Sag es mir - Vanessa F. Fogel - E-Book

Sag es mir E-Book

Vanessa F. Fogel

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Beschreibung

Vanessa F. Fogel hat "Sag es mir" auf Englisch geschrieben - mit dem klaren Ziel, dieses Buch zuerst in Deutschland zu publizieren. Bei einer Reise nach Frankfurt am Main fand sie den Verlag dafür. Nun erscheint "Sag es mir" - in der kongenialen Übersetzung von Katharina Böhmer. Eine junge Jüdin zwischen Tel Aviv, Berlin und New York, zwischen dem Pulsschlag der Metropolen und dem Schatten ihrer Geschichte: Fela begleitet ihren Großvater auf einer Reise in das Land seiner Kindheit, Polen, die Heimat, die ihm die Nazis genommen haben. Fela, Tochter einer Deutschen und eines Zionisten und selbst in Zeiten bewaffneter Konflikte aufgewachsen, spürt zunehmend, wie sehr ihr eigenes Leben mit dem des Großvaters verstrickt ist. Und doch gibt es da noch mehr, gibt es Liebe in Zeiten des Krieges, gibt es Humor, Verständnis - und eine Zukunft. Vanessa Fogels Romandebüt verschmilzt deutsche, polnische und jüdische Geschichte. Sag es mir ist der Coming-of-age-Roman der "dritten Generation".

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Seitenzahl: 495

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Impressum

Vanessa F. Fogel

Sag es mirRomanAus dem Amerikanischen von Katharina Böhmer

© Weissbooks GmbH Frankfurt am Main 2010Alle Rechte vorbehalten

Konzept DesignGottschalk+Ash Int’l

UmschlaggestaltungJulia Borgwardt, borgwardt designKartenmotive: © Sean Gladwell - Fotolia.com© Pontus Edenberg / Pawel Gaul / Donald Erickson – istockphoto.com

Foto Vanessa F. Fogel

© Meirav Basson

ISBN 978-3-863370-84-8

Dieses Buch ist auch als Printausgabe erhältlich.

ISBN: 978-3-940888-58-7

weissbooks.com

Vanessa F. Fogel

Sag es mir

Roman

Aus dem Amerikanischen von Katharina Böhmer

Inhalt

Räume und Entfernungen

In Deutschland landen, in Polen ankommen

Der Anfang

Der wirkliche Anfang

Bilder und Beweise

Auf der Achterbahn, Träume und Schlaf

Krieg spielen und tanzen

Zum zweiten Mal in Czeladź

Der Krieg

Meteorenschauer und die endlose Diskussion über die Natur des Menschen

Tiere und Pflanzen

Baden und Jungen küssen

Ein Speicher und ein Keller

Vergessene Landschaften, und die Wahrheit

Abkürzungen

Scharfe und unscharfe Punkte

Ist Schnee schön?

Party

Steine und Namen

Nicht schwimmen und Leute hinter sich zurück lassen

Der erste Schnee

Pizza und Schuld

Die fast schlaflose Nacht

In der Spirale

Die verschiedenen Häuser Gottes

Spiegel und Sprachen

Der Heimweg

Abendessen und Die Natur einer Schleife

Meine Tage in Berlin: Tinte und Gültigkeit

Staatenlosigkeit

Schimmel, Perlen, Wolken

Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft

Explosionen, Ein Vakuum, Die Punkte verbinden

Look at Me

Wie ein Fötus in meinem Bett

Die kahle Stelle

Ein Punkt über dem Ozean

Sag es mir

Der Druck dieses Buches wurde ermöglicht durch die Unterstützung von Gerwin Janke, Konstantin Montasem/Innergy Consulting GmbH, Pundiki, und einer ungenannt bleibenden Freundin des Verlages.

Weil es sein muss: Für Dich

Dafür, geboren zu sein.

Dank an meine Großeltern: Trude und Hershel, deren Gesichter mich vorstellen ließen und Sosha und Moniek, deren Geschichten mich schrieben.

Einen großen Dank an meine Eltern, Irene und Michael, die im genau richtigen Grad an mir zweifelten. Die mir beibrachten, beides zu sein: kritisch und mitfühlend, als Mensch und als Autorin.

Besonders dankbar bin ich meinen Geschwistern, Jess und Raphael, die nie an mir zweifelten.

Für Olga und für Dani – danke, dass ihr die, die ich liebe, zum Lächeln gebracht habt, und für Eure Fürsorge.

Ich werde die Jungen, die einst waren und einst neben mir gingen, immer wertschätzen. Und ich spreche dem Mann, Chanan, der jetzt ist, und der nun an meiner Seite geht, meinen tiefen Dank aus.

Dank auch an Katharina für ihre Sensibilität, an Sam für ihre Genauigkeit, an Keren für ihren Scharfsinn, an Yves für jenen Anruf, an Marlon für das Versprechen, an David für seinen Namen, an Julian für seine Begabung, an Daniel für seine immerwährende Hilfsbereitschaft und an A. Hoffman dafür, dass er wusste.

»Der ist der glücklichste Mensch, der das Ende seines Lebens mit dem Anfang in Verbindung setzen kann.«

Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen

In der Nacht, bevor ich nach Deutschland zu Mosha, meinem Großvater, fliege, lerne ich jemanden kennen, nehme ihn mit zu mir und schlafe zum ersten Mal in meinem Leben mit einem Mann.

Durch meine sich schließenden und öffnenden Augenlider hindurch sehe ich seine Augen auf mich gerichtet.

Er nimmt meine Hände, ich lasse sie ihm.

Er führt, ich lasse ihn führen, ich will das so.

Ich übernehme die Führung, steuere ihn.

Ich nehme seine Hände, er lässt sie mir.

Ich führe, er lässt mich führen, er will das so.

Er übernimmt die Führung, steuert mich.

Ich suche, er sucht, wir suchen.

Durch meine sich schließenden und öffnenden Augenlider hindurch sehe ich seine Augenlider, die sich schließen und öffnen.

Unsere Augen sind zur Zimmerdecke gerichtet. Zu meiner Zimmerdecke. Zu den Linien auf meiner Zimmerdecke.

Der Sex fühlte sich an wie eine Erinnerung und eine Vorhersage zugleich, genau wie die ganze Nacht.

Am nächsten Morgen duschen wir gemeinsam in meiner Badewanne hinter einem transparenten schwarzen Duschvorhang. Er wäscht sich langsam, vorsichtig und sorgfältig. Unter dem heißen Wasserstrahl stehe ich mit dem Rücken zu ihm und fange an zu bluten. Er bemerkt es nicht. Ich reiche ihm den Duschkopf und reinige mich von Kopf bis Fuß, meine Ohren, meine Augenlider, meine Lippen, meinen Bauchnabel, zwischen meinen Zehen und zwischen den Beinen. Letzte Nacht habe ich nicht geblutet. Ich höre, wie er sich die Kopfhaut kratzt, wie raschelnde Blätter an einem sonnigen Herbsttag hört sich das an, seine Finger reiben das Shampoo in sein dunkelbraunes Haar und der Geruch des Shampoos erinnert entfernt an Zitrusfrüchte. Nachdem er das Shampoo und die Seifenreste abgewaschen hat, gibt er mir den Duschkopf zurück. Dann legt er mir von hinten fest die Arme um die Taille, küsst mich sanft auf die Stelle, wo Nacken und Rücken ineinander übergehen; er küsst die Wassertropfen weg, die dort noch sind – und steigt aus der Badewanne. Ich zeige ihm, wo er ein Handtuch findet – sauber gefaltet in meinem Badezimmerschrank. Das Wasser, das innen an meinen Oberschenkeln und Beinen entlangläuft, färbt sich rot. Ich bekomme meine Tage.

»Wie würdest du am liebsten sterben?«, fragte ich ihn letzte Nacht.

»Warum sollte ich sterben wollen?«, antwortete er.

»Warum nicht? Irgendwann stirbst du sowieso, wie wir alle ...«

In diesem Augenblick drehte er sich um, nahm seinen Blick von der Zimmerdecke und sah mich von seinem erhöhten Platz auf dem Kopfkissen direkt an.

»Stimmt schon, aber trotzdem ...«, sagte er und hielt mich mit seinen Augen fest.

Ich schaute ihn an, umarmte ihn ebenfalls mit den Augen und stellte mir vor, wie er als alter Mann aussehen würde, wie er neben mir liegen würde, mit gefleckten Armen und einem gebrechlichen Körper und einem zufriedenen Gesicht voller Falten.

»Also, wenn du entscheiden könntest, wie würdest du am liebsten gehen?«

»Und du?«

»Wieso ich?« Meine Augen wanderten von ihm zur Decke hoch.

»Wie möchtest du sterben?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich. Ich wusste es nicht.

Schweigen machte sich breit, während ich die verschiedenen Möglichkeiten durchging, die ich habe. Aber bald dachte ich nur noch daran, wie wunderbar es sich anfühlte, gemeinsam ein Bett zu teilen.

Er legte mir eine Hand auf die Taille, auf meine Hüften, dann auf meinen Bauch, und meine Augen wanderten wieder zu ihm.

»Also?«, fragte ich.

»Hier will ich nicht sterben.«

»In meinem Bett? Das hätte ich auch nicht so gerne«, sagte ich, und verzog das Gesicht zu einem Lächeln.

»Nein, ich meine doch nicht dein Bett, du Dumme, ich meine New York.«

»Das würde ich auch nicht wollen«, stimmte ich sofort zu. Ich wusste nicht, warum ich das sagte, die Worte kamen einfach so aus mir heraus, als ob es die einzigen Worte wären, die ich äußern könnte.

»Ich fände es nicht schlecht, in einem Café zu sterben, beim Zeitunglesen, an einem sonnigen Tag, vor mir ein halbvoller Kaffeebecher. Und du?«

Ich wusste es noch immer nicht.

Sauber geduscht sitzen wir mit verschränkten Füßen auf meinem Tisch aus massiver Birke und blicken hinaus aus dem Panoramafenster. Unsere Zehen kitzeln sich sanft. Sie berühren sich genug, um uns daran zu erinnern, dass wir nicht alleine hier sitzen, aber sie berühren sich auch nicht zu fest, damit wir nicht vergessen, dass wir alle allein sind und uns fremd. Seine Haut ist weich, als hätte ein kleiner Tropfen Öl seine Partikel gleichmäßig über seinen Körper verteilt.

»Was hast du heute vor?«

»Ich reise nachher ab«, sage ich ihm. »Ich fliege nach Europa.«

»Du Glückliche«, sagt er.

»Hm, ja, stimmt.«

Ich höre auf, meine Finger anzustarren, die einen Becher Kaffee umklammern, den er mir gemacht hat, als ich noch in der Dusche war, und blicke ihn an. Sein Gesicht. Ich sehe wieder genau das, was ich letzte Nacht gesehen habe, bevor ich beschloss, ihn mit nach Hause zu nehmen. Ich sehe – das –, was mich dazu gebracht hat, ihn mitzunehmen.

Wir schauen auf ein modernes Hochhaus ganz aus Glas – fast können wir die morgendlichen Rituale der Leute beobachten, die dort wohnen, aber nur fast, denn die Entfernung zwischen uns und ihnen lässt die Details verschwimmen. Die Sonne trifft auf das Gebäude, ihre Strahlen reflektieren und blenden uns. Er kneift die Augen zusammen, öffnet dann das rechte und richtet es auf mich, das linke folgt – seine Mandelaugen, ihre dunkelgrüne, erdige Farbe leuchtet, während er mich anschaut, und ich denke, dieses Gesicht muss mir gegenüber sein, es fühlt sich so richtig an, dass es neben meinem ist.

»Warum schaust du mich so an, so komisch, als hättest du gerade ein Gespenst gesehen?«, fragt er.

»Wie denn? Tue ich das? Gar nicht. Wovon redest du?«, sage ich schnell. Meine Stimme ist ein bisschen durcheinander und versucht, das zu verstecken, genau wie ich.

Wir sitzen auf dem Sofa und berühren uns jetzt fast nicht mehr. Seine Haare sind noch nass, aber langsam bekommen sie wieder ihre Sprungkraft; seine Locken kriegen ihre gedrehte Form zurück, hinter ihnen verstecken sich dünne Ohren und ein kantiger, stoppeliger Kiefer.

»Sag mir was«, bitte ich ihn.

»Irgendwas?«, wundert er sich.

»Was Nettes.« Nett, so ein einfaches Wort, das so viel bedeuten kann.

»Wie nett?«, will er wissen.

»Sehr nett«, sage ich ihm.

»Leute, die weit oben wohnen, haben größere Herzen«, sagt er.

Unsere Füße lassen einander los. Mit verheißungsvoller Stimme sagt er: »Ich rufe dich an.«

Ich nicke ihm zu. »Hört sich gut an.« Ich stehe auf und gehe zur Tür, er kommt mir nach. Ich gebe unseren Schritt vor; ich gleite leicht dahin, er auch.

»Also dann.« Sanft berühre ich die Klinke, um ihm die Tür zu öffnen. Er schaut mich an, als wartete er auf etwas.

»Und?«, fragt er.

»Und was?« Meine großen Haselnussaugen sind weit geöffnet und mein Nacken neigt sich leicht, als die Tür aufspringt.

Er beugt sich nach vorne und küsst mich höflich auf die Wange. »Nichts.«

Schüchtern lächle ich ihn an, dann schließe ich die Tür hinter ihm.

Wird er anrufen? Will ich das? Keine weitere Begegnung könnte so gut sein wie die, die wir gerade hatten, als wir beide nur Fremde waren, die sich selbst suchten in den Händen des anderen; kein Gespräch würde je zu den Worten greifen, die wir nicht aussprachen, Worte von Vergangenheit und Worte von Zukunft, Worte, die wir nicht einmal vermissten.

Räume und Entfernungen

Ein Lächeln, das nicht aufhören will, breitet sich auf meinem Gesicht aus, und mit ihm wühle ich nach dem Koffer, der sich hinter vielen Kleiderstapeln versteckt – dann fange ich an zu packen. Ich fülle meinen Koffer mit verschiedenen Farben, Stilen, Materialien, Mustern, damit ich an jedem Tag meiner Reise das richtige Outfit zu jeder möglichen Laune dabei habe. Ich packe auch meinen Badeanzug ein, nur für den Fall, wie ich es immer tue.

An der Wand lehnt ein großer Spiegel, dessen Rahmen mit ungleich verteilten kleinen Mosaiksteinchen verziert ist – er ist viel größer als ich –, ich sehe mein Spiegelbild darin, ein Bild meiner selbst, wie ich auf dem Boden knie, auf einem rauen olivgrünen Teppich, dessen Oberfläche meine Haut reizt und leicht zwickt. Hinter mir liegt die Matratze, auf der der Fremde und ich heute Morgen gemeinsam aufgewacht sind. Mit einem weißen Baumwollbetttuch bezogen, sieht sie aus wie eine leere Leinwand.

Ich spüre, wie meine Augen funkeln, wie sie mit jedem Einatmen und jedem Ausatmen immer stärker zu glühen beginnen, wie die Funkelaugen von Neugeborenen, wie die Augen, die jeder noch jahrelang – sein ganzes Leben lang – wieder haben will. Meine Brust ist voller Luft, viel mehr, als ich es je für möglich hielt, meine Lungen dehnen sich aus, wachsen auf ihre doppelte Größe an, und trotzdem fühle ich mich leicht, als wäre meine ganze Körpermasse verschwunden, als schwebte ich ein paar Zentimeter über meinem eigentlichen Körper – ich fühle mich glücklich. Und ganz plötzlich schießt es mir ein: Lior.

Lior. Das Gesicht des Fremden.

Mein fröhliches Grinsen verschwand sofort und machte Verwirrung Platz – habe ich wirklich mit einem Fremden geschlafen, weil er mich an Lior erinnert hat?

Kaum hatte ich gestern Abend die Party betreten, schaute ich, wie von einem inneren Zwang bewegt, in die gegenüberliegende Ecke des Raums, und da stand er, zusammen mit ein paar Freunden, vermute ich, mit einem Drink in der Hand, und bemerkte mich ebenfalls. Unsere Augen trafen sich, wie von einem unendlichen Möbiusband angezogen; er lächelte mich an und ich lächelte zurück, bevor ich den Blick abwandte und nach unten auf das Parkett sah. Ungefähr eine Stunde lang verfolgten wir gegenseitig unsere Bewegungen im Raum, als wären wir mit einem unsichtbaren Seil verbunden. Kein einziges Mal standen wir näher als ein paar Meter voneinander entfernt, aber immer spürten wir die Position des anderen Körpers, seine Wärme, unsere Distanz, unsere Nähe. Ich fühlte, wie verletzlich ich war – und wie stark.

Der Geruch eines würzigen Aftershaves, das nur seines sein konnte, stieg mir in die Nase, und plötzlich war er hinter mir, stellte sich vor, stellte mir Fragen, brachte mich zum Lachen, brachte mich dazu, mich wie die beste Version meiner selbst zu fühlen.

Und dann sagte ich mir, dass ich mit ihm schlafen würde. Warum, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau, aber es fühlte sich richtig an.

Der Gedanke an Sex mit ihm machte mir keine Angst, ebenso wenig der Gedanke daran, einen Grad von Intimität zu erleben, den ich zuvor noch nie erlebt hatte. Ich habe noch nie diese Mädchen verstanden, die eine große Sache aus dem Verlust ihrer Jungfräulichkeit machen, diese Mädchen, die auf die Liebe ihres Lebens warten, auf ihre Hochzeitsnacht oder auf irgendein romantisches Märchen; ich wusste schon immer, ich wollte, dass sich mein erstes Mal natürlich anfühlte, einfach natürlich, und mit ihm würde das so sein, da war ich sicher.

Und es fühlte sich nicht nur natürlich an, sondern auch bedeutungsvoll.

Ich kann kaum glauben, was passiert ist. Ich sitze in meinem mit gelbem Samt überzogenen Sessel und denke an die letzte Nacht, an heute morgen, und meine Gedanken schweifen ab, wie ein Zweig, den die Strömung fortreißt. Irgendein Teil in mir musste in der Sekunde unserer Begegnung erkannt haben, wie sehr der Fremde Lior ähnelte. Ein Teil von mir, der bis gerade eben stumm war; ein Teil, der laut schrie, um endlich gehört zu werden. Irgendein Teil von mir musste sich daran erinnert haben, was ich vergessen hatte, und mich dazu gebracht haben, das zu tun, was ich getan habe. Ohne Lior wäre die letzte Nacht nie passiert. Der Zusammenhang ist zu deutlich. Ich verstehe nur nicht, warum mich mein Gedächtnis nicht automatisch auf Lior gebracht hat.

Lior, der Freund, den ich zurückgelassen, verlassen und fast vergessen habe. Lior, der in meiner Erinnerung eingefroren war, bis dieser Fremde mich küsste. Seine Lippen berührten meine so sanft, wie ich es mir immer mit Lior vorgestellt hatte. Indem der Fremde mich berührte, erhielt Lior sein Gesicht zurück. Er erhielt seinen Geruch zurück, seinen festen Gang, den Umriss seines Lächelns.

Ich habe ein bisschen Angst, trotzdem nehme ich den Hörer ab und wähle. Manche Nummern vergisst man nie. Einen Augenblick lang überlege ich, wieder aufzulegen, aber dann höre ich seine Stimme, und aus irgendeinem Grund scheint Auflegen plötzlich zu viel Mut zu erfordern, also rede ich einfach drauflos.

»Lior?«

»Ja?«

»Ich bin’s«, sage ich und umklammere den Hörer. Meine Hand zittert, und ich stelle mir vor, wie sein Telefon deswegen vibriert. Nach einer kurzen Pause ergänze ich ein »Hallo«, während ich mir mit dem freien Daumen über die Unterlippe fahre.

Als ich ihn fragen höre: »Wer ist da?«, denke ich wieder ans Auflegen, aber ich verwerfe die Idee, denn ich bin doch eher aufgeregt als nervös.

»Wie, du erkennst meine Stimme nicht mehr?«, sage ich und hoffe, dass er mein Lächeln hört.

Er holt tief Luft. »Bist du das, Fela?«, fragt er verwundert. »Natürlich erkenne ich dich. So viele Mädchen mit deiner rauchigen Stimme kenne ich nun auch nicht. Aber es ist so lange her. Bist du hier?«

»Nein, ich bin in New York. Ich rufe nur an ... Ich habe an dich gedacht.« Ich achte auf meine Stimme; sie hört sich viel erregter an als noch vor ein paar Minuten.

»Warum hast du an mich gedacht? Es ist doch ungefähr – wie lange? – fünf Jahre her.«

Ich habe an dich gedacht, weil du neben mir lagst; weil ich letzte Nacht mit dir geschlafen habe. Ich habe an dich gedacht, weil du mir das Gefühl gabst, begehrt zu werden, verwurzelt zu sein, eine Frau zu sein. Ich hatte Verlangen nach dir. Und letzte Nacht hat es sich angefühlt, als würden unsere Bauchnabel sich vereinigen, und ich habe angerufen, weil ich dich vergessen hatte und weil es so wunderbar war, dir wieder zu begegnen.

»Ich weiß«, sage ich. »Eher sechs ... Ich habe einfach heute morgen an dich gedacht, also ich meine, letzte Nacht, irgendwie«, und um zu vermeiden, dass ich das erklären muss, frage ich hastig: »Wie geht es dir?«

»Mir geht es gut. Die Armee ödet mich an, aber ich komme zurecht. Ich komme nur jedes zweite Wochenende nach Hause, dann bin ich erschöpft, schlafe fast den ganzen Freitag und Samstag, und dann muss ich auch schon zur Basis zurück. Da bleibt nicht viel übrig für ein eigenes Leben.« Seine Stimme ist unverändert, immer noch so präsent wie eh und je, auf eine respekteinflößende Art scharf, aber friedlich, als wären ihre Kanten in irgendetwas Weiches gewickelt, weich, aber zugleich widerstandsfähig, wie ein Gummiball. »Ich freue mich auf das Ende der Dienstzeit – nur noch ein Jahr – und dann kann ich endlich meine grüne Uniform ausziehen. Aber abgesehen davon geht es mir gut ... Und du, wie geht es dir?« Er fragt und betont dabei jedes einzelne Wort. Er lässt sich Zeit beim Sprechen.

»Okay. Mir geht es okay.«

Dann entsteht eine Stille. Zuerst fühlt sie sich seltsam an, aber nach ein paar Sekunden schon besser. Es ist eine Stille, in der man sich sicher fühlt, die nicht entsteht, weil plötzlich alles und jeder einfriert, sondern weil alles und jeder in einen anderen Modus wechselt; Lior und ich brauchen Zeit, um uns zu erinnern, wann wir uns zuletzt gesehen haben, wir müssen uns den anderen vorstellen können, wie er am Telefon sitzt, atmet; wir brauchen Zeit, um uns den Raum vorzustellen, in dem der andere sitzt.

»Wie sieht es bei dir aus?« Das fragt er sich vielleicht.

»Ziemlich schlicht«, würde ich sagen, wenn er fragte.

»Ist es gemütlich?« – »Ja.« – »Und bunt?« – »Ja.« – »Und warm?« – »Manchmal.« – »Werde ich dein Zuhause je zu Gesicht bekommen?«

»Das weiß ich nicht. Ich hoffe. Und wie ist es bei dir, Lior?« Das würde ich fragen, bevor ich mich daran erinnern würde, dass ich die Antwort kenne.

Er sitzt in seinem alten Kinderzimmer, in dem er immer gewohnt hat. Altweiße Wände, dekoriert mit Postern von Western-Filmen aus den Sechzigern. Auf seinem schwarzen Schreibtisch steht ein Computer, davor ein Lederstuhl mit Rollen, der zum Tisch passt – auf dem Stuhl sitzt er jetzt und lehnt sich nach hinten. Zu seinem Zimmer gehört ein blau-grauer Teppich, ein schwarzes Ledersofa, auf dem man zu zweit sitzen kann, und ein niedriger Glastisch, auf den man die Füße legen kann, wenn man auf dem Sofa sitzt. Vorhänge oder Jalousien gibt es nicht. Lior ist auch gerade erst aus der Dusche gekommen, er riecht frisch. Aber er sieht ein bisschen müde aus.

Er lässt ein gedehntes »Ach so« hören, dann fragt er, »was hast du so gemacht?«

»Nicht viel. Die Uni hat mich ganz schön in Beschlag genommen. Aber eigentlich, Lior«, ich mache eine kurze Pause, »habe ich nur angerufen, um Hallo zu sagen. Ich muss jetzt auflegen. Ich hab’s ein bisschen eilig. Ich fliege gleich nach Deutschland, um dort meinen Großvater zu treffen, und dann mit ihm weiter nach Polen.«

»Und dann zurück nach New York?«

»Zuerst wieder nach Berlin, um auch ein bisschen Zeit mit meiner Großmutter zu verbringen.«

»Und dann? Kommst du uns dann besuchen?«, fragt Lior zögerlich.

»Erst einmal zurück nach New York. Ich habe keine andere Reise geplant, aber es wäre schön, einen Kaffee mit dir zu trinken. Oder am Strand entlangzugehen. Vielleicht sogar beides.«

Er ist barfuß. Er hat ein weißes T-Shirt und eine weite Jeans an, sitzt an seinem Schreibtisch, starrt auf den Bildschirm und durchforstet das Internet auf der Suche nach Bergen, die er besteigen könnte, Wanderwegen, die er in Angriff nehmen, und Flüsse, auf denen er mit dem Kajak fahren könnte. Oder vielleicht surft er nur im Netz. Sein Haar ist kurz, fast komplett abrasiert, und sein Gesicht ist ebenso glattrasiert, kein einziges Härchen ist auf seinem Gesicht zu sehen – genauso, wie das die Armee ihren Soldaten vorschreibt. Mit Zeigefinger und Daumen klopft er zur Melodie eines alten Rocksongs, der aus seiner Stereoanlage schallt, auf den Tisch, und hin und wieder hebt er die Hand hoch, fährt sich mit ihr über seine Stirn und die Kopfhaut und massiert sich selbst drei oder vier Sekunden lang.

»Das wäre schön, Fela.«

»Hör mal, ich muss noch fertig packen«, sage ich, und im Unterschied zu ihm lasse ich mir beim Sprechen keine Zeit.

»Ach so, ich verstehe«, sagt er überrascht und verwirrt, als verstünde er nicht wirklich, warum ich ihn plötzlich nach so langer Zeit anrufe und warum ich dann nicht länger mit ihm rede, wenn ich schon angerufen habe. Aber anstatt auf seine berechtigte Verwirrung zu sprechen zu kommen, sagt er nur: »Na gut, dann einen schönen Flug. Ich hoffe, du hast eine gute Reise.«

»Ja. Ich auch«, sage ich.

»Sei nicht so distanziert. Komm mich bald besuchen.«

Nach einem Moment des Zögerns sage ich mit einem breiten Lächeln: »Hm, okay. Vielleicht.« Und während ich noch denke, dass ich nicht auflegen möchte, höre ich, wie Lior zärtlich sagt: »Komm mich besuchen. Und wenn du nicht kommst, dann ruf hin und wieder an. Okay?!«

»Tschüss, Lior«, sage ich zärtlich mit meiner rauchigen Stimme.

»Tschüss.«

Ich versuche mich zu erinnern. Ich will mich erinnern. Ich versuche mich zu erinnern, wann ich Lior zuletzt gesehen habe, aber mein Gedächtnis ist leer, als würde es diese Erinnerung nicht geben, weil sie zu einem anderen Land gehört, einer Wüstenlandschaft ohne Wasser und unter einer brennenden Sonne. Und sollte es sie – weggesperrt oder verschlüsselt – geben, ist sie mir nicht zugänglich.

Ich habe mit ihm gesprochen, ich habe mit ihm gesprochen, ich habe mit ihm gesprochen ... Mit Lior, der mir sieben Stunden voraus ist, elf Flugstunden entfernt, in einer Welt, die in jeder Hinsicht ganz anders ist als meine. Und jetzt fühlt es sich an, als wäre mit dem Klang seiner Stimme in mir eine chemische Reaktion in Gang gesetzt worden, und ich bin voller Energie und will etwas tun, irgendetwas, nur nicht weiter packen. Ich lege Musik auf – tolle Texte, tolle Melodien, der Sänger hat eine unangenehme Stimme – und gehe zum Fenster. Die mit den schlimmsten Stimmen machen immer die beste Musik. Wie aus der Ferne und gegen die Musik höre ich meine Absätze klappern, bis ich anhalte und stillstehe, und anstatt hinauszustarren auf die belebten New Yorker Straßen schließe ich die Augen und denke an die polnische Landschaft, die ich morgen sehen werde, die ich noch nie gesehen habe, die ich mir aber schon mein ganzes Leben lang vorgestellt habe. Und dann denke ich an die Landschaften, die ich schon kenne, die ich wiedersehen werde, wenn ich von Polen noch nach Deutschland fahre – die Berliner Linden in einer Reihe. Wie Soldaten stehen sie stramm, genau dort, wo sie stehen müssen. Wie marschierende Soldaten bewegen sie sich nach rechts und links im Septemberwind. Aber wenn ich erst einmal dort bin und die Augen schließe, dann sehe ich die Sonne des Nahen Ostens hinter ihnen hindurch scheinen, durch die Äste und Blätter flimmern, und dahinter goldene Dünen, die sich stumm bis in die Ferne erstrecken. Die hohen und zähen Linden verschwimmen zu Maulbeer-Feigen – mit ihren Stämmen, die sich schon nah am Boden verzweigen. Kopfsteinpflasterstraßen werde ich in Sandwege übergehen sehen, und der riesige, gepflegte Tiergarten verwandelt sich in einen weiten, welligen Ozean, dessen Fluchtpunkt eine dünne und zarte Linie ist, die dem Auge guttut. Ich öffne die Augen und sehe hinaus auf den schiefergrauen Hudson River, dessen Wasser kaum zu fließen scheint.

Als mir klar wird, wie spät es schon ist, packe ich schnell fertig. Ich rufe meine Mutter an, die mich zum zehnten Mal fragt, ob ich mir sicher bin, dass sie mich auf der Fahrt zum Flughafen nicht begleiten soll, und ich sage ihr, dass ich mir allein ein Taxi nehmen werde und dass das in Ordnung ist. »Wir sehen uns bald, ja?«, sage ich mit einer Stimme, die mir eher wie die des Elternteils als die des Kindes vorkommt. Sie sagt, ich soll auf mich aufpassen, wünscht mir einen guten Flug und sagt, ich soll sie nach meiner Ankunft anrufen, damit sie weiß, dass ich gut bei ihrem Vater angekommen bin. Ich verspreche ihr das.

Eine winzige Sekunde lang fällt es mir schwer, sie allein zu lassen; eine winzige Sekunde lang stelle ich mir vor, ihr passiert irgendetwas Schlimmes, während ich weg bin – und ich muss klopfen. Ich muss meinen Daumen hundert Mal gegen mein Knie schlagen und dann meinen Zeigefinger auch hundert Mal, und ich muss dabei bis zweihundert zählen, und wenn ich mich verzähle, muss ich von vorne anfangen, und das muss ich tun, damit ich ganz sicher bin, dass ihr nichts Schlimmes passiert.

Ich mache meinen Koffer zu, schließe die Tür hinter mir ab, gehe auf die Straße hinunter und nehme das erste freie gelbe Taxi, das ich finde. Aus dem fahrenden Auto heraus beobachte ich die hin- und her rennenden Leute und die Hochhäuser, die ganz still stehen, und die Lagerhallen mit ihren Ziegelmauern voller unfertiger Graffiti und ihren Feuerleitern, und ein Teil von mir vermisst das alles bereits, obschon es sich noch vor meinen Augen befindet.

Ich denke an Polen und daran, dass ich mir jahrelang das Land vorgestellt habe, in dem ich nun endlich sein werde, mit dem ich so fest verwurzelt bin, den Boden, der die Geschichten aus der Kindheit meines Großvaters erzählt, der indirekt die Geschichten der Kindheit meiner Eltern erzählt – und der den Beginn meiner eigenen Geschichte erzählt.

Wir fahren über eine Brücke, die uns aus Manhattan hinausführt, und in der Ferne wölben sich andere Brücken. Rohe, massive Metallbrücken, deren Schatten sich im East River spiegeln. Wie der Himmel ist auch der Fluss mit den letzten Resten der untergehenden Sonne gefüllt, Rot, Pink und Orange ergießen sich in ihn, und Strahlen wie von Sternen entstehen und dehnen sich in alle Richtungen aus. Wir erreichen die Autobahn, und umgeben von großen Autos und vielen Spuren erreichen wir schließlich den John F. Kennedy International Airport.

In Deutschland landen, in Polen ankommen

Am Terminal in Deutschland warte ich auf meinen Großvater – meinen Opa –, damit wir gemeinsam den Anschlussflug nach Polen nehmen können. Unterdessen schaue ich durch das riesige Flughafenfenster – der deutsche Herbst hat schon begonnen. Und ich erinnere mich, wie ich hier aufwuchs; ich erinnere mich an den faden grauen Himmel und den immer nassen oder feuchten Boden. Ich erinnere mich an die korallenroten Flamingos im Zoo, an dem wir jeden Morgen auf dem Weg zu meinem Kindergarten vorbeifuhren, und ich erinnere mich, wie ich sie durch ein von Regentropfen übersätes Fenster anschaute. Auf demselben Weg kamen wir auch immer an dem Ritterturm vorbei, auf dessen spitzem Dach eine Fahne mit neun Löchern wehte, ein Loch für jedes Jahr, das der Ritter ohne seine Prinzessin verbracht hatte, bevor sie wieder vereint waren. Diese Geschichte muss ich ein paar Jahre lang jeden Tag zweimal gehört haben, denn ich brachte meine Mutter und meinen Vater dazu, sie mir immer wieder zu erzählen, aber jetzt suche ich in meiner Erinnerung nach den Details und kann sie nicht finden. Vielleicht war es auch überhaupt keine Geschichte, vielleicht gab es gar keine Ereignisse oder Szenen, vielleicht war es auch immer nur ein Ritter, eine Prinzessin, ein Turm, eine Fahne, ein Gewehr und neun Löcher, die für neun einsame Jahre standen.

Wenn ich – früher – in Deutschland morgens aufwachte, blieb ich im Bett und starrte an die Decke. Manchmal mit offenen, manchmal auch mit geschlossenen Augen stellte ich mir tanzende Formen vor, Farben, die ineinander übergingen, Punkte, die mal scharf, mal unscharf waren, neonfarbene kleine Flecken, die auftauchten und verschwanden. Ich sah riesige Felder von Dunkelheit, von Licht, weiche Oberflächen, von denen ich glaubte, es gäbe sie hinter dem Himmel oder unter der Erde, für gewöhnliche Augen verborgen, aber ich durfte einen Blick auf sie werfen. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, fällt mir ein, wie ich mich beim Aufwachen fühlte, nicht weil ich Aufstehen musste, sondern weil ich genug geschlafen hatte, weil ich mir alles von der Nacht genommen hatte, was ich brauchte, und weil ich aufgeregt und neugierig einen neuen Tag erwartete. »Guten Morgen, Schatz«, sagte meine Mutter jeden Morgen, wenn sie in mein Zimmer kam, »steh auf und zieh dich an. Alle Kinder im Kindergarten warten auf dich.« Ich drifte zwischen Schlafen und Wachen hin und her, bin in meinem Körper und dann wieder nicht, in meinem Bett, in meinem Deutschland.

Es dauert nicht lange, bis ich ihn entdecke – groß und kräftig, wann immer ich ihn sehe, bin ich aufs Neue beeindruckt. Er geht leicht nach vorne gebeugt in meine Richtung, und kaum hat er mich bemerkt, geht er schneller, etwas wacklig, und ich gehe ebenfalls auf ihn zu. Er trägt einen dunkelblauen Anzug, ein hellblaues Hemd, keine Krawatte, schwarze Sportschuhe und ich wette, unter seiner Anzugjacke hat er rote shleikes an den Hosenbund geklipst.

Mosha hält mich fest an den Schultern und küsst mich auf meine rechte Wange, auf meine linke Wange, dann wieder auf die rechte, dann wieder auf die linke, rechtslinks, rechtslinks, und er lächelt freudig wie ein kleiner Junge, der vor dem Essen noch verbotenerweise ein Stück Schokolade bekommen hat. »So«, er lässt meine Schultern los und schlägt die Hände zusammen, »wie gaiht’s?«, fragt er auf Deutsch, mit einem dicken jiddischen Akzent.

»Gut geht’s mir. Sehr gut. Und dir?«, frage ich, während ich mir darüber klar zu werden versuche, ob er älter aussieht als bei unserem letzten Treffen vor ein paar Jahren in New York.

»Git, git«, antwortet er sofort. » Di bist so schein, so groiss«, sagt er, mit einer Spur von Überraschung in der Stimme.

»Dankeschön«, sage ich. Sein Gesicht ist nicht älter geworden, denke ich mir, nur sein Haar ist ganz weiß geworden. »Na ja, es ist eine ganze Weile her, seit wir uns gesehen haben, Opa, also denke ich schon, dass ich gewachsen bin, und vielleicht bin ich sogar hübscher geworden.«

»Du warst immer schon hibsch. Aber jetzt noch hübscher.«

»Ich bin glücklich, dich zu sehen, Opa.«

»Ich och«, antwortet er. »Ich auch.«

Während wir zum Gate gehen, frage ich, »Und Oma? Wie geht es ihr?«

»Git gaiht’s ihr.«

Wie gut, frage ich mich. Besser, als ich glaube? Besser, als ich fürchte?

» Git gaiht’s ihr«, wiederholt er. »Weißt di, sie freut sich, dass du kommst, sie freut sich, dich zu sehen.«

»Ich auch, Opa, ich freue mich sehr, sie zu sehen«, sage ich.

Im Flugzeug sitze ich eingezwängt zwischen meinem Großvater auf der einen und einer blonden Frau, die ein schlafendes Kind auf dem Schoß hält, auf der anderen Seite. Er trinkt genüsslich sein Glas Rotwein. Ich weiß, es hört sich komisch an, aber ich freue mich über das saugende Geräusch seiner Schlucke und sage laut: »Tausend Dank«.

»Wofür?«, fragt er und runzelt die Stirn, so dass seine langen Augenbrauen noch dichter zusammenstehen.

»Dass du mich mitnimmst.« Es überrascht mich, dass er überhaupt gefragt hat.

Er nickt, hebt seine rechte Hand mit einer wegwerfenden Bewegung von dem kleinen Klapptisch vor ihm und stößt ein kurzes »Ah« aus.

»Nein, wirklich, Opa. Danke.«

Ich betrachte das schlafende Baby an meiner Seite und versuche mich zu erinnern, wann ich mir mich zuletzt als Mutter vorgestellt habe, aber ich muss passen. Muss vollständig passen. Ich habe mir nie vorgestellt, dass eines Tages ein zäher Tropfen in meinem Körper einen zerbrechlichen, aber energischen Körper entstehen lässt, der atmet, schreit und einen Raum ausfüllt, den Raum zwischen meinen Armen.

Auf unserem Weg in das Land, in dem seine ganze Familie ermordet wurde, neige ich innerlich dazu, meinem Großvater ein Urenkelkind versprechen zu wollen – als würde allein die Reise nach Polen diesen Drang, diesen biologischen, biblischen, existenziellen Drang in mir entstehen lassen. Aber vielleicht ist es ja auch ein anderer Drang.

Und wenn es so wäre, was würde ich sagen? »Opa, ich bin für dich schwanger geworden. Für die ganze Familie, die du verloren hast, schenke ich dir dieses Kind«? Würde ich es bei einem Essen verkünden, während er mit seiner Gabel ein Stück Lammfleisch aufspießte? Würde ich es überhaupt offiziell verkünden oder es nur nebenbei andeuten, würde ich es einfach von meiner Zunge gleiten lassen, so wie ein Regentropfen von einem glatten, spitz zulaufenden Blatt fließt? Würde ich es ihm alleine sagen oder meiner ganzen Familie? Würde ich schwarz oder weiß tragen, wenn ich die entscheidenden Worte ausspräche? Vielleicht würde ich besser bis nach der Geburt warten, so dass ich ihm mein Kind übergeben könnte, wenn er mich im Krankenhaus besuchen käme, und sagen: »Opa, dieses Baby ist für dich«. Würde er über meine absurden Worte lachen und das Angebot zurückweisen? Würde er mich wegen dieses perversen Opfers schlagen? Würde er »Danke« sagen? Sollte er »Danke« sagen?

Opa schlürft von seinem Wein, und ich frage: »Was gibt es Neues in Berlin? Wie ist das Leben, wie geht es deinen Freunden?«

Er stellt sein Glas zurück auf das Klapptischchen, legt seine Hände darauf und sagt: »Alles ist gut, Fela. Allen geht es gut. Alles ist wie immer. Weißt du, wenn man alt ist, passiert nicht mehr viel.«

»Wer ist hier alt?«, frage ich grinsend. »Gehst du immer noch ins Büro?«

»Jemand muss doch arbeiten, oder nicht?«, antwortet er mit einem Grinsen, und wir beide wissen, würde er nicht in sein Büro gehen, wüsste er nichts mit seiner Zeit anzufangen.

»Und zur Shil, Opa? Gehst du immer noch am Shabbes?«

»Ist doch besser, als zu Hause zu bleiben, oder nicht? Dort sind immer Freunde, ein Kiddush, es ist nett. Außerdem«, er zuckt die Schultern, »ein bisschen Religion hat noch keinem geschadet.«

»Und di, wuss is mit dir?«

»Ich bin immer noch an der Uni. Ich habe noch zwei Jahre. Und ich arbeite auch ein bisschen nebenher.«

»Und duss is git?«

»Sehr gut. Das Studium ist interessant und macht mir wirklich Spaß.«

»Aber was willst du damit machen, du studierst Kunst, jo? Was willst du damit machen?«

»Ja, Kunstgeschichte, Opa. Ich werde arbeiten, dann wahrscheinlich noch ein bisschen mehr studieren, dann wieder arbeiten, dann vielleicht noch mal studieren. Ich würde gerne irgendwann als Kuratorin arbeiten.«

»Ich wess«, sagt er und hebt die Augenbrauen. »Glaubst du wirklich, das ist ein guter Beruf?«

»Es interessiert mich. Es bedeutet mir etwas.«

»Schein. Soll sein«, sagt er, »solange es dir gefällt.«

Der Pilot kündigt an, dass wir soeben in Polen gelandet sind, und als ob das für Opa ein Zeichen wäre, sagt er: »Ich will ein Buch.«

Meine Augen blicken über ihn hinweg aus dem ovalen Fenster auf geparkte Flugzeuge, sehen, wie Flughafenangestellte in neonfarbenen Mänteln dabei sind, Gepäck auszuladen, und wie der saphirblaue Himmel voller schwerer weißer Wolken hängt, die sich neben dicken schwarzen Wolken dahinschieben. Über die Lautsprecher werden wir aufgefordert, sitzen zu bleiben, und Opa dreht sich zu mir und sagt: »Ich will, dass meine Geschichte gedruckt wird.«

Ich starre ihn an; seine Nase ist rundlich, seine Lippen voll, seine Gedanken schwer. »Wir waren zu viert, vier Geschwister: zwei Jungen und zwei Mädchen. Ich bin 1926 geboren. Und Isaak, mein jüngerer Bruder, ist zehn.« So sagt er das. Isaak war zehn, sage ich mir, und korrigiere die Zeitwahl meines Großvaters in meinem Kopf. Aber Isaak ist immer noch zehn, Isaak wird für immer zehn bleiben. »Die ältere Schwester Mierele war zwei Jahre älter als ich.« Ich nicke ihm zu, um zu zeigen, dass ich zuhöre. »Die jüngere Schwester Fela war zwei Jahre jünger als ich.« Ich nicke wieder, dieses Mal, um zu zeigen, dass ich diese Dinge schon einmal gehört habe, dass ich sie erinnere, aus den Bruchstücken von Geschichten, die er mir immer wieder erzählt hat, die immer Gegenwart waren, die immer die Grundlage von allem waren.

Er neigt den Kopf nach vorne und sagt mit milder Stimme: »Weißt du, eine Geschichte mit Informationen, so wie ich sie dir gerade erzähle. Informationen über meine Familie, und woher ich stamme und wo ich war und was ich während des Krieges gemacht habe und was passiert ist, nachdem der Krieg zu Ende war. Über mein Leben. Über das Geschäft, das ich aufgebaut habe. Die Familie. Über das Leben meiner Kinder. Und das Leben ihrer Kinder. Über alle unsere Leben«, und mit einem kaum kaschierten stolzen Grinsen setzt er hinzu: »Ich will ein Buch über mein Überleben.«

»Soll es wie eine Geschichte geschrieben sein, Opa?«

»Ein Buch«, sagt er mit Überzeugung in der Stimme und zieht die Augenbrauen zusammen. »Mit Bildern und Daten«, sagt er so entschieden, als würde sich das von selbst verstehen – als müsste das jeder von selbst verstehen. Als wäre es, wenn es anders wäre, unwahr, unauthentisch, nutzlos.

»Geschichten aus der Gegenwart können welche aus der Vergangenheit infizieren«, will ich ihm sagen. »Geschichten aus dem Jetzt über das Leben können die Schönheit der Geschichten über das Überleben des Todes zerstören.« Ich sage aber kein Wort, weil ich mir selbst zuwider bin, dass ich denke, alte Geschichten sind gute Geschichten, und weil ich hoffe – da ich diese perversen Gedanken nicht in konkreten Sätzen formuliert habe –, dass sie bedeutungslos bleiben, nicht existent. Funktioniert das nicht so? Man kann denken, was man will – man muss sich nicht rechtfertigen und nicht die Verantwortung für Dinge übernehmen, die im Bereich des eigenen Kopfes bleiben.

Das Licht für den Sicherheitsgurt erlischt, und die blonde Frau neben mir steht auf, und ihr Kind schläft immer noch, und ich stehe nach ihr auf, und Opa steht nach mir auf, und ich gehe den Gang entlang und er hinter mir her, er zieht seinen Handkoffer auf dem filzartigen Boden hinter sich her. In seinen schwarzen Sportschuhen geht er etwas wacklig die Stufen hinab, die uns aus dem Flugzeug runter führen. Uns erwischt die kalte Luft, Opa und ich klappen unsere Kragen hoch und knöpfen unsere Mäntel zu. Als meine Schuhe den Asphalt berühren, blicke ich hinter mich, um zu sehen, ob ich Fußabdrücke auf diesem verfluchten Boden hinterlasse. Es ist der gleiche Beton wie auf jedem anderen Flughafen auf der Welt; er nimmt meine Fußabdrücke nicht auf.

Im Inneren des Flughafengebäudes stehen Opa und ich auf dem Laufband, die Wände des Ganges gleiten an uns vorbei, sie sind nackt, glatter beiger Beton, nicht zugedeckt von Werbung oder touristischen Postern. Wir stehen am Transportband und warten auf meinen Koffer, und ich denke bei mir, dass ich meinem Großvater am liebsten sagen würde: »Opa, ich habe dich vermisst.« Aber ich tue es nicht. Weil es nicht die Art von Konversation ist, die ich normalerweise mit ihm habe. Und wenn ich es sagen würde, würde er, glaube ich, antworten: »Ich vermisse dich immer, Fela.«

Beim Verlassen des Flughafengebäudes legt sich Kälte auf uns, während wir uns zu einem Taxistand aufmachen. Über uns kreisen Flugzeuge von überall her, und Opa bleibt stehen, dreht sich zu mir um und sagt: »Weißt du«, er deutet mit dem Finger auf mich, »es war Glück. Zufall. Ich bin nicht stärker, nicht schlauer als jeder andere«, dann geht er weiter, auf einen Taxifahrer zu, der neben seinem Taxi steht und eine Zigarette raucht. Als er uns sieht, wirft der Fahrer seine Zigarette auf den Boden und kommt uns eilig entgegen. Er nimmt meinen Koffer, hebt ihn hoch und legt ihn in den Kofferraum, den er dann zumacht. Dabei klemmt er aus Versehen ein Stück seiner schmutzig-weißen Jacke ein, und während er darüber vor sich hin lacht und ich kichere, kommt Opa dicht an mich heran, holt tief Atem und sagt: »Von Lager zu Lager wurde es schlimmer.«

Auf unserem Weg ins Hotel öffne ich das Fenster des Taxis und starre in den polnischen Himmel. Die hereinwehende Luft riecht kalt, dünn. Zwei große ziegelfarbene Filzwürfel mit weißen Punkten hängen am Rückspiegel des Taxis, und die Zwei und die Drei des einen Würfels sowie die Drei und die Sechs des anderen zeigen in meine Richtung. Außerdem hängt dort einer dieser nach frischer Zitrone riechenden Papieranhänger – die das Auto immer eher vollstinken, als es besser riechen zu lassen –, aber glücklicherweise ist der Geruch kaum noch zu erkennen. Der Fahrer beobachtet meine Augenbewegung, dann blickt er geradeaus und konzentriert sich auf die Straße. Nach ein paar Minuten sagt Mosha: »Die letzten drei Monate waren die schlimmsten.« Seine Worte holen mich zurück, erinnern mich daran, dass ich neben ihm sitze. Der Wind überdeckt seine Worte, darum schließe ich das Fenster, während Opa in seine Jackentasche greift und ein Schwarz-Weiß-Foto von sich aus der Nachkriegszeit hervorholt. Er schaut es aufmerksam an, als würde er es zum ersten Mal betrachten, dann zeigt er es mir und deutet auf sein Gesicht. Gewelltes dunkles Haar umrahmt sein knochiges Gesicht, seine skelettartigen Gesichtszüge, seine ausgehungerten Augen. Bei Kriegsende war er neunzehn und wog zweiunddreißig Kilo. Sein Foto-Gesicht sieht aus wie eine Bleistiftzeichnung der allereinfachsten Maske, die man sich vorstellen kann, dürre Linien, und plötzlich und zum ersten Mal sehe ich eine Ähnlichkeit zwischen ihm und mir.

»Viele sind kurz nach dem Krieg gestorben«, sagt er, »weil sie zu schnell zu viel gegessen haben. Ihre Körper hielten das nicht aus, sie vertrugen es nicht. Aber ich hatte Glück.«

Warum hatte er Glück? Das frage ich mich, und dann frage ich mich, ob ich ihn das fragen soll. Ich frage nicht.

Würde ich fragen, würde er vermutlich erwidern: »Weil irgendjemand Glück haben musste.«

»Aber warum du?«, würde ich nachfragen.

»Weil mein Körper es ausgehalten hat.«

»Nur dein Körper?«

»Nein, nicht nur mein Körper. Auch mein Geist.«

»Und die anderen? Konnten sie es nicht aushalten?«

»Natürlich. Aber sie haben nicht die Chance gehabt, es zu beweisen.«

»Konnte meine Großmutter es aushalten?«

»Vielleicht war es nicht Glück, was sie gerettet hat, sondern etwas anderes.«

»Was denn?«

»Unglück.«

»Unglück, Opa?«

»Nein. Das ist es auch nicht.«

Opa presst die Lippen zusammen und scheint von mir wegzudriften.

Entlang der einspurigen Fernstraße, auf der wir fahren, erstrecken sich überirdische Stromleitungen, als wären sie ein Straßenzaun, und dahinter, in der Ferne, wächst Gras, hoch und dunkel, wie verbrannt. Die Landschaft ist flach und offen, und vereinzelt wachsen Bäume – hochaufragend und ungeschützt – aus ihr hervor, ebenso quadratische Gebäude mit quadratischen Fenstern, quadratischen Balkonen und quadratischen Stufen, die zu quadratischen Eingangstüren führen, alle wie ausgewaschen und als hätten sie ihre Farbe und Klarheit verloren. Opa spricht mit dem Fahrer, zeigt nach rechts, und der Fahrer steuert sein Taxi in den Eingangsbereich eines Hotels, das wie eine mittelalterliche Burg aussieht. Opa und ich steigen aus, und während ich mir das romantische Gebäude ansehe, dessen Dach auf den Bäumen rundum zu schweben scheint, wechseln Opa und der Fahrer ein paar Worte, schütteln sich die Hand, und der Fahrer steigt zurück in seinen Wagen und fährt los.

Nach dem Einchecken gehen Opa und ich auf unsere Zimmer, müde von der Reise. In meinem Zimmer sind die schwarzen Möbel von den hellen Deckenlampen etwas allzu dramatisch beleuchtet, und jedes Möbelstück ist neu und hypermodern – das Sideboard, der Spiegel, der Tisch, der Schrank haben scharfe Linien, Ecken und Kanten.

Ich gehe ins Badezimmer. Boden, Wände, Decke und Waschbecken sind aus weißgrauem Marmor. Der ganze Raum fühlt sich an wie eine riesige Badewanne. Eine sehr einladende riesige Badewanne. Das Zimmermädchen hat mir ein Paar elegante türkisfarbene Hausschuhe auf den Badezimmerboden gestellt. Gründlich schaue ich mir die kleinen Seifen, Shampoos, Cremetuben und ihre schön gestalteten Verpackungen an. Die Buchstaben auf den Etiketten sind mit vielen Akzenten und Punkten verziert, die Schrift ist kursiv. Die Zusammenstellung der Buchstaben kenne ich nicht – ich amüsiere mich bei dem Versuch, meine Zunge diese Worte laut und richtig aussprechen zu lassen, aber ohne Erfolg. Ich höre auf, die Reihenfolge der Buchstaben zu untersuchen, komme zu dem Schluss, dass die Buchstaben »w«, »y«, »k« und »z« im Polnischen sehr häufig vorkommen, und beschließe zu baden.

Ich liege in der Badewanne und schaue zur Decke, während ich meine Finger durch mein langes, dickes, nasses Haar gleiten lasse und dabei Spuren hinterlasse, wie Schienen in der Landschaft, Spuren in meinem Haar und auf meiner Kopfhaut. Wie immer, wenn ich im Wasser bin, vergeht die Zeit schneller – oder langsamer, ich weiß nicht genau. Es ist auch egal. Ich schaue meinen Körper an – er ist so anders als der, den ich als Kind oder Jugendliche hatte. Ich betrachte meine Schamhaare – ihre dunkle Farbe vor meiner blassen Haut – und meinen Bauchnabel. Ich betrachte meine Brüste und die Linien meiner blauen Venen, meine Füße und meine runden Zehen. Ich untersuche den absolut symmetrischen Schönheitsfleck, der nicht wirklich schön ist, auf meinem linken Oberschenkel – er ist umgeben von Dehnungsstreifen. Und ich betrachte meine Hüftknochen und die Kurve meiner Taille. Dann hole ich tief Luft und tauche unter.

Im Wasser begraben, erinnere ich mich plötzlich. Zum letzten Mal habe ich Lior am Morgen nach einer fast schlaflosen Nacht gesehen; es war dunstig, und im Unterschied zu den meisten Sommermorgen, an denen einem die Sonne in die Haut beißt und alle Energie aussaugt, war die Hitze an jenem Morgen noch erträglich. Und trotzdem schwitzten wir beide, als kämen wir gerade aus der Sauna. Wir stiegen aus dem Minibus aus Tel Aviv und gingen im Gleichschritt auf der Straße, bis wir zu unserer Kreuzung kamen. Mit goldenem Sand in unseren Sandalen und Eukalyptusbäumen im Hintergrund, die mit ihrem Duft die Luft erfüllten, standen wir einander gegenüber.

Ich hatte fast vergessen, wie hoch diese Bäume sind und wie weich die Rinde ist, die ihre Stämme umgibt. Ich erinnere mich lebhaft an ihre sichelförmigen Blätter und daran, dass Lior und ich uns oft dabei amüsierten, herauszufinden, was nun die Ober- und was die Unterseite des Blattes war. Und zum ersten Mal, unter ruhigem und klarem Wasser, wird mir klar, dass ich noch nie einen Eukalyptusbaum gesehen habe, der nicht grün war; sie sind wohl zu jeder Jahreszeit grün.

Fertig mit Baden, trockne ich mich ab und wickle ein trockenes Handtuch um mich. Ich führe einen Tampon ein und gehe aus dem Badezimmer. Ich kann das laute Geräusch hören, das der Fernseher meines Großvaters im Nebenzimmer macht, als ich mich zum Ausruhen ins Bett lege, es ist riesig, ich bin ganz klein in ihm; ich lasse meinen nackten Körper in die weiche, schwammige Matratze sinken, fühle mich wie ein kleines Mädchen, dem gleich noch eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen wird, und schlafe ein.

Der Anfang

Meine Eltern haben sich kennengelernt, als sie noch nicht einmal Teenager waren; er – ein Einzelkind, charismatisch, rechthaberisch, sentimental und altmodisch; sie – eines von sechs Geschwistern, zart, mitfühlend, geduldig, unsicher und emotional. Beide Kinder von Holocaust-Überlebenden. Ich bin sicher, dass sie bei ihrer Hochzeitsfeier so nah zusammenstanden, dass sie sich mit der Stirn berührten. Sie – in ihrem altweißen Spitzenkleid mit Stehkragen, das den Boden berührte, obwohl sie Schuhe mit hohen Absätzen trug, und ihr langes dunkles, welliges Haar offen; er – in seinem schwarzen Smoking, mit langen blonden Haaren und Koteletten. Während sie zu einem Paar vereinigt wurden, verfing sich ihr Atem ineinander und bildete einen natürlichen Torbogen, und sie weinten wie synchronisiert, sehr schön. Die funkelnden Augen meiner Mutter passten perfekt zur Szenerie: Die geschmückte chupah stand am Ufer des Mittelmeers und die Tränen in ihren Augen blinkten wie die Funken des gelben Lichts, die sich auf der Meeresoberfläche spiegelten, als die Sonne unterging. Ich würde mir gerne vorstellen, dass sie unter dem offenen Baldachin Tränen der Freude weinte.

Ein Jahr, für ein Jahr mache ich das mit, muss meine Mutter meinem Vater gesagt haben. Ein einjähriger Versuch, sagte sie, und veränderte ihre Position auf dem eichenfarbenen Kordsofa so, dass sie näher bei ihm sitzen konnte.

Sie wandte meinem Vater ihr Profil zu, aber ihre Augen waren auf das Fenster gerichtet, seinen weißen Rahmen und auf das, was draußen war: Berlin. Die Straßen wurden allmählich dunkler, die Straßenlampen leuchteten, und die wenigen Menschen, die vorbeiliefen – mit ihren Schulranzen auf dem Rücken, den Einkaufstüten in der Hand, Kinderwagen vor sich herschiebend – gingen langsam nach Hause.

Wir wohnten in einer Dachgeschosswohnung in einer schmalen Kopfsteinpflasterstraße mit Lindenbäumen, dem »Baum der Liebenden«, auf beiden Bürgersteigen. Die Linden schützten die Straße – wie ein Dach – vor Sonne und Regen, brachten Farbe und frischen Geruch in sie und übersäten den Boden mit herzförmigen Blättern. Der Kurfürstendamm war nur wenige Straßen von unserer Wohnung entfernt.

Ein Jahr ist nichts, war sicher die Antwort meines Vaters. Es ist einfach nicht genügend Zeit, um uns einzuleben und um für mich eine anständige Stelle zu finden.

Wie für viele Juden der zweiten Generation war für meinen Vater die Idee abstoßend, in Deutschland zu bleiben, in dem Land, das am Genozid an seinem Volk schuldig ist. Bei jeder Begegnung mit einem älteren Menschen auf der Straße stellte sich die Frage: »Was hat er im Krieg gemacht?«, gefolgt von der Frage: »Wie kann ich an das Gute glauben?«

Ich will ein neues Leben, muss mein Vater beharrlich gesagt haben, wenn wir es also machen, und das werden wir, müssen wir es richtig machen. Wir müssen uns wenigstens fünf Jahre geben. Seine Stimme war fest, er blickte auf die Wand vor ihm, auf das verschwommene Blumenmuster der Tapete. Sein Körper berührte ihren nicht.

Und wenn es mir da nicht gefällt? Gehen wir zusammen nach Deutschland zurück?, fragte sie. Versprich mir, wenn es mir nicht gefällt in Israel zu leben, kommen wir hierher zurück, wiederholte meine Mutter, als mein Vater weiter darauf bestand, dass Deutschland für Juden kein Ort zum Leben sei. Ich stelle mir vor, dass sie diese Worte stotternd aussprach.

Ich verspreche es dir, sagte er. Es wird wunderbar werden, fügte er hinzu, du wirst sehen.

Er rückte näher an sie heran – und sie an ihn. Sie nahm sein Gesicht zwischen ihre Handflächen, als wollte sie versuchen, ihre Fingerabdrücke auf seinen Wangen zu hinterlassen, und sie küsste ihn mehrmals auf die Stirn, während sie langsam ihre dunklen Augen schloss und das dämmrige Berlin aus ihrem Blick gleiten ließ.

Und darum wuchs ich von meinem sechsten Lebensjahr an auf einem Hügel auf, einem der vielen Hügel, die Jerusalem umgeben, und Deutschland vermisste ich nie, weil meine Mutter – die Deutschland liebevoll im Herzen mitnahm – und mein Vater – der Deutschland hasserfüllt im Herzen mitnahm – nie davon loskamen, und darum kam auch ich nie von Deutschland los.

Mit sechs Koffern und Zipper, einem schwarz-weißen Collie, landeten wir in Israel, am heißesten Tag des Sommers 1987. In der einen Hand hatte ich ein Stoffschaf, mit der anderen hielt ich mich am Arm meines älteren Bruders fest und wurde begrüßt von Palmen und einer Sprache, die ich nicht verstand: einer Sprache, die ähnlich wie Deutsch klang, aber weniger hart war, weniger scharf und abrupt, als käme sie ganz aus den Tiefen des Körpers.

Wir verließen das Flugzeug und stiegen in einen Minibus, der vielleicht früher einmal kirschrot gewesen, jetzt aber vor allem verrostet und verstaubt war, wie scheinbar alle Autos in Wüstennähe, und der uns zu unserem neuen Heim brachte: ein weißes, kastenförmiges Haus mit einem dreieckigen Giebel; das Haus war mit naturfarbenen Tonziegeln gedeckt und hatte Fenster mit grünen Läden. Das Haus sah aus, als hätte ein Kind es gemalt, genauso, wie ein typisches Haus aussehen soll. Ich habe mir immer vorgestellt, dass, wenn ich ein Lexikon in irgendeiner Sprache, in irgendeinem Land aufschlagen und das Wort »Haus« suchen würde, mir ein Bild unseres Hauses entgegenspringen würde. Oder vielleicht auch das Haus unseres Nachbarn, denn in unserem Ort sahen alle Häuser gleich aus. Kefar Teefe war ein kleines Dorf, in dem wir zur Schule oder zu nachmittäglichen Aktivitäten alleine gehen oder mit dem Rad fahren konnten, ohne dass sich unsere Eltern Sorgen machen mussten, dass uns etwas passieren könnte, denn dort passierte nie etwas.

Mein Bruder Tom und ich wuchsen zwischen Passionsfruchtkletterpflanzen, Avocado-, Mango-, Granatapfel- und Guavenbäumen in dem Garten hinter unserem Haus auf, die mein Vater sorgfältig gepflanzt hatte und deren Früchte unseren Garten mit Ausbrüchen von Grün, Orange, Rot, Purpur und Gelb zum Leuchten brachten. Immer, wenn wir die Früchte gegessen hatten, trockneten wir die Avocado- und Mangokerne und malten sie dann an, bastelten Fische oder Hamster aus ihnen. Wiedehopfe mit orange-pink-braunen Körpern und Kämmen und weiß-schwarzen Flügeln – eine Farbkombination, die so schön war, dass sie fast unnatürlich wirkte – kamen vorbei, und khakibraune Gelbsteißbülbüls mit ihrem gelben Fleck ließen sich fröhlich auf unserer Wäscheleine nieder. In dem Wadi, dem trockenen Tal hinter unserem Haus rannten Chukarhühner herum, stämmige, auf dem Boden lebende, wachtelähnliche Vögel. Obwohl sie imstande waren, die allerschrecklichsten Alarmschreie von sich zu geben, beobachtete ich sie gerne aus der Ferne, hinter dem Hitzeschleier der Wüste. Wenn es mir einmal gelang, in ihre Nähe zu kommen, fühlten sie sich bedroht und ließen ihre schrillen Schreie los.

Während der dritten Woche in meiner neuen Schule, als ich nach der Pause auf dem Weg zurück ins Klassenzimmer war, umgeben von vielen anderen, mir noch fremden Kindern, entdeckte mich Lior.

»Du da«, sagte er und streckte den Zeigefinger nach mir aus, während er energisch auf mich zulief, »du!«

Seine Selbstsicherheit machte mir Angst, seine Extrovertiertheit faszinierte mich; als ich seinen Finger auf mich zeigen sah, fühlte ich mich auserwählt, als gäbe es etwas Besonderes an mir, das er erkannt hatte. Lior hatte viele Freunde, das wusste ich, und trotzdem hatte er mich ausgewählt.

»Schwänze die Musikstunde mit mir. Komm. Lass uns abhauen«, flüsterte er mir ins Ohr. Ein herrlich leidenschaftliches Lächeln schmückte sein Gesicht und brachte einen offenen Mund zum Vorschein, in dem die beiden oberen und unteren Schneidezähne fehlten.

Ich hatte Lior während der ersten zwei Schulwochen in meiner Klasse sitzen sehen, aber dort gab es zu viele unvertraute Gesichter, zu viele Namen, so dass ich ihn erst in dem Augenblick wirklich bemerkte, als ich neben ihm stand und aus dem Augenwinkel auf ihn herabsah – denn er reichte mir nur bis zur Nasenspitze. Wie Lior an diesem Tag, als er mich umwarb, aussah, hat das erste Bild von ihm geformt, und es ist dieses, das in meine Erinnerung eintätowiert ist.

»Aber … Aber … Aber …«, war alles, was ich sagte, als wäre mein Hebräisch noch nicht gut genug. Das war es aber. Es lag nur daran, dass ich meine Zunge nicht unter Kontrolle hatte, weil ich so nervös war, zu aufgeregt. Endlich fragte ich »Wirklich?«, und mit einem plötzlichen unerschütterlichen Gefühl von Tapferkeit, das mich überkam wie ein Tornado, der mich hinwegwirbelte, wurde ich rot und sagte dann: »besseder, besseder, besseder; okay, okay, okay.«

Mir allein wäre es nie eingefallen, die Stunde zu schwänzen, nicht da zu sein, wo ich sein sollte. Und noch immer bin ich mir nicht sicher, ob ich mitmachte, weil es die erste freundliche Geste mir gegenüber war, die sich ernst gemeint anfühlte, oder weil es wegen Lior war, dessen Präsenz so mächtig und dessen Verhalten so gebieterisch und doch verlockend war. Oder vielleicht war es auch nur die Idee, ein Abenteuer zu erleben. Vielleicht waren es auch nur seine wilden Locken.

Nachdem ich zugestimmt hatte, überflutete mich ein berauschendes Gefühl, aber noch bevor ich es ganz auskosten konnte, griff Lior nach meiner Hand und zog so fest daran, dass er mir fast den Arm auskugelte. Obwohl ich größer war, war Lior viel stärker als ich.

»Wir müssen jetzt gehen. Jetzt sofort, Fela«, sagte Lior und biss sich mit einem seiner letzten Milchzähne auf die Unterlippe. Er gab das Tempo vor, mit dem wir losrannten, und alle zwei Sekunden sagte er: »Beeil dich. Nu. Beeil dich.«

Nu war mein hebräisches Lieblingswort geworden, weil es nicht wirklich ein Wort war, aber Dinge mit viel größerer Klarheit ausdrückte, als ein anderes Wort es je gekonnt hätte. Nu hat nichts Zweideutiges, es ist der Laut, den man macht, um jemanden anzutreiben, wenn man versucht, einen anderen dazu zu bringen, sich zu beeilen, wenn man nicht geduldig warten kann. Es ist ein Laut, den meine Mutter absolut hasste, ein Laut, den mein Vater in seinem Vokabular schmerzlich vermisste, bis wir nach Israel zogen. Und ich gebrauchte ihn dauernd im ersten Jahr meines Lebens in Israel.

Unsere Schule war ein flaches einstöckiges Gebäude, in der Form eines »L« gebaut. Der vordere Hof war von einem gepflegten grünen Rasen umgeben, und der Hof dahinter war geteilt in den Bereich hinter dem kurzen Teil des Ls, wo es einen Fahrradständer gab, mehrere Rutschen und ein paar Lastwagenreifen, auf die man klettern konnte, und den Bereich hinter dem langen Teil des Ls, wo der feste braune Boden an wenigen Stellen von vereinzelten Pflanzen bedeckt war – verschiedene Stauden und Holzgewächse, die scharfe Dornen hatten, überwucherte und ausgetrocknete Büsche und ein paar wilde Pinien mit scharfen Nadeln. Dorthin nahm mich Lior an jenem Tag mit – zum Zaun hinter dem Hinterhof, ganz am Ende des Schulgeländes.

Lior zog mich die ganze Zeit an der Hand, bis wir das Schultor erreichten, das wie der Zaun, der die Schule umgab, jedes Jahr zu Schulbeginn in einer anderen Farbe gestrichen wurde – was ich erst während meiner späteren Schuljahre bemerkte. Gelb, rot, pink, grün – in meiner Schulzeit sah ich einen ganzen Regenbogen vorbeiziehen.

Am Schultor angekommen, knieten Lior und ich uns hin, lehnten uns mit dem Rücken gegen die hellblauen Metallstangen und starrten in die Sonne. Meine Hände hielten den Zaun hinter mir fest, seine lagen flach auf dem Boden. Von der Seite betrachtet, sahen wir zwei aus wie Heuschrecken.

»Was machen wir jetzt?«, fragte ich, bereit für den nächsten Teil unseres Abenteuers.

Meine Frage blieb unbeantwortet. Ich wartete, und Lior dachte nach, dann sagte er schließlich: »Ich weiß nicht.«

»Aber es war doch deine Idee.«

»Ja und?«

»Also ...?«, sagte ich und versuchte, nach einem Argument zu suchen. »Nu. Also ...?«

Für Lior war das Weglaufen, der Adrenalinstoß des Abhauens, genug. Was danach passierte, war weniger wichtig. Ich glaube, mir war das Wegsein wichtiger. Selbst wenn auch ich den Adrenalinstoß genoss, dachte ich, dass das eigentliche Abenteuer erst später anfinge – dass das Abhauen nur Mittel zum Zweck war, zu einem Zweck, den ich nicht kannte.

»Wie heißt du in echt?«

»Was meinst du?«

»Fela ist kein richtiger Name.«

Ich zog meine Füße unter mir durch nach vorne, drückte die Knie durch und streckte meine Beine auf dem Boden aus.

»Ist es wohl.«

»Das kann nicht sein.«

»Warum nicht?«

»Weil ich ihn noch nie gehört habe.«

»Ich habe den Namen Lior auch noch nie gehört, heißt das also, du hast keinen richtigen Namen?«

»Sei nicht so doof. Natürlich ist Lior ein richtiger Name. Das weiß doch jeder.«

Ich sah auf den Boden und dachte über meinen Namen nach. Ich spürte meine Knochen, wie Pflöcke, die in den ausgetrockneten Boden getrieben waren, und ich erwähnte nicht, dass ich nach meiner Großtante hieß. Stattdessen wiederholte ich etwas, das ich einmal meine Mutter hatte sagen hören, »sein Ursprung bedeutet Glück«, erklärte ich.

»Okaaay«, sagte er kompromissbereit. »Und was ist dein zweiter Name?«

»Ich habe keinen zweiten Namen«, antwortete ich und sah Lior nicht an.

»Trotzdem ist es kein richtiger ...«

»Was ist mit ...«

»Name.«