Herrschaft und Handlungsfähigkeit in der Lohnarbeit - Dimitri Mader - E-Book

Herrschaft und Handlungsfähigkeit in der Lohnarbeit E-Book

Dimitri Mader

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Beschreibung

In welchem Verhältnis stehen unternehmerische Herrschaft und Handlungsfähigkeit der Arbeitenden zueinander? Um diese Frage zu beantworten, führt Dimitri Mader eine Metastudie zur Form betrieblicher Macht- und Herrschaftsordnungen in ausgewählten Arbeitsfeldern durch und ermöglicht einen Einblick in ein breites Spektrum an Arbeitskontexten – von einfacher Dienstleistungsarbeit über Altenpflege bis hin zum mittleren Management. Die Ergebnisse widersprechen der verbreiteten Diagnose einer zunehmenden »Selbstbeherrschung« der Arbeitenden. In der Gesamtbetrachtung hat sich die Ausprägung betrieblicher Herrschaft – verstanden als durch Zwang gestützte Macht von Menschen über Menschen – in einigen Klassenlagen sogar drastisch verstärkt.

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Über das Buch

In welchem Verhältnis stehen unternehmerische Herrschaft und Handlungsfähigkeit der Arbeitenden zueinander? Um diese Frage zu beantworten, führt Dimitri Mader eine Metastudie zur Form betrieblicher Macht- und Herrschaftsordnungen in ausgewählten Arbeitsfeldern durch und ermöglicht einen Einblick in ein breites Spektrum an Arbeitskontexten – von einfacher Dienstleistungsarbeit über Altenpflege bis hin zum mittleren Management. Die Ergebnisse widersprechen der verbreiteten Diagnose einer zunehmenden »Selbstbeherrschung« der Arbeitenden. In der Gesamtbetrachtung hat sich die Ausprägung betrieblicher Herrschaft – verstanden als durch Zwang gestützte Macht von Menschen über Menschen – in einigen Klassenlagen sogar drastisch verstärkt.

Vita

Dimitri Mader, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Osnabrück und der Universität Braunschweig.

Inhalt

1.Einleitung

1.1Herrschaft in arbeitssoziologischen Zeitdiagnosen, oder: Warum eine nach Klassenlage differenzierte Meta-Analyse von Betriebsfallstudien?

1.2Fragestellung und Forschungsstrategie

1.3Aufbau der Arbeit

2.Theoretische Vorüberlegungen: Lohnarbeit, Herrschaft und Klasse

2.1Lohnarbeit als Herrschaftsverhältnis

2.2Klassentheoretische Differenzierung von Lohnarbeit – ein integriertes Klassenschema in Anschluss an Wright und Oesch

2.2.1Autorität und Qualifikation

2.2.2Arbeitslogik

2.2.3Das integrierte Klassenschema

3.Zum methodischen Vorgehen

3.1Zum Charakter der genutzten Betriebsfallstudien

3.2Bildung und Auswahl von sechs Erwerbsarbeitsfeldern

3.3Zur sekundäranalytischen Auswertung der Betriebsfallstudien

3.4Analyseschema für die herrschaftskritische Rekonstruktion der sechs Erwerbsarbeitsfelder

3.4.1Handlungssituationsanalyse der lohnabhängig Beschäftigten mit Fokus auf Arbeits-, Beschäftigungs- und berufliche Situation

3.4.2Das Analyseschema für die Sekundärauswertungen

Teil I: Strukturierung der Arbeitssituation durch Macht und Herrschaft. Aufbau und Funktionsweise betrieblicher Herrschaft, Kontroll- und Einsatzformen von Arbeit

1. Branchenspezifische Umweltbedingungen der untersuchten Unternehmen

2. Rahmenbedingungen von Beschäftigung im untersuchten Erwerbsarbeitsfeld

3. Organisationale Arbeitsteilung, betriebliche Hierarchie und Machtverteilung

4. Kontroll- und Steuerungsformen von Arbeit

5. Betriebspolitische Rahmungen

6. Betriebliche Strategien zum Einsatz von Arbeit und damit verbundene Entwicklungstendenzen

Teil II: Handlungsmacht und Handlungsfähigkeit der Beschäftigten

1. Dispositionsspielräume und nahegelegte Formen von Selbststrukturierung der Arbeitstätigkeit

2. Widersprüchliche Handlungssituationen

3. Eigensinnige Umgangsweisen mit Arbeitsanforderungen im unmittelbaren Arbeitshandeln

4. Erwerbsorientierungen und weitergefasste Handlungsstrategien

Teil III: Zwischenfazit. Zum Verhältnis von Herrschaft und Handlungsfähigkeit

4.Sozialstrukturelle Entwicklungslinien von Lohnarbeit: Berufsstruktur, Reichtumsverteilung und Beschäftigungsformen

4.1Verschiebungen in der Berufsstruktur und Einordnung der sechs Erwerbsarbeitsfelder

4.2Dreifache Polarisierung

4.2.1Vertikale und horizontale Polarisierungen innerhalb der Lohnarbeiterschaft

4.2.1.1Auseinanderdriften der Berufsgruppen und Polarisierung der Einkommen in vertikaler Dimension

4.2.1.2Zunehmende Kern-Rand-Disparität in horizontaler Dimension

4.2.2Verschiebung im Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit

4.2.2.1Polarisierung der Vermögen

4.2.2.2Abbau wirtschaftlicher Rechte und Prekarisierung von Beschäftigung

4.3Bedeutung der sozialstrukturellen Verschiebungen für die Entwicklung der Arbeitsregime

4.3.1Arbeit wird komplexer und interaktiver – aber nicht unbedingt selbstbestimmter

4.3.2Zunahme der Macht der Kapitalseite und Erhöhung der Abhängigkeit der Lohnarbeitenden

4.3.3Zunehmende Disparitäten innerhalb der Lohnarbeiterschaft – Ausdifferenzierung und Polarisierung von Arbeitsregimen

5.Einfacharbeiterinnen in der Industrie

5.1Strukturierung der Arbeitssituation durch Macht und Herrschaft

5.1.1Branchenspezifische Umweltbedingungen der Industriebetriebe

5.1.2Rahmenbedingungen von Beschäftigung in der industriellen Einfacharbeit

5.1.3Organisationale Arbeitsteilung, betriebliche Hierarchie und Kontroll- und Steuerungsformen von Arbeit

5.1.3.1Kontroll- und Steuerungsformen von Arbeit: Direkte hierarchische Kontrolle, ausdifferenzierte Arbeitsteilung und geringe Dispositionsspielräume

5.1.3.2Ausgeprägte technische Kontrolle

5.1.4Betriebspolitische Rahmungen

5.1.5Betriebliche Strategien zum Einsatz von Arbeit und damit verbundene Entwicklungstendenzen

5.1.5.1Beschäftigungspolitische Flexibilisierung

5.1.5.2Arbeitsorganisatorische Flexibilisierungen

5.2Handlungsmacht und Handlungsfähigkeit der Einfacharbeiterinnen

5.2.1Dispositionsspielräume und nahegelegte Formen von Selbststrukturierung der Arbeitstätigkeit

5.2.1.1Handlungsfähigkeit unter Bedingungen des tayloristischen Arbeitssystems

5.2.1.2Veränderungen durch Flexibilisierung

5.2.1.3Kaum größere Dispositionsspielräume für die Einfachbeschäftigten

5.2.2Erwerbsorientierungen und weiter gefasste Handlungsstrategien

5.3Zusammenfassung: Zum Verhältnis von Herrschaft und Handlungsmacht/Handlungsfähigkeit

6.Agents in ›Low-Quality‹-Callcentern

6.1Strukturierung der Arbeitssituation durch Macht und Herrschaft

6.1.1Branchenspezifische Umweltbedingungen der Callcenter

6.1.2Rahmenbedingungen von Beschäftigung in den Callcentern

6.1.3Allgemeine Merkmale der Arbeitsregime

6.1.4Organisationale Arbeitsteilung, betriebliche Hierarchie und Machtverteilung

6.1.5Kontroll- und Steuerungsformen von Arbeit

6.1.6Betriebspolitische Rahmungen

6.1.7Betriebliche Strategien zum Einsatz von Arbeit und damit verbundene Entwicklungstendenzen

6.2Handlungsmacht und Handlungsfähigkeit der Callcenter-Agents

6.2.1Dispositionsspielräume und nahegelegte Formen von Selbststrukturierung der Arbeitstätigkeit

6.2.2Widersprüchliche Arbeitssituationen

6.2.3Eigensinnige Umgangsweisen mit Arbeitsanforderungen

6.2.4Erwerbsorientierungen und weiter gefasste Handlungsstrategien

6.2.4.1Weitgehend instrumentelle Arbeitsorientierungen und aktives Arbeitsmarktverhalten ohne Aufstiegsperspektiven

6.2.4.2Verdeckte und artikulierte Unzufriedenheiten

Unterschwellige Unzufriedenheit: Pragmatische Anpassung und fehlender Adressat

Artikulierte Unzufriedenheit: Kollision mit subjektiven Maßstäben von Gerechtigkeit und guter Arbeit

Kollektive Artikulation von Unzufriedenheit

6.3Zusammenfassung: Zum Verhältnis von Herrschaft und Handlungsmacht/Handlungsfähigkeit

7.Einfache personenbezogene und gewährleistende Dienstleistungen

7.1Strukturierung der Arbeitssituation durch Macht und Herrschaft

7.1.1Branchenspezifische Umweltbedingungen der Dienstleistungsunternehmen

7.1.2Rahmenbedingungen von Beschäftigung in den einfachen Dienstleistungen

7.1.3Allgemeine Merkmale der Arbeitsregime

7.1.4Organisationale Arbeitsteilung, betriebliche Hierarchie und Machtverteilung

7.1.4.1Abhängigkeit lokaler Arbeitszusammenhänge von einem dislozierten Machtzentrum

7.1.4.2Ausgeprägte Machtasymmetrien, starke persönliche Willkürmacht und volatile betriebliche Machtordnungen

7.1.5Kontroll- und Steuerungsformen von Arbeit

7.1.6Betriebspolitische Rahmungen

7.1.7Betriebliche Strategien zum Einsatz von Arbeit und damit verbundene Entwicklungstendenzen

7.2Handlungsmacht und Handlungsfähigkeit der Dienstleistungsbeschäftigten

7.2.1Dispositionsspielräume und nahegelegte Formen von Selbststrukturierung der Arbeitstätigkeit

7.2.2Widersprüchliche Arbeitssituationen

7.2.3Eigensinnige Umgangsweisen mit Arbeitsanforderungen

7.2.4Erwerbsorientierungen und weiter gefasste Handlungsstrategien

7.2.4.1Individuelle Vorteilssuche im Nullsummenspiel des Günstlings-Systems

7.2.4.2Orientierung an Opportunitäten auf dem Arbeitsmarkt: große horizontale aber kaum vertikale Bewegungen

7.2.4.3Gegenwartsfixierung

7.3Zusammenfassung: Zum Verhältnis von Herrschaft und Handlungsmacht/Handlungsfähigkeit

8.Fachkräfte in der stationären Alten- und Krankenpflege

8.1Strukturierung der Arbeitssituation durch Macht und Herrschaft

8.1.1Branchenspezifische Rahmenbedingungen der stationären Pflege

8.1.2Rahmenbedingungen von Beschäftigung in der stationären Pflege

8.1.3Allgemeine Merkmale der Arbeitsregime

8.1.4Organisationale Arbeitsteilung, betriebliche Hierarchie und Machtverteilung

8.1.5Kontroll- und Steuerungsformen von Arbeit

8.1.6Betriebliche Strategien zum Einsatz von Arbeit und damit verbundene Entwicklungstendenzen

8.1.6.1Bürokratisierung, Standardisierung und Routinisierung

8.1.6.2Polarisierung

8.1.6.3Arbeitsverdichtung und -beschleunigung

8.1.6.4Arbeitszeitliche Entgrenzung

8.2Handlungsmacht und Handlungsfähigkeit der Pflegekräfte

8.2.1Dispositionsspielräume und nahegelegte Formen von Selbststrukturierung der Arbeitstätigkeit

8.2.2Widersprüchliche Arbeitssituationen

8.2.3Eigensinnige Umgangsweisen mit Arbeitsanforderungen

8.2.3.1Coping durch individuelle Prioritätensetzungen

8.2.3.2Intrinsische Arbeitsmotivation als ideelle Ressource und ihre materiellen Reproduktionsbedingungen

Erfahrung von materialer Selbstbestimmung

Integration in tragfähige Praktiken der Lebensführung

8.2.4Erwerbsorientierungen und weiter gefasste Handlungsstrategien

8.3Zusammenfassung: Zum Verhältnis von Herrschaft und Handlungsmacht/Handlungsfähigkeit

9.Expertinnen in der IT-Industrie

9.1Strukturierung der Arbeitssituation durch Macht und Herrschaft

9.1.1Branchenspezifische Umweltbedingungen der untersuchten IT-Unternehmen

9.1.2Rahmenbedingungen von Beschäftigung in der IT-Branche

9.1.3Organisationale Arbeitsteilung, betriebliche Hierarchie und Machtverteilung

9.1.4Kontroll- und Steuerungsformen von Arbeit

9.1.4.1Erzeugung von Commitment

Partizipative Mitarbeiterführung durch gemeinsame Zielvereinbarungen

Einbindung durch Gewährung von begrenzter Autonomie in der Arbeitsausführung

9.1.4.2Konfrontation mit dem Markt

»Der Markt« in Form der Vorgabe von Kennziffern und inszenierter Wettbewerbe

»Der Markt« in Form von direkter Konfrontation mit Kundinnenanliegen

9.1.5Zwei idealtypische Arbeitsregime: Verantwortliche Autonomie und marktzentrierte Kontrolle

9.1.5.1Verantwortliche Autonomie

9.1.5.2Marktzentrierter Kontrollmodus

9.1.6Betriebliche Strategien zum Einsatz von Arbeit und damit verbundene Entwicklungstendenzen

9.2Handlungsmacht und Handlungsfähigkeit der IT-Expertinnen

9.2.1Dispositionsspielräume und nahegelegte Formen von Selbststrukturierung der Arbeitstätigkeit

9.2.1.1Reichweite der Freiheit

9.2.1.2Grenzen und Preis der Freiheit

9.2.2Widersprüchliche Arbeitssituationen

9.2.2.1Verantwortung für Unbestimmtheitszonen versus fehlende Kontrolle über Rahmenbedingungen

9.2.3Eigensinnige Umgangsweisen mit Arbeitsanforderungen

9.2.4Erwerbsorientierungen und weitergefasste Handlungsstrategien

9.2.4.1Individuelle Selbstvertretung als dominante Handlungsstrategie zur Einflussnahme auf Rahmenbedingungen der Arbeit

9.2.4.2Spannungsreiches Verhältnis von individueller und kollektiver Interessensvertretung

9.3Zusammenfassung: Zum Verhältnis von Herrschaft und Handlungsmacht/Handlungsfähigkeit

10.Führungskräfte im unteren und mittleren Management

10.1Strukturierung der Arbeitssituation durch Macht und Herrschaft

10.1.1Rahmenbedingungen von Beschäftigung im Feld der Führungskräfte

10.1.2Organisationale Arbeitsteilung, Hierarchie und Machtverteilung

10.1.3Kontroll- und Steuerungsformen von Arbeit

10.1.3.1Zielvereinbarungen und Wettbewerbsdruck

10.1.3.2Arbeitszeitregime

10.1.3.3Steigen des Leistungsdrucks: Von der Leistungs- zur Hochleistungskultur

10.1.4Betriebspolitische Rahmungen und der Wandel institutioneller Strukturen

10.1.4.1Mitgliedschaftsrolle

10.1.4.2Karrieremuster

10.1.4.3Wandel von Autorität

Erosion des paternalistischen Autoritätsglaubens

Probleme mit der Fachautorität

10.1.4.4Verschwinden des Paternalismus

10.2Handlungsmacht und Handlungsfähigkeit der Führungskräfte

10.2.1Dispositionsspielräume und nahegelegte Formen von Selbststrukturierung der Arbeitstätigkeit

10.2.2Widersprüchliche Arbeitssituationen

10.2.2.1Widersprüchliche Arbeitsanforderungen

Dilemmata aus großer Verantwortung und zu geringen Entscheidungsspielräumen

Widersprüche zwischen der »Logik der Arbeit« und der »Logik des Spiels«

10.2.2.2Widersprüchliche Interessenpositionen als Lohnabhängige und Stellvertreter der Unternehmensführung

10.2.3Wandel von Handlungsfähigkeit: Von der Einschränkung durch repressive Strukturen zu Orientierungsverlust durch Anomie

10.2.4Erwerbsorientierungen und weiter gefasste Handlungsstrategien

10.2.4.1Wandel der Arbeitsorientierung: Verankerung des Marktprinzips im Subjekt

10.2.4.2Subjektives Erleben von Belastungen

Arbeitsidentität

Einordnung in synchronen und diachronen Gesamtzusammenhang von Praktiken

Widersprüchliche Handlungssituationen

Fairer sozialer Austausch

Erfahrung von Freiwilligkeit und Handlungsmacht

Vereinbarkeit mit anderen persönlichen Bedürfnissen und Anliegen

Erwartungssicherheit bezüglich Investitionen in die Zukunft

Einordnung in ein Narrativ positiver Entwicklung

10.3Zusammenfassung: Zum Verhältnis von Herrschaft und Handlungsmacht/Handlungsfähigkeit

11.Schlussbetrachtung: Formen, Wandel und negative Folgen von Herrschaft in gegenwärtigen Lohnarbeitsverhältnissen

11.1Die fortdauernde Reproduktion betrieblicher Herrschaft

11.1.1Zunahme betrieblicher Herrschaft in unteren Klassenlagen

11.1.2Verfestigung von Herrschaft in mittleren und oberen Klassenlagen

11.2Veränderte Einbindungsweisen in Herrschaft

11.2.1Herrschaft und Markt

11.2.1.1Herrschaft und Markt in unteren Klassenlagen

11.2.1.2Herrschaft und Markt in oberen Klassenlagen

11.2.2Herrschaft und Subjektivierung

11.2.2.1 Subjektivierung in unteren Klassenlagen: Verantwortliche Heteronomie und reflexives Navigieren zum Abwehren drohender Gefahren

11.2.2.2 Subjektivierung in oberen Klassenlagen: Größere Wahlfreiheit als auferlegter Zwang

11.3Zum Formwandel von Herrschaft

11.3.1Verschiebung des Schwerpunktes betrieblicher Herrschaft von Autorität zu Interessenkonstellationen

11.3.2Strukturwandel von Handlungsfreiheit: Zunahme der funktional notwendigen Handlungsfähigkeit bei gleichzeitiger Abnahme und Polarisierung von Handlungsmacht

11.4Zur subjektiv problematischen Seite von Herrschaft: Neue Formen eines Leidens an eingeschränkter Handlungsfähigkeit

11.4.1Vier typische Muster eines Leidens an eingeschränkter Handlungsfähigkeit

11.4.1.1Weitgehend ausschließendes Verhältnis von Herrschaft und Handlungsmacht

11.4.1.2Widersprüchlicher Ein-/Ausschluss von Handlungsmacht

11.4.1.3Weitgehender Einschluss von Handlungsmacht in Herrschaft bei zugleich starker Institutionalisierung von Handlungsräumen

11.4.1.4Weitgehender Einschluss von Handlungsmacht in Herrschaft bei zugleich weitgehender Formung von Handlungsräumen durch Marktbedingungen

11.4.2Zum Wandel eines Leidens an Herrschaft

12.Potentiale der kritischen Herrschaftsanalyse

12.1Zum Erkenntniswert der kritischen Herrschaftsanalyse

12.2Weitere Forschungsperspektiven

Die Situation der Herrschenden

Achsen und Ebenen von Herrschaft

Literatur

Dimitri Mader

Herrschaft und Handlungsfähigkeit in der Lohnarbeit

Eine Metastudie zu betrieblichen Machtordnungen

Campus Verlag Frankfurt / New York

1.Einleitung

Die umfassenden sozio-ökonomischen Umbruchsprozesse der letzten Dekaden, die als »Krise des fordistischen Produktions- und Sozialmodells« (Sauer 2013, S. 12) bzw. Heraufziehen eines neuen »flexiblen Kapitalismus« (Sennett 2000) umschrieben wurden, haben alte Deutungsmuster des sozialwissenschaftlichen Denkens über den kapitalistischen Arbeitsprozess in Frage gestellt. Dies betrifft besonders Annahmen zum Charakter von Herrschaft in Betrieben und ihrem Verhältnis zu den Selbstbestimmungsmöglichkeiten der lohnabhängig Beschäftigten. Für die deutsche Industrie- und Arbeitssoziologie war im Anschluss an die Labour-Process-Debate lange die Annahme zentral, dass Herrschaft in kapitalistischen Betrieben ihrem Wesen nach den Freiheitsspielräumen und -bestrebungen der Erwerbstätigen entgegensteht. Herrschaft und Selbstbestimmung in der Erwerbsarbeit bilden dem klassischen Verständnis entsprechend ein Nullsummenspiel: Die eine Seite kann nur auf Kosten der anderen größer werden. Demgegenüber verweisen Untersuchungen seit geraumer Zeit auf ein komplexeres Verhältnis der beiden Seiten, welches mit der paradoxen Diagnose einer zunehmenden Selbstbeherrschung der Arbeitenden auf den Punkt gebracht wird (Pongratz und Voß 2004, S. 25; Lau und Maurer 2010, S. 12). Eine ganze Reihe unterschiedlicher Ansätze teilt die Einschätzung, dass Selbstbestimmung in der Arbeit heute unternehmerischer Herrschaft nicht mehr entgegensteht, sondern verstärkt zu einer individuellen Verpflichtung und systemischen Notwendigkeit wird (Sichler 2006; Moldaschl 2001; Glißmann und Peters 2001; Honneth 2002; Han 2014). Wenn sich aber Herrschaft nicht mehr sinnvoll von Selbstbestimmung abgrenzen lässt, dann steht die Möglichkeit einer herrschaftstheoretischen und -kritischen Perspektive auf den modernen Arbeitsprozess überhaupt in Frage.

Zugleich sprechen viele Indizien für das Fortbestehen, möglicherweise sogar Wiedererstarken, von Herrschaft: Die ökonomische Ungleichheit zwischen oberen und unteren Klassenlagen nimmt seit den 1990er Jahren wieder zu (Geißler 2014, S. 75 ff.; Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017, S. 119 ff.) und mit der Organisationsmacht der Erwerbstätigen erodieren auch vormals erkämpfte wirtschaftliche Anrechte (Nachtwey 2016, S. 101). Dies wirkt sich auch auf der betrieblichen Ebene aus: es mehren sich die Hinweise, dass in einige, vor allem die niedrig qualifizierten Segmente der Erwerbsarbeit, für überwunden geglaubte marktdespotische Arbeitsregime zurückkehren (Staab 2014; Bartmann 2016; Anderson 2017), während viele mittel- und hochqualifizierte Beschäftigte trotz teilweise großer Freiheitsspielräume mit steigendem Leistungsdruck und Risiken konfrontiert sind (Glißmann und Peters 2001; Dörre 2011). In allen Bereichen und auf allen Ebenen finden sich weiterhin ausgeprägte Machtasymmetrien zwischen wirtschaftlichen Eliten und dem Großteil der Arbeitenden.

Vor diesem Hintergrund möchte diese zweibändige Arbeit einen Beitrag zur Aktualisierung einer kritischen Herrschaftsanalyse von Lohnarbeit liefern. Durch eine Verbindung von Theoriearbeit (Band 1) und gegenstandsbezogener Analyse (Band 2) führt sie eine Re-Evaluation des Verhältnisses von betrieblicher Herrschaft und den Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Arbeitenden durch. Theoretisch steht die Frage im Vordergrund, wie der Herrschaftsbegriff so reformuliert werden kann, dass sich die neuen Realitäten weiterhin im Rahmen einer Herrschaftsanalyse deuten lassen. Wie ist das Verhältnis zwischen Herrschaft, Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung begrifflich zu fassen? Von dieser Fragestellung ausgehend, entwickelte Band 1 Elemente einer kritischen Sozialtheorie von Herrschaft und Handlungsfähigkeit, welche zum Zwecke gegenstandsbezogener Forschung in ein Analyseschema von Herrschaft und Handlungsfähigkeit überführt wurden. Empirisch stellt sich die Frage, wie sich zentrale Entwicklungen in der Erwerbsarbeit der letzten Dekaden herrschaftstheoretisch beschreiben und einordnen lassen. Wie weit trägt hier die Selbstbeherrschungsdiagnose? Beschreibt »Herrschaft« auch weiterhin ein Merkmal sozialer Beziehungen zwischen Akteuren und schlägt sie sich weiterhin im subjektiven Erleben der Herrschaftsunterworfenen nieder? Welches Bild ergibt sich, wenn man ein breites Spektrum von Erwerbsarbeitsfeldern einbezieht? Diese Fragestellung wird im vorliegenden Band bearbeitet.

Aufbauend auf den theoretischen Konzepten des ersten Bandes unternimmt die folgende gegenstandsbezogene Untersuchung eine Rekonstruktion betrieblicher Herrschaftsordnungen in ausgewählten Erwerbsarbeitsfeldern. Die Grundlage hierfür sind qualitative Sekundärauswertungen von insgesamt 20 veröffentlichten arbeitssoziologischen Betriebsfallstudien, welche Wirtschaftsbetriebe in Deutschland zwischen 1995 und 2015 beforschten. Dabei werden die Handlungssituationen, die Beziehungskonstellationen und die subjektiven Umgangsweisen mit diesen in sechs nach Klassenlagen ausgewählten Erwerbsarbeitsfeldern untersucht. Das gebildete Sample umfasst die Arbeitsbedingungen von Einfacharbeiterinnen in der Industrie, von Agents in »Low Quality« Callcentern, von einfachen personenbezogenen und gewährleistenden Dienstleitungen, von Fachkräften in der stationären Pflege, von Software-Expertinnen in der IT-Industrie und von Führungskräften im unteren und mittleren Management. Ziel dieses Vorgehens war es, ganzheitliche und tiefe Einblicke in die Reproduktionsweise betrieblicher Herrschaft zu gewinnen und diese mit einem möglichst breiten Überblick über das Spektrum existierender Typen zu verbinden. Dies ermöglichte es, sowohl typische Unterschiede zwischen betrieblichen Herrschaftsordnungen als auch übergreifende Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und auf dieser Grundlage gegenwartsdiagnostische Aussagen zu (vermeintlich) allgemeinen Entwicklungstendenzen von Herrschaft in der Lohnarbeit zu hinterfragen.

Um die Ergebnisse hier nur anzudeuten: Die Arbeit setzt insgesamt, sowohl theoretisch als auch in der gegenstandsbezogenen Analyse, einen Gegenpunkt zur weit verbreiteten Selbstbeherrschungsdiagnose. Sie zeigt, dass dieses Deutungsmuster nur ein einseitiges Bild des Formwandels von Herrschaft in der Lohnarbeit zeichnet. Die Ausprägung betrieblicher Herrschaft – verstanden als durch Zwang gestützte Macht von Menschen über Menschen – hat sich in der Gesamtbetrachtung keinesfalls verringert, sondern in einigen Bereichen sogar verstärkt. Vor diesem Hintergrund kommt die pauschale These einer Verlagerung von Herrschaft in die Subjekte einer Entnennung der weiterhin fortbestehenden objektiven Herrschaftsstrukturen gleich. Neuartige Zwänge und subjektive Leiderfahrungen entspringen nicht einfach einer Zunahme von überfordernd wirkender Freiheit und Verantwortung (Beck 1998), sondern den inneren Widersprüchen der nach wie vor fortbestehenden Herrschaftsförmigkeit des Lohnarbeitsverhältnisses. Diesen Umstand wieder stärker ins Bewusstsein kritischer Gesellschaftsforschung zu rücken, ist ein Anliegen dieser Arbeit.

1.1Herrschaft in arbeitssoziologischen Zeitdiagnosen, oder: Warum eine nach Klassenlage differenzierte Meta-Analyse von Betriebsfallstudien?

Im Folgenden soll die Grundsatzentscheidung nachvollziehbar gemacht werden, die vorliegende Fragestellung mit Hilfe qualitativer Sekundärauswertungen ausgewählter arbeitssoziologischer Fallstudien zu bearbeiten. Zu Beginn des eigenen Forschungsprozesses standen zwei weitere Möglichkeiten im Raum, nämlich entweder selbst eine empirische Fallstudie durchzuführen oder aber sich dem Problem über eine vergleichende Literaturstudie verbreiteter Zeitdiagnosen zu nähern.

Die erste Option hätte es erlaubt, in die Tiefe zu gehen und die konkrete Machtordnung eines bestimmten Betriebes, die dort vorherrschenden Kontrollformen und die subjektiven Handlungsfähigkeiten der unterschiedlich positionierten Arbeitenden, zu untersuchen (genaueres hierzu in Kap. 3.1). Zugleich ließe dieses Vorgehen aber bestenfalls Aussagen über ein bestimmtes Feld von Erwerbsarbeit zu. Damit können dann zwar Generalisierungen existierender Zeitdiagnosen korrigiert und mit etwas Glück neue Herrschaftsformen entdeckt werden, eine eigenständige und verallgemeinerbare Bestandsaufnahme wesentlicher Charakterzüge von Herrschaft in der Erwerbsarbeit ist damit aber nicht möglich.

Die zweite Option würde ein Bild des Formwandels von Herrschaft zeichnen, indem sie etwa die Diagnosen der Vermarktlichung (Sauer und Döhl), Flexibilisierung (Negt 2001), Subjektivierung (Moldaschl und Voß 2003a; Kleemann 2012), Entgrenzung (Sauer 2005) und Prekarisierung (Castel und Dörre 2009) von Arbeit, sowie die beiden miteinander verwandten Thesen des Arbeitskraftunternehmers (Pongratz und Voß 2004) und des unternehmerischen Selbst (Bröckling 2007) (um nur die verbreitetsten zu nennen) vergleichend diskutiert und wenn möglich zusammendenkt.1 Diese Strategie ist mit dem Problem konfrontiert, dass die genannten Zeitdiagnosen auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau angesiedelt sind und ihre Aussagekraft bezüglich der Stärke und Formen von betrieblicher Herrschaft oft unbestimmt bleibt, solange man nicht konkretisierende Kontextfaktoren einbezieht. Für letzteres würde bei diesem Vorgehen aber die empirische Grundlage fehlen.

Zu den herrschaftsrelevanten Kontextfaktoren gehört neben unterschiedlichen Wirtschaftssektoren, den diesen jeweils eigentümlichen Marktbedingungen und historisch gewachsenen Institutionalisierungen, ganz zentral die Klassenlage der Beschäftigtengruppen. Klasse wird hier in Anlehnung an Erik O. Wright (2000a) und Daniel Oesch (2006b) zweidimensional gedacht: vertikal unterscheidet sich die Arbeitssituation der Lohnarbeitenden stark in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen Position in der betrieblichen Hierarchie sowie von ihrer Lage auf dem Arbeitsmarkt (nachgefragte Qualifikation), während horizontal die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Arbeitslogik (interpersonell, organisatorisch oder technisch) entscheidend ist (Kap. 2.2). Eine Meta-Analyse eines nach Klassenlage differenzierten Samples arbeitssoziologischer Betriebsfallstudien kann nun diese, für eine Einschätzung des Charakters betrieblicher Herrschaft notwendigen Kontextfaktoren berücksichtigen. Ihr ist es möglich, sowohl in die Tiefe zu gehen als auch einen differenzierten Eindruck vom gesamten Spektrum betrieblicher Herrschaftsordnungen zu gewinnen.

Wie der folgende kurze Rückblick auf arbeitssoziologische Zeitdiagnosen illustriert, sind Thesen zu Veränderungstendenzen von Erwerbsarbeit, die nicht nach Klassenlage differenzieren, mit zwei komplementären Problemen konfrontiert: entweder ihre Geltung bleibt auf bestimmte Beschäftigungssegmente beschränkt oder ihre herrschaftstheoretische Aussagekraft bleibt schwach.

Eine historisch einflussreiche Zeitdiagnose zum Formwandel von Herrschaft in der Lohnarbeit war Harry Bravermans These einer zunehmenden Subsumtion des Arbeitsprozesses unter die Logik des Kapitals und einer damit einhergehenden immer stärkeren Trennung von leitenden und ausführenden Tätigkeiten (Braverman [1974] 1998). In diesem Prozess der Taylorisierung geht, Braverman zufolge, die Kontrolle über den unmittelbaren Arbeitsprozess zunehmend in die Hände des Managements über, wodurch betriebliche Herrschaft tendenziell immer feinmaschiger, umfassender und tiefgreifender wird. Handlungsfreiheiten der Arbeitenden werden dadurch sukzessive beschnitten und Handlungskompetenzen verarmen. Diese Ergebnisse bildeten den Ausgangspunkt der Labour-Process-Debate, deren zweite Generation von Autorinnen in kritischer Auseinandersetzung mit Braverman alternative Diagnosen mit vergleichbarem Allgemeinheitsanspruch vorlegte (Friedman 1977a; Edwards 1979; Burawoy 1985). Während die von Braverman gelegte marxistische Grundlage der Analyse von Arbeitsprozessen als geprägt durch den Zwang zur Kapitalakkumulation und einen strukturierenden Interessensantagonismus zwischen Lohnarbeit und Kapital beibehalten wurde, gingen die genannten Autoren methodisch über Braverman hinaus und kamen dabei zu inhaltlich abweichenden Zeitdiagnosen: Es sei nicht allein die Entwicklungslogik des Kapitals, die den Arbeitsprozess formt, sondern wichtig sind auch weitere Kontextfaktoren, allen voran kollektive und individuelle Aushandlungskämpfe zwischen der Lohnarbeiterschaft und der Kapitalseite sowie deren Niederschlag in institutionellen Formen (wie insbesondere soziale und wirtschaftliche Anrechte, vgl. Nachtwey 2016, S. 23 ff.). Letztere schaffen Raum für neue Herrschaftsarrangements, in welche die Beschäftigten nicht mehr (nur) über Zwang, sondern auch über begrenzte Partizipation, Verantwortungsübertragung und Konsens eingebunden werden. Auch die historisch weit ausgreifenden Zeitdiagnosen der frühen Labour-Process-Debate zeichnen so das Bild eines einlinigen Entwicklungstrends betrieblicher Herrschaftsformen: Herrschaft in der Lohnarbeit wird immer stärker institutionalisiert und zugleich steigen in der Gesamtbetrachtung die Freiheitsspielräume der abhängig Beschäftigten innerhalb herrschaftsförmig kontrollierter Bereiche. Für die Unternehmen hat das den Vorteil, dass der Kontrollaufwand sinkt und die subjektiven Potentiale der gekauften Arbeitskraft besser genutzt werden können (vgl. die zusammenfassenden Darstellungen in Thompson 1989; Thompson und Vincent 2010; Marrs 2010).

Kritisiert wurde an dieser, im Grunde an Bravermans Anspruch festhaltenden, Suche nach der einen, umfassenden Entwicklungslinie betrieblicher Herrschaftsformen – einer »single-track search for definitive and comprehensive modes of work control« (Thompson 1989, S. 229) –, dass sie der Diversität und Heterogenität empirisch existierender Arbeitswelten nicht gerecht werden kann. Dass es überhaupt möglich war, von »den« typischen Herrschafts- und Kontrollformen in »der« Lohnarbeit zu sprechen, war einem sehr starken Fokus der Untersuchungen auf (männlich dominierte) Industriearbeit in den produktiven Kernsektoren (wie Automobil-, Maschinenbau-, und Chemieindustrie) geschuldet. Nicht nur die feministische Kritik (Aulenbacher 2005), sondern auch die historische Veränderung der Berufsstruktur (Stichwort: Tertiarisierung, vgl. Kap. 4) macht unübersehbar, dass es sich hier um ganz spezifische Bereiche der Erwerbsarbeit handelt, die keinesfalls repräsentativ für alle Erwerbsarbeitsformen sind.

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber auch hinter den großen Narrativen der frühen Studien der Labour-Process-Debate bereits die Bedeutung der Klassenlage für die Ausprägung betrieblicher Arbeits- und Kontrollregime. So unterscheidet Andrew Friedman idealtypisch zwischen dem Regime der verantwortlichen Autonomie (»responsible autonomy«), welches vor allem in den produktiven Kernbereichen vorherrscht, und gut bis hochqualifizierte Beschäftigte betrifft, und den davon abgespaltenen peripheren Bereichen niedrig qualifizierter Arbeit, für welche direkte und auf Zwang beruhende Kontrollformen (»direct control«) charakteristisch sind (Friedman 1977b). Ganz Ähnliches gilt für die im deutschen Kontext bedeutsame Zeitdiagnose von Horst Kern und Michael Schumann. In ihrer Pionierstudie zu Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein (Kern und Schumann [1970] 1985) finden sie eine Tendenz zur Polarisierung von Kontrollformen in der Industriearbeit in einerseits niedrig qualifizierte und stark taylorisierte und andererseits hoch qualifizierte und Autonomie gewährleistende Arbeit. Richard Edwards hingegen unterscheidet Kontrollregime, die typisch für manuelle Tätigkeiten in der Fabrik sind (»technische Kontrolle«, Edwards [1979] 1981, S. 124 ff.) von solchen, welche administrative Bürotätigkeiten prägen (»bürokratische Kontrolle«, ebd., S. 144 ff.). Hier deuten sich also bereits die vertikalen (Qualifikation und Autorität im Arbeitsprozess) und horizontalen (Arbeitslogik) Differenzierungslinien an, die mit dem hier genutzten Klassenschema eingefangen werden sollen. Die Frage ist, welches Bild betrieblicher Herrschaft sich ergibt, wenn man Arbeit in allen Klassenlagen in die Betrachtung einbezieht und damit neben Industriearbeit auch qualifizierte und niedrig qualifizierte Arbeit in den interpersonellen und administrativen Dienstleistungen einbezieht.

Abgesehen von diesen Anknüpfungspunkten für eine klassentheoretisch differenzierte Betrachtungsweise lässt sich für die erste und zweite Generation der Labour-Process-Debate etwas zugespitzt festhalten: ihre Autoren gelangen zwar zu substanziellen Aussagen über Veränderungen betrieblicher Herrschaftsformen, dies allerdings nur durch eine enge Fokussierung auf bestimmte Bereiche von Erwerbsarbeit.

Eine in der deutschen Arbeitssoziologie in den 1990er Jahren einsetzende neue Generation von Zeitdiagnosen kann demgegenüber mit einem größeren Allgemeinheitsanspruch auftreten. Die bereits erwähnten Diagnosen der Vermarktlichung, Flexibilisierung, Subjektivierung, Entgrenzung, Prekarisierung und des Arbeitskraftunternehmers sind zum Teil ebenso einer Kritik der Überverallgemeinerung partikularistischer Entwicklungen ausgesetzt wie ihre historischen Vorgängerinnen.2 Allerdings zeigen ihre anhaltende Bedeutung sowie eine Vielzahl empirischer Studien aber doch auch, dass sie in der Lage sind, Schneisen der Orientierung ins Feld der heterogenen Veränderungen zu schlagen. Die genannten Diagnosen fassen jeweils bestimmte übergreifende Entwicklungstendenzen, die sich zwar nicht in jedem Erwerbsarbeitssegment auf gleiche Weise und in gleicher Intensität zeigen, die aber dennoch so weit verbreitet sind, dass sie im Sinne einer »gerichteten Vielfalt« (Faust et al. 2000, S. 47; Kratzer 2003, S. 32) eine allgemeine Richtung der Veränderung anzeigen, von der alle Erwerbstätigen auf die eine oder andere Art betroffen sind. Diese Stärke hat allerdings den Preis erheblicher Unbestimmtheiten bezüglich ihrer herrschaftsanalytischen Aussagekraft. Die genannten Entwicklungstendenzen haben zwar ohne Zweifel weitreichende Auswirkungen auf Formen von Herrschaft und deren Verhältnis zu Selbstbestimmung in der Erwerbsarbeit. Diese sind allerdings alles andere als eindeutig und einheitlich. Die Konsequenzen der beschriebenen Tendenzen können für unterschiedliche Segmente von Erwerbsarbeit nicht nur verschieden, sondern teilweise sogar konträr ausfallen. Mit Ausnahme der Prekarisierungsdiagnose, die von Anfang an in ihrem Zusammenwirken mit sozialer Ungleichheit diskutiert wurde (Castel und Dörre 2009; Dörre 2017), abstrahieren die genannten Zeitdiagnosen von diesen differenzierenden Kontextfaktoren. Dies lässt sich exemplarisch an den beiden Diagnosen der Vermarktlichung und Subjektivierung von Arbeit veranschaulichen:

Vermarktlichung bezieht sich, Dieter Sauer folgend, auf Veränderungen im »Verhältnis von Markt und Betrieb und Markt und Organisation« (Sauer 2017, S. 311) und damit vor allem auf die Ebene der »Koordination und Steuerung« (ebd., S. 312) von Organisationsprozessen. Der Begriff bezeichnet eine »doppelte Bewegung der Reorganisation« (ebd., S. 311): »Einerseits die Öffnung des Unternehmens in den Markt« (ebd.), die von unmittelbarer Marktanbindung dezentralisierter Organisationseinheiten bis hin zu Ausgliederungen ganzer Abteilungen reichen kann. In dieser Hinsicht ist Vermarktlichung eng mit Dezentralisierung von Unternehmensstrukturen sowie mit Entgrenzung von Unternehmen (Sauer 2005, S. 122), bzw. Grenzverschiebungen zwischen Markt und Organisation (Brinkmann 2011, S. 46) verbunden. Andererseits meint Vermarktlichung »die Hereinnahme von Markt- und Konkurrenzmechanismen in das Unternehmen entweder über erlös- und renditegesteuerte Profit-Center oder über die ›Simulation‹ von Marktbeziehungen (›Internalisierung des Marktes‹)« (Sauer 2017, S. 311).

Vermarktlichungsprozesse sind insofern herrschaftsrelevant, als sie nicht nur zu weitreichenden Veränderungen von Organisationsstruktur und Hierarchien in Unternehmen führen, sondern auch mit neuen Steuerungsformen von Arbeit verbunden sind. Letztere werden hauptsächlich unter den Begriffen marktzentrierte Kontrolle (Boes und Bultemeier 2008; Marrs 2010, S. 343) und indirekte Steuerung (Sauer 2011; Peters und Sauer 2006) von Arbeit diskutiert. Direkte, von Vorgesetzten hierarchisch durchgereichte Anweisungen und Sanktionsdrohungen treten hierbei zugunsten einer strategisch gesteuerten Konfrontation mit Marktanforderungen in den Hintergrund (Glißmann und Peters 2001, S. 18–40). Damit verändern sich die Weisen der Einbindung der Beherrschten in betriebliche Herrschaft, da von ihnen nun ein höheres Maß an Eigenverantwortung und Selbststrukturierungsleistungen gefordert werden. Auch wird ein Teil der früher vertikal ausgeübten Kontrolle in horizontale Wettbewerbszwänge umgelenkt.

Ob diese Entwicklung allerdings in der Gesamtbetrachtung zu einer Zunahme von Selbstbestimmung in der Gestaltung von Arbeitstätigkeit, Arbeitszeit und Beschäftigungsbedingungen führt, ist höchst fraglich und umstritten. Häufig werden die Auswirkungen von Vermarktlichung auf die Handlungsfreiheit der Lohnabhängigen als ambivalent, dialektisch oder paradox beschrieben.3

Hier wäre also näher zu betrachten, welche Hinsichten von Selbstbestimmung sich wie verändern. Auch ist nicht von vornherein klar, wie genau Marktbeziehungen bzw. Wettbewerbszwänge einerseits, und Machtasymmetrien, formelle Hierarchien und persönlicher Willkür andererseits, zusammenwirken. Lösen Marktbeziehungen institutionalisierte Hierarchien und personale Macht-über-Beziehungen weitgehend ab oder kommt es zu neuen stabilen Verbindungen? Denn Vermarktlichung von Sozialbeziehungen sagt ja per se noch nichts darüber aus, wie symmetrisch oder asymmetrisch soziale Macht in den Beziehungen verteilt ist. Damit lässt sich die Frage nach dem Zusammenwirken von Markt, Macht und Herrschaft aber nicht für alle Beschäftigtengruppen pauschal beantworten. Wie im Fortgang der Untersuchung deutlich werden wird, variiert nicht nur die Stärke von Marktzwängen, sondern auch der Charakter marktzentrierter Kontrollformen stark mit der relativen Handlungsmacht der Beschäftigten. Diese wiederum lässt sich zum großen Teil aus ihrer Klassenlage in den Dimensionen Marktchancen und Arbeitsplatzmacht ablesen.

Selbst wenn also die Zeitdiagnose der Vermarktlichung von Unternehmen zutrifft und eine wichtige übergreifende Entwicklungstendenz erfasst – wovon angesichts der Debattenlage in der Arbeitssoziologie auszugehen ist –, bleibt sie ohne Kontextualisierung hinsichtlich zentraler herrschaftsrelevanter Fragen unterbestimmt. Um zu klären, wie genau sich Vermarktlichung auf Stärke und Form betrieblicher Herrschaft sowie die Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Lohnabhängigen auswirkt, ist eine in zweifacher Hinsicht differenzierte Betrachtungsweise notwendig: zum einen ist genauer zu klären, welche Aspekte von Herrschaft und Selbstbestimmung durch Vermarktlichung wie verändert werden und wie genau Marktzwänge, Machtasymmetrien und deren Stabilisierung zu Herrschaftsordnungen zusammenwirken. Zum anderen müssen diese Fragen differenziert nach der Handlungsmacht und damit der Klassenlage unterschiedlicher Beschäftigtengruppen untersucht werden. Die Annahme, dass Herrschaft durch Vermarktlichung generell indirekter wird (Sauer 2011) muss dann möglicherweise relativiert werden, wenn man beispielsweise auch die stark vermarktlichten und zugleich von persönlicher Willkürmacht geprägten Arbeitsbedingungen des »Dienstleistungsproletariats« (Staab 2014) mit in die Betrachtung einbezieht.

Subjektivierung von Arbeit meint ganz allgemein eine »infolge betrieblicher Veränderungen tendenziell zunehmende Bedeutung von ›subjektiven‹ Potentialen und Leistungen im Arbeitsprozeß« (Moldaschl und Voß 2003b, S. 16). Die Entwicklungstendenz bezieht sich neben gewachsenen Ansprüchen der Arbeitenden an subjektiv erfüllende Arbeitsbedingungen (Baethge 1991) auf neue strukturelle Anforderungen und Möglichkeiten auf zwei Ebenen: Zum einen auf einen erweiterten betrieblichen »Zugriff auf menschliche Handlungspotentiale in der Arbeitstätigkeit selbst« (Kleemann 2012, S. 12), d.h. auf gestiegene Anforderungen und Möglichkeiten zur Selbststrukturierung der unmittelbaren Arbeitstätigkeit und zum anderen auf eine zunehmende Bedeutung von aktiv strategischem Handeln bezüglich der eigenen Beschäftigungs- und Arbeitsmarktsituation. Ausgangspunkt der so gefassten Zeitdiagnose sind »veränderte betriebliche Strategien der Arbeitsorganisation und Arbeitskraftnutzung« (ebd.), die eng mit der oben beschriebenen Tendenz der Vermarktlichung zusammenhängen. Vor der Negativfolie des klassischen fordistisch-tayloristischen Fabrikregimes, in dem die Subjektivität der Arbeitenden als Störquelle betrachtet wurde, die es zu kontrollieren und reglementieren galt, steht Subjektivierung für eine Perspektivumkehr im strategischen Zugriff auf Arbeitskraft im flexiblen post-fordistischen Kapitalismus: Nun, so die Annahme, zielen betriebliche Arbeitsregime in der Tendenz immer mehr auf eine gezielte Einbindung und Nutzbarmachung der zuvor ausgeschlossenen Subjektpotentiale, was einen »erweiterten« Zugriff auf die Arbeitssubjekte impliziert. Subjektivierung von Arbeit beschreibt somit eine Entwicklung, »die die Potentiale menschlicher Arbeitskraft, das individuelle Leistungsvermögen, die spezifischen Qualifikationen und Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten von Beschäftigten für die Steigerung der Effizienz und Flexibilität im Arbeits- und Produktionsprozess zunehmend funktional werden lässt.« (Lohr 2017, S. 281)

Die Subjektivierungsdiagnose ist direkt für die Frage nach Ausmaß und Charakter von Selbstbestimmung innerhalb betrieblicher Herrschaftsordnungen relevant. Allerdings bleibt auch diese Zeitdiagnose ohne weitere Kontextualisierung uneindeutig hinsichtlich ihrer Aussagekraft bezüglich der Frage, wie sie sich auf das Verhältnis von Selbst- und Fremdbestimmung in der Arbeit auswirkt. Auf den ersten Blick scheint Subjektivierung mit einer Vergrößerung zumindest der individuellen Dispositionsspielräume bei der Gestaltung von Arbeitstätigkeit und Zeiteinteilung verknüpft zu sein. Denn eine Zunahme aktiver Selbststrukturierungsleistungen scheint eine Abnahme von Fremdstrukturierung notwendig vorauszusetzen. Die Debatten um Subjektivierung von Arbeit haben jedoch gezeigt, dass Subjektivierung auch mit neuartigen Anforderungen und Handlungszwängen verbunden ist und mitunter auch zu einer Erhöhung des Leistungsdruckes führen kann (Lohr 2017). Häufig sind Beschäftigte in Folge subjektivierter Arbeitsbedingungen mit komplexeren Aufgaben und zugleich erhöhtem Zeitdruck konfrontiert, so dass hinzugewonnene Dispositionsspielräume durch den verstärkten Anforderungsdruck mehr als kompensiert werden. Zudem lässt Subjektivierung die Frage nach individuellen und kollektiven Formen der Gestaltung von Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen offen. Es könnte also sein, dass zwar Dispositionsspielräume bei der unmittelbaren Arbeitstätigkeit größer werden, aber zugleich die Einflussmöglichkeiten auf die Struktur und Qualität des gegebenen Sets an Handlungsalternativen abnehmen. Wie zahlreiche empirische Studien mittlerweile belegen, variieren die Formen von Subjektivierung und damit auch ihre Folgen für die Handlungsfreiheit der Beschäftigten erheblich nach Kontext. Einflussfaktoren sind hier neben dem Qualifikationsniveau und den relativen Machtressourcen der Lohnabhängigen auch ganz entscheidend die für einen Beruf typische Arbeitslogik. Eine pauschale Beantwortung, wie sich Subjektivierung auf das Verhältnis von Herrschaft und Handlungsfähigkeit auswirkt, ist daher kaum sinnvoll. Stattdessen empfiehlt sich auch hier eine vertikal und horizontal nach Klassenlage differenzierte Untersuchung.

Während also die älteren Zeitdiagnosen von Braverman ([1975] 1998) bis Burawoy (1985) aussagekräftige Thesen zum Wandel des Charakters von Herrschaft in der Erwerbsarbeit formulierten, sich dabei aber nur auf recht begrenzte Segmente der Erwerbstätigen bezogen, so können die neueren Diagnosen zwar überzeugender allgemeine Geltung für ein breites Spektrum von Erwerbsarbeit beanspruchen, enthalten dafür aber Unbestimmtheiten was ihre Aussagekraft zum Wandel von Herrschaft betrifft. Dies liegt an ihrem hohen Abstraktionsgrad, auf dem nicht nach Klassenlage unterschiedlicher Beschäftigtengruppen unterschieden wird. Wenn auf dieser allgemeinen Ebene dann aber doch bestimmte Aussagen zum Wandel von Herrschaft getroffen werden, dann besteht hier leicht die Gefahr von Verkürzungen und Vereinseitigungen. Dies zeigt die bereits in Band 1 diskutierte Annahme eines generalisierbaren »Umschlags« betrieblicher Herrschaft in Selbstbeherrschung, die man gewissermaßen als herrschaftstheoretische Zuspitzung der Vermarktlichungs- und Subjektivierungsdiagnose verstehen kann.

Dabei liegen in der Arbeitssoziologie zahlreiche empirische Studien vor, welche den hier angesprochenen ›Metatrends‹ in unterschiedlichen Arbeitswelten differenziert und kontextspezifisch nachspüren. Um nur ein paar illustrative Beispiele zu nennen: Andreas Drinkuth (2007) geht in einer vergleichenden Fallstudie den Formen und Konsequenzen von Subjektivierung für gut qualifizierte Beschäftigte in der Softwareentwicklung und im Maschinenbau nach, während Matuschek et al. (2007) Subjektivierung im Feld der Callcenter-Arbeit untersuchten. Vergleicht man, was Subjektivierung in einem Feld im Unterschied zum anderen Feld ist und für die Beschäftigten bedeutet, stößt man wenig überraschend auf signifikante Unterschiede, die auch für die Frage nach dem Charakter von Herrschaft und Selbstbestimmung hoch relevant sind. Dies zeigt auch eine von Nickel et al. (2008) durchgeführte Studie zur Deutschen Bahn, die explizit »Ungleichheitslinien in den Subjektivierungsprozessen« (Nickel et al. 2008, S. 145) benennt und herausarbeitet, dass die Form der Subjektivierung »in Abhängigkeit von der jeweiligen Beschäftigungsposition und Qualifikation der Tätigkeit« (ebd.) zu sehen ist.4 Ähnliches ließe sich zur Frage der konkreten Auswirkungen von Vermarktlichung zeigen.

Vor diesem Hintergrund erscheint es naheliegend, auf genau diese arbeitssoziologischen Fallstudien zurückzugreifen und ihre Erkenntnisse systematisch miteinander zu vergleichen. So kann der Möglichkeit Rechnung getragen werden, dass in unterschiedlichen Erwerbsarbeitsfeldern und Beschäftigtengruppen auch unterschiedliche Herrschaftsregime sowie Verknüpfungen von Kontrolle und Handlungsfähigkeit anzutreffen sind. Ob sich über diese Unterschiede hinweg Gemeinsamkeiten feststellen lassen, kann dann in einem zweiten Schritt diskutiert werden – und geschieht hier im Schlusskapitel.

1.2Fragestellung und Forschungsstrategie

Das Ziel des vorliegenden Bandes lässt sich als ein doppeltes formulieren: liest man die folgenden gegenstandsbezogenen Ausführungen primär vor dem Hintergrund der theoretischen Fragestellung von Band 1, dann stellen sie eine Art Theorietest dar. Die Rekonstruktion empirischer Herrschaftsverhältnisse hat die Aufgabe, den Nutzen der entwickelten Konzepte an einem konkreten Fall zu demonstrieren. Sie soll zeigen, wie die entwickelte Herrschaftstheorie für konkrete sozialwissenschaftliche Forschung fruchtbar gemacht werden kann. Dabei sei hier auf die Differenz von Darstellungsweise und Forschungsprozess verwiesen: Während Theorie und empirische Rekonstruktion in dieser zweibändigen Arbeit getrennt und nacheinander dargestellt werden, standen Theorieentwicklung und empirische Analyse tatsächlich während des gesamten Forschungsprozesses in einem engen Wechselverhältnis miteinander. Sie wurden in einem iterativen Vorgehen immer wieder aneinander angepasst.

Zugleich steht der vorliegende Band 2 aber auch für sich, indem er der genuin gegenstandsbezogenen Fragestellung nach dem Verhältnis von Herrschaft und Selbstbestimmung in gegenwärtigen Lohnarbeitsverhältnissen nachgeht. Er leistet damit einen Beitrag zur Weiterentwicklung arbeitssoziologischer Diagnosen zum Wandel von Erwerbsarbeit. Die Theorie nimmt dabei die Rolle eines erkenntnisleitenden Werkzeugs im Dienste des gegenstandsbezogenen Forschungsinteresses ein.

Gegenstand der Untersuchungen des Hauptteils dieses Bandes sind die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von abhängig Beschäftigten in Wirtschaftsbetrieben in Deutschland für den Zeitraum zwischen Ende der 1990er und Mitte der 2010er Jahre.5 Im Zentrum steht dabei die Frage, durch welche typischen Strukturen von Nahelegungen und Möglichkeiten, Anforderungen und Zwängen die Handlungssituation der Lohnabhängigen geprägt ist und wie sich diese zu ihrer Situation symbolisch und praktisch verhalten. In diese breiter angelegte Handlungssituationsanalyse ist die spezifischere Frage nach der Rolle von Herrschaft und ihrem Verhältnis zu Handlungsfähigkeit und Handlungsmacht der Herrschaftsunterworfenen eingebettet: In welchem Maß und auf welche Weise formen Macht- und Herrschaftsbeziehungen die Handlungssituation der Lohnarbeitenden? Damit rücken neben der Handlungssituation auch die von Macht geprägten Beziehungskonstellationen betrieblicher Akteure in den Blick. Welche Aspekte der Situation lassen sich durch die Einschränkungsmacht herrschender Akteure erklären, welche gehen auf strukturelle Zwänge zurück und welche Rolle spielen verbreitete soziale Identitäten und Normen? Hinsichtlich der objektiven Situationskomponente wird damit ein besonderer Schwerpunkt auf die Bedeutung von Herrschafts- und Machtordnungen sowie die Kontrollformen von Arbeit in den Wirtschaftsbetrieben gelegt. Hinsichtlich der subjektiven Seite sind die Wahrnehmungs- und Deutungsweisen der Arbeitenden sowie ihr praktisches Verhalten zu den so bedingten Situationen zu untersuchen. Dabei interessieren vor allem die typischen Formen von Handlungsfähigkeit und Handlungsmacht der Beschäftigten, sowohl im Sinne von Selbsttätigkeit und Selbststrukturierungskompetenzen in der unmittelbaren Arbeitstätigkeit als auch von weiter gefassten Gestaltungsmöglichkeiten und Handlungsstrategien. Dies führt zu den subjektiven Selbstbeziehungen der Arbeitenden, welche neben der Struktur der Handlungssituation und den betrieblichen Beziehungskonstellationen den dritten Analysefokus bilden. Welches Verhältnis haben die Beschäftigten zu ihrer eigenen Arbeitstätigkeit und zu ihrer Position im betrieblichen Machtgefüge? Wie beeinflusst das Verhältnis von Herrschaft und Handlungsfähigkeit die Möglichkeit, subjektiv gelingende Praktiken und erfüllende Welt- und Selbstbeziehungen im Arbeitskontext zu etablieren?

Der Untersuchung liegt folgende Forschungsstrategie zu Grunde: Den Kern bildet die qualitative Sekundärauswertung ausgewählter und zu Erwerbsarbeitsfeldern gebündelter Betriebs- und Intensivfallstudien (Kap. 5–10). Diese liefern einen ganzheitlichen und tiefen Einblick in die Arbeitswelt von ausgewählten Beschäftigtengruppen. Die Bildung eines am Kriterium der Varianz ausgerichteten Samples aus sechs Erwerbsarbeitsfeldern, die exemplarisch für die Arbeitsbedingungen von Beschäftigten unterschiedlicher Klassenpositionen stehen, erlaubt einen stichprobenartigen Überblick über ein relativ weites Spektrum an Erwerbsarbeit. Das gebildete Sample umfasst drei Arbeitsfelder in der Klassenlage der un- und niedrig qualifizierten Arbeit am unteren Ende betrieblicher Hierarchien: industrielle Einfacharbeit steht für die technische Arbeitslogik, ›Low-Quality‹-Callcenter stehen für die organisatorische Arbeitslogik und personenbezogene und gewährleistende einfache Dienstleistungen für die interpersonelle Logik in dieser unteren Klassenlage. Zwei Felder repräsentieren Arbeitsbedingungen in oberen Klassenlagen: für hoch qualifizierte Arbeit, die einer technischen Logik folgt, steht das Feld der Software-Expertinnen in der IT-Industrie, während Führungskräfte des unteren und mittleren Managements Arbeit nach einer organisatorischen Logik in der Klassenlage der hochqualifizierten und zugleich weisungsbefugten Beschäftigungspositionen veranschaulichen. Pflegefachkräfte in der stationären Alten- und Krankenpflege schließlich stehen für eine Arbeitswelt auf einem mittleren Qualifikationsniveau mit keinen oder geringen Weisungsbefugnissen, die stark von einer interpersonellen Logik geprägt ist. Für jedes der sechs Felder wurden Ergebnisse mehrerer, bereits veröffentlichter empirischer Studien miteinander abgeglichen und kombiniert. Insgesamt wurden 20 Studien systematisch in die Sekundärauswertung einbezogen, weitere Studien wurden punktuell genutzt. Die Auswertung der Betriebsfallstudien selbst entspricht in ihren Grundzügen einer theoriegeleiteten qualitativen Inhaltsanalyse von Dokumenten (Mayring 2015).

1.3Aufbau der Arbeit

Die Arbeit gliedert sich in vier große Sinneinheiten: den theoretischen Vorüberlegungen in Kapitel 2 und der Darstellung des methodischen Vorgehens in Kapitel 3 folgen die gegenstandsbezogenen Analysen des Hauptteils (Kap. 4–10), welche in einem ausführlichen Schlusskapitel (Kap. 11) zusammengeführt und vergleichend diskutiert werden.

Die theoretischen Vorüberlegungen zu Lohnarbeit, Herrschaft und Klasse des ersten Kapitels fungieren als Überleitung zwischen den beiden Bänden, indem sie klären, wie der allgemeine sozialtheoretische Rahmen zur Analyse von Herrschaft und Handlungsfähigkeit des ersten Bandes auf die Untersuchung von Erwerbsarbeit bezogen werden kann. In Kapitel 2.1 steht die Frage im Zentrum, inwiefern angesichts der rechtlichen Freiheit der Lohnarbeitenden sowie der Möglichkeit des Wechsels des Arbeitsverhältnisses, überhaupt Zwang und damit Herrschaft vorliegen kann. Zentrales Ergebnis ist, dass die Klassenzugehörigkeit der beteiligten Akteure eine wesentliche Voraussetzung für Herrschaft im Betrieb darstellt und entsprechend in einer Herrschaftsanalyse von Lohnarbeitsbeziehungen berücksichtigt werden muss. Daran anknüpfend stellt Kapitel 2.2 eine herrschaftstheoretisch begründete Differenzierung von Erwerbsarbeitsklassen vor. Das auf Wright (2000a) und Oesch (2006b) beruhende Klassenschema hat vor allem die Funktion, die Gesamtheit der Erwerbsarbeit so zu gliedern, dass systematische Differenzen in der Ausprägung betrieblicher Herrschaft und Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Arbeiterinnen erfasst werden können.

Das methodische Vorgehen der gegenstandsbezogenen Untersuchung wird in vier Abschnitten näher erläutert: Kapitel 3.1 gibt zunächst einen Überblick über grundlegende Charakteristika arbeitssoziologischer Betriebs- und Intensivfallstudien, welche das Material der Sekundäranalyse darstellen. Hierbei wird ersichtlich, dass große Übereinstimmungen zwischen dem Theorie- und Methodenverständnis der meisten arbeitssoziologischen Fallstudien und der in dieser Arbeit zu Grunde gelegten kritisch-realistischen Sozialtheorie bestehen. Dies war auch eine entscheidende Voraussetzung für das Gelingen einer Sekundärauswertung auf Basis der eigenen Herrschaftskonzeption. Es folgt mit Kapitel 3.2 eine nähere Darlegung der getroffenen Fallauswahl. In einem mehrstufigen Auswahlprozess mussten Klassenpositionen, Erwerbsarbeitsfelder und schließlich einzelne Fallstudien ausgewählt werden. Die hier vorgelegte Meta-Studie kann und will keine Repräsentativität beanspruchen. Entsprechend einem qualitativen Forschungsverständnis geht es ihr vielmehr darum, das Spektrum existierender Typen auszuloten. Hierfür wurden möglichst kontrastreiche Fälle ausgewählt. In Kapitel 3.3 wird das sekundäranalytische Auswertungsverfahren der zu Arbeitsfeldern zusammengefassten Fallstudien beschrieben. Das Kategoriengerüst, das dieser Auswertung zu Grunde liegt, wird schließlich in Kapitel 3.4 vorgestellt. Dieses Analyseschema für die herrschaftskritische Rekonstruktion von Erwerbsarbeitsfeldern entspricht einem theoriegeleiteten Kodierschema. Es beruht auf dem in Band 1 entwickelten allgemeinen Analyserahmen von Herrschaft, nimmt aber auch Modifizierungen und Verfeinerungen an diesem vor, die sich aus der Auseinandersetzung mit dem Material ergaben. Die folgenden sechs Rekonstruktionen betrieblicher Arbeits- und Herrschaftsregime der Kapitel 5 – 10 folgen einheitlich diesem Schema, um eine gute Vergleichbarkeit zu gewährleisten.

Vorangestellt wird den sechs Rekonstruktionen mit Kapitel 4 ein systematischer Überblick über sozialstrukturelle Entwicklungslinien von Erwerbsarbeit in Deutschland. Das Kapitel zeichnet die wichtigsten quantitativen Veränderungen in der Berufsstruktur, der Verteilung von Einkommen und Vermögen sowie von Beschäftigungsformen während der letzten Dekaden nach und verortet die ausgewählten Erwerbsarbeitsfelder innerhalb dieser makrostrukturellen Verteilung und Entwicklung. Dabei wird auch die quantitative Bedeutung der sechs untersuchten Arbeitsfelder innerhalb der Gesamtheit der Erwerbsarbeit ersichtlich.

Den Kern der Untersuchung bilden die Kapitel 5 – 10, welche die Auswertungsergebnisse der zu Erwerbsarbeitsfeldern zusammengefassten arbeitssoziologischen Fallstudien präsentieren. Das übergeordnete Ziel jedes der sechs Kapitel besteht darin, die für das jeweilige Arbeitsfeld typischen Formen betrieblicher Herrschaft sowie die Rolle von Handlungsfähigkeit und Handlungsmacht der beschäftigten Arbeiterinnen innerhalb dieser herauszuarbeiten. Die Darstellungen orientieren sich dabei stets an der Beantwortung der folgenden drei Fragekomplexe: Erstens sind für jedes Feld Ausprägung, Aufbaustruktur, Dimensionen und Durchsetzungsweisen betrieblicher Herrschaft zu rekonstruieren: Wie wird Arbeit generell koordiniert, gesteuert und kontrolliert? Welche Formen und Durchsetzungsweisen von Herrschaft sind typisch für Betriebe des Feldes? Welchen Charakter haben die betrieblichen Herrschaftsregime? Zweitens werden Formen und Ausprägung von Handlungsfähigkeit und Handlungsmacht der Arbeitenden innerhalb der Herrschaftsordnungen nachgezeichnet: Welche Freiheitsspielräume und Einflussmöglichkeiten haben die Beschäftigten in der betrieblichen Sozialordnung? Welche subjektiven Handlungsfähigkeiten werden von ihnen gefordert und gefördert? Welche aktiven Handlungsstrategien entwickeln sie angesichts ihrer Handlungssituation? Drittens kommt die kritische Perspektive auf Herrschaft in Form der Untersuchung von subjektiv problematischen Folgen betrieblicher Herrschaft zum Tragen: In welchen Kontexten und aus welchen Gründen wirkt sich die Einbindung in Herrschaft auf subjektiv erfahrbare Weise als einschränkend, bedrohlich oder die Handlungsfähigkeit unterminierend aus? Werden diese Negativerfahrungen mit Herrschaft artikuliert und geben sie Anlass zu widerständigen Handlungsstrategien?

Die Schlussbetrachtung in Kapitel 11 schließlich trägt die Erkenntnisse zu den sechs Erwerbsarbeitsfeldern zusammen, stellt sie in den Kontext der makrostrukturellen Entwicklungen und arbeitet in vergleichender Betrachtung kontrastierende Typen sowie übergreifende Merkmale betrieblicher Herrschaft heraus. Auf dieser Grundlage kann Stellung zu verbreiteten Zeitdiagnosen zum Wandel von Herrschaft in der Erwerbsarbeit bezogen werden. Es bestätigte sich im Laufe der Untersuchung, dass sich Ausprägung und Formen betrieblicher Herrschaft deutlich zwischen unteren und oberen Klassenlagen unterscheiden. Das Schlusskapitel beantwortet die Fragestellung dieses Bandes daher zunächst getrennt nach oberen und unteren Klassenlagen. Kapitel 11.1 trägt die Ergebnisse zur Ausprägung betrieblicher Herrschaft, d.h. zur Größe bestehender Machtasymmetrien und zur Stärke von äußeren und inneren Zwängen, zusammen. Kapitel 11.2 bündelt die Erkenntnisse zu den vorgefundenen Formen von Herrschaft und Einbindungsweisen in Herrschaft. Es beantwortet damit auch die Frage, in welchem Verhältnis Herrschaft zur Handlungsfähigkeit und Handlungsmacht der Beherrschten steht. Dies ermöglicht eine herrschaftstheoretische Einordnung und Präzisierung der Zeitdiagnosen der Vermarktlichung und Subjektivierung von Arbeit. Erst auf Grundlage dieser differenzierten Betrachtungsweise, welche einer sich abzeichnenden klassenspezifischen Polarisierung von Arbeitsregimen Rechnung trägt, kann in Kapitel 11.3 schließlich die Frage nach Hinweisen auf einen alle Klassenlagen übergreifenden Formwandel von Herrschaft beantwortet werden. Kapitel 11.4 gibt schließlich einen systematischen Überblick über die aufgefundenen Formen subjektiv problematischer Folgen von Herrschaft für die Beherrschten. Ein Ausblick auf weiterführende Forschungsperspektiven einer kritischen Herrschaftsanalyse in Kapitel 12 beschließt die Arbeit.

2.Theoretische Vorüberlegungen: Lohnarbeit, Herrschaft und Klasse

2.1Lohnarbeit als Herrschaftsverhältnis

Der Zuschnitt des Untersuchungsgegenstandes beruht einerseits auf der vorempirischen Annahme, dass gegenwärtige Wirtschaftsunternehmen bzw. -betriebe tatsächlich einen Herrschaftszusammenhang darstellen. Er folgt damit in Grundzügen einer marxschen Perspektive auf den kapitalistischen Arbeitsprozess, der zufolge die Beziehung zwischen Unternehmensleitung (die Eigentümerinnen oder das in deren Auftrag agierende oberste Management) und den im Unternehmen angestellten weisungsgebundenen Arbeitenden ein soziales Herrschaftsverhältnis darstellt.6 Auf der Basis ungleicher Verfügung über die gesellschaftlichen Produktionsmittel besteht eine gesamtgesellschaftliche Machtasymmetrie zwischen Mitgliedern der Klasse der Kapitalistinnen und der Lohnarbeitenden, welche im Arbeitsprozess zur Bedingung von Herrschaft ersterer über letztere wird. Unternehmerische Herrschaft sichert die Ausbeutung der Lohnarbeitenden im Sinne der Aneignung ihrer Mehrarbeit ab. Ausbeutung in der Lohnarbeit wiederum ist der zentrale Mechanismus zur Reproduktion ökonomischer Ungleichheit zwischen den Klassen und damit die Voraussetzung für Herrschaft im Arbeitsprozess.7 Andererseits sollte es mit dem in Band 1 entwickelten Herrschaftskonzept aber prinzipiell möglich sein, diese Ausgangsthese am empirischen Gegenstand aufzuzeigen und zu konkretisieren bzw. gegebenenfalls auch zu falsifizieren. Der Herrschaftsbegriff formuliert klare Kriterien, nach denen die gegenstandsbezogene Analyse gezielt suchen kann.

Die allgemeine Form des kapitalistischen Lohnarbeitsverhältnisses – namentlich die rechtliche Freiheit der Lohnarbeitenden, freiwillig in ein Arbeitsverhältnis eintreten und dieses jederzeit verlassen zu können – stellt allerdings eine besondere Herausforderung einer solchen Anwendung des allgemeinen Herrschaftskonzeptes auf den spezifischen Gegenstand der Lohnarbeit dar. Es ist daher ein theoretischer Zwischenschritt nötig, um zu klären, wie sich die Kriterien für Herrschaft überhaupt auf Lohnarbeit beziehen lassen: Welche Bedingungen müssen gegeben sein, damit Lohnarbeit auch angesichts der Wahlfreiheit der Arbeitsstelle ein Herrschaftsverhältnis darstellt? Die folgenden Vorüberlegungen hierzu sollen nicht nur ein prima facie Argument für den grundsätzlichen Herrschaftscharakter von Lohnarbeit liefern, sondern zugleich auch Kriterien für dessen empirische Überprüfbarkeit benennen.

Ein zentrales Argument gegen die Herrschaftsförmigkeit der Lohnarbeitsbeziehung lautet, dass es sich um ein Tauschverhältnis zwischen rechtlich gleichgestellten Akteuren handelt, in das beide Parteien, vereinfacht Kapitalistin und Arbeiterin, freiwillig einwilligen müssen und das jederzeit wieder aufgekündigt werden kann.8 Insbesondere die Freiheit der Arbeiterin ein Arbeitsverhältnis jederzeit verlassen zu können, spräche dagegen, dass hier ein Abhängigkeitsverhältnis und damit Zwang zum Verbleib in der Machtbeziehung vorliegt.

Dieser Einwand ist in der Tat von Relevanz für das in Band 1 entwickelte und hier zugrunde gelegte Herrschaftskonzept9, demzufolge es eine notwendige Bedingung für das Vorliegen von Herrschaft ist, dass der mächtigere Akteur in einer Beziehung seine Macht im Zweifelsfall auch gegen den freien Willen des weniger mächtigen Akteurs durchsetzen kann. Das heißt, dass letzterer sich in einer Situation befinden muss, in der er sich dieser Macht nicht, oder nur um den Preis erheblichen Schadens, entziehen kann. Dies kann entweder auf Grund von innerem oder äußerem Zwang der Fall sein. Klammern wir inneren Zwang (diverse Formen systematisch verzerrter Urteilskraft und fehlender Selbstzugänglichkeit) an dieser Stelle aus indem wir annehmen, es liege kein innerer Zwang vor. Damit Zwang vorliegt, müssen dann die beiden (in Band 1 herausgearbeiteten) Bedingungen äußeren Zwanges zugleich gegeben sein: die Arbeiterin muss sowohl von der gleichberechtigten Mitsprache über die Rahmenbedingungen ihres Arbeitsverhältnisses ausgeschlossen sein als auch über keine guten Alternativen zum Verbleib in der Beziehung verfügen. Nur wenn beide Kriterien erfüllt sind – d.h. weder gute Voice- noch gute Exit-Optionen bestehen – hat die Arbeiterin keine guten Möglichkeiten, sich der Macht ihres sogenannten »Arbeitgebers«10 ohne Schaden zu entziehen (vgl. Band 1, Kap. 4). Nun würde kaum jemand behaupten, dass Angestellte in einem Lohnarbeitsverhältnis per se über gleichberechtigte Mitsprache über wesentliche Arbeitsbedingungen verfügen. Im Gegenteil ist die hierarchische Entscheidungsstruktur des Arbeitsprozesses, rechtlich festgehalten im »Direktionsrecht des Arbeitgebers«, wohl eher die Regel als die Ausnahme. Nach einem weberschen Herrschaftsbegriff sind kapitalistische Wirtschaftsorganisationen daher auch problemlos als Herrschaftsverbände einzuordnen (Band 1, Kap. 3.2.1). Da in dieser Arbeit aber Zwang als ein notwendiges Kriterium von Herrschaft gesetzt wird, würden gute Alternativen zum Lohnarbeitsverhältnis dessen Herrschaftscharakter in Frage stellen. Es handelte sich dann höchstens um Autoritätsbeziehungen, denen sich die weisungsgebundenen Arbeitenden jedoch aus gänzlich freien Stücken unterordnen und die sie jederzeit, insbesondere, wenn sie mit der Art der Machtausübung ihrer Vorgesetzten nicht mehr einverstanden sind, ohne größeren Schaden verlassen könnten. Die entscheidende Frage ist hier also, ob und wenn ja, wovon genau Lohnabhängige abhängig sind und damit was als realistische und relevante Alternative zu ihrem jeweiligen Arbeitsverhältnis gelten kann.

Hier kann ein bekanntes Argument von Marx aufgegriffen und herrschaftstheoretisch reformuliert werden: Der freie Lohnarbeiter, so Marx, gehört im Unterschied zum Sklaven oder Leibeigenen weder einem Eigentümer noch dem Grund und Boden an, sondern verfügt selbst über sich und seine Arbeitskraft, die er an den Meistbietenden für eine bestimmte Zeitdauer verkaufen kann: »Der Arbeiter verläßt den Kapitalisten, dem er sich vermietet, sooft er will, und der Kapitalist entläßt ihn, sooft er es für gut findet, sobald er keinen Nutzen oder nicht den beabsichtigten Nutzen mehr aus ihm zieht. Aber der Arbeiter, dessen einzige Erwerbsquelle der Verkauf der Arbeitskraft ist, kann nicht die ganze Klasse der Käufer, d.h. die Kapitalistenklasse verlassen, ohne auf seine Existenz zu verzichten. Er gehört nicht diesem oder jenem Kapitalisten, aber der Kapitalistenklasse […]«. (Marx [1849] 1959, S. 401; Herv. DM)11 Demzufolge besteht also aus zwei Gründen keine persönliche Abhängigkeit von einem bestimmten Kapitalisten (als dem jeweiligen »Arbeitgeber«): Erstens hat der Kapitalist keine direkte Verfügung über andere Menschen im Sinne eines kollektiv anerkannten Eigentumsrechtes an seinen Arbeiterinnen (im Unterschied zum Verfügungsrecht des Sklavenhalters über seine Sklaven). Die Arbeiterinnen gehören ihm gemäß der bürgerlichen Eigentumsordnung nicht, sondern sind rechtlich frei und müssen daher freiwillig im Arbeitsverhältnis verbleiben. Besteht dennoch Abhängigkeit, dann ist diese sachlich vermittelt. Zweitens kann die Arbeiterin (unter »idealen« Arbeitsmarktbedingungen) zwischen unterschiedlichen Arbeitsverhältnissen wählen, ihre sachliche Abhängigkeit bezieht sich daher nicht auf den jeweiligen Kapitalisten, mit dem sie einen Arbeitsvertrag hat, sondern auf die Klasse der Kapitalisten. Die sachlich vermittelte Abhängigkeit ist insofern dezentralisiert.

Was aber heißt das für das zu untersuchende Herrschaftsverhältnis zwischen jeweils konkreten Akteuren eines bestimmten Unternehmens? Kann sich eine Untersuchung von Herrschaft im Arbeitsprozess überhaupt auf die Ebene eines Betriebes oder Unternehmens beschränken oder müsste sie nicht darüber hinaus gehen und die gesellschaftlichen Klassenverhältnisse berücksichtigen? Offenbar betrifft dieses Problem den Zuschnitt des möglichen Gegenstands der Untersuchung von Herrschaft in der Lohnarbeit. Wie im Folgenden näher dargelegt wird, ist die Reproduktion betrieblicher Herrschaft an die Reproduktion der Klassenzugehörigkeit der Arbeiterin und eine Korrespondenz zwischen klassenbedingter Marktlage und Machtposition im Arbeitsprozess gekoppelt. Eine Untersuchung betrieblicher Herrschaft muss Klasse daher als wichtige Hintergrundbedingung berücksichtigen.

Erstens: Die erste Besonderheit der Lohnarbeitsbeziehung als Herrschaftsverhältnis besteht in der Vertragsfreiheit der beiden gesetzlich gleichen und freien Akteure und der damit einhergehenden formalen Freiwilligkeit des Eintritts und Verlassens der Beziehung. Innerhalb eines Wirtschaftsunternehmens bestehen zwar häufig Befehlsgewalten und Gehorsamspflichten, also Autoritätsbeziehungen zwischen sozialen Rollenträgerinnen. Aber der Zwang, in (irgend) einem Lohnarbeitsverhältnis zu verbleiben, resultiert aus einer spezifischen Konstellationsstruktur, nämlich der Existenz sozialer Klassen. Auf der allgemeinsten Ebene ist das die Klasse der Kapitalistinnen, bestehend aus denjenigen, die zusammen über die gesellschaftlichen Produktionsmittel verfügen und die Klasse der Arbeiterinnen, welche von dieser Verfügung weitgehend ausgeschlossen sind und lediglich über ihre eigene Arbeitskraft verfügen. Unter Produktionsmitteln können allgemein die produktiven Ressourcen einer Gesellschaft verstanden werden, also die Mittel (Arbeitsmittel, Technik, Wissen, etc.) die zur (Re-)Produktion von Lebensmitteln und -bedingungen auf einem bestimmten kulturellen Niveau notwendig sind. Aufgrund der Monopolisierung der Produktionsmittel in den Händen der Klasse der Kapitalistinnen haben die Arbeiterinnen keine Verfügung über die Mittel zur Reproduktion ihrer eigenen individuellen Existenz.

Wie bei vielen anderen Herrschaftsverhältnissen, die auf der dauerhaften Monopolisierung knapper und begehrter Ressourcen beruhen, sind auch beim Lohnarbeitsverhältnis die Nicht-Besitzerinnen mit einem faktischen Zwang zum Verbleib in einer asymmetrischen Beziehung zu den Besitzenden bei zugleich bestehender formaler Freiwilligkeit konfrontiert. Anders als etwa bei Leibeigenschaft oder Sklaverei beruht der Zwang zum Verbleib im Unternehmen nicht (notwendig oder primär) auf kollektiv geteilten Normen bzw. Gesetzen, die ein Verlassen der Herrschaftsbeziehung mit negativen Sanktionen belegen, ein Aspekt, der als sachlich vermittelte oder kurz »sachliche Abhängigkeit«12 (Heinrich) bezeichnet werden kann. Beim Verlassen der Beziehung drohen daher keine negativen Sanktionen, sondern negative Konsequenzen (im Extremfall das Verhungern). Der Unterschied zwischen angedrohten Sanktionen und zu erwartenden (nicht-normativen) Konsequenzen besteht u.a. darin, dass erstere im Glauben an die Geltung der Norm angedroht oder durchgesetzt werden – sei es durch die Herrschenden selbst oder durch Akteure, die in Übereinstimmung mit den die Herrschaft stützenden Normen handeln, also etwa in Form der Drohung des Sklavenbesitzers, seinen Sklaven für einen Fluchtversuch zu bestrafen oder der Drohung staatlicher Ordnungskräfte, den Sklavenbesitzer bei der Durchsetzung seines Eigentumsrechts zu unterstützen.13 Die zu erwartenden negativen Konsequenzen im Falle formaler Freiwilligkeit hingegen haben nicht den Status von Normen oder Gesetzen, sie ergeben sich vielmehr aus den »Lebensumständen« der de-privilegierten Akteure, welche aus der Sicht der Herrschenden billigend in Kauf genommen, aber nicht notwendigerweise intentional angedroht oder herbeigeführt werden müssen.14

Vorläufig zusammenfassend heißt das: die Herrschaftsbeziehung in der Lohnarbeit ist strukturell bedingt und zwar durch die soziale Positionierung der beiden Akteure der Herrschaftsdyade in einer übergreifenden gesellschaftlichen Konstellationsstruktur. Die Konstellation, um die es sich hier handelt, besteht in der Monopolisierung der Verfügung über die produktiven Ressourcen der Gesellschaft.

Das Merkmal der sachlichen Abhängigkeit ist jedoch noch zu allgemein, um die Besonderheit des Zwangs in einem Lohnarbeitsverhältnis zu erfassen, schließlich sind alle Formen von Herrschaft, die sich primär auf Konstellationsstrukturen stützen, sachlich vermittelt. So kann Herrschaft kraft Interessenkonstellation auch durch faktische Abhängigkeit von einem einzigen Akteur gestützt werden.15 In diesem Fall ist der mächtige Akteur in der sozialen Beziehung zugleich derjenige, von dem der relativ machtlose Akteur abhängig ist. Er ist Monopolist im engeren Wortsinne und die Abhängigkeit der Nichtbesitzerinnen von ihm lässt sich hier als zentralisiert bezeichnen. Wenn es in einer agrarischen Gesellschaft in einer bestimmten Region beispielsweise nur einen Landbesitzer gibt, dann sind die Bauern – auch wenn sie gesetzlich frei sind – faktisch von diesem abhängig und haben keine guten Alternativen, ihre beherrschte Stellung in der Beziehung zu diesem sie beherrschenden Akteur zu verlassen.16 Strukturell ähnliche Konstellationen können auch im Fall von freier Lohnarbeit entstehen, müssen es aber nicht. So kann zentralisierte Abhängigkeit entstehen, wenn es nur ein Unternehmen in der Region gibt, das Arbeitskräfte anstellt und ein angestellter Arbeiter nicht in der Lage ist, die Region zu verlassen. Diese Sonderfälle betreffen aber nicht Lohnarbeit per se. Im Regelfall kommt zu der zunächst nur rein formalen Freiwilligkeit zur Einwilligung in einen Arbeitsvertrag die durchaus reale Wahlfreiheit des konkreten Anstellungsverhältnisses hinzu. Die Arbeiterin kann realistische Alternativen zu ihrem jeweiligen Arbeitsverhältnis haben, wenn sie im Falle der Kündigung gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt hat, eine vergleichbare Arbeitsstelle zu finden.

Zweitens: Typisch für Lohnarbeit ist also eine dezentralisierte Form von Abhängigkeit. Die Lohnarbeiterin ist für gewöhnlich nicht abhängig von dem bestimmten Unternehmer, der innerhalb eines bestehenden Anstellungsverhältnisses Macht über ihre Arbeitstätigkeit hat, sondern sie ist abhängig von der sozialen Klasse, dem dieser Akteur angehört. Als Folge dieser dezentralisierten Abhängigkeit ist die Arbeiterin gezwungen, in eine asymmetrische Machtbeziehung mit irgendeinem Mitglied der Klasse der Produktionsmittelbesitzerinnen einzutreten.17 Das kann wiederum indirekt auch den Zwang, in einem bestimmten Lohnarbeitsverhältnis zu verbleiben, erklären.

Unter der Voraussetzung nämlich, dass die Bedingungen in den anderen Lohnarbeitsverhältnissen, zwischen denen die Arbeiterin wählen kann, hinsichtlich ihrer Herrschaftsförmigkeit strukturell hinreichend ähnlich sind, stellt die Wahl der Arbeitsstelle keine echte Wahl zwischen relevanten Alternativen dar. Grundsätzlich ist eine Wahl zwischen Alternativen, die sich voneinander nicht in signifikanter Weise unterscheiden, keine wirkliche Wahl. Die Lohnarbeiterin hat dann zwar möglicherweise realistische Chancen, durch das Verlassen ihres gegenwärtigen Arbeitsverhältnisses, sich der Macht eines bestimmten Kapitalisten zu entziehen, allerdings nur um sich dann in einer strukturell ähnlichen Situation wiederzufinden, in der sie der gleichartigen Macht eines anderen Kapitalisten ausgesetzt ist. Die Voraussetzung für dieses Szenario ist, dass sich die zur Auswahl stehenden Lohnarbeitsverhältnisse hinsichtlich ihres Herrschaftscharakters nicht wesentlich voneinander unterscheiden, dass also herrschaftsfreie Lohnarbeitsverhältnisse keine realistische gute Alternative darstellen und die Arbeiterin dadurch keine Möglichkeit hat, sich durch die Exit-Strategie unternehmerischer Herrschaft zu entziehen. Sie hat damit keine wirkliche Alternative zur Unterordnung unter die Macht eines bestimmten Kapitalisten. Etwas schematisiert formuliert: Die Arbeiterin hat die realistische Chance zum Erreichen einer nicht signifikanten Alternative – die Wahl zwischen ihrer Unterordnung unter die Herrschaft von Kapitalistin K1, K2, K3, etc. Zugleich ist die signifikante Alternative, sich keiner Herrschaft unterordnen zu müssen, formal zwar gegeben (prinzipiell steht ihr frei, etwa in die Kapitalistinnenklasse aufzusteigen), aber kaum realistisch erreichbar.18 Die Alternative zum Wechsel des Arbeitsverhältnisses lässt sich unter diesen Bedingungen also mit Recht als Scheinalternative zur Unterordnung unter das jeweilige Herrschaftsverhältnis bezeichnen (Elster 1985, S. 208 f.). Diesen Punkt verdeutlicht auch Elisabeth Anderson, die auf Grundlage des Herrschaftsbegriffs von Pettit Lohnarbeit als Herrschaftsverhältnis bestimmt: »Choose your Leviathan. That is like telling the citizens of the Communist bloc of Eastern Europe that their freedom could be secured by a right to emigrate to any country – as long as they stayed behind the Iron Curtain.« (Anderson 2017, S. 60)19

Es sind hier also zwei Punkte zu unterscheiden: erstens der Zwang zur Lohnarbeit überhaupt und zweitens der Zwang zur Unterordnung unter die Herrschaft eines bestimmten Kapitalisten, der sich unter bestimmten Bedingungen indirekt daraus ergibt. Ersterer besteht qua Zugehörigkeit zur Klasse der Lohnarbeitenden, ist somit abhängig von den (fehlenden) Alternativen zur Sicherung des eigenen Lebensunterhaltes jenseits von Lohnarbeit. Er führt dazu, dass diejenigen, die nur über ihre Arbeitskraft und keine anderen akzeptablen Subsistenzmöglichkeiten verfügen, keine guten Alternativen zum Eintritt in eine Lohnarbeitsbeziehung überhaupt haben. Letzterer setzt eine zu erwartende, strukturell ähnliche Formung der Handlungssituationen durch Herrschaft in den realistisch zu erreichenden alternativen Arbeitsverhältnissen voraus. Dieser Zwang wirkt daher nur insoweit, wie die Arbeiterin keine Aufhebung oder Verbesserung ihrer beherrschten Position durch Wechsel des Arbeitsverhältnisses zu erwarten hat. Die Freiheit zum Wechsel des Arbeitsverhältnisses bietet damit lediglich einen gewissen Schutz vor unüblich negativen Ausprägungen betrieblicher Herrschaft, nicht aber vor Herrschaft in einem Maß, das zu einem gegebenen Zeitpunkt in einer Gesellschaft üblich ist.

So betrachtet, besteht das für Lohnarbeit relevante Herrschaftsverhältnis zwar in der jeweils konkreten Beziehung zwischen Unternehmer und lohnabhängiger Arbeiterin, es besteht aber nur kraft der dauerhaften Klassenzugehörigkeit der beiden Akteure: Für das Vorliegen von Herrschaft muss eine dauerhafte Festgelegtheit auf eine Klassenposition in der Verteilungsstruktur produktiver Ressourcen (Verfügung/Ausschluss von der Verfügung über Produktionsmittel) mit einer dauerhaften Festgelegtheit auf eine strukturell ähnliche Machtposition innerhalb der Sozialordnung von Wirtschaftsorganisationen (Herrschende/beherrschte Position im Arbeitsprozess) korrespondieren. Das bedeutet, die Aufstiegsmobilität von der Klasse der Lohnarbeit in die Kapitalistenklasse muss erheblich eingeschränkt sein und alternative erreichbare Lohnarbeitsverhältnisse müssen einen strukturell ähnlichen Herrschaftscharakter haben. Die Klassenbegriffe von Marx und Weber kombinierend kann man sagen, dass unter den genannten Bedingungen Marktchancen mit Herrschaftschancen korrelieren:20 Diejenigen, die über Kapital verfügen, haben gute Chancen, vermittelt über Markttransaktionen (Kauf von Produktionsmitteln und Arbeitskräften) in eine herrschende Position in einem Wirtschaftsbetrieb zu gelangen, während diejenigen, die nichts als ihre Arbeitskraft zu Markte tragen können, sich mit hoher Wahrscheinlichkeit stets in einer beherrschten Position in Betrieben wiederfinden. Eine entscheidende Voraussetzung für betriebliche Herrschaft ist damit die dauerhafte Klassenzugehörigkeit der beiden Akteure, welche dafür sorgt, dass beide trotz marktvermitteltem Wechsel von Anstellungsverhältnissen immer wieder in strukturell ähnlichen Herrschaftspositionen landen.21

Für die oben aufgeworfene Frage, ob Lohnarbeit ein Herrschaftsverhältnis darstellt heißt dies: ja, Lohnarbeit kann, nach der hier zu Grunde gelegten Definition, Herrschaft konstituieren und zwar unter folgenden, empirisch falsifizierbaren Bedingungen:

Erstens: Es liegt eine signifikante Asymmetrie der sozialen Macht zwischen Unternehmensführung und angestellter Arbeiterin vor. Hierauf wurde bisher nicht näher eingegangen. Da hier empirisch eine Vielzahl von Faktoren eine Rolle spielen kann, seien nur die wichtigsten kurz aufgerufen: Die asymmetrische Machtverteilung in der Lohnarbeitsbeziehung hat eine zentrale Basis in ungleich verteilter Verhandlungsmacht zugunsten der Kapitalistin. Diese wiederum ist durch unterschiedliche Faktoren bedingt: Sie hängt u.a. ab vom Maß der Ersetzbarkeit der jeweiligen Arbeiterin, d.h. der Existenz verfügbarer Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt, sowie dem spezifischen »Marktwert« der jeweiligen Arbeitskraft, darüber hinaus aber auch von der strategischen Bedeutung der Arbeiterin innerhalb der betrieblichen Organisation (ihrer »Arbeitsplatzmacht«). Zudem beeinflusst der Grad der kollektiven Organisierung der Arbeiterinnen eines Betriebes oder einer Branche und der damit einhergehenden Möglichkeit, ein »Arbeitskräftekartell« zu bilden, die jeweilige individuelle Verhandlungsmacht der Arbeiterinnen (»Organisationsmacht«). Selbiges gilt analog natürlich auch für den Organisationsgrad der Seite der Kapitalbesitzenden. Asymmetrische Macht zwischen Kapitalistin und Arbeiterin ist darüber hinaus meist in institutionalisierten hierarchischen Entscheidungsstrukturen eines Unternehmens verankert sowie in unterschiedlichen außerbetrieblichen Ressourcen und Rechten, die die beiden Parteien jeweils für sich mobilisieren können. Nicht zuletzt spielen auch verinnerlichte soziale Identitäten der Arbeiterinnen, welche diese zur Unterordnung (oder auch zum Widerstand) disponieren, eine Rolle (vgl. Knights und Willmott 1989).22

Zweitens: Die Arbeiterin kann sich der Macht der Unternehmensleitung nicht durch Einspruch in Form der Teilhabe an betrieblicher Mitbestimmung entziehen. Ebenso wie die Machtasymmetrie kann natürlich auch das Maß der Mitbestimmung der Beschäftigten empirisch variieren und damit auch die Stärke des Herrschaftsverhältnisses. Bestehen partielle Mitbestimmungsrechte, etwa durch Betriebsräte, dann muss – für das Vorliegen von Herrschaft – die letzte Entscheidungsgewalt über unternehmerische Ziele und Arbeitsbedingungen bei den Eigentümerinnen/ der Unternehmensleitung konzentriert sein. Sofern es sich nicht um Genossenschaften mit gleichberechtigter Stimmberechtigung oder andere Formen egalitär geführter Unternehmen handelt, ist zu erwarten, dass kapitalistische Unternehmen nicht egalitär-demokratisch, sondern tendenziell autokratisch regiert werden.

Drittens: Zum Vorliegen von Herrschaft müssen zusätzlich gute, realistisch erreichbare und relevante Alternativen zur beherrschten Position im gegenwärtigen Arbeitsverhältnis fehlen. Dem oben ausgeführten Argument zufolge ist dies unter zwei Bedingungen der Fall: die Arbeiterin hat keine guten Alternativen zum Verbleib in der Klasse der Lohnarbeit überhaupt (weder durch alternative Subsistenzweisen noch durch Aufstieg in die Kapitalistinnenklasse) und auf Grund ihrer klassenbedingten Marktchancen kann sie erwartbar nur beherrschte Positionen innerhalb alternativer Lohnarbeitsverhältnisse erreichen. Trotz gegebener Optionen, den Arbeitsplatz zu wechseln, bestehen damit keine Chancen, eine beherrschte Position in Arbeitsorganisationen zu verlassen. Das setzt – wie bereits ausgeführt – voraus, dass nicht nur die Sozialbeziehungen innerhalb des Unternehmens, bei dem die Arbeiterin gegenwärtig angestellt ist, sondern auch die in allen anderen Unternehmen, die eine Arbeiterin durch Arbeitsplatzwechsel erwartbar erreichen kann, herrschaftsförmig strukturiert sind.

Trotz eines in anderer Hinsicht problematischen Herrschaftsbegriffs23 kommt Staab zu einer ähnlichen Schlussfolgerung, was den Zusammenhang von Klassenlage als Marktchancen (Staab spricht hier von Stellung in der Sozialstruktur) und betrieblicher Herrschaft betrifft: »Die Korrespondenz zwischen Sozialstruktur und Herrschaft im Wirtschaftssystem ist freilich einer empirischen Überprüfung zu unterstellen. Lässt sich ein solcher Zusammenhang der sozialen Lage mit der Positionierung in der Arbeitswelt nachweisen, so kann dies als Hinweis auf Herrschaft gelten.« (Staab 2014, S. 70)

Es kann davon ausgegangen werden, dass die Stärke des Zwangs zum Verbleib in einer bestimmten untergeordneten Position in einem Wirtschaftsunternehmen mit den Möglichkeiten des Aufstieges auch innerhalb der Klasse der Lohnarbeitenden variiert. Während also der Zwang, in einer Lohnarbeitsposition überhaupt zu verbleiben, u.a. davon abhängt, nicht in die Klasse der Kapitalistinnen aufsteigen zu können, ist der Zwang zum Verbleib in einer spezifischen Position im Arbeitsprozess abhängig von den beruflichen Aufstiegschancen in einem Unternehmen oder zwischen Unternehmen. Die Korrespondenz zwischen Marktchancen und Macht-/Herrschaftschancen kann also auch differenziert nach Klassenpositionen innerhalb der Lohnarbeiterschaft betrachtet werden. So können beispielsweise die fehlenden Aufstiegsmöglichkeiten aus einer unterprivilegierten Klassenlage durch fehlende fachspezifische Berufsqualifikationen zum Zwang werden, der die betreffenden Arbeiterinnen an eine Position besonderer Machtlosigkeit in der betrieblichen Herrschaftsordnung bindet.