Hertzmann's Coffee - Vanessa F. Fogel - E-Book

Hertzmann's Coffee E-Book

Vanessa F. Fogel

0,0

Beschreibung

Ein altes jüdisches Ehepaar in New York: Hertzmann hat mit Kaffee gehandelt und ein Imperium aufgebaut, sein Dorale ist mit ihm lebenslang durch alle Höhen und Tiefen gegangen. Jetzt ist es an der Zeit, die Firma an die Kinder zu übergeben. Doch es kommt zum Eklat, zum Streit um das Erbe. Plötzlich tun sich Brüche und Abgründe in der Familie auf. Über die Vergangenheit wurde nie gesprochen; "happy families don't have a history" - das ist Doras und Yankeles Credo, daran haben sie sich zeit ihres langen Lebens gehalten, so hat es auch immer gut funktioniert, dieses Leben. Doch der Bruch mit den Kindern setzt etwas frei in Hertzmann. Er hat von youtube gehört. Von persönlichen Filmen im Internet. Er fasst einen Entschluss. Nachts setzt er sich, allein in seinem Studio, vor eine Videokamera - und erzählt. Hertzmann's Coffee ist eine große Familien- und Unternehmensgeschichte, eine Geschichte aus New York, Berlin und Caracas, eine Liebesgeschichte. Archaisch, bewegend, bildreich und voller Humor.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 348

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



weissbooks.w

Impressum

Vanessa F. Fogel

Hertzmann’s Coffee

Roman

Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné

unter Mitarbeit von Vanessa F. Fogel

© weissbooks.w Zürich, 2019

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung

Julia Borgwardt, borgwardt design

unter Verwendung eines Motivs von

© Charles W. Cushman, The Charles W. Cushman Collection

Indiana University/University Archives

Foto Vanessa F. Fogel

© Meirav Basson

Satz

Publikations Atelier, Dreieich

ISBN 978-3-86337-057-2

Dieses Buch ist auch als eBook erhältlich

vanessafogel.com

weissbooks.com

Vanessa F. Fogel

Hertzmann’s CoffeeRoman

Aus dem Amerikanischen von Eva Bonnéunter Mitarbeit von Vanessa F. Fogel

Vanessa F. Fogel, 1981 als Tochter einer Architektenfamilie in Frankfurt am Main geboren, wuchs in Deutschland, Israel und den USA auf. Sie studierte an der Cornell University in New York und an der Bar-Ilan Universität in Tel Aviv. Sie arbeitete für Kunstgalerien, als Chefredakteurin des Graphis-Magazins und für einen international anerkannten Video-Künstler. 2011 erschien ihr viel beachteter erster Roman Sag es mir.

Heute lebt Vanessa Fogel mit ihrem Mann und zwei Kindern in London, manchmal in Texas – und immer wieder auch in Tel Aviv.

Inhalt

NEW YORK, NY, USA

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

CARACAS, VENEZUELA

Wenn meine Mutter gestorben ist

Vater

Sie wartet auf mich

Hände

Es ist Nachmittag

BERLIN, DEUTSCHLAND

Stopp

Abendessen

Fahren

Zu Hause

Nahaufnahme

Sterben

NEW YORK, NY, USA

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Wird 2012 das Aus für das Familienunternehmen »Hertzmann’s Coffee« bringen?

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

CARACAS, VENEZUELA

Meine Mutter ging nie ohne Regenschirm aus dem Haus

Mamá y Papá

Ich reiße den Umschlag auf

Da gab es nichts Besonderes

Sie hat etwas gesagt

BERLIN, DEUTSCHLAND

Regen

Zukunft

Dummies

Schreibmaschine

NEW YORK, NY, USA

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

NEW YORK, NY, USA

Nur wer über sich und seine Zeit schreibt, schreibt über alle Menschen und alle Zeiten.George Bernard Shaw

1

Hchchch – schsch – hchchch – schsch. Hchch – schsch – hchch – schsch. – Ahhhh – plötzlich – aahhhh – schnappte ich nach Luft, als wäre es mein letzter Atemzug. Also. War es das? Nein. Oder doch? Nein. Ich war eben einfach nur aus dem Tiefschlaf aufgewacht.

Schnaufend fischte ich mein Gebiss aus dem Wasserglas, das neben dem Bett auf dem Nachttisch stand. Ich schob es mir in den Mund. Und schluckte meine Spucke.

»Ich kann nicht schlafen«, verkündete ich leise, als wäre es ein Geheimnis, das ich keinesfalls noch länger für mich behalten wollte. Ich hoffte, dass meine Frau ebenfalls wach war und mich hören konnte.

»Ich auch nicht«, klagte Dora müde.

Gut, dachte ich mir, immerhin sind wir zusammen wach.

Viele Männer meines Alters können nicht schlafen. Aber ich war immer anders. Zu schlafen, und noch gut dazu, war nie ein Problem für mich. Aber jetzt lag ich wach, wie alle anderen. Wollte die Zeit mir damit sagen, dass ich sie nicht länger mit Schlafen vergeuden sollte?

»Also. Warum kannst du nicht schlafen?«, fragte ich. Ich setzte mich mit knackenden Knochen im Bett auf.

Mein Körper tat mir nicht weh. Nichts schmerzte mich. Nur mein Arm. Da fühlte ich einen tiefen Schmerz, so durchdringend und bodenlos, wie sonst nur Hungerqualen sind. Außerdem juckte er, als wäre ein Dutzend gieriger Moskitos brutal über ihn hergefallen. Dennoch fühlte ich mich wie fast immer: gut, fit, dankbar.

Also schaltete ich die Nachttischlampe an. Sie erhellte meine Zimmerhälfte. An der nackten Wand neben mir tauchte mein großer Schatten auf. Ein Schatten, dachte ich mir, ist der beste Beweis dafür, dass man noch am Leben ist. Ich sah mich um. Wir hatten ein schönes Schlafzimmer. Bequem eingerichtet, gemütlich. Aber groß. Zu groß. Wer braucht einen so großen Raum? Gegenüber vom Bett befand sich ein hohes Fenster, mit schweren muschelgrauen Vorhängen davor. Dahinter lag der Central Park. Alles neben und alles vor mir sah verschwommen aus. Also, das hatte bestimmt mit meinem Alter von fünfundachtzig Jahren zu tun.

Schön wäre es, in den schlafenden Park zu blicken. Aber ich war zu müde, um bis ans Fenster zu gehen, die Vorhänge zu öffnen und mich auf den Rückweg zum Bett zu machen. Vor allem, weil es draußen noch dunkel war. Es gab nichts zu sehen. Weniger als nichts. Besonders mit meinen schwachen Augen. Selbst wenn die Sonne schon aufgegangen wäre, würde ich kaum mehr sehen als ein paar frühlingsfarbene Schlieren. Die auch ganz hübsch sind. Aber nicht so hübsch wie das Original. Das sind Kopien fast nie. Oder wäre das eine Interpretation? Also blieb ich einfach im Bett sitzen.

»Ich kann nie schlafen«, stellte Dora fest. Sie klang jetzt hellwach und dennoch lethargisch. »Du merkst das nie, weil du immer schläfst, wenn ich nicht schlafen kann, Yankele.«

»Ahhhh«, antwortete ich. Interessant.

Meine Gedanken wanderten zu meinen Kindern, die jetzt sicher tief und fest in ihren eigenen Betten, ihren eigenen Wohnungen schliefen. Und da fühlte ich es wieder. Genau das, was ich gestern gefühlt hatte. Ein Kneifen in der Brust, wie ein Taschenkrebs, der nicht loslässt. Etwas war dabei, zu Ende zu gehen.

Also beugte ich mich zur Seite und grapschte meine Brille und die Zeitung vom Nachttisch. Die Schlagzeile las ich laut vor: »Mindestens hundertvierzig Tote und achthundert Verletzte bei Krawallen am Wochenende.« Ich legte die Zeitung auf meinen Bauch. Auf das rostrote Federbett, das meinen Bauch bedeckte. Früher war mein Bauch nicht so groß. Aber jetzt malte er eine Linie an die Wand, die an den Umriss eines Bergs erinnerte.

Ich hörte das Zeitungspapier rascheln. Doras Hand tastete darauf herum. Ihre Finger schlenderten über ein Foto von Kindern in einem schäbigen, zellengleichen Klassenzimmer. Ihre Hand war so leicht. Ich spürte kaum den Druck, der gegen meinen Bauch presste, als Dora sich aufstützte und zu mir heranrutschte. Sie näherte ihren Mund dem meinen und küsste mich. So viele Jahre wurde ich schon von ihr geküsst, und noch immer erregte mich das.

»Du hättest gestern eine Schokoladentorte bekommen sollen. Geformt wie zwei geröstete Kaffeebohnen.«

»Ich mag Schokoladentorte.«

»Also. Ich werde diesen Geburtstag nie vergessen«, sagte ich. »Ich werde mich immer daran erinnern, ihn nicht zu vergessen.«

»Geburtstage Schmurtstage«, sagte Dora. »Komm schon, Geburtstage sind nicht wichtig.«

»Doch, sind sie.«

»Unsinn! Geburtstage sind unwichtig. Nur die Familie und das Geschäft sind wichtig. Und natürlich ist es wichtig, einen ehrlichen und ebenbürtigen Tennispartner zu haben.« Also. Auch wenn Sie es auf den ersten Blick nie erraten würden: Meine zarte Dorale war eine große Tennisspielerin.

Dora stützte sich immer noch auf, und ihr Gesicht war immer noch dicht an meinem. Unsere Gesichter hingen nebeneinander wie zwei rote reife Kaffeekirschen an einem Zweig, die auf die Ernte warten und bereit sind, ihren Samen herzugeben, den wir so liebevoll Kaffeebohne nennen.

Ich schlang meinen Arm um sie. Und sie legte ihren Kopf auf meine Brust. Eine Brust, die auch schon alt war. Ich spürte mein Herz kräftig schlagen, als wollte es sich in ihren Gehörgang drängen. Es schlug, als wäre ich wieder so Mitte zwanzig. Nicht, dass ich mir das gewünscht hätte. Denn mir war nicht daran gelegen, die Zeit zurückzudrehen. Die Zeit war kein Hindernis. Das Netz beim Tennis – das war ein Hindernis.

»Vielleicht ist es nicht gut, unsere Geburtstage immer noch zusammen zu feiern«, sagte Dora.

»Aber so haben wir es immer gemacht.«

»Und?«, hauchte sie.

»Also. Geburtstage müssen gefeiert werden. Sie sind eine hervorragende Gelegenheit, sich ganz bewusst Zeit für die Familie zu nehmen.« So eine schöne Tradition, dachte ich mir. Und was machte es schon, dass Traditionen nur von symbolischem Wert sind? Immer noch besser, als keinen Wert zu haben.

Wir veranstalten vier Geburtstags-Geschäftstermine pro Jahr. Im Winter, im Frühling, im Sommer und im Herbst. Wir haben vier Kinder, und jedes davon ist in einer anderen Jahreszeit zur Welt gekommen, als hätten Dora und ich es so geplant.

Leonard, unser ältester Sohn, wurde im Hochsommer geboren. Jasmin, die zweitälteste und einzige Tochter, mitten im Winter. Unser drittes Kind, Benjamin, kam im Frühling zur Welt, und Eliot, unser Jüngster, an einem sehr frischen Tag im Herbst. Und so, wie sich die Jahreszeiten durch die Intensität des Sonnenlichts voneinander unterscheiden, unterscheiden sich unsere Kinder voneinander. Sie sind Pole für sich – mit eigenen Intensitäten. Mit bewundernswerten Fähigkeiten und beschämenden Fixierungen.

Wie eine glückliche Familie feiern wir die Geburtstage unserer Kinder gemeinsam. Außer dem von Benjamin. Der vierte Geburtstags-Geschäftstermin findet an Doras Ehrentag statt. Am ersten April. Und das ist nun kein Scherz.

Also. Gestern haben wir Doras Geburtstag gefeiert. Wir haben es versucht. Versucht und nicht geschafft. Was mich betrifft, ist jeder Tag für mich wie mein Geburtstag. Ist jeder Tag ein Geschenk. Manche sind nur hübscher verpackt als andere.

Wir alle lieben und leben Kaffee. Mit jedem Atemzug. Andere Leute brauchen Sauerstoff, wir brauchen Kaffee. Kaffee, Kaffee, Kaffee. Lassen Sie sich nicht erzählen, dass Kaffee das Wachstum Ihrer Kinder hemmt oder ihrem Nervensystem schadet. Wir haben unseren Kindern Kaffee zu trinken gegeben, lange bevor sie erwachsen wurden, und alle sind sie doch gut geraten.

»Dorale«, sagte ich zerknirscht. »Wie konnte so etwas passieren? Es war nur eine Mitteilung.«

»Gestern habe ich unsere Kinder nicht wiedererkannt«, sagte Dora traurig. Sie stützte sich immer noch auf mich. Ich hielt sie im Arm und beschützte sie wie eine Glucke, die einen Flügel über ihre Küken breitet. »Das Treffen hätte so ein Erfolg werden können. So ein köstliches Essen. So eine wunderschöne Geburtstagsfeier.«

Dora seufzte, noch tiefer jetzt, ihr ganzer Körper seufzte.

»Aber sie mussten unbedingt …« Ich schaffte es nicht, den Satz zu beenden, denn plötzlich erlebte ich alles, was gestern war, noch einmal. Plötzlich war ich wieder so wütend. Meine Stirn, meine Nase, meine Wangen wurden rot, und ich presste Ober- und Unterkiefer aufeinander. Ich nahm meine Goldrandbrille ab und legte sie zurück auf den Nachttisch.

2

Jeder Geburtstags-Geschäftstermin beginnt mit uns Fünfen – Leonard, Jasmin, Eliot, Dora und mir. Benjamin ist fast nie dabei. Wir diskutieren über die Bilanzen und über Kredite, und immer sitzt Dora am Kopf des langen Konferenztischs, und nie sagt sie ein Wort. Sie gibt nicht einmal einen Ton von sich. Aber sie hört angestrengter zu als wir alle zusammen, als hätte sie das Gehör eines Delfins.

Später kommen einige unserer Angestellten dazu und erstatten uns Bericht über den Stand unseres Kaffeeunternehmens. Sie zeigen uns Charts, stellen aktuelle Zahlen vor und verteilen bunte Grafiken mit Pfeilen. Sie halten uns Vorträge über weltweite Markttrends, neue Produktentwicklungen, die Konkurrenz, Gewinne und Verluste und so weiter. Also. Wenn wir das Geschäftliche hinter uns gebracht haben, kommen wir zum vergnüglichen Teil. Wir feiern den jeweiligen Geburtstag mit einem üppigen, köstlichen und nahrhaften Mahl. Und wir beschließen es mit Kaffee. Mit dem besten sortenreinen Kaffee unseres Familienunternehmens, so fein wie der erlesenste Wein. Zugegeben, wir sprechen auch während des vergnüglichen Teils über das Geschäft.

Zum Kaffee steuert jeder einen Toast bei: Dieser Kaffee ist phänomenal ausbalanciert – Möge unsere Firma so reich sein wie dieser Kaffee – Ich wünschte, ich könnte in ihm baden! Also. Dann kommt die Torte. Eine Schokoladentorte. Vorzugsweise mit Schokoladenglasur. Und darin stecken die Kerzen, die wir füreinander anzünden. Jedes Mal flüstert Dora dem Geburtstagskind ins Ohr: »Verschwende keinen einzigen deiner kostbaren Atemzüge auf dummes Zeug.« Aber jedes Mal bläst es die Kerzen mit dem unverwechselbaren Lächeln eines Geburtstagskindes aus.

»Wie kommt es, dass für mich kein Wein mehr übrig ist?«, rief Leonard in dem Moment, als er gestern den Konferenzraum betrat. Er griff sich einen Stuhl und zerrte ihn ans freie Kopfende des Tisches. Alle anderen hatten längst um den Tisch herum Platz genommen. In seiner Mitte stand ein Strauß aus roten Rosen, rotbraunen Schokoladen-Kosmeen und dunklen Calla-Lilien.

»Nimm mein Glas«, bot ich Leonard an und ging zu ihm hin. »Wir haben schon eine zweite Flasche bestellt.«

»Warum tust du das? Warum musst du immer Leonard gefällig sein, damit er bekommt, was er will?«, fragte Eliot.

»Glaubt mir«, antwortete Leonard, »ich bekomme nie, was ich will.« Er hob den Blick zur Decke und setzte ein künstlich trauriges Gesicht auf, als versuchte er, Gefühle zu zeigen, die er in Wahrheit nicht hatte.

»Tja, ich auch nicht«, sagte Eliot mit Nachdruck, und dann sagte Leonard: »Dieser Wein ist absolut schrecklich.«

»Nein, das ist er nicht«, sagte Jasmin, während sie die drei schlafenden Miniaturhunde auf ihrem Schoß streichelte. Ihre Finger kämmten durch ihr honigbraunes, schwarzes und weißgraues Fell.

Über Jasmins Kommentar musste Leonard lachen. »Das sagst du nur, weil Dad ihn ausgesucht hat und du ihm immer nach dem Mund redest.« Also stand er auf und gab mir mein Glas zurück.

»Ich hätte von Anfang an den Pinot Blanc gewählt«, sagte Eliot, kippelte mit seinem Stuhl vor und zurück und trommelte auf die Armlehnen.

Daraufhin brach Jasmin in vulkanisches Gelächter aus. Was allerdings nicht lange dauerte, weil Eliot sein Rotweinglas über den Tisch auf Leonard zuschlittern ließ und es auf Jasmins weißer Designerjacke landete. Jetzt lachten Leonard und Eliot, und Jasmin kochte vor Wut. Ihr Gesicht war rot wie der Weinfleck auf ihrer Jacke.

»Das ist alles nur deinetwegen«, sagte sie und zeigte mit dem Finger auf Leonard. Dann verschränkte sie wütend die Arme vor der Brust. Sie war eine hübsche Frau, aber in dem Moment sah sie nicht sehr attraktiv aus. Also. Leonard antwortete lächelnd: »Nur meinetwegen läuft diese Firma so gut, und es ist für euch höchste Zeit, das endlich einzusehen.«

»Hallo? Wovon redest du? Wir sind beide Geschäftsführer«, sagte Jasmin. »Ich arbeite genauso viel wie du, wenn nicht noch mehr.« Ich traute meinen Ohren kaum. Und auch meinen Augen nicht.

»Seien wir ehrlich«, warf Eliot ein. Er schaute kopfschüttelnd nach rechts und links. »So gut läuft die Firma nun auch wieder nicht.«

»Was?«, schrie Leonard, »jetzt habe ich auch noch die Schuld an der Finanzkrise?«

Wie peinlich. Wein. Ich war beschämt. Ein alkoholisches Getränk. Darüber stritten meine Kinder. Ich konnte es nicht glauben. Dies sind, dachte ich ungläubig, die Gesellschafter meiner Firma, die ich aus dem Boden gestampft und jahrelang allein geleitet habe. Einer Firma, aus der ich mir nie etwas genommen, der ich immer nur gegeben, gegeben und gegeben habe. Ich war enttäuscht. Ich war schockiert. Ich war wütend. Mein Herz raste. Also das würde meinem Kardiologen ganz bestimmt nicht gefallen.

»Können wir uns nun endlich dem Geschäft zuwenden?«, fragte ich und zwang mich, ruhig zu bleiben. »Wie ihr wisst, habe ich euch etwas Wichtiges mitzuteilen.«

Bevor ich weitersprach, sah ich zu Dora hinüber. Aber sie hatte ihren Stuhl herumgedreht und kehrte mir und dem ovalen Konferenztisch den Rücken zu. »Meine Mitteilung betrifft Eliot«, sagte ich nervös. »Ich habe beschlossen, dass Eliot die Firma vom ersten Juli an leiten wird.«

Ich konnte die Verwirrung und das Entsetzen in Leonards und Jasmins Gesichtern sehen. Und ihre maßlose Überraschung. Aber sogar sie waren nicht so überrascht wie Eliot selbst. »Tja, dann«, sagte er schmunzelnd, »das Leben ist komisch.«

»Das ist doch ein Scherz, Daddy, oder?«, fragte Jasmin, und Leonard sagte: »Dad, wie kannst du so was tun? Erstens wohnt er nicht einmal hier, und zweitens ist er ein Drogendealer.«

»Ich zahle Steuern wie jeder andere fleißige Bürger«, sagte Eliot. »Und ich kann es gar nicht erwarten, in dieses schreckliche New York zu ziehen.« Er lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.

»Seht ihr, er bezahlt Steuern wie jeder anständige Bürger«, sagte ich, »also ist er kein Drogendealer.« Ich wusste, Eliot war eine ungewöhnliche Wahl, aber er war meine Wahl. Meine zweitbeste Wahl. Denn eigentlich hatte ich mir gewünscht, dass Benjamin das Geschäft übernähme. Aber der weigerte sich beharrlich.

»Eliot ist so unfähig, dass dein Vorschlag nicht einmal zum Aprilscherz taugt, Dad«, sagte Leonard.

»Sprich nicht so über deinen Bruder.«

»Genau, sprich nicht so über deinen Bruder«, wiederholte Eliot.

»Daddy, er schnorrt dich an, seit er von zu Hause ausgezogen ist«, sagte Jasmin.

»Ich habe mein ganzes Leben dieser Firma gewidmet«, rief Leonard und sprang auf. Sein Stuhl kippte um.

»Ich auch!«, fügte Jasmin hinzu. »Und wenn ich nicht mehr die Verantwortung trage, werde ich kündigen und meine Anteile verkaufen.«

Wie bitte? Ich war außer mir. Wie konnte sie an so etwas überhaupt nur denken? Schließlich hatte ich die Firma nicht für mich aufgebaut. Sondern für meine Kinder, immer nur für die Kinder. Damit sie ein sicheres und gutes Leben haben konnten. Eine Zukunft. Damit sie sich alles leisten konnten, was mit Geld zu kaufen ist. Damit sie alles unbelastet genießen konnten, anders als Dora und ich, für die es zu spät war. Vom Beginn unseres Lebens an war es immer schon zu spät für uns gewesen.

Also stand ich von meinem Stuhl auf und ging zu Dora. Dabei klang das Gezeter meiner Kinder in meinen Ohren so schief wie eine falsch orchestrierte Symphonie. Ihre Stimmen hörten sich bitter an. Nicht angenehm bitter wie das dunkle Schokoladenaroma eines hochwertigen Kaffees aus Guatemala. Nein, unangenehm bitter wie ein schlecht geratener Espresso. Sie waren in ihren Disput so vertieft, dass sie gar nicht bemerkt hatten, dass ich aufgestanden war. Und während ich mich Dora näherte, sah ich aus dem Augenwinkel, wie Leonard seinen Stuhl am Stuhlbein in die Luft hob. Ich ging hinter seinem Rücken an ihm vorbei, als ich einen Schrei hörte – »OH NEIN. ACHTUNG, PASS AUF, DAD. ES TUT MIR SOO LEIIIID!«, und schon spürte ich einen harten Schlag.

Ich ging zu Boden wie ein gefällter Baum. Der Stuhl, der mich erledigt hatte, landete direkt neben mir. Wir sahen einander an.

Mir war schwindlig, und alles ringsum war noch verschwommener als sonst. Dazu drehte es sich noch. Und zum ersten Mal seit einer halben Stunde waren sie alle still. Es war wunderbar friedlich. Mir wurde kalt.

Nichts außer meinem Arm tat mir weh. Sie standen um mich herum. Ich sah ihre drei besorgten Gesichter auf mich niederstarren. Wo war Dora? Ich war wie benebelt. Trotzdem schaffte ich es, den Kopf zu meinem Stuhl zu drehen. Ich rollte mich über Schulter und Hüfte auf die Seite. Sechs Arme reckten sich nach mir wie die Tentakel eines Kraken nach einem Seestern.

Ich holte tief Luft. »Ich kann alleine aufstehen«, sagte ich. Ich spürte keine außergewöhnlichen Schmerzen. Nur mein Arm fühlte sich an, als liefen alle Nerven meines Körpers in ihm zusammen.

Also. Ich hob den Kopf und harrte für einige Momente in dieser Position aus. Ich wartete darauf, dass mein Blutdruck sich wieder normalisierte. Als mir nicht mehr schwindlig war, erhob ich mich. Auf alle viere. Auf Knien und Händen kroch ich zum Stuhl und stützte meine Arme darauf. Der rechte schmerzte. Ich stellte erst ein Bein auf, dann das andere. Ich fühlte mich unstabil. Aber dann war Dora da. Sie griff mir unter den Arm, den schmerzfreien Arm, und sprach energisch zu unseren Kindern: »Lasst uns in Ruhe!« Ich klammerte mich fest an sie. Sie folgten uns. Dora wiederholte: »Lasst uns in Ruhe! Ich meine es ernst!« Also ließen sie uns in Ruhe. Alles war wieder normal verschwommen, als wir aus dem Konferenzraum hinausmarschierten.

»Hast du dich verletzt?«, flüsterte sie. Ihre Stimme war so süß wie café cubano.

»Ein bisschen, glaube ich.«

Sie hielt mich noch stärker fest und sagte: »Nur ein bisschen? Du bist unglaublich.«

»Was soll ich sagen? Ich bin in Form.«

»Weil du positiv denkst.« Wir gingen langsam auf die Aufzüge zu.

»Weil ich mindestens acht Tassen Kaffee am Tag trinke. Und jeder weiß, dass Kaffeetrinker gute Chancen haben, jene zu überleben, die keinen Kaffee trinken.«

»Es liegt daran, dass du Tennis spielst, Yankele. Du bist ein Tennis-Champ, daran liegt es.«

Ich drückte zweimal auf den Aufzugknopf, drehte mich zu Dora um und konstatierte voller Überzeugung: »Es liegt daran, dass du mich liebst.«

Im Lennox Hill Hospital ließ ich mich röntgen. Der Doktor prüfte das Bild meiner Fraktur, wie Touristen die Karte einer fremden Stadt studieren. Dora saß neben mir, als meine Knochen wieder in ihre normale Position gebracht wurden. Wäre Dora nicht dabei gewesen, hätte ich vor Schmerzen gewinselt, denn es fühlte sich an, als würde jemand meinen Arm in Teile zerlegen, als wäre er ein Puzzle. Aber ich konnte es noch nie lassen, meine Frau beeindrucken zu wollen.

Danach kam der Castverband. Zunächst wickelte der Doktor mehrere Schichten aus weichem Mull um meinen Arm. Er tränkte Gewebe aus Kunststoffharz in Wasser, bevor er es Streifen für Streifen, Schicht für Schicht um meinen Arm legte. Während ich auf die Aushärtung wartete, erklärte man mir, dass ich diesen Verband für mehrere Monate tragen müsse. Bis alles verheilt sei. Es störte mich nicht, einen harten Panzer um den Arm zu tragen. Ich fühlte mich wie ein mittelalterlicher Ritter mit angewachsener Rüstung.

Als wir das Krankenhaus verließen, nahm Dora meine Hand. Sie hielt sie fest, als wäre sie so kostbar wie das dunkelste Geheimnis der Welt.

Das war nun einige Stunden her, dass das passiert war. Und Dora und ich waren jetzt zusammen wach. Wir teilten die Nacht. Ich spürte eine schwere Verzweiflung in mir. Schwer wie dieses Bett. Schwer wie die ganze Welt. Es war noch so früh am Morgen. Oder so spät in der Nacht. Ich wusste es nicht genau.

Dora hatte sich wieder auf ihre Bettseite zurückgerollt und sich die Decke bis ans Kinn gezogen. Sie sah aus wie ein Kind, das sich vor der Dunkelheit fürchtet. Sie war so klein. Viel kleiner als noch vor Jahren.

»Schlaf ein bisschen«, sagte Dora sanft. Sie sah mich nicht an. Aber ich sie.

»Warum streiten sie miteinander?«

»Hast du Hunger?«

»Sie haben alles. Was könnten sie sonst noch wollen?«, fragte ich, obwohl ich wusste, dass der menschliche Neid, wie auch die menschliche Gier, grenzenlos ist.

»Vielleicht ist die Matratze für deinen Rücken nicht mehr gut.«

»Eliot war die richtige Wahl. Und was hat so ein Titel schon zu bedeuten? Leonard und Jasmin gehören der Geschäftsleitung immer noch an.«

»Schließ deine Augen, Yankele.«

Also nahm ich mein Gebiss heraus und legte es wieder in das Wasserglas auf dem Nachttisch. Dann schloss ich die Augen. Ich stellte mir vor, wie ich unsere schweren Schlafzimmervorhänge beiseitezog. Die sattgrünen Bäume des Central Park tauchten vor mir auf und der blasse Mond, der sein letztes Licht auf sie warf. Und für einen kurzen Moment glaubte ein Teil von mir, dass der gestrige Tag überstanden war. Vergangen. Geschichte. Es war nur eine unbedeutende Streiterei gewesen, wie sie zwischen Schulkindern vermutlich manchmal vorkommt. Aber ein größerer Teil von mir wusste es besser. Diese Streiterei war nicht unbedeutend. Im Guten wie im Schlechten, meine Intuition täuschte mich nie.

Mit geschlossenen Augen hatte ich das Gefühl, als würde um mich herum die Erde beben, während ich nichts anderes tun konnte als stillzuhalten. Meine Füße waren wie angewurzelt, aber ich hatte es eilig. Ich musste mich sputen. Denn ich hörte meinen Hausarzt flüstern: »Deine Zeit ist gekommen.«

3

Ich sah die Mittagsnachrichten in unserem neu angeschafften Fernsehgerät. Der große Bildschirm machte mich zufrieden. Ich konnte darauf fast alles erkennen. Was für ein Vergnügen. Aber warum wurden die Nachrichten so schnell vorgelesen und warum bewegten sich die Bilder so rasch? Kaum hatte ich eine Information verarbeitet, kam schon die nächste, die genauso wichtig war. Wollten die Leute vom Fernsehen nicht, dass ich verstand, was wirklich vor sich ging? Also schaltete ich um zu einem anderen Kanal und sah mir lieber eine Reality Show über das Leben der Tiere an.

Das Klingeln des Telefons unterbrach mich, also nahm ich den Hörer ab. »Hallo?«

»Hi, Dad.« Das war Leonard. »Wie geht es dir?«

Mir ging es gut, abgesehen von dem gebrochenen Arm und einer laufenden Nase. Aber ich wollte, dass er sich schuldig fühlt wegen dem, was kürzlich geschehen war. Also fragte ich: »Wie gut kann es mir schon gehen?«

»Ich weiß. Ich weiß.«

Nach einem Moment Stille fragte Leonard: »Hast du schon mit einem deiner Kinder gesprochen?«

»Worüber?« Ich wusste, dass ich mich dafür hinsetzen musste. Also tat ich das. Ich setzte mich hin, schaltete das Fernsehgerät aus und legte den verbundenen Arm auf meinem Schoß ab, als gehörte er nicht zu meinem Körper.

Meine Frau lief im Wohnzimmer auf und ab wie eine Barista, die darauf wartet, dass ihr nächster unentschlossener Gast einen Kaffee bestellt. Sie trug ein schwarz-weiß kariertes Kleid, das sie seit vielen Jahren besaß. Anders als sie habe ich mir nie viel aus Kleidung gemacht. Aber sie liebte Kleider, ganz besonders Kostüme. Sie war immer schon der Ansicht, ein klassisches elegantes Kostüm sei eine risikofreie Investition. In diesem Moment sah sie außergewöhnlich aus. Also musste sie recht gehabt haben.

»Hast du ihnen gesagt, dass du noch einmal darüber nachgedacht hast?«

»Worüber?«

»Hast du ihnen gesagt, dass du dich letztendlich dafür entschieden hast, mich zu unterstützen?«

»Auch Eliot ist mein Sohn.«

»Ich bin dein ältester Sohn. Ich habe es verdient, und das weißt du. So wie ein Flugzeug nur einen Piloten braucht, braucht diese Firma einen Geschäftsführer, und diese Person bin ich.«

Ein Flugzeug braucht einen Piloten. Das stimmt. Aber war Leonard Pilot? Und brauchte ein Flugzeug nicht auch einen Navigator? »Leonard, kann das nicht warten? Wir werden nächstes oder übernächstes Jahr alles neu bewerten.«

»Nein.« Sein Nein war scharf wie eine tödliche Spritze. »Merke dir eins: Ich werde kündigen, wenn ich den Posten nicht kriege, und ich werde meine Anteile verkaufen«, sagte er unmissverständlich.

»Tu das nicht, Leonard.«

»Genau das ist der Punkt: Du brauchst mich.« Ich hörte ein zufriedenes Grinsen in seiner Stimme. Ich wollte es nicht hören. Ich hob die Hand, um mich an der Stirn zu kratzen. Selbst diese einfache Bewegung war mit einem verbundenen Arm schwer auszuführen.

»Dad, muss ich dich daran erinnern, dass Eliot mir eine Spenderniere verweigert hat? Er ist ein selbstsüchtiger, unmoralischer Mensch, von seiner Unzuverlässigkeit ganz zu schweigen. Wie konntest du ihn berufen?«

»Er ist dein Bruder, Leonard.«

»Na und?«

»Manchmal habe ich den Eindruck, dass du selbst zu deinen Feinden freundlicher bist als zu deinem eigenen –«

»– ich habe keine Feinde.«

»Wir sind doch ein Familienunternehmen.«

»Sogar Jasmin ist diesmal auf meiner Seite.«

»Ist sie?« Ich war überrascht, denn die beiden hatten sich doch erst letzten Monat wegen eines Trojanischen Pferdes gestritten. Der eine hatte dem anderen vorgeworfen, es installiert zu haben. Ich verstand beim besten Willen nicht, was ein Pferd im Stall mit dem Kaffeegeschäft zu tun haben sollte. Aber Leonard und Jasmin waren Profis. Also irgendetwas musste an der Sache dran gewesen sein.

Meine Frau verließ das Wohnzimmer. Wahrscheinlich ging sie ins Schlafzimmer, um dort den Hörer abzuheben und unser Gespräch zu belauschen. Dora tat das oft.

»Ich werde nicht aufgeben, Yankele. Diesmal nicht.« Der feindselige Unterton in Leonards aufgeregter Stimme gefiel mir gar nicht.

Ich hörte das Klicken eines Hörers, der abgehoben wurde. Dora.

»Einer muss flexibler sein«, ermahnte ich ihn. Ich musste dafür von meinem Platz aufstehen. »Es ist zum Wohle aller.«

»Warum bin mit einer immer ich gemeint?«, fragte er. In Wahrheit war fast nie er gemeint. »Rede mit ihnen allen, Dad«, drängte er, »und sag ihnen, dass es von nun an so läuft, wie es immer schon hätte laufen sollen. Ich, dein Ältester, übernehme die Firma. Endlich.«

Wieder klickte es, und ich wusste, dass Dora gleich wieder im Wohnzimmer stehen würde.

»Oy«, seufzte ich laut.

»Gut, dass wir diesen Punkt besprochen haben.«

»Nein. Es ist nicht gut. Ich –« Ich hatte ihm so viel zu sagen.

»Was soll ich sagen?«, unterbrach mich Leonard.

»– Ich kann nur sagen –« Ich hatte ihm und meinen anderen Kindern so viel zu erzählen über dieses Geschäft, um das sie nun stritten.

»– Es kann nicht immer alles gut sein im Leben«, sagte mein Sohn, und damit war die Unterhaltung beendet. Er hatte aufgelegt.

Ich hatte ihm so viel mehr zu sagen. Aber er hörte mir nicht zu.

»Was wollte Leonard?«, fragte Dora, als sie ins Wohnzimmer kam. In der Mitte des Raumes stand ich wie ein Becher Kaffee-to-go, der auf seinen Besitzer wartet.

»Du weißt doch, was er wollte«, sagte ich, hob meinen unverletzten Arm und legte mir eine Hand an die Wange. Sie verharrte dort, während ich kopfschüttelnd auf Dora wartete.

Als sie bei mir war, fragte sie: »Wollte er noch etwas?«

Ich hasste meine Antwort, aber sagte trotzdem: »Nein, das war alles.«

»Er wollte nicht mit mir sprechen?«

»Nein«, sagte ich und fügte ein bisschen zu spät hinzu: »Er war in Eile, er hatte einen Geschäftstermin.«

Dora und ich beschlossen, in die Küche zu gehen, um Mittag zu essen, als das Telefon erneut klingelte. Also ging ich ins Wohnzimmer zurück. Ein Teil von mir hoffte, der Mensch am anderen Ende der Leitung würde aufgeben, bevor ich den Apparat erreichte. Es klingelte sieben Mal, bis ich beim Telefon war. Es war Jasmin. Auf eine Unterhaltung mit ihr hatte ich so viel Lust wie auf eine Operation am offenen Herz.

»Wie geht es dir?«

Sie antwortete nicht, sondern fragte aufgebracht zurück: »Daddy, wie geht es dir?«

»Wie gut kann es mir schon gehen?«

»Weiß ich nicht«, sagte sie, wie um klarzustellen, dass sie angesichts dessen, was vorgefallen war, weder Schuld noch Reue fühlte. Trotzdem fragte sie: »Soll ich vorbeikommen?«, und dann redete sie einfach weiter, ohne eine Antwort abzuwarten. »Lass meine Geschwister bitte wissen, dass ich die neue Geschäftsführerin bin«, sagte sie in forderndem Ton.

»Aber ich dachte, du unterstützt Leonard?«

»Woher weißt du das schon? Ich werde ihn erst unterstützen, nachdem ich an mich gedacht habe.«

»Kann das nicht warten? Warte doch ein kleines bisschen.«

»Daddy, entweder wir machen es so, oder ich steige aus und verkaufe meine Anteile.«

»Das Ganze ist komplizierter.« Ich musste mich wieder setzen.

»Nein, ist es nicht. Eigentlich ist alles ziemlich einfach. Bitte, sprich nicht mit mir, als wäre ich ein kleines Mädchen. Vergiss nicht, ich habe unser Geschäft jahrelang geleitet. Ich bin von deinen Kindern das qualifizierteste.«

»Jasmin, ich will nur Gutes für dich, für uns, für alle, und auch für das Geschäft.«

»Du weißt nicht, was gut für uns ist, und ganz sicher weißt du nicht, was gut für mich ist. Und was für mich gut ist, muss für meine Geschwister noch lange nicht gut sein. Schon okay, du hast einen Fehler gemacht, aber nun korrigiere ihn.«

Ihre Dreistigkeit überraschte mich immer wieder neu. »Jasmin, aber –«

»Mir ist egal, ob du –«

»– Aber –«

»– Es steht mir zu. Dürfte ich jetzt bitte mit meiner Mutter sprechen?«

»Sie ist beschäftigt«, sagte ich. Meine Dorale war auch beschäftigt. Sie belauschte uns.

»Aber ich möchte dir sagen –«, fing ich an, weil ich ihr so viel zu sagen hatte.

»– Schlechtes Timing, Daddy –«

»– Ich muss dir einfach sagen, dass –«

»– Daddy, ich muss jetzt losrennen. Wortwörtlich. Ich muss für den Seattle Marathon trainieren. Da ich im Büro offenbar nicht mehr erwünscht bin, kann ich nun auch tagsüber trainieren, oder?«, sagte sie und legte auf. Sie ließ mich nicht einmal ausreden. Ich hatte so viel zu sagen über das Verhalten meiner Kinder. Ich hätte so viel zu sagen gehabt, wenn mir doch nur jemand zuhörte.

Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, blieb ich noch für eine kleine Weile auf dem Sofa sitzen. Ich hatte eine bequeme Sitzhaltung gefunden, und bequeme Haltungen gibt man nicht so schnell auf. Ich war sicher, dass Dora mich auf ihrem Weg vom Schlafzimmer in die Küche einsammeln würde, wie eine Kaffeebäuerin, die Kirschen in ihren Körben sammelt. Aber unglücklicherweise rief in dem Moment Benjamin an. Telefonanrufe waren offenbar wie Bomben, immer kam einer und noch einer … und dann noch einer …

»Dad«, sagte er, »es ist an der Zeit, die Firma zu verkaufen.«

»Was?«, rief ich. Ich musste ihn falsch verstanden haben. »Was?«

»– Du hast mich sehr gut verstanden«, sagte er bestimmt. »Ich weiß, ich war nicht dabei, aber nachdem ich von eurem Treffen gehört habe, habe ich mir Gedanken gemacht und bin zu einem Schluss gekommen. Ich wünsche meinen Geschwistern nur das Beste, aber für diese Partnerschaft gibt es keine Basis mehr.«

»Wie kannst du so etwas sagen? Hast du deinen Verstand verloren? Diese Firma ist, sie ist –«

»– Geld und Gefühle passen nicht zusammen. Du solltest verkaufen, bevor eines nach dem anderen in die Luft fliegt.« Die Distanziertheit in seiner Stimme verwunderte mich. »Du solltest verkaufen, bevor sich eines deiner Kinder gegen dich wendet. Wir sollten alles auf einen Schlag verkaufen. Warum nicht das Beste aus den gegebenen Umständen machen?«

»Was?«

»Der beste Indikator für zukünftiges Verhalten ist vergangenes Verhalten.«

»Was willst du damit sagen?«

»Denk mal drüber nach.«

»Aber dieses Geschäft … Lass mich dir etwas über dieses Geschäft erzählen –«

»– Dad, tut mir leid, aber ich habe jetzt keine Zeit. Denk einfach darüber nach, und wir reden später«, sagte er und ließ mich sprachlos zurück. Nicht sprachlos in dem Sinne, dass ich nicht die richtigen Worte gefunden hätte. Sondern sprachlos, weil die richtigen Worte dafür noch nicht erfunden waren.

»Komm zum Essen«, hörte ich Dora im Vorbeigehen sagen. »Der Körper braucht Nahrung, so wie die Seele etwas, was sie liebt.«

»Komme schon.« Ich stand auf, schob mir die Brille auf dem Nasenrücken hoch und folgte meiner Dorale. Ich ging ihr hinterher wie ein gehorsames Kind. Mein Castverband zeigte zu Boden, mein rechter Arm fühlte sich dreimal so schwer an wie der linke. Ich trottete hinter Dora her, bis wir die Küche erreichten. Ich hatte weder Hunger noch Appetit. Ich war nur enttäuscht. Einfach enttäuscht. Meine Enttäuschung lastete wie ein schwerer Sack grüner Kaffeebohnen in mir. Meine Kinder hatten mich irritiert und verärgert. Warum hörten sie mir nicht zu, wo ich doch so viel zu sagen, so viel zu erzählen hatte? Ein Wirrwarr von Gefühlen flog durch meinen Kopf wie Kugeln durch eine Lotterietrommel. Und das machte mich noch enttäuschter. Und noch wütender.

Also. Ich setzte mich an den Küchentisch, während Dora vor dem geöffneten Kühlschrank stand. Sie fragte: »Was möchtest du trinken?«

»Oy, Dora«, seufzte ich.

»Oy ist kein Getränk, das es in diesem Haushalt gibt.« Dora stellte sich auf die Zehenspitzen, um etwas aus dem obersten Fach zu grapschen. Also stand ich auf und ging zu ihr. Sie deutete auf – »den Orangensaft, bitte« – und ich streckte meinen unverletzten Arm aus und holte den Saftkarton heraus. Für eine kurze Sekunde genoss ich es, mich nützlich zu fühlen.

Vor dem geöffneten Kühlschrank standen wir dicht nebeneinander. Aus dem Kühlschrank entwich kalte Luft, aus Doras Körper Wärme.

»Wenn die Jungen nur wüssten. Wenn die Alten nur könnten.«

»Du sprichst die Wahrheit«, sagte ich. Wenn ich das doch nur meinen Kindern verständlich machen könnte, dachte ich mir. Aber dafür musste man wohl leider im letzten Viertel des Lebens sein.

Dora schloss die Kühlschranktür, und wir setzten uns an den Esstisch. Vor uns standen viele Porzellanschüsseln. Manche waren gefüllt mit Essen, das Dora am Vortag gekocht hatte – kleine Ofenkartoffeln, Erbsen, gewürfelte Hähnchenbrust. In anderen befanden sich Lebensmittel, die wir bei unserem letzten Ausflug zum Supermarkt gekauft hatten – Avocados, Kirschtomaten, Krautsalat.

»Gib mir deinen Teller, Yankele.«

Ich tat, was sie wollte. Dora platzierte ein paar Hühnerteile auf meinen Teller und Krautsalat dazu. »Was möchtest du noch?«

»Ich möchte, dass sie glücklich sind.«

»Ich meinte: Was möchtest du noch essen?«

Anscheinend wollte Dora nicht über dasselbe sprechen wie ich. Aber ich konnte mich nicht zurückhalten. »Also«, sagte ich. »Wie finde ich in so einem Durcheinander eine Lösung?«

»Sehe ich aus, als wüsste ich das? Was weiß ich schon über das Geschäft?«

Dora wusste alles über das Geschäft. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätten wir niemals eine so erfolgreiche Firma aufbauen können. Gibt es da nicht ein Sprichwort über das, was hinter jedem erfolgreichen Mann ist? Und das bezieht sich gewiss nicht auf sein Hinterteil.

»Diese Situation. Am liebsten würde ich schreien«, sagte ich.

»Dann schrei.«

»Aaaaahhhhhhhhhh!«

»Pssssssst, die Nachbarn können dich hören.«

4

Ich wollte der Erste im Elektronikgeschäft sein, also verließ ich die Wohnung früh am Morgen. Ich winkte ein Taxi heran und kletterte hinein. Als das Auto sich in Bewegung setzte, ließ ich die Seitenscheibe herunter und sah hinaus. Alles glitt ein bisschen verschwommen vorbei – Menschen, Tiere, Plätze. New York war überraschend heiter. Wir fuhren am East River entlang. Ich starrte auf das Wasser: Es lag so ruhig da, dass man es kaum als Wasser erkannte. Es schlug keine Wellen. Nur einige wenige Längsstreifen durchzogen die kleisterartige Masse. Zwei Brücken spannten sich über den Fluss. Eine in der Ferne. Und eine ziemlich nah.

Als ich den Laden erreichte, stellte ich fest, dass ich nicht der Erste war. Aber ich war einer der Ersten. Und das war gut genug. Man kann nicht immer alles haben. Oder? Also ging ich hinein. Drinnen war es eiskalt. Wer brauchte eine so heftige Klimaanlage? War das eine makabre Botschaft, die mich auf die Kälte im Leichenschauhaus vorzubereiten versuchte? Also ging ich so schnell ich konnte durch den Laden, um mich aufzuwärmen.

»Kann ich Ihnen helfen?« Eine Stimme hatte sich an mich herangepirscht. Ich drehte mich um. Vor mir stand ein gut aussehender Mann mit einem Pferdeschwanz und einem breiten Schnauzbart. »Ja, bitte«, sagte ich, »ich brauche eine Videokamera.«

»Nun, dann sind Sie hier genau richtig. Bitte folgen Sie mir.«

Also folgte ich ihm. Ich lief ihm hinterher, nahezu hypnotisiert von den vielen Gegenständen rechts und links. Ich hatte keinen Schimmer, was sie waren. Früher einmal wusste ich, wie solche Sachen funktionierten. Aber die Zeiten waren längst vorbei.

»Diese hier«, sagte er und griff zu einem kleinen eckigen Gerät, »ist hochauflösend.« Ich sah ihn an. »Sie ist natürlich digital.«

»Digital ist gut. Oder?«

Er kicherte wie ein kleiner Junge. »Sie hat einen guten Datenspeicher«, sagte er. In meinen Augen brannten tausend Fragen. »So etwas wie ein gutes Gedächtnis.« Und dann sagte er noch ein paar andere Sachen, aber nichts traf mich so seltsam wie dieser Kommentar. Also. Er redete immer weiter, auch von einem Ort im Computer, der YouTube heißt. Zuerst dachte ich, dass der Mann eine philosophische Debatte mit mir anfangen wollte. Dann dachte ich, er spricht von Science-Fiction. Aber als ich merkte, dass er eine Sache meinte, die tatsächlich im Computer drinsteckte, sagte ich zu ihm: »Genau das will ich haben!«

»Wenn Sie möchten, helfe ich Ihnen, Ihre Videoclips zu posten«, bot der Verkäufer an. Er zog das Gummiband straff, das seinen Pferdeschwanz zusammenhielt, und fixierte seine Haare hinter dem Ohr.

»Wo genau finde ich dieses YouTube?«

»Irgendwo in einer virtuellen Welt, deren Regeln Sie nicht verstehen, aber unbedingt respektieren müssen.« Sein Schnurrbart bewegte sich beim Sprechen keinen Millimeter.

»Bitte, sprechen Sie nicht in Rätseln. Bitte. Sagen Sie: Was muss ich posten? Es gibt ein Postamt ganz in der Nähe unserer Wohnung.«

»Sie brauchen nichts zu versenden. Es geht darum, Sachen ins Netz zu stellen. Obwohl Sie immer bedenken sollten, dass alle Videos, die Sie hochladen, von anderen gesehen werden können.«

»Jeder kann zu dieser Stelle gehen und sie sich ansehen?«

»Nein, jeder bleibt zu Hause, in seinem Land, und kann sich alles ansehen, solange er Zugang zum Internet hat und keine Zensur stattfindet.« Mein Gesicht muss einen verwirrten Ausdruck gehabt haben. »Stellen Sie es sich vor wie, na ja, wie einen eigenen Fernsehkanal.«

»Oh, darüber habe ich gelesen.«

»Sobald Sie Content ins Netz stellen, kann jeder von seinem Computer aus darauf zugreifen.«

Das war noch besser, als ich gedacht hatte. Das war revolutionär. Auf so etwas hatte ich gewartet. Meine Augen müssen vor Aufregung geleuchtet haben. »Um jeden kann ich mich nicht kümmern. In meinem Alter kann man sich derlei nicht leisten. Aber da gibt es eine Person, die mir nicht egal ist. Eine Person weit weg von hier, die mein Video sehen muss.«

»Gut, wie ich schon sagte, ich könnte Ihnen dabei behilflich sein. Ich werde Ihre Videos für Sie posten. Rufen Sie mich einfach an, wenn Sie mit der Aufnahme fertig sind, dann komme ich und hole sie ab.« Er zog einen Zettel aus der Hosentasche und notierte seine Mobiltelefonnummer darauf. Dann reichte er mir das Papier. »Die hier« – er hielt die Kamera immer noch in der Hand – »ist genau das richtige Baby für Sie. Sehen Sie.« Er klappte das Gerät auf und entnahm ihm mit zwei Fingern ein Stückchen Plastik, als wäre er ein Chirurg, der einen medizinischen Eingriff vornimmt. »Geben Sie einfach das hier Ihrem Portier – Sie haben doch einen Portier, stimmt’s? –, und ich hole es ab und kümmere mich um den Rest. Wie wäre das?«

Ich nickte. »So können wir es gerne machen.« Zufrieden mit mir dachte ich: Also, auch alten Hunden kann man noch Neues beibringen. Nicht, dass ich ein Hund wäre. Man sollte einen Menschen nie mit einem Hund vergleichen. »Oh, und bevor ich es vergesse, da gibt es noch etwas, was ich brauche.«

Er gab mir, worum ich ihn gebeten hatte, und ich bedankte mich bei ihm. Wenn ich zwinkern könnte, hätte ich gezwinkert. Das kann ich aber nicht. Also ließ ich es bleiben. Stattdessen blinzelte ich ihn freundlich an und dachte: gut. Gut, dass es in dieser hektischen Welt immer noch Leute gibt, die sich die Zeit nehmen, anderen zu helfen.

Stolz und aufgeregt kehrte ich nach Hause zurück. Hastig verstaute ich die Videokamera im Safe in meinem Arbeitszimmer, verschloss ihn und machte mich auf die Suche nach Dora. Ich fand sie im Wohnzimmer, sie las eine Zeitschrift. Ich hielt ihr die Schachtel hin. Es fühlte sich unbequem an mit meinem gebrochenen Arm. »Hier ist dein Geburtstagsgeschenk«, sagte ich. »Es tut mir leid, dass es so spät kommt. Aber besser spät als nie. Nicht?«

»Nicht in unserem Alter«, sagte sie und lachte. Es war die Art von Lachen, die Traurigkeit verschleiert. »In unserem Alter, Yankele, bedeutet spät üblicherweise nie.« Sie nahm mir die Schachtel aus den Händen und zupfte vorsichtig am hellrosa Geschenkband. »Außerdem hasse ich solche Sprüche. Ich verabscheue Klischees«, sagte sie und schüttelte behutsam die Schachtel. Dann hielt sie sie sich ans Ohr.

»Ich auch«, pflichtete ich ihr bei. »Aber Klischees sind manchmal wahr.«