Herzbergs Experiment - Rüdiger Schneider - E-Book

Herzbergs Experiment E-Book

Rüdiger Schneider

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Beschreibung

Chirurg Niko Herzberg hält das Herz für ein rein reaktives Organ, das als operabler Muskel nur auf Sinneseindrücke des Sehens, Hörens, Fühlens und Denkens reagiert, aber über keine eigenständige Wahrnehmung verfügt. Bis ihn ein spanisches Experiment eines Besseren belehrt.

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Personen und Handlung sind frei erfunden, Ähnlichkeiten oder gar Übereinstimmungen mit Namen rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

1

Niko Herzberg betrachtete aus beruflichen Gründen das Herz wissenschaftlich. Es war ein Muskel, der an jeder Stelle operabel war. Es war, wenn auch kompliziert, schlicht eine Pumpe, die den Körper versorgte, am Leben, am Laufen hielt so wie der Motor das Auto. Es war austauschbar, so wie jede Maschine mit einem neuen Betriebssystem versehen werden konnte. Eingriffe aller Art, egal ob Bypässe oder der Ersatz von Klappen waren dank modernster vom Computer unterstützter Systeme möglich und für ihn zu einem raffinierten Spiel der Technik geworden, das er als Chirurg nach vielen Jahren der Erfahrung beherrschte. Das Herz verfügte nicht über eine eigene, selbstständige Wahrnehmung, sondern war schlicht ein reaktives Organ, das auf Sinneswahrnehmungen reagierte. Es reagierte auf das, was man sah, hörte, dachte, fühlte und reagierte dem entsprechend, indem es schneller oder langsamer schlug. Es konnte sich in freudiger Erregung melden, bei einem Schrecken in den Galopp verfallen oder bei einer mental gesteuerten Meditation sich beruhigen und in einen ruhigeren Takt kommen. Bei körperlicher Anstrengung, etwa beim Sport, war der Fall sowieso klar. Dann mussten Beine oder Arme stärker versorgt werden, die Pumpe also schneller arbeiten genau so wie bei einem Auto, wenn man Gas gab und der Motor aufheulte.

Was der Volksmund über das Herz verbreitete, tat Herzberg als esoterischen Humbug ab. Wenn Liebeskummer einem das Herz brach, war es nicht das Herz, das den Kummer als erstes spürte, sondern man erkannte die Verlassenheit und das Herz reagierte als Versorgungsmotor des Körpers. Ebenso, wenn einem das Herz in der ersten Verliebtheit brannte. Es brannte nicht, sondern reagierte schlicht auf den Ausstoß von Hormonen, so wie bei einem Druck auf das Gaspedal der Motor mit mehr Benzin oder Strom versorgt wurde. Ebenso konnte man nicht aus dem Herzen sprechen. Es war der Kopf, der die Gedanken formulierte, der Mund, der sie aussprach. Ein Herz, das sich verschließt, atmet nicht, hieß es auch. Unsinn. Die Lunge war da das zentrale Organ. Und Saint-Exupery’s Spruch aus der ‚Kleine Prinz‘ – „Man sieht nur mit dem Herzen gut!“ – war Gefühlsduselei. Das Herz selbst konnte nicht sehen. Es lag verschlossen im Brustkorb, war blind, der Reaktion auf Licht unfähig. Es war von den Gedanken gesteuert, von mentaler Empathie, wenn man etwas gesehen oder gehört hatte. Wahrscheinlich hatten all diese Geistesgrößen, egal ob Dichter oder Philosoph, das mit ihrer Hymne auf das Herz auch so gemeint. Egal, ob sie Shakespeare oder Goethe hießen oder wie Nietzsche behaupteten: „Mancher findet sein Herz nicht eher, als bis er seinen Kopf verliert.“ Ähnlich hatte sich auch der stets flüchtende Casanova geäußert: „Die Vernunft ist des Herzens größte Feindin!“

„Was für ein Blödsinn!“ dachte Herzberg. „Ohne Vernunft, Nachdenken, Können, Kunstfertigkeit geht gar nichts. Man stelle sich vor, ich verliere bei einer Operation am offenen Herzen meinen Verstand! Oder ein Pilot vernachlässigt bei einem nächtlichen Flug die Instrumente, weil er sich dem Liebestaumel mit der Stewardess hingegeben hat! Eine Katastrophe, wenn man so denkt wie Nietzsche oder Casanova!“

Etwas nüchterner hatte es Napoleon gesehen. „Eine schöne Frau gefällt den Augen, eine gute dem Herzen.“ Ob der Franzose danach gehandelt hatte? Wohl kaum. Der ließ sich doch eher von der eigenen Lust und der Freude an der Schönheit leiten. Eine Schöne und zugleich Gute wäre das Optimale. Da hätte das Herz gehüpft, während es bei einer Hässlichen, egal zu welchen Wohltaten sie fähig war, geschwiegen hätte. Schön reden konnten sie. Dichter, Denker, eroberungswillige Tyrannen. Aber die Welt des Herzens war eben anders. Sie gehörte dem Skalpell, dem Computer, der HLM, der Herz-Lungen-Maschine, den Röntgenstrahlen und dem Bildschirm, dem Können, der Kunstfertigkeit des Chirurgen. Alles andere war nach Herzbergs Überzeugung sentimentaler Unsinn, eine Irreführung der Wissenschaft. Man sah nicht mit dem Herzen gut, sondern mit den Augen und dem Skalpell in der Hand. Ganz so radikal, einseitig war Herzbergs Einstellung natürlich nicht. Herzfehler hatten Ursachen. Operativ waren sie zunächst zu beheben. Für die tiefer liegenden Ursachen waren indes andere zuständig. Psychologen, Psychotherapeuten, Heilpraktikerinnen, Ernährungsberaterinnen, vielleicht auch der Pfarrer von nebenan. Er, Herzberg, war dazu berufen einen Muskel zu reparieren oder auszutauschen, Leben zu retten. Dass das Herz nicht über eigene Wahrnehmungen verfügte wie etwa die Augen, sondern nur reagierte, schien ihm sonnenklar. Der Grund für den Aberglauben des Volksmunds lag auf der Hand. Das Herz war das einzige sich bewegende Organ im Körper, schien ein eigenständiges Leben zu haben.

2

Mit vollem Vornamen hieß Herzberg ‚Nikolai‘. Diesen Namen hatte er seiner Mutter zu verdanken. Die war Pianistin im Kölner Symphonieorchester gewesen und verehrte den russischen Komponisten Nikolai Rimsky-Korsakoff. Sein berühmtestes Stück ‚Scheherazade‘ hörte man im Hause Herzberg bis zum Überdruss. Daran und wohl auch an dem ewigen Pianogeklimper mochte es gelegen haben, dass Nikos Vater oft abwesend war und sich lieber anderswo aufhielt. Dieser andere Ort war das Kölner Kulturkino ‚Lupe‘ in der Zülpicher Straße, wo er als Filmvorführer arbeitete und nach der Spätvorstellung immer zur Nachtzeit nach Hause kam. Als Niko alt genug war, saß er bei freiem Eintritt oft im Kino, sah sich Filme an, erlebte die Welt auf der Leinwand. Besonders imponierte ihm einmal ein Beitrag der vor den Filmen laufenden ‚Wochenschau‘. Da hatte im südafrikanischen Kapstadt ein Chirurg die erste Herzverpflanzung der Welt durchgeführt. „So etwas möchte ich auch können!“ dachte Niko. „Medizin, das ist beruflich das Richtige. Medizin auf höchstem Niveau.“ Da es damals für dieses Studium noch keinen Numerus Clausus gab, man sich für das Abitur also nicht besonders anstrengen musste, um einen guten Notendurchschnitt zu bekommen, achtete er nur auf die naturwissenschaftlichen Fächer, auf die Biologie, Physik, Chemie und auch die Mathematik. Hier brachte er es zu sehr guten Leistungen, während er die anderen Fächer bis auf Englisch und Französisch schleifen ließ. Sprachen musste man schließlich für eine gewisse Weltläufigkeit können. In Kunst, Musik und Deutsch reichte es gerade für ein ‚ausreichend‘. Ebenso im Sport, weil er Turnen für albern hielt. Immerhin war es ein ‚ausreichend‘. Im Fach ‚Religion‘ dagegen erschien als Makel ein ‚mangelhaft‘ auf dem Zeugnis, weil er den lieben Gott noch nie gesehen und dem Dogma von der unbefleckten Empfängnis vehement widersprochen hatte. Das hatte den Lehrer, der auch als Geistlicher, als Seelsorger arbeitete, gekränkt und zu dieser vernichtenden Note geführt. Das ‚mangelhaft‘ in Religion war jedoch nicht unberechtigt, da sich Niko nicht an den unterrichtlichen Diskussionen beteiligte, sondern lieber unter der Schulbank das Periodensystem der Elemente auswendig lernte. Dabei war er erwischt und für einige Zeit vom Religionsunterricht ausgeschlossen worden. An die Eltern erging eine Mitteilung, ein ‚blauer Brief‘. Der Mutter war es egal, dem Vater auch. Der hatte nur bemerkt:

„Den lieben Gott gibt es nur auf der Leinwand. Bei diesem katholischen Kino musst du nicht mitmachen.“

Er war also in einem liberalen Kölner Elternhaus aufgewachsen, fühlte sich schon frühzeitig zur Medizin berufen, erledigte das Studium mit Bravour, brachte es sogar zu einem Professorentitel. Von Frauen hielt er sich bis zu seinem 35. Lebensjahr fern, betrachtete sie als gefährlich für sein berufliches Fortkommen. Versagte er sich der weiblichen Welt, was er als Einsicht und Vernunft bezeichnete, so ging es mit seiner Karriere als Herzchirurg glanzvoll in die Höhe. Für komplizierte Operationen verlangte man nach dem Professor Herzberg, flog ihn sogar mit dem Hubschrauber zu den verschiedensten Kliniken in Deutschland, und bald war es so weit, dass er mit dem Kern seines Teams, wenn der Scheich nicht transportfähig war, in die Vereinigten Arabischen Emirate, nach Dubai, Abu Dhabi zu Operationen eingeladen wurde und bald folgten auch die Königreiche Bahrein und Saudi Arabien.

Seinem Konto wie auch seinem Ego taten diese Einladungen gut. Er pflegte einen einfachen Lebensstil, trank und rauchte nicht, achtete auf eine gesunde Ernährung, hielt sich fit mit Tennisspielen, wohnte in Köln zur Miete in einer einfachen Zweizimmerwohnung, deren besondere Auffälligkeit das Schlafzimmer war. Hier war an der Tür ein großes, goldenes Schild angebracht, auf dem ‚Cinema‘ stand. In der Tat hing an der Wand gegenüber dem Doppelbett ein riesiger Bildschirm, auf dem sich Herzberg, hatte er einmal Zeit dazu, Filme ansah. Es war eine Erinnerung an seine Jugend, als er oft in der ‚Lupe‘ saß und die Welt auf der Leinwand an sich vorüberziehen ließ. Hatte er, was allerdings selten geschah, Damenbesuch und die Dame wunderte sich über das Schild an der Tür, so sagte er nur lakonisch: „Filme, Träume, Bewegungen.“

Und noch eine Besonderheit wollen wir nicht verschweigen. Am Heiligen Abend ließ er auf der Rheinwiese ein Partyzelt aufbauen, stattete es mit Tischen und Stühlen aus, ließ es heizen und bewirtete dort Obdachlose. Neben einer opulenten Mahlzeit wurden auch Getränke gereicht. Bier, Sekt, Wodka.

„Ich weiß“, meinte Herzberg dazu, „das Gesundheitsamt hat etwas dagegen. Das Christkind hat Muttermilch getrunken. Aber das ist nichts für euch.“

Für sich selbst leistete er sich nur den Luxus, in Spanien, in der Gegend von Malaga, an der Costa del Sol in einem am Strand gelegenen Wohnblock eine Wohnung zu kaufen. Hier war er allerdings selten, da ihm sein Beruf kaum Zeit ließ. Am Herzen litten viele, kamen aus aller Herren Länder, vor allem die