendsten Schlammpassagen auszuweichen, was sich in der Praxis dann auch als weitgehend zutreffende Annahme herausgestellt hatte.

Herr Ohlmann hatte sich zwischenzeitlich an eine der Bierzeltgarnituren gesetzt. Auf dem Platz hatte am Vorabend der Nachbar von schräg gegenüber gehockt, aber nur kurz, da er am Abend noch zu einer Vorstandssitzung in die Innenstadt hatte fahren müssen. Der Nachbar war Kriminalkommissar, ein ernster Mann, in dessen Nähe man sich immer auch selbst ein bisschen ernster und wichtiger fühlte. Herr Ohlmann unterhielt sich üblicherweise gern mit diesem Herrn, aber gestern hatte er ihn auf einmal aus unerfindlichen Gründen nicht mehr leiden können. Dabei hatte sich nichts an dem Menschen selbst geändert, er hatte immer noch dieselbe seriöse Aura, denselben disziplinierten Gesichtsausdruck und auch dieselbe liebenswerte Frau an seiner Seite sitzen, die es durch freundliches Grüßen und gepflegten Smalltalk immer wieder schaffte, das ohnehin schon angenehme nachbarschaftliche Klima in der ruhigen Wohnstraße noch erfreulicher zu gestalten. Herr Ohlmann überlegte, was genau ihn an dem Nachbarn gestern so gestört hatte, kam aber beim besten Willen nicht mehr darauf. Die Vorstandssitzung konnte er ihm gewiss nicht verübeln, das wäre kleinkariert, und kleinkariert wollte Herr Ohlmann nicht sein. Immerhin war der Mann zwei volle Stunden auf der Feier geblieben und sogar nach seiner Rückkehr aus der Innenstadt noch einmal vorbeigekommen, um sich mit den verbliebenen Gästen zu unterhalten – nicht aber mit Herrn Ohlmann, der ihm tunlichst aus dem Weg gegangen war.

Der Kommissar war mindestens dreiundsechzig, genau wusste es Herr Ohlmann nicht, weil der Nachbar nicht zu feiern pflegte, aber er hatte das Alter vor Jahren in irgendeinem Artikel in der Lokalzeitung erwähnt gefunden und seither grob mitgerechnet. Kurios, dachte Herr Ohlmann, dass er das Alter des Kommissaren immer aus der Erinnerung an das Erscheinungsjahr des Lokalzeitungsartikels errechnete und nicht, wie es naheliegend gewesen wäre, als kinderleichtes Hinzuzählen der Jahre, die der Kommissar seinem eigenen Lebensalter voraushatte. Warum zum Teufel, dachte Herr Ohlmann mit stechendem Schädel, hatte er damals nicht darauf geachtet, wie viele Jahre der Kommissar älter war als er selbst? Warum hatte er sich die Rechnerei so schwer gemacht und seine Erkenntnisse auf ein längst in Vergessenheit geratenes Stück Papier gestützt? Vor allem aber: Was hatte ihm der nette Herr Nachbar gestern angetan? Hatte er beim Gratulieren eine komische Bemerkung gemacht? Hatte er ihn dabei schief angesehen? Es war einfach nicht mehr herauszufinden, und Herr Ohlmann stand wieder auf, während er zum wiederholten Male am heutigen Morgen die Erfindung des Alkohols bedauerte.

Der Ort war einfach trostlos. Herr Ohlmann, der seinerseits dazu neigte, bei grenzwertigen Trinkgelagen sein letztes Glas oder seine letzte Flasche einfach irgendwo stehen zu lassen, hätte nicht gedacht, wie viele seiner Mitmenschen genauso verfuhren. Nicht dass er ihnen das Maß an Intelligenz, das hierzu nötig war, nicht zugetraut hätte, aber er hätte den meisten Leuten in diesem Zusammenhang doch einen größeren sportlichen Ehrgeiz unterstellt. Vielleicht aber auch die Souveränität, das letzte Getränk erst gar nicht in die Hand zu nehmen.

Herr Ohlmann schlurfte zum Schuppen, holte sich einen leeren Eimer und begann damit, die Getränkereste, Tisch für Tisch, hineinzuschütten. Die Idee mit der Gartenparty war wirklich bescheuert gewesen. Warum hatte er nicht einfach auf Margret hören können? Beim fünfzigsten hatte er es noch anders gemacht, da war er fein und gediegen in ein Hotel ausgewichen, hatte einen großen Nebenraum für sich und seine Gäste gemietet, was freilich auch eine hohe Rechnung ergeben hatte. Aber solche Rechnungen konnte man eben bezahlen, schließlich wurde man nur einmal fünfzig und sollte so jung nicht mehr zusammenkommen.

Die Getränkereste füllten den Eimer schneller als gedacht. Die Farben des einst goldblonden, nun aber abgestandenen Bieres vermischten sich mit den dunkleren Tönen von Cola oder Rotwein. Oben tanzte eine schmutzige Schaumkrone und vergrößerte sich stetig. Nach einer Weile fiel Herrn Ohlmann ein, dass er die nicht ausgetrunkenen Getränke hätte zählen sollen, des besseren Überblicks wegen, aber da war es schon zu spät, um noch zu einem plausiblen Ergebnis zu gelangen. Die ausgeleerten Flaschen stellte Herr Ohlmann zurück in die entsprechenden Getränkekisten, Sektgläser sammelte er auf einem speziellen Tisch und die großen Tassen auf einem anderen. Die Idee mit den großen Tassen und dem Glühwein, für den sie vorgesehen waren, stammte natürlich von Margret. Herr Ohlmann hatte sie zunächst verwerfen wollen, schließlich war es erst Oktober und Glühwein eine Sache für Weihnachtsmärkte, aber als Margrets Freundinnen sich auf ihre Seite schlugen, hatte er nachgegeben und bei sich gedacht, dass man hinterher ja sehen werde. Den im Behälter zurückgelassenen Resten nach zu urteilen, hatte der Glühwein größeren Anklang gefunden als gedacht. Die Frauen, dachte Herr Ohlmann, die Frauen frieren leicht und suchen instinktiv nach Wärmequellen. Margret und ihre Freundinnen hatten quasi immer eine Glühweintasse in der Hand gehabt, und ein paar der Kolleginnen und Nachbarinnen auch. Herr Ohlmann überlegte, die Glühweinreste nicht in den Eimer, sondern zurück in den Glühweinbehälter zu kippen, aber es fand sich in keiner Tasse auch nur der kleinste Rest des Getränks.

Nun war er also sechzig, dachte Herr Ohlmann, während er nach einem geeigneten Busch suchte, unter dem er die gesammelte Flüssigkeit entleeren könnte, entschied sich dann aber, seriös, wie er zu sein hatte, für den Gulli vor der Haustür. Er war also sechzig und schleppte gerade einen Eimer mit Getränkeresten zur Straße, um ihn dort, an einem nebligen und kühlen Oktobermorgen, in den Gulli zu entleeren. Kaum war man geboren, schon war man sechzig. Das Einzige, was einem das Gefühl vermittelte, dass etwas wie Zeit zwischen den beiden Ereignissen gelegen hatte, war die traurige Tatsache, dass Erinnerungen an die Jahre der Kindheit mehr und mehr verblassten. Dabei war die Kindheit an sich schon eine Periode der Unendlichkeit gewesen. Auch wenn die Details nun verschwammen, erinnerte sich Herr Ohlmann noch genau an das wohlige Gefühl, das ihn als sechs- oder siebenjährigen Dorfjungen bei dem Gedanken überkommen hatte, ganz am Anfang eines wahrscheinlich langen Lebens zu stehen. Er erinnerte sich an das synchrone Kratzen der Füllfederhalter und die surrenden Filmprojektoren aus seinen ersten Grundschuljahren, an die brummenden Rasenmäher und den Duft an sonnigem Junitag gemähten Grases. Er erinnerte sich an den gravierenden Unterschied, den es damals zwischen Winter und Sommer gegeben hatte, und an das jubelnde Singen, das aus ihm herausgebrochen war, als er an mildem Frühjahrsmorgen hoch und höher in den Himmel schaukelte und dem Herrgott so nahe war wie später nie in seinem Leben. Das war die Zeit, als er noch Mutter und Vater hatte. Nicht in der Weise, in der er sie später als Erwachsener haben sollte, sondern in der Weise eines Kindes, das die Eltern braucht, um seinen eigenen Platz im Leben zu finden.

Nun hatte er seinen Platz gefunden, dachte Herr Ohlmann. Nun stand er, der sechzigjährige Mann, mit schmerzendem Kopf und Morgenmantel in seinem Garten und machte sich daran, den soeben geleerten Eimer ein zweites Mal mit abgestandenen Getränken zu füllen. Durch das gekippte Küchenfenster hörte er klar und deutlich das Klappern. Früher oder später würde er sich Margret stellen müssen. Früher oder später würde er ihr einen Guten Morgen wünschen und sich ihre Beurteilung des zurückliegenden Abends anhören. Natürlich würde sie Kritik üben. Aber woran? Wahrscheinlich an ihm, dachte Herr Ohlmann, denn die Rolle eines Gastgebers lag ihm wahrlich nicht besonders gut. Ohnehin wurde er von Margret häufig kritisiert. Meistens seiner Manieren wegen. Margret warf ihm zum Beispiel vor, wie ein Hund zu essen. Damit hatte sie zweifellos Recht, denn man konnte ihm vor die Nase halten, was man wollte – er aß es auf. Selbst bei bestem Willen konnte er dabei ein gewisses Schmatzen nicht vermeiden, zumindest dann nicht, wenn er sich noch einen letzten Rest Essensfreude bewahren wollte. Das sagte ihm Margret dann. Sie sagte zum Beispiel: „Schmatz nicht“, oder: „Hör auf zu Schmatzen“, manchmal auch: „Dein Geschmatze nervt.“ Herr Ohlmann verstand daran vieles, nur eine Sache nicht: Margret liebte Hunde über alles, allen voran ihr Cockerspaniel-Weibchen Molly. Und Molly aß an den meisten Tagen auch nicht mit Messer und Gabel.

Es würde besser sein, dachte Herr Ohlmann, wenn er das unvermeidbare Gespräch mit Margret so offensiv wie möglich begänne. Zumindest würde er dann seine Grundaussage verkaufen können, und das musste er nicht nur Margret gegenüber, sondern gegenüber allen, die in den nächsten Tagen mit ihm reden würden. Sie alle würden von ihm dieses eine wesentliche Statement hören wollen. Würden wissen wollen, wie es mit sechzig war und hören, wie er damit zurechtkam. Ja – wie kam er damit zurecht?

Herr Ohlmann ließ den Eimer sinken und setzte sich erneut an einen Bierzelttisch – dieses Mal an den Platz, an dem die Frau des Kommissars am Vorabend gesessen hatte. Wollten die Menschen die Wahrheit von ihm hören? Wollten sie tatsächlich wissen, was es ihm bedeutete, sechzig Jahre alt geworden zu sein? Herr Ohlmann zog eine weitere Zigarette aus der Tasche seines Morgenmantels und blickte in den Nebel. Der Tod war es, den die anderen einem unter die Nase rieben. Verpackt in heuchlerische Glückwunschworte, hinter denen sich ein hämisches Grinsen darüber verbarg, wieder ein Stück Leben durch die Sanduhr herabrieseln zu sehen. Warum waren die Menschen so? Warum hatten sie kein Mitleid? War ihnen nicht klar, dass auch auf sie nichts anderes als der Tod wartete? Auf den einen etwas länger, auf den anderen eben kürzer, und wer sechzig war, der musste nicht lange rechnen, um zu wissen, zu welcher Gruppe er gehörte.

Egal, was sie ihn fragen würden, er würde auf die positiven Aspekte verweisen. Altersweisheit zum Beispiel, oder auch auf die innere Ruhe, die sich mit den Jahren in einem breitmachte. Und er würde sagen, dass es ein großes Glück gewesen sei, bei allem Bösen, was der Mensch sich immer noch antun könne und auch nachweislich antue, eine so lange Friedensepoche in der geliebten Heimat erleben zu dürfen. Dankbarkeit und Demut, dagegen würde keiner etwas sagen können, nicht einmal Margret, die den Finger gern in die Wunde legte, vielleicht, weil sie einmal Krankenschwester gewesen war, aber in den großen Dingen doch bewundernswert instinktsicher wusste, was sich gehörte.

Das Klappern hatte aufgehört. Herr Ohlmann glaubte zu bemerken, wie Margret am Fenster stand und ihn beobachtete. Er ärgerte sich ein wenig, denn es wäre ihm lieber gewesen, Margret hätte ihn beim Entsorgen der Altgetränke gesehen und nicht beim nutzlosen und rauchenden Herumsitzen. Wahrscheinlich hatte Margret seinen Gedanken durchschaut, denn sie verließ das Fenster sofort wieder und verursachte im Hintergrund ein paar andere laute Geräusche.

Als er Margret kennengelernt hatte, steckte er selbst noch in seiner Ausbildung an der Verwaltungsschule. Lange hatte er vorher überlegt, ob er Bibliothekar oder Verwaltungsangestellter werden sollte, und sich schließlich für beide Ausbildungsgänge beworben. Die Entscheidung hatte der Zufall getroffen und ihm damit auch Margret gebracht, denn die Ausbildungsstätte für Bibliothekswesen wäre in einer ganz anderen Ecke des Landes gewesen. Wichtig war Herrn Ohlmann, dass er Margret nicht, wie es durchaus hätte passieren können, als Patient des Krankenhauses, in dem sie seinerzeit schon arbeitete, sondern als abendlicher Kneipenbesucher kennengelernt hatte. Margret wies damals für eine Frau beachtliche Fähigkeiten im Poolbillard auf, und er, Herr Ohlmann, hatte sie mehrfach in den unterschiedlichsten Teams zur Gegnerin gehabt. Eines Abends waren sie die letzten verbliebenen Gäste im Billardraum gewesen, etwas Alkohol war auch im Spiel, und so war eins zum anderen gekommen. Man heiratete nicht direkt, sondern erst nach ein paar Jahren des Prüfens und Abwägens, aber dann wurde recht schnell das Haus in der ruhigen Wohnsiedlung am Stadtrand gebaut. Margret gab ihren Job auf, um sich Haus und Kindern zu widmen, wobei die Kinder nach einigen Versuchen letztlich doch nicht auf die Welt kamen. An wem das genau lag, wurde zumindest von Herrn Ohlmann nie überprüft, was ja auch keinen Sinn ergeben hätte, denn das Ergebnis wäre dasselbe geblieben. Margret jedenfalls fühlte sich wohl in der Hausfrauenrolle. Sie erwies sich als außerordentlich reinlich und erweckte nicht den Eindruck, dass irgendetwas an ihrem Leben sie langweilen könnte. Einen letzten Rest der alten Kneipen-Margret bewahrte sie sich dadurch, dass sie ein solides Tagesquantum an Zigaretten verbrauchte, wobei sie aber nie in Wohnzimmer oder Küche rauchte, denn ein gutes Wohnklima war ihr wichtig, sondern stets nur im Badezimmer in der Nähe des gekippten Fensters.

Herr Ohlmann selbst rauchte grundsätzlich nicht im Haus, nicht einmal im Badezimmer, wo es eigentlich niemanden gestört hätte. Er rauchte sowieso ziemlich selten, so gut wie nie, wenn man es genau nahm, und nur dann, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab. Die Zigaretten in seinem Morgenmantel mussten schon ziemlich lange in der Tasche gesteckt haben. Sie schmeckten alt, älter als er sich fühlte, oder zumindest ebenso alt. Nun sah er Margret ganz deutlich am Fenster stehen. Sie winkte ihm zu und gab ihm ein Zeichen, hineinzukommen. Wahrscheinlich sorgte sie sich um seine Gesundheit, denn es war wirklich frisch und der Morgenmantel nicht gerade wärmend. Er würde Margret nun den Gefallen tun und hineingehen, dachte Herr Ohlmann, denn es war gewiss nicht angebracht, sich um seine Gesundheit zu sorgen. Langsam stand er auf, drückte die nach der zweiten nahtlos angezündete dritte Zigarette dieses Morgens aus und ging müden Schrittes zur Terrassentür. Nein, Sorgen waren unbegründet, denn der Tod war bei ihm und würde schon auf ihn aufpassen.

Kapitel 2

„Wir sollten den Hund abgeben.“

„Was?“

„Ich finde, wir sollten den Hund abgeben.“

„Du meinst, wir sollten Molly weggeben?“

„Ja.“

Herr Ohlmann hätte so ziemlich alles erwartet, aber nicht das. Ihm gegenüber stand Margret, wie er mit einem Morgenmantel bekleidet, aber mit einem rosafarbenen, und steckte ein gerade abgeschrecktes Ei in einen passenden Becher. Margret hatten die Strapazen der zurückliegenden Nacht offenbar weniger ausgemacht als ihm, denn sie blickte erstaunlich frisch zu ihm herüber. Herr Ohlmann hätte eigentlich ein paar wohlwollende Sätze zum gestrigen Abend verlieren wollen, vielleicht sein in den nächsten Tagen noch häufiger anzuwendendes Statement zum sechzigsten Lebensjahr ausprobieren, aber Margrets Aussage forderte ein Überdenken des Gesprächskonzepts. Typisch für Margret wäre gewesen, ihm erst einmal aufzuzählen, was sie an diesem Morgen bereits alles geleistet hatte. Sie hätte zum Beispiel das gespülte und weggeräumte Geschirr erwähnen können oder das gelüftete Schlafzimmer mit dem wahrscheinlich längst gemachten Bett. So oder ähnlich sah seit mehr als dreißig Jahren ihr liebgewonnenes Begrüßungsritual aus. Er, Herr Ohlmann, kam nach getaner Arbeit nach Hause und sie, Margret, erzählte ihm von ihrem bisherigen Tag. Das tat vor allem deswegen gut, weil man dabei weitgehend abschalten konnte und auf andere Gedanken kam. Auf der Arbeit war es ja doch so, dass immer wieder eine Art Konzentration auf eine Art Sachverhalt erforderlich war – zu Hause aber konnte Herr Ohlmann Margrets ersten Redeschwall genießen wie die sich ewig ähnelnde Brandung eines sanften Meeres.

Den Hund abzugeben, sah Margret alles andere als ähnlich. Sie hatte ihn vor ungefähr zwölf Jahren angeschafft, ohne vorher großartig darüber geredet zu haben. Wahrscheinlich war es eine Sektlaune gewesen, die sich auf einem Ausflug mit den Freundinnen ergeben hatte. Herr Ohlmann war damals jedenfalls unglaublich wütend geworden und hatte getobt wie nie, vor allem, als Margret den Satz gesagt hatte: „Wenn wir schon keine Kinder kriegen können, können wir wenigstens einen Hund kriegen.“ Herr Ohlmann hatte das als unmissverständlichen Angriff auf seine eigene Person gewertet, und erst in langen und mühsamen Gesprächen war es Margret gelungen, ihn von seiner Fehlinterpretation abzubringen. Schließlich hatte sie den Satz in der Wir-Form gesprochen und war damals selbst schon fast Ende vierzig, sodass von Kindern ohnehin keine Rede mehr sein konnte. Herr Ohlmann aber mochte Molly nie wirklich leiden, obwohl sie dank Margrets häuslicher Bemühungen ein erträglich erzogener und gutmütiger Hund geworden war. Sein Aufgabenbereich hingegen lag in den Spaziergängen mit Molly – morgens vor der Arbeit und am Abend noch einmal eine Runde um die Wohnsiedlung. Das waren dann die Minuten, die Margret für sich hatte und zu Hause mit einer Tasse Kaffee oder einer Zigarette genoss.

„Du willst nicht ernsthaft Molly abgeben. Sie ist seit zwölf Jahren hier!“ Herr Ohlmann merkte selbst, dass seine Argumentation halbherzig und unausgereift wirkte, denn allein die Tatsache, dass sich etwas seit zwölf Jahren irgendwie verhielt, rechtfertigte längst nicht, dass es sich auch weiter so verhalten musste. Wäre er ehrlich gewesen, hätte er zugegeben, dass Molly ihm seit zwölf Jahren auf die Nerven ging. Allein schon durch die Tatsache, dass sie sich ihr Futter nicht selbst kaufen und in den Napf kippen konnte. Auch dass ein Hund nicht wie andere Leute aufs Klo ging, sondern einfach irgendwo draußen hin kackte. Am Anfang mit Vorliebe an die Straßenecke Finkenweg/Meisenweg – bis der dort lebende Anwohner ein Schild mit dem freundlichen Hinweis „Hier ist kein Hundeklo“ dergestalt platzierte, dass man es nicht mehr ignorieren konnte. Allesamt lästige Dinge, die Margrets überraschenden Vorschlag als unerwartete Erlösung hätten erscheinen lassen müssen. Aber Herr Ohlmann wollte Molly nicht abgeben, jetzt nicht mehr, denn Molly hatte ein Recht darauf, hier zu sein.

„Sieh mal“, sagte Margret, „wenn wir ehrlich sind, dann haben wir doch beide Molly nie sonderlich gemocht. Sie war da, wie man eben da ist, aber im Grunde hat sie uns doch bloß von den wirklich wichtigen Dingen im Leben abgehalten.“

„Ach ja, und was sind die wirklich wichtigen Dinge im Leben?“ Herr Ohlmann empfand die Aggressivität, die in seiner Gegenfrage mitschwang, selbst als unangenehm und hielt sich den Hinterkopf, um dem sich wieder verstärkenden Pochen etwas entgegenzusetzen.