Herzdame - Georgette Heyer - E-Book

Herzdame E-Book

Georgette Heyer

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Beschreibung

Bath, 1818. Annis Wychwood ist bildschön, finanziell unabhängig und genießt ihr Leben in vollen Zügen. Aber sie ist bereits 29 Jahre alt, und böse Zungen in der High Society behaupten, dass sie in diesem fortgeschrittenen Alter wohl kaum noch einen Mann abbekommen wird. Als Annis sich der jungen Ausreißerin Lucilla annimmt, reagiert die feine Gesellschaft schockiert - zumal Lucillas Vormund ausgerechnet der als Wüstling berüchtigte Junggeselle Oliver Carlton ist. Annis entwickelt sofort eine heftige Abneigung gegen diesen unausstehlichen Mann. Doch sie muss zugeben: Noch nie konnte sie mit jemandem so herrlich streiten ...

In "Herzdame" (im Original: "Lady of Quality”) entführt Georgette Heyer ihre Fans in eine Welt voller eleganter Bälle, Teegesellschaften und zärtlicher Rendezvous. Jetzt als eBook bei beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.

"In diesem wundervollen Roman von Georgette Heyer richtet sich das Augenmerk auf die Herzdame und ihren charmanten Wüstling. Die geneigte Leserin wird nicht enttäuscht, denn Miss Heyer ist in Hochform ... ‚Herzdame‘ ist eine bezaubernd romantische und amüsante Regency Liebesgeschichte." - Publishers Weekly



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Seitenzahl: 473

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Über dieses Buch

Bath, 1818. Annis Wychwood ist bildschön, finanziell unabhängig und genießt ihr Leben in vollen Zügen. Aber sie ist bereits 29 Jahre alt, und böse Zungen in der High Society behaupten, dass sie in diesem fortgeschrittenen Alter wohl kaum noch einen Mann abbekommen wird. Als Annis sich der jungen Ausreißerin Lucilla annimmt, reagiert die feine Gesellschaft schockiert – zumal Lucillas Vormund ausgerechnet der als Wüstling berüchtigte Junggeselle Oliver Carlton ist. Annis entwickelt sofort eine heftige Abneigung gegen diesen unausstehlichen Mann. Doch sie muss zugeben: Noch nie konnte sie mit jemandem so herrlich streiten …

Über die Autorin

Georgette Heyer, geboren am 16. August 1902, schrieb mit siebzehn Jahren ihren ersten Roman, der zwei Jahre später veröffentlicht wurde. Seit dieser Zeit hat sie eine lange Reihe charmant unterhaltender Bücher verfasst, die weit über die Grenzen Englands hinaus Widerhall fanden. Sie starb am 5. Juli 1974 in London.

Georgette Heyer

Herzdame

Aus dem Englischen von Hanna Lux

beHEARTBEAT

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Copyright © Georgette Heyer, 1972

Die Originalausgabe LADY OF QUALITY erschien 1972 bei The Bodley Head.

Copyright der deutschen Erstausgabe:

© Paul Zsolnay Verlag GmbH, Hamburg/Wien, 1973.

Lektorat/Projektmanagement: Kathrin Kummer

Covergestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de unter Verwendung von Motiven © Richard Jenkins

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar

ISBN 978-3-7325-7330-1

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Kapitel I

Die elegante Reisekutsche, die Miss Wychwood von ihrem Geburtsort an der Grenze zwischen Somerset und Wiltshire zu ihrem Haus in Bath brachte, schaukelte so gemächlich dahin, wie es dem Geschmack ihres Kutschers entsprach, eines bereits angegrauten Autokraten, der sie schon seit dem Tag ihrer Geburt kannte, und das war jetzt fast dreißig Jahre her. Er ließ die Pferde in dem Tempo traben, das ihm angemessen erschien, und hatte für all ihre Bitten, »doch ein bisschen flotter zu fahren«, nur taube Ohren. Wenn sie schon nicht wusste, was sich für eine Miss Wychwood von Twynham Park schickte, gottlob, er wusste es. Und wenn sie auch ein ziemlich reifes Mädchen war – eigentlich bereits ein Ladenhüter, obwohl es ihm natürlich nicht im Traum eingefallen wäre, sie je so zu nennen (dem Stalljungen, der diese Unverschämtheit besessen hatte, hatte er eine schallende Ohrfeige versetzt und ihn dann hinausgeworfen) –, wusste er doch sehr gut, welchen Reisestil sein seliger Herr für seine einzige Tochter bevorzugt hätte. Und er konnte sich auch durchaus Sir Thomas’ Gefühle vorstellen, wenn dieser erfahren hätte, dass Miss Wychwood sich nur ein paar Monate nach seinem Tod mit einer schielenden alten Jungfer als Anstandsdame in Bath etablieren würde. Ein zaundürres Geschöpf, diese Miss Farlow; sie besaß eindeutig mehr Ähnlichkeit mit einem gehäuteten Kaninchen als mit einem weiblichen Wesen. Und erst ihr Mundwerk! Der reinste Leierkasten. Ein Wunder, dass Miss Wychwood ihr Geschnatter ertragen konnte, noch dazu, wo sie es weiß Gott nicht nötig hatte, sich diese Last aufzubürden.

Miss Farlow saß neben Miss Wychwood in der Kutsche und bemühte sich, ihr die langweilige Reise mit unaufhaltsam dahinplätscherndem Geplapper zu verkürzen. Sie war unbestimmten Alters, aber es schien doch sehr unliebenswürdig, sie als alte Jungfer zu bezeichnen, und wenn sie auch zweifellos sehr dünn war, tat man ihr dennoch Unrecht, sie mit einem gehäuteten Kaninchen zu vergleichen. Sie war eine entfernte, von einem leichtsinnigen Vater in ärmlichen Verhältnissen zurückgelassene Verwandte Miss Wychwoods. Als eines Tages Sir Geoffrey Wychwood bei Miss Farlow aufgetaucht war und ihr andeutete, dass sie die überraschende Ehre seines Besuches in erster Linie seinem dringenden Wunsch verdankte, ihre Dienste als Sittenwächterin für seine Schwester zu beanspruchen, hatte sie in ihm, der höchst unromantisch zur Fülle neigte, einen Paladin gesehen, den ihr ein gütiges Schicksal sandte, um sie von einer trostlosen Behausung, magerer Kost und der dauernden Angst vor dem Schuldturm zu erlösen. Miss Farlow ahnte ja nicht, dass ihr zukünftiger Schützling sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hatte, sich in jegliche, wie auch immer geartete weibliche Obhut zu begeben. Doch als sie sich – nervös ihr altmodisches Retikül umklammernd und so rührend bemüht, zu gefallen – in Twynham Park einfand und aus verschreckten Augen flehend zu Miss Wychwood emporstarrte, siegte Miss Wychwoods weiches Herz sofort über ihren Unabhängigkeitsdrang, und die Dame hatte nur noch den einen Wunsch, die arme kleine Kreatur willkommen zu heißen. Lady Wychwood, die sich die zimperliche Miss Farlow beim besten Willen nicht als Gesellschafterin für ihre temperamentvolle Schwägerin vorstellen konnte, bat diese bei der ersten Gelegenheit, Miss Farlows Dienste keinesfalls anzunehmen, ohne sich die Sache vorher nochmals gründlich zu überlegen. »Ich fürchte nämlich, Liebste, sie wird dir grässlich auf die Nerven fallen«, meinte sie ernst.

»Ja, ja, höchstwahrscheinlich, aber auch nicht mehr als jede andere Anstandsdame«, meinte Annis achselzuckend. »Wenn ich schon unbedingt eine haben muss – was ich, nebenbei bemerkt, in meinem Alter völlig überflüssig finde –, kann ich genauso gut dieses arme kleine Mäuschen nehmen. Wenigstens wird sie nicht versuchen, in meinem Haus das Zepter zu schwingen oder mich zu tyrannisieren! Und wenn du’s genau wissen willst – sie tut mir leid!« Sie kicherte plötzlich, als sie einen zweifelnden Blick aus Lady Wychwoods sanften blauen Augen auffing. »Ah, du fürchtest wohl, dass sie überhaupt keine Autorität auf mich ausüben wird! Da hast du nur zu Recht. Aber wie du weißt, würde das auch sonst kaum jemandem gelingen.«

»Aber, Annis, Geoffrey sagt –«

»Ich weiß genau, was Geoffrey sagt«, fiel ihr Annis ins Wort. »Die letzten zwanzig Jahre über habe ich immer gewusst, was er sagen wird, und meiner Ansicht nach ist er eine viel schlimmere Nervensäge als diese bedauernswerte Maria Farlow. Nein, nein, bemüh dich nicht, ein schockiertes Gesicht zu machen! Ich glaube, niemand weiß besser als du, dass mein verehrter Bruder und ich einfach nicht miteinander auskommen können. Bis jetzt waren wir nur ein einziges Mal einer Meinung, und zwar, als er mir versicherte, dass ich seine Frau bestimmt sofort liebgewinnen würde.«

»Annis, bitte!«, protestierte Lady Wychwood und wandte errötend den Kopf ab. »So etwas darfst du nicht sagen! Außerdem kann ich nicht glauben, dass du wirklich nicht bei mir bleiben willst!«

»Unsinn!«, rief Annis. Ihre Augen funkelten belustigt. »Ich könnte bis ans Ende meiner Tage glücklich und zufrieden mit dir leben, und das weißt du auch. Es ist dein hochverehrter, stocksteifer und überheblicher Herr Gemahl, mit dem ich weder leben kann noch will. Ist das nicht abscheulich von mir?«

»Ach, es ist zu traurig!«, jammerte Ihre Ladyschaft.

»Aber nein, warum denn? Du hättest allen Grund zur Klage, wenn ich bleiben würde, denn du musst doch zugeben, dass es hier viel friedlicher sein wird, wenn ich Geoffrey nicht ein dutzendmal am Tag auf die Palme bringe!«

Lady Wychwood bestritt das nicht, sondern seufzte: »Aber du bist viel zu jung, um ein eigenes Haus zu führen, Liebste! In diesem Punkt stimme ich mit Geoffrey völlig überein!«

»Du stimmst immer mit ihm überein, Amabel. Wirklich, du bist die ideale Frau für ihn«, bemerkte Annis schalkhaft.

»Davon kann ganz gewiss nicht die Rede sein, obwohl ich mir natürlich alle Mühe gebe. Und was das Übereinstimmen betrifft – die Männer sind uns an Intelligenz doch so unendlich überlegen, und sie können viele – viele praktische Angelegenheiten doch weit besser beurteilen – findest du nicht?«

»Nein, absolut nicht!«

»Aber Geoffrey hat doch sicher Recht, wenn er sagt, dass es einen sehr seltsamen Eindruck machen wird, wenn du ganz allein in Bath lebst!«

»Wieso denn allein? Maria Farlow wird mir doch Gesellschaft leisten!«

»Annis, ich kann mich einfach nicht zu der Überzeugung durchringen, dass sie die Richtige für dich ist!«

»Nein, aber das ist ja gerade das Lustige daran – Geoffrey hat sie ausgesucht und mir aufgezwungen. Jetzt wird er natürlich nie zugeben, dass er sich geirrt haben könnte. Verlass dich drauf, bald entdeckt er an ihr sogar alle möglichen Vorzüge. Er wird dir einreden, dass ihre sanfte Art einen überaus guten Einfluss auf mich ausüben könnte.«

Als ihr einfiel, dass Sir Geoffrey schon so etwas Ähnliches geäußert hatte, entschlüpfte Lady Wychwood unwillkürlich ein Glucksen. Trotzdem erwiderte sie kopfschüttelnd: »Du kannst es dir erlauben, das alles auf die leichte Schulter zu nehmen. Aber für Geoffrey und mich wird es gar nicht lustig sein, wenn die Leute denken, dass du dein Zuhause verlassen hast, weil wir dich schlecht behandelt haben.«

»Meine Liebe, kein Mensch wird so etwas denken, wenn sich erst herumspricht, dass wir nach wie vor die besten Freunde sind. Ich hoffe doch, du hast nicht vor, von nun an keinen Umgang mehr mit mir zu pflegen! Selbstverständlich musst du mich so oft wie möglich in Camden Place besuchen. Ich möchte dich auch gleich seelisch darauf vorbereiten, dass Twynham für mich immer ein zweites Zuhause bleiben wird und dass ich vorhabe, mich hier öfter mal ganz zwanglos für längere Zeit einzuquartieren. Warte nur ab, du wirst mich noch zum Teufel wünschen!« Als sie Lady Wychwoods noch immer recht betrübte Miene sah, setzte sie sich neben sie und ergriff ihre Hand. »Versuch doch, mich zu verstehen, Amabel! Wenn ich mich von euch trenne, ist es nicht nur, weil Geoffrey und ich uns andauernd zanken. Ich will – ich will eben mein eigenes Leben führen!«

»Oh, das verstehe ich«, sagte Lady Wychwood voll Mitgefühl. »Schon als wir uns das erste Mal begegneten, dachte ich mir, was es doch für ein Jammer ist, dass ein so hübsches Mädchen wie du seine Jugend hier vergeudet! Wenn du doch nur Lord Beckenham erhören wolltest oder Mr. Kilbride – nein, den erhörst du vielleicht besser nicht. Geoffrey sagt, er ist ein Filou und ein Spieler, und ich glaube, so etwas kommt für dich nicht infrage, obwohl ich zugeben muss, dass ich ihn hinreißend charmant finde. Aber wenn du dich schon nicht für Beckenham erwärmen kannst, was hast du dann am jungen Gaydon auszusetzen? Oder –«

»Hör auf, hör auf, um Himmels willen!«, rief Annis lachend. »Ich habe an all meinen Verehrern nicht das Geringste auszusetzen. Nur regt sich in mir leider nicht der leiseste Wunsch, einen von ihnen zu heiraten. Ehrlich gesagt – ich möchte überhaupt nicht heiraten.«

»Aber Annis, für jede Frau ist die Ehe doch das Erstrebenswerteste, das es gibt!«, erklärte Lady Wychwood entsetzt.

»Na, ich höre ja geradezu schon, was die Leute sagen, wenn ich in meinem eigenen Haus lebe statt in Twynham!«, rief ihre Schwägerin. »Sie werden mich für ein exzentrisches Frauenzimmer halten! Zehn zu eins, dass ich eine Sehenswürdigkeit von Bath werde wie der alte General Preston oder diese Witzfigur, die noch in Reifrock und Federn umherspaziert! Gott, werde ich Aufsehen erregen –«

»Wenn du nicht aufhörst, solchen Unsinn zu reden, führst du mich wirklich in Versuchung, dir einen Klaps zu geben!«, unterbrach Lady Wychwood sie energisch. »Ich zweifle nicht daran, dass du Aufsehen erregen wirst, aber niemand wird von dir behaupten, dass du ein exzentrisches Frauenzimmer bist!«

Am Ende sollten beide Recht behalten. Da Annis in Bath selbst Bekannte und in der Umgebung etliche gute Freunde hatte, die sie häufig besuchte, kam sie nicht als Fremde in die Stadt. Man fand es zwar ein wenig außergewöhnlich von ihr, den Schutz ihres Bruders zu verlassen, aber sie war allgemein als eine sehr selbstständige junge Dame bekannt, und da sie schon lange kein Nesthäkchen mehr war, fanden nur ganz und gar verknöcherte Moralapostel an ihrem Verhalten etwas auszusetzen. Sie verfügte über ein mehr als ausreichendes Auskommen, und man durfte sich daher nicht wundern, dass sie diesen Vorteil nutzte. Das einzige, was vielleicht Anlass zu Erstaunen gab, war der Umstand, dass sie nicht gleich während ihrer ersten Londoner Saison von einem der vielen Gentlemen eingefangen worden war, die nach einer ebenso vornehmen und schönen wie reichen Braut suchten.

Niemand wusste genau über das Ausmaß von Miss Wychwoods Vermögen Bescheid, aber offenbar war es beträchtlich, denn Twynham Park befand sich seit Generationen im Besitz ihrer Familie. Dazu kam noch ihre bemerkenswerte Schönheit. Es gab zwar einige, die fanden, sie sei zu hochgewachsen, und andere wieder bevorzugten Brünette; aber diese Kritiker waren in der Minderheit. Ihre Bewunderer – und sie hatte eine Menge – sahen in ihr ein Meisterwerk der Schöpfung, vollkommen von den goldblonden Locken bis zu den Spitzen ihrer Füßchen. Und das Bezauberndste an Annis waren die tiefblauen, strahlenden Augen, von denen ein betörter Verehrer einmal in einer poetischen Anwandlung gesagt hatte, ihr Glanz ließe die Sterne vor Neid erblassen. Es waren fröhliche Augen, über denen sich feine, zartgeschwungene Brauen wölbten. Die vollen Lippen schienen zum Lachen wie geschaffen. Darüber hinaus hatte sie eine elegante Figur, sie bewegte sich anmutig, kleidete sich mit erlesenem Geschmack und besaß ein so liebenswürdiges Wesen, dass sich sogar eine so notorische Nörglerin wie die alte Mrs. Mandeville zu der Bemerkung hatte hinreißen lassen: »Wirklich, ein reizendes Geschöpf! Endlich einmal keine affektierte Gans! Ich kann einfach nicht begreifen, warum sie noch nicht verheiratet ist!«

Alle, die ihren Vater gekannt hatten, wussten, wie vernarrt er in sie gewesen war, und nahmen daher an, sie hätte deswegen sämtliche Anträge abgelehnt. Die Neunmalklugen meinten jedoch, sie sei noch aus einem anderen Grund nach seinem Tod nach Bath gezogen: Sie wolle nun endlich doch heiraten, und wie sollte sie in der Abgeschiedenheit des Landsitzes einen passenden Gentleman kennenlernen? Nur eine Dame ließ empört verlauten, sie fände ein solches Benehmen höchst unschicklich. Da sie aber bekannt war für ihre Gehässigkeit und selbst zwei ziemlich unansehnliche Töchter im heiratsfähigen Alter hatte, blieb ihre Entrüstung unbeachtet. Zudem lebte Miss Wychwood in Gesellschaft einer älteren Cousine, und besser konnte sie den Anstand wohl kaum wahren.

So kam es, dass Sir Geoffrey ebenfalls Recht behielt und bald in der Lage war, sich mit seiner Weisheit zu brüsten. Er begann schon nach kurzer Zeit, an der neuen Situation Geschmack zu finden, vor allem, weil er sich jetzt mit seiner Schwester so gut vertrug wie nie zuvor. Was Miss Farlow betraf, so hatte sie weder jemals ein so glückliches Dasein geführt noch so viel Bequemlichkeit genossen, ein Umstand, der sie zu dem Gedanken bewog, sie könnte ihrer süßen Annis gar nicht dankbar genug sein: Denn diese zahlte ihr nicht nur ein äußerst großzügiges Gehalt, sondern überschüttete sie außerdem mit jedem nur erdenklichen Luxus: angefangen von einem behaglichen Kaminfeuer im Schlafzimmer bis zu dem Recht, sich jederzeit der Kutsche zu bedienen, falls sie beabsichtigte, sich etwas weiter vom Haus zu entfernen. Das hieß aber nicht, dass Miss Farlow diese Erlaubnis je in Anspruch nahm, denn das hätte in ihren Augen einen schändlichen Missbrauch der ihr erwiesenen Güte bedeutet. Unglücklicherweise trieb sie mit ihrer überströmenden Dankbarkeit Miss Wychwood an den Rand der Verzweiflung. In zärtlicher Besorgnis schwirrte sie dauernd um Annis herum, stets bereit, ihr (sehr zum Missfallen der eifersüchtigen Miss Jurby, der treu ergebenen Zofe) einen völlig überflüssigen Liebesdienst zu erweisen und ihre Wohltäterin mit einem unerschöpflichen Schwall dessen, was Annis Mühlengeklapper nannte, zu unterhalten.

So plauderte sie auch dahin, als sie von Twynham Park zurück nach Bath reisten, wobei sie Miss Wychwoods einsilbige Antworten weder störten noch auf die Idee brachten, ihr munteres Geplapper einzustellen. Im Gegenteil, als sie sah, dass ihre geliebte Cousine ein wenig niedergeschlagen wirkte, strengte sie sich noch mehr an, denn sie hielt es für ihre Pflicht, ihr die trüben Gedanken zu zerstreuen. Sicher hatte sie der Abschied von Twynham so traurig gestimmt. Miss Farlow konnte das gut verstehen, denn sie war selbst ein bisschen bedrückt: Die Woche, die sie dort verbracht hatten, war allzu schön gewesen.

»Ach ja, Lady Wychwood ist wirklich ganz bezaubernd!«, seufzte sie. »Es fällt einem richtig schwer, sich von ihr zu trennen, auch wenn es zu Hause am schönsten ist, nicht? Umso mehr sollten wir uns jetzt schon auf Ostern freuen, wenn sie uns alle in Camden Place besuchen. Dann werden wir von den süßen Kinderchen gar nicht genug bekommen können, nicht wahr, Annis?«

»Ich bin mir da nicht so sicher«, antwortete Annis mit einem flüchtigen Lächeln. »Und das gilt vermutlich auch für Jurby«, fügte sie hinzu, indem sie ihrer Zofe zuzwinkerte, die ihr mit der Schmuckschatulle auf den knochigen Knien gegenübersaß. »Bei seinem letzten Zusammentreffen mit Jurby ist der kleine Tom nämlich nur um Haaresbreite einem recht ungnädigen Schicksal entronnen. Ja, ich bin sogar überzeugt, wenn ich nicht zufällig im richtigen Augenblick ins Zimmer gekommen wäre, hätte sie ihm eine – übrigens wohlverdiente – Tracht Prügel verabreicht. Stimmt’s, Jurby?«

»Die Versuchung war allerdings groß, Miss Annis«, erwiderte ihre Zofe mit frommem Augenaufschlag. »Aber Gott gab mir die Kraft, den Einflüsterungen des Bösen zu widerstehen.«

»Ach nein, was du nicht sagst! Gott hat dir also die Kraft gegeben?«, fragte Annis neckend. »Und ich habe gedacht, mein Eingreifen hätte das Ärgste verhindert!«

»Der arme kleine Kerl!«, meinte Miss Farlow mitleidig. »Er ist so temperamentvoll! Und was er für drollige Sachen sagt! Ich habe wirklich noch nie ein so intelligentes Kind gesehen! Und erst deine süße kleine Patentochter, Annis!«

»Ich fürchte, es wird dir nicht gelingen, mich für diese Hosenmätze zu begeistern«, sagte Annis entschuldigend. »Wahrscheinlich werden die beiden recht nette Kerle sein, wenn sie einmal älter sind, aber mittlerweile muss ich es schon ihrer Mutter und dir überlassen, für sie zu schwärmen.«

Miss Farlow schloss aus dieser Bemerkung, dass ihre geliebte Annis an Kopfschmerzen litt, denn das war die einzig mögliche Erklärung für ihren Mangel an Entzücken über die Sprösslinge ihres Bruders. »Um Himmels willen«, rief sie, »warum lässt du mich denn reden und reden und sagst keinen Ton, dass du dich nicht wohl fühlst? Deine Geduld mit mir geht entschieden zu weit! Dabei gibt es nichts Strapaziöseres für die Nerven, als sich Kaminklatsch anhören zu müssen – Kamin trifft hier natürlich nicht zu, obwohl mich der heiße Ziegel unter meinen Füßen so wohlig warm hält. Es würde mich gar nicht überraschen, Liebste, wenn das Wetter an deinen Kopfschmerzen schuld wäre, denn bei kaltem Wind bekomme ich auch meist Muskelzucken, und heute bläst er besonders scharf – nicht, dass wir es hier in der Kutsche spüren, nein, nein, sie ist bestimmt das Bequemste, was man sich nur vorstellen kann, aber ein bisschen zieht es hier doch sicher auch, und du darfst nicht vergessen, dass du dich noch ein paar Minuten mit Sir Geoffrey im Freien unterhalten hast, bevor du eingestiegen bist. Damit hat das Übel gewiss angefangen! Ich hoffe, es wird gleich wieder besser, wenn du erst in deinem behaglichen Nestchen bist, und inzwischen werde ich brav still sein, damit ich dich nicht noch mehr quäle. Ist dir auch bestimmt nicht kalt? Hier, nimm zur Vorsicht lieber noch meinen Schal um den Kopf. Jurby kann ja deinen Hut halten, oder gib ihn vielleicht mir. Wo habe ich denn nur mein Riechsalz? Eigentlich sollte es in meinem Retikül sein, weil ich es immer einstecke, wenn wir verreisen, denn man weiß ja nie, ob man es nicht brauchen wird, nicht wahr? Aber anscheinend habe ich es diesmal – oh, nein, da ist es ja! Unter meinem Taschentuch, im allerletzten Winkel! Weiß der Himmel, wie es dorthin geraten ist, denn ich entsinne mich genau, dass ich es ganz zuoberst gelegt hatte, um es für alle Fälle griffbereit zu haben. Ich denke oft, wie unglaublich es doch ist, dass sich Dinge von selbst bewegen, aber sie tun es ganz unbestreitbar!«

In dieser Tonart ging es noch eine Zeitlang weiter. Als Annis Schal und Riechsalz ablehnte, bedauerte ihr besorgter Quälgeist, dass man nicht daran gedacht hatte, ein Kissen mitzunehmen, das man Annis nun unter den Kopf hätte schieben können, und dass es im Augenblick unmöglich war, ihr einen Heiltrank zu bereiten. In ihrer Verzweiflung schloss Annis die Augen, was Miss Jurbys Aufmerksamkeit nicht entging; aber erst als die redselige Miss Farlow von Miss Jurby ermahnt wurde, mäuschenstill zu sein, weil Miss Annis gerade im Begriff sei einzuschlummern, gab sie endlich Ruhe.

Annis hatte weder Kopfschmerzen noch bedrückte sie der Abschied von Twynham Park. Sie war einfach schlechter Laune. Vielleicht lag es am Wetter; die Zukunft erschien ihr plötzlich ebenso grau und trostlos wie der wolkenverhangene Himmel. Lady Wychwood hatte zwar versucht, sie zu überreden, ihren Besuch noch um ein paar Tage zu verlängern, und prophezeit, es würde schneien, aber Annis war nicht dazu zu bewegen gewesen, nicht einmal unter der Annahme, dass es wirklich Schnee geben sollte, was sie im Übrigen für höchst unwahrscheinlich hielt. Um seine Meinung befragt, hatte Sir Geoffrey erwidert: »Schnee? Pah! Unsinn, meine Liebe! Dazu ist es viel zu windig und vor allem nicht kalt genug. Wir würden uns natürlich freuen, wenn Annis noch ein Weilchen bliebe, aber wenn sie in Bath Verpflichtungen hat, dürfen wir sie nicht zurückhalten. Außerdem ist sie, falls es wirklich schneit, mit Twitcham am Kutschbock so sicher wie in Abrahams Schoß.«

So begab sich Annis schließlich, als ihre besorgte Schwägerin keine weiteren Einwände erhob, auf die Heimreise. Im Stillen dachte sie, dass sie es bei einem neuerlichen Wintereinbruch in ihrem eigenen Haus in Bath viel bequemer haben würde als in Twynham Park, das dann völlig von der Außenwelt abgeschnitten sein würde. Als sie zum Fenster hinausblickte, wirbelte weit und breit kein einziges Flöckchen nieder, aber auch kein einziger Sonnenstrahl brach durch die Wolkendecke, um den düsteren Anblick, den die morastige Landschaft bot, zu erhellen. Der scharfe Nordostwind trug auch nicht dazu bei, die Reise an diesem Märztag erträglicher zu gestalten. Miss Wychwoods Stimmung sank auf den Nullpunkt, und sie wurde erst aus ihren melancholischen Zukunftsbetrachtungen gerissen, als Miss Farlow etwa acht Meilen vor Bath plötzlich aufschrie: »Ach du lieber Gott, ist da ein Unfall passiert? Vielleicht sollten wir anhalten? Sieh doch mal, liebste Annis!«

Solcherart in ihren unerfreulichen Meditationen gestört, hob Miss Wychwood die schweren Lider. Sobald ihr Blick jedoch auf den Grund für Miss Farlows Aufregung fiel, zog sie sofort an der Signalschnur und sagte, als Twitcham daraufhin anhielt: »Die Ärmsten! Selbstverständlich müssen wir nachsehen, Maria! Wir können sie doch nicht in einer so schrecklichen Lage ohne Hilfe lassen!«

Während der Lakai vom Wagen sprang, um den Schlag zu öffnen und das Trittbrett herunterzuklappen, hatte sie Zeit, sich über das Missgeschick der beiden Reisenden näher zu informieren. Ein Gig, dem ein Rad fehlte, lag umgestürzt im Straßengraben, und daneben standen die zwei Unglücksraben: eine Dame, die sich frierend in ihren Mantel hüllte, und ein blonder junger Mann, der die Gelenke eines kleinen, gedrungenen Pferdes betastete, das er soeben ausgespannt hatte. Gerade als James, der Lakai, den Schlag von Miss Wychwoods Equipage aufriss, sagte der junge Mann: »Na, Gott sei Dank, wenigstens der alte Klepper da ist heil geblieben!«

Die Dame in seiner Begleitung, ein sehr junges und außerordentlich hübsches Mädchen, wie Miss Wychwood nun erkannte, erwiderte nicht ohne eine gewisse Schärfe: »Ich sehe keinen Anlass, dafür übertrieben dankbar zu sein!«

»Das glaube ich gern«, sagte der junge Mann. »Du brauchst ja auch nicht zu bezahlen, wenn –« In diesem Moment bemerkte er, dass die elegante Kutsche, die er vor ein paar Sekunden in der Wegbiegung auftauchen gesehen hatte, stehen geblieben war und dass sich eine bildschöne Dame anschickte, auszusteigen. Er rang nach Luft, zog seinen modischen Zylinder und stotterte: »Oh, ich habe nicht – ich meine, ich dachte nicht – das heißt –«

Miss Wychwood lachte und erlöste ihn aus seiner Verlegenheit, indem sie heiter fragte: »Haben Sie wirklich angenommen, jemand könnte so unerhört wenig Mitgefühl besitzen, nicht anzuhalten? Wenn ja, so trifft das auf mich keinesfalls zu, das versichere ich Ihnen! Mir ist nämlich einmal genau das gleiche passiert, und ich weiß also, wie hilflos man sich da fühlt! Und nun sagen Sie mir bitte, wie ich Ihnen bei diesem grässlichen Malheur behilflich sein kann.«

Das Mädchen musterte sie argwöhnisch und schwieg, aber der junge Mann erwiderte mit einer Verbeugung: »Tausend Dank für Ihre unendliche Güte, Madam! Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie bei der nächsten Poststation veranlassen könnten, dass man uns einen Wagen schickt, der uns nach Bath bringt. Ich bin fremd in dieser Gegend, und deshalb weiß ich nicht ... Und dann ist da noch das Pferd! Ich kann es wohl kaum hierlassen, nicht? Vielleicht ... Es widerstrebt mir nur so, Sie zu bitten, für uns einen Wagner zu suchen, obwohl ich der Meinung bin, dass wir einen Wagner im Moment am nötigsten brauchen!«

Daraufhin ließ sich zum ersten Mal seine Begleiterin vernehmen und erklärte, ein Wagner sei durchaus nicht das, was sie jetzt brauche. »Zehn zu eins, dass er überhaupt nicht kommt, und selbst wenn, habe ich noch nie von einem gehört, der ein Rad gleich auf der Straße ausbessert. Noch dazu eines mit zwei gebrochenen Speichen. Es würde Stunden dauern, bis wir endlich nach Bath kommen, und du weißt doch, wie wichtig es ist, dass ich Punkt fünf Uhr dort bin! Ich hätte mir ja denken können, was dabei herauskommt, wenn du dich in etwas einmischst, das ganz allein meine Angelegenheit ist, denn von allen Schafsköpfen, die ich je gekannt habe, bist du eindeutig der größte, Ninian!«, schloss sie empört.

»Darf ich dich daran erinnern, Lucy«, gab der junge Mann, bis an die Haarwurzeln errötend, zurück, »dass ich absolut nicht schuld an diesem Unfall bin! Und außerdem – wenn ich mich nicht in deine Angelegenheiten eingemischt hätte, wie du dich auszudrücken beliebst, säßest du jetzt meilenweit von Bath entfernt in einer schönen Patsche! Und wenn du schon von Schafsköpfen sprichst –!« Er beherrschte sich mit sichtlicher Mühe, biss die Zähne zusammen und endete mit eisiger Stimme, entschlossen, sich nicht vom Ärger übermannen zu lassen: »– Ich tu es jedenfalls nicht!«

»Ein lobenswerter Entschluss«, bemerkte Annis, die sich über diesen Wortwechsel köstlich amüsierte. »Bestimmt ist das nicht der richtige Zeitpunkt, sich gegenseitig an die Kehle zu fahren. Noch dazu, wo es für Sie so wichtig ist, vor fünf Uhr in Bath zu sein, nicht wahr, Miss –?«

Die Brauen fragend hochgezogen, machte sie eine erwartungsvolle Pause, doch die junge Dame schien keineswegs gewillt, das Gewünschte zu ergänzen. Nach sekundenlangem Zögern stammelte sie: »Wollen Sie mich bitte nur Lucilla nennen, Madam? Ich – ich habe sehr triftige Gründe, meinen Nachnamen lieber für mich zu behalten – für den Fall, dass sie mich suchen.«

»Sie?«, wiederholte Miss Wychwood verwundert, während sie sich insgeheim fragte, in welches Abenteuer sie da durch puren Zufall hineingestolpert war.

»Meine Tante und sein Vater«, sagte Lucilla mit einem Blick auf ihren Begleiter. »Und wahrscheinlich auch mein Onkel, wenn er sich überreden lässt, sich ausnahmsweise vom Fleck zu rühren«, fügte sie hinzu.

»Ach du lieber Gott!«, rief Miss Wychwood, deren Augen vergnügt zu funkeln begannen. »Ist es möglich, dass ich Beihilfe zu einer Entführung leiste?«

In dem Sturm der Entrüstung, mit dem die beiden diesen Verdacht zurückwiesen, gelang es Miss Wychwood nur unter Aufbietung aller Kräfte, nicht hellauf zu lachen. Sie bewahrte mühsam Haltung und sagte mit leicht zitternder Stimme: »Ich bitte vielmals um Verzeihung! Ich begreife gar nicht, wie ich eine so absurde Vermutung äußern konnte, wo ich doch gleich zu Beginn das Gefühl hatte, dass es sich hier natürlich nicht um eine Entführung handelt!«

Lucilla antwortete würdevoll: »Ich bin zwar kein Engel, Madam, und mein Benehmen ist vielleicht nicht sehr höflich, aber ich weiß sehr wohl, was sich schickt, egal, was meine Tante auch behaupten mag. Es gibt überhaupt nichts auf der Welt, das mich dazu bringen könnte, mit irgendjemandem durchzubrennen! Nicht einmal, wenn ich wahnsinnig verliebt wäre, was ich absolut nicht bin! Und schon gar nicht mit Ninian! Das wäre doch völlig idiotisch, weil –«

»Sei so gut und halt den Mund, Lucy!«, unterbrach sie Ninian, unverkennbar gereizt. »Du bist ja die reinste Plaudertasche, und sieh nur, was dabei herauskommt!« Dann wandte er sich an Annis und sagte steif: »Ich begreife durchaus, dass Sie annehmen mussten, wir wären ein Liebespaar auf der Flucht. Doch die Dinge liegen ganz anders.«

»Ja«, bekräftigte Lucilla, »ganz, ganz anders! In Wirklichkeit laufe ich Ninian nämlich davon!«

»Aha!«, sagte Annis mitfühlend. »Und er hilft Ihnen dabei?«

»Nun ja – irgendwie schon«, stotterte Lucilla. »Ich lege zwar keinen Wert auf seine Hilfe, aber – aber aufgrund gewisser Umstände war es sehr schwer für mich, ihn daran zu hindern. Es – es ist alles ziemlich kompliziert, fürchte ich.«

»Den Eindruck habe ich auch«, nickte Miss Wychwood. »Und falls Sie Lust haben, mir alles näher zu erläutern – aber ich möchte keineswegs ungebührlich neugierig erscheinen –, wie wär’s, wenn Sie in meine Kutsche steigen und mir erlauben, Sie in Bath abzusetzen, wo immer Sie es wünschen?«

Lucilla warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Equipage, schüttelte dann aber energisch den Kopf. »Nein. Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, aber ich käme mir schrecklich schäbig vor, Ninian so im Stich zu lassen. Deshalb muss ich Ihr Angebot leider ablehnen.«

»Nein, das wirst du nicht«, sagte Ninian. »Ich überlege ohnehin schon die ganze Zeit, wie ich dich nach Bath expedieren könnte, bevor du mir hier erfrierst, und wenn diese Dame dich mitnimmt, bin ich ihr zutiefst zu Dank verpflichtet.«

»Bitte verfügen Sie über mich«, antwortete Annis lächelnd. »Übrigens, mein Name ist Wychwood – Miss Annis Wychwood.«

»Gestatten Sie, Madam – Elmore, Ninian Elmore – ganz zu Ihren Diensten«, erwiderte der junge Mann mit ausgesuchter Höflichkeit. »Und das ist –«

»Ninian, nein!«, schrie Lucilla entsetzt. »Wenn sie meiner Tante verrät, wo ich bin –«

»Oh, keine Angst«, versicherte Annis fröhlich. »Kein Mensch soll je von mir behaupten, dass ich ein Spaßverderber bin! Vermutlich wollen Sie Freunde oder vielleicht Verwandte besuchen?«

»Ja, so ungefähr – das heißt, eigentlich kenne ich die Dame, die ich besuchen will, noch nicht«, gestand Lucilla in einer Anwandlung von Vertrauensseligkeit. »Ich will mich nämlich bei ihr um eine Stellung als Gesellschafterin bewerben. Sie sucht – ich habe ihre Anzeige in der Morning Post ausgeschnitten, aber dummerweise in meinen Portmanteau gepackt, und deshalb kann ich sie Ihnen leider im Moment nicht zeigen – aber sie sucht eine tatkräftige, wohlerzogene und willige junge Dame. Die Bewerberinnen sollen in ihrem Haus in North Parade vorsprechen, und zwar in der Zeit von –«

»North Parade!«, rief Annis. »Mein armes Kind, wollen Sie am Ende zu Mrs. Nibley?«

»Ja«, antwortete Lucilla zögernd. Miss Wychwoods unverhohlenes Mitleid machte sie unsicher. »Die Honourable Mrs. Nibley. Ich dachte, sie müsse eine Respektsperson sein. Ist sie das nicht, Madam?«

»Oh, natürlich! Ein Musterbeispiel an Respektsperson sogar! Der Schrecken von ganz Bath! Während der drei Jahre, die ich sie nun kenne, hat sie eine Unzahl tatkräftiger und wohlerzogener junger Damen beschäftigt, um sich von ihnen Tag und Nacht bedienen zu lassen. Entweder gehen sie freiwillig und als komplette Nervenbündel, oder sie entlässt sie, weil sie eben für ihren Geschmack zu wenig tatkräftig oder willig sind! Meine Liebe, bitte glauben Sie mir – dieser Posten ist bestimmt nichts für Sie!«

»Hab ich’s doch geahnt!«, warf Mr. Elmore nicht ohne Genugtuung ein.

Lucillas Miene verriet deutlich, was für ein vernichtender Schlag diese Neuigkeit für sie war, doch bei dieser Bemerkung flackerte ihr Kampfgeist wieder auf. »Quatsch!«, sagte sie kriegerisch. »Wie willst du das denn geahnt haben, wenn ich fragen darf?«

»Nun, auf jeden Fall habe ich mir gleich gedacht, dass ein derart verrückter Anfang zu nichts Gutem führen kann, und das habe ich dir auch gesagt, wie du zugeben musst! Und was willst du jetzt tun?«

»Ich weiß nicht.« Lucillas Unterlippe bebte. »Ich muss mir eben etwas einfallen lassen.«

»Es gibt nur eine Lösung – du musst zu Mrs. Amber zurück«, stellte er fest.

»O nein, nein, nein!«, schrie sie heftig. »Lieber suche ich mir eine Arbeit als Küchenmädchen, bevor ich mir wieder nur Vorwürfe anhöre oder mir sagen lasse, ich wäre an der Krankheit meiner Tante schuld! Und dazu kommt noch, dass sie mich jetzt bestimmt zwingen werden, dich zu heiraten, wo ich doch mit dir auf und davon bin. Und es wäre völlig sinnlos, meiner Tante oder deinem Papa zu erklären, dass ich nicht mit dir, sondern von dir fortgelaufen bin, denn selbst wenn sie mir glauben, würden sie nun darauf bestehen, dass ich deine Frau werde!«

»Ach du meine Güte!«, rief er sichtlich erschrocken. »Du hast Recht! Na, jetzt sitzen wir ja schön in der Patsche! Ehrlich gestanden, es tut mir fast leid, dass ich dich erwischt habe, als du aus dem Haus schleichen wolltest! Und ich Esel habe es noch für meine Pflicht gehalten, auf dich aufzupassen, damit dir nichts geschieht!«

»Verzeihen Sie!«, mischte sich Miss Wychwood ein. »Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen?« Sie lächelte Lucilla an und streckte ihr die Hand entgegen. »Wenn Sie schon entschlossen sind, eine Stelle als Gesellschafterin anzunehmen, warum kommen Sie dann nicht zu mir?« Sie hörte, wie Miss Farlow in der Kutsche einen schwachen, glucksenden Laut ausstieß, und ergänzte hastig: »Sie können doch unmöglich ganz allein in einem Hotel absteigen, und ebensowenig dürfen Sie erwarten, dass Mrs. Nibley – sogar für den Fall, dass sie Sie engagiert, was ich übrigens sehr bezweifle – Sie sofort bei sich aufnehmen wird. Sie wird Sie bitten, ihr Namen und Adresse einer angesehenen Persönlichkeit bekanntzugeben, die bereit ist, für Sie zu bürgen.«

»Allmächtiger!«, stöhnte Lucilla entsetzt. »Daran habe ich überhaupt nicht gedacht!«

»Durchaus verständlich!«, sagte Annis. »Man kann schließlich nicht an alles denken. Aber ich glaube, man sollte sich diesen Punkt überlegen. Nur finde ich, dass die Landstraße beileibe nicht der geeignete Ort dafür ist. Dieser grässlich kalte Wind friert einem ja buchstäblich den Verstand ein. Kommen Sie, steigen Sie in meinen Wagen. Bitte! Mr. Elmore folgt uns so rasch wie möglich, und wenn wir erst gemütlich vor dem Kamin sitzen, können wir uns in Ruhe über alles unterhalten.«

»Danke!«, sagte Lucilla unsicher. »Sie sind wirklich sehr gütig, Miss Wychwood! Nur – wie soll Ninian denn zurechtkommen, wenn er das Pferd nicht allein lassen kann?«

»Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, beteuerte Mr. Elmore ritterlich. »Ich bringe den Gaul zum nächsten Gasthof, und ich bin überzeugt, dass ich dort irgendeine Kutsche auftreiben werde, mit der ich dann nach Bath weiterfahren kann.«

»Sie könnten ja auch reiten«, schlug Annis vor.

Er starrte sie an. »Aber ich bin doch nicht in Reitkleidung! Und – und selbst wenn, das ist doch kein Reitpferd!«

Annis entnahm dieser Antwort, dass sie es hier mit einem sehr korrekten jungen Mann zu tun hatte. Nur das mutwillige Funkeln ihrer Augen verriet ihre Belustigung, als sie todernst erwiderte: »Entschuldigen Sie, das habe ich völlig übersehen! Sie müssen natürlich tun, was Sie für richtig halten, aber vielleicht sollte ich Sie doch darüber aufklären, dass diese Straße hier keine Poststraße ist. Es wird deshalb unter Umständen etwas schwierig sein, beim ›nächsten Gasthof‹ eine Kutsche aufzutreiben. Es könnte durchaus sein, dass Sie sich mit einem Vehikel begnügen müssen, das Ihrer Würde keinesfalls entspricht. Ich hoffe jedoch trotzdem, Sie zum Dinner in Upper Camden Place begrüßen zu dürfen.« Sie gab ihm noch ihre genaue Adresse, schenkte ihm ein freundliches Lächeln und schob Lucilla zu ihrer Equipage hin.

Dem sanften, aber unerbittlichen Druck von Miss Wychwoods Hand gehorchend, stieg Lucilla auf das Trittbrett, hielt dann aber in letzter Sekunde inne, um noch rasch zu sagen:

»Wenn ich dir nur im Geringsten nützlich sein könnte, Ninian, würde ich dich jetzt nicht im Stich lassen, obwohl das alles nicht passiert wäre, wenn du dich nicht in meine Angelegenheiten gemischt hättest.«

»Was diesen Punkt betrifft, brauchst du dir wirklich nicht den Kopf zu zerbrechen!«, antwortete Mr. Elmore. »Abgesehen davon, dass es mir gar nichts nützen könnte, wenn du bleibst, würde es alles nur noch schlimmer machen. Falls das überhaupt möglich ist.«

»Also das ist eklig!«, brauste Lucilla entrüstet auf und setzte zu einer gesalzenen Strafpredigt an, was aber von Miss Wychwood vereitelt wurde, die sie rücksichtslos in die Kutsche beförderte. Dann befahl Annis ihrem Lakaien, der die Entwicklung der Dinge interessiert verfolgte, das Gepäck ihres unerwarteten Gastes vom Gig zur Equipage zu schaffen, ersuchte Miss Farlow höflich, aber bestimmt, ein wenig zur Seite zu rücken, schob den ihr selbst zugedachten heißen Ziegel unter Lucillas Füße, legte ihr einen großzügig bemessenen Teil der pelzverbrämten Decke über die Knie und bedeutete dem Lakaien mit einem knappen Nicken, das Trittbrett hochzuklappen. Im Handumdrehen hatte der Kutscher seine Pferde wieder in Bewegung gesetzt. Lucilla kuschelte sich mit einem kleinen, zufriedenen Seufzer zwischen ihren rettenden Engel und Miss Farlow und flüsterte, während sie ihre kalte Hand auf die von Miss Wychwood legte: »Danke, Madam, danke!«

»Sie armes Kind!«, sagte Miss Wychwood und begann, die klammen Finger zu reiben. »Sie sind ja ganz erfroren! Aber keine Sorge, wir sind bald in Bath, und wir werden Ihre Probleme erst dann besprechen, wenn Sie sich ordentlich aufgewärmt und etwas im Magen haben und – äh – Mr. Elmore hier ist, um Ihnen mit seinem Rat beizustehen.«

Lucilla kicherte unwillkürlich, verzichtete aber auf einen Kommentar. Der letzte Teil der Reise verlief recht eintönig, denn Lucilla kämpfte, von den Abenteuern dieses aufregenden Tages erschöpft, mit dem Schlaf, und Miss Wychwood beschränkte ihre Konversation auf ein paar nichtssagende Bemerkungen zu Miss Farlow, deren gewohnter Redefluss versiegt war, weil sie sich (und es sollte nicht lang dauern, bis sie das ihrer Dienstgeberin auch sagte) durch den indirekten Vorwurf, ihre Gesellschaft genüge Miss Wychwood nicht, zutiefst gekränkt fühlte. Miss Jurby schwieg ebenfalls, wie es ihrer Stellung zukam, trug sich jedoch auch mit dem Gedanken, Miss Wychwood ihre höchstpersönliche Meinung über diesen unbesonnenen Entschluss kundzutun, sobald sich eine Gelegenheit dazu bot. Sie hatte vor, sich dabei etwas unverblümter auszudrücken als Miss Farlow.

Lucilla erwachte, als die Equipage in Upper Camden Place hielt. Tröstlich helles Kerzenlicht strahlte durch das offene Haustor, aus dem ein ältlicher Butler erfreut auf seine Herrin zueilte, um mit ebenso tröstlicher Selbstverständlichkeit die überraschende Ankunft der Fremden in ihrer Begleitung zur Kenntnis zu nehmen.

Annis empfahl Lucilla der Obhut von Mrs. Wardlow, ihrer Haushälterin, die den Auftrag erhielt, sie in das rosa Gästezimmer zu führen und sofort eines der Mädchen zur Bedienung der jungen Dame hinaufzuschicken. Dann rüstete sie sich innerlich für den bevorstehenden Kampf mit der beleidigten Miss Farlow.

Diese wartete nur, bis Lucilla, die ergeben hinter Mrs. Wardlow die Treppe hinauftrottete, außer Hörweite war, um zu bemerken, sie sei zwar weit davon entfernt, an irgendeiner Handlung ihrer geliebten Cousine Kritik üben zu wollen, fühle sich nun aber doch gezwungen zu sagen, dass sie, wäre ihr klar gewesen, wie unzufrieden Annis im Grunde mit ihrer Gesellschaft sei, ihre Stellung augenblicklich aufgegeben hätte.

»Ich würde lieber bittere Not in Kauf nehmen«, erklärte sie unter Tränen, »als in einem Haus zu leben – und sei es auch noch so bequem und luxuriös –, in dem ich unerwünscht bin. Schließlich heißt es doch bei Salomo: ›Besser ein Gericht Kraut mit Liebe, denn ein gemästeter Ochse mit Hass‹ – obwohl ich für Kräuter nicht allzu viel übrighabe, außer vielleicht für ein bisschen Petersilie in einer Sauce. Eigentlich konnte ich nie verstehen, wie sich irgendjemand, ob biblische Figur oder nicht, tatsächlich nur von Kräutern ernähren kann. Aber die Zeiten haben sich geändert, und wenn man an all die seltsamen Dinge denkt, die der Bibel zufolge früher passiert sind, muss man wirklich dankbar sein, dass man nicht damals gelebt hat! Büsche, die plötzlich brennen, Leitern, die vom Himmel herabkommen, und Menschen, die von Walfischen verschluckt werden, ohne dass ihnen dabei ein Haar gekrümmt wird – also wenn du mich fragst, finde ich das doch sehr unangenehm! Und dann erst dieses Manna! Ich habe nie ganz begriffen, was das eigentlich war, aber ich glaube, ich hätte es nicht gegessen, nicht einmal, wenn ich schon halb am Verhungern gewesen wäre und es dieses Zeug plötzlich geregnet hätte, was ich, nebenbei bemerkt, für mehr als unwahrscheinlich halte. Aber«, fuhr sie betont fort und fixierte dabei Miss Wychwood mit einem vorwurfsvollen Blick, »ich würde mich eben überwinden und sogar Manna kosten, wenn du jemand anderen an meine Stelle setzen willst!«

»Sei doch nicht albern, Maria«, antwortete Miss Wychwood leichthin. »Ich habe nicht die leiseste Absicht, das zu tun.« Und da sie seit jeher dazu neigte, die Dinge von der humorvollen Seite zu betrachten, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, noch hinzuzufügen: »Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass es in diesem Haus keinen Hass gibt – abgesehen davon, dass die gute Jurby vielleicht einen gewissen Groll gegen dich hegt, was dir aber doch bestimmt nichts ausmacht! Denn schließlich wäre das ja nicht der Fall, wenn sie nicht fürchten müsste, dass du sie bei mir ausstichst. Aber der Mastochse bringt mich in Verwirrung! Hast du mich am Ende im Verdacht, liebste Cousine, dass ich in einem versteckten Winkel heimlich, still und leise einen Ochsen mäste?«

»Ich habe bildlich gesprochen«, sagte Miss Farlow mit bedenklich schwankender Stimme. »Die Annahme, dass du irgendwo in Bath einen Ochsen mästen könntest, ist wohl völlig absurd, denn das wäre sicher vorschriftswidrig, darauf kannst du dich verlassen. Ich bin überzeugt, man würde dir nicht einmal erlauben, eine Kuh zu halten, obwohl die bei Weitem nützlicher wäre.«

»Da hast du Recht!«, pflichtet ihr Miss Wychwood beeindruckt bei.

»Ochsen und Kühe stehen überhaupt nicht zur Debatte!«, schluchzte Miss Farlow, nunmehr endgültig in Tränen ausbrechend. »Du hast mich tief gekränkt, Annis! Als ich hörte, dass du dieses Mädchen eingeladen hast, als Gesellschafterin in dein Haus zu kommen, habe ich einen – einen Schock erlitten, von dem sich meine Nerven bestimmt nie mehr erholen werden!«

Als Annis merkte, wie sehr sich ihre Cousine die Angelegenheit zu Herzen nahm, widmete sie sich der schwierigen Aufgabe, ihre aufgewühlten Gefühle zu besänftigen. Sie brauchte viel Zeit und Geduld, um Miss Farlow wieder zu beruhigen und sie davon zu überzeugen, dass keineswegs das Damoklesschwert der Entlassung über ihrem Haupte schwebte. Nur mit Lucillas Anwesenheit in Camden Place ließ Miss Farlow sich nicht versöhnen. »Ich kann sie einfach nicht sympathisch finden, Cousine«, erklärte sie mit Nachdruck. »Und verzeih mir bitte, wenn ich das sage – aber ich bin wirklich erstaunt, dass du ihr deine Gastfreundschaft angeboten hast, denn normalerweise bist du doch so überaus vernünftig! Du wirst schon sehen, es wird dir noch leidtun!«

»Wenn dem so ist, Maria, wirst du die Genugtuung haben, mir sagen zu können, du hättest mich gewarnt. Allerdings ist mir schleierhaft, warum ich dem armen Kind in einer solchen Notlage nicht hätte helfen sollen!«

»Ich jedenfalls denke«, antwortete Miss Farlow düster, »dass die Geschichte, die sie dir erzählt hat, ein ausgemachter Schwindel ist! Auf mich hat sie einen sehr schlechten Eindruck gemacht! Diese Unverfrorenheit – einfach schamlos! Von zu Hause fortzulaufen, noch dazu mit einem jungen Mann – was ist denn das für eine Art! Vielleicht bin ich altmodisch, aber ein solches Benehmen lässt sich mit meinen Vorstellungen von Anstand nicht vereinbaren. Außerdem bin ich ganz sicher, dass Sir Geoffrey das alles genauso missbilligen würde wie ich!«

»Wahrscheinlich sogar noch mehr!«, sagte Annis. »Aber ich glaube kaum, dass er so dumm wäre, das Mädchen unverfroren oder schamlos zu nennen!«

Miss Farlow wand sich unter Annis ärgerlich funkelndem Blick und ließ eine reichlich verworrene Rede vom Stapel, die aus einem kunterbunten Mischmasch von Entschuldigungen und zum überwiegenden Teil kläglichen Rechtfertigungsversuchen bestand. Miss Wychwood schnitt ihr mit der Bemerkung das Wort ab, sie erwarte, dass sie Lucilla mit geziemender Höflichkeit behandeln werde. Ihre Stimme klang dabei ungewöhnlich streng, und als Miss Farlow daraufhin neuerlich in Tränen auszubrechen drohte, empfahl Annis ihr nur ungerührt, sich auf ihr Zimmer zu begeben und den Koffer auszupacken.

Kapitel II

Nachdem Miss Wychwood ihr Reisekostüm gegen eines der schlichten Batistkleider getauscht hatte, die sie stets trug, wenn sie vorhatte, einen Abend zu Hause zu verbringen, und Miss Jurbys Strafpredigt über das Thema Eigensinn, Unvorsichtigkeit und »was Ihr seliger Papa dazu gesagt hätte« entronnen war, begab sie sich zur Tür des rosa Gästezimmers und klopfte. Sie wurde gebeten, einzutreten und fand ihren Schützling in einer bezaubernden Robe aus zart besticktem Musselin vor, dessen lockere Duftigkeit kaum merklich gelitten hatte, obwohl das Kleid längere Zeit in dem Portmanteau verpackt gewesen war. Die frisch gebürsteten dunklen Locken waren in einem schlichten Knoten à la Sappho arrangiert, eine Frisur, die, wie Miss Wychwood anerkennend feststellte, nicht nur sehr vorteilhaft wirkte, sondern vor allem unterstrich, wie unglaublich jung Lucilla war. Als einzigen Schmuck trug sie eine einfache Perlenkette, aber Miss Wychwood glaubte keine Sekunde lang, dass diese Bescheidenheit auf Armut zurückzuführen wäre. Die Perlen waren echt und (ebenso wie das Musselinkleid mit der hohen Taille und den winzigen Puffärmeln, dessen raffiniert einfacher Schnitt die exquisite Schneiderin verriet) genau das Richtige für ein Mädchen, das eben erst von der Schulbank kam. Der Schal, den sich Lucilla um die Schultern drapierte, war aus Norwich-Seide und hatte gut und gern fünfzig Guineen gekostet. Es war offensichtlich, dass Lucillas Tante nicht nur die entsprechenden Mittel, sondern auch hervorragenden Geschmack besaß und sich überdies nicht scheute, sowohl das eine als auch das andere für die Toiletten ihrer Nichte aufzuwenden. Und es war ebenso offensichtlich, dass eine so modische und unverkennbar verwöhnte junge Dame niemals Gnade vor Mrs. Nibleys Augen finden würde.

Lucilla sagte entschuldigend, sie fürchte, ihr Kleid sei jämmerlich zerknittert. »Wahrscheinlich, weil ich im Packen keine große Übung habe, Madam.«

»Sie haben es wohl zum ersten Mal selbst gemacht, nicht wahr?«

»Ja, leider! Aber ich konnte meine Zofe nicht darum bitten, weil sie es sofort meiner Tante gesagt hätte. Das ist das Schlimmste an den Dienstboten, die einen schon von klein auf kennen«, fügte sie bitter hinzu.

»Ach ja«, seufzte Annis, »davon kann ich ein Lied singen. Aber jetzt sagen Sie mir bitte, unter welchem Namen ich Sie offiziell vorstellen soll.«

»Ich dachte zuerst, Smith wäre ganz gut«, meinte Lucilla zweifelnd. »Oder – oder vielleicht Brown. Eben irgendein alltäglicher Name.«

»Oh, ich würde an Ihrer Stelle nichts zu Alltägliches wählen«, riet ihr Annis kopfschüttelnd. »Das würde nicht zu Ihnen passen!«

»Eigentlich haben Sie Recht. Und ich bin überzeugt, ich würde es bald hassen, so zu heißen«, sagte Lucilla naiv. Sie zögerte einen Moment. »Ich glaube, ich werde doch bei meinem eigenen Namen bleiben, um nicht wieder so ungezogen zu erscheinen wie vorhin, als ich Ninian nicht erlauben wollte, mein Inkognito zu lüften. Aber ich hatte solche Angst, Sie könnten mich bei meinem schrecklichen Onkel verpetzen, denn schließlich kannte ich Sie nicht und hatte keine Ahnung, wie gütig Sie sind. Verzeihen Sie mir, bitte – ich will es jetzt nachholen: Ich heiße Carleton – mit einem E in der Mitte«, ergänzte sie gewissenhaft.

»Ich werde mich bemühen, von diesem E keiner Menschenseele zu erzählen«, versprach Annis feierlich. »Carlton ohne E in der Mitte kann leicht jemand heißen, aber das E macht den Namen vornehm, und das wollen Sie natürlich vermeiden. So! Nachdem wir also dieses Problem glücklich gelöst hätten, gehen wir wohl am besten hinunter in den Salon, um auf Mr. Elmore zu warten!«

»Wenn er überhaupt kommt!«, meinte Lucilla skeptisch. »Nicht, dass es eine Rolle spielen würde, wenn er ausbleibt, außer dass es eine große Last für mein Gewissen wäre – obwohl es nicht meine Schuld ist, dass er mich begleitet hat. Aber falls er jetzt ganz grässlich in der Patsche sitzt, werde ich mir mein Leben lang Vorwürfe machen, ihn so hilflos zurückgelassen zu haben!«

»Aber wieso denn hilflos?«, fragte Annis vernünftig. »Als wir uns von ihm trennten, befand er sich immerhin nur etwa acht Meilen von Bath entfernt und nicht mitten in der Wüste! Selbst wenn es ihm nicht gelingen sollte, ein Fahrzeug zu mieten, könnte er diese Strecke ohne Weiteres zu Fuß bewältigen, finden Sie nicht?«

»Nein«, seufzte Lucilla. »Das würde er nicht einmal im Traum tun. Ich lege nicht den geringsten Wert auf diesen antiquierten Unsinn mit der Etikette, er aber leider um so mehr. Ich habe ihn zwar furchtbar gern, weil ich ihn schon seit einer Ewigkeit kenne, aber ich muss gestehen, dass es ihm leider gewaltig an – Unternehmungsgeist fehlt. Um die Wahrheit zu sagen, er ist ein Feigling, Madam!«

»Jetzt urteilen Sie sicher zu streng!«, widersprach Miss Wychwood, während sie ihren Gast mit einer graziösen Handbewegung in den Salon bat. »Natürlich kann ich das bei unserer so flüchtigen Bekanntschaft schwer feststellen, doch ich hatte durchaus nicht den Eindruck, als mangele es ihm an Mut. Die Art, in der er Sie bei Ihrer Flucht unterstützt hat, spricht doch für alles andere als Feigheit, das müssen Sie doch zugeben!«

Lucilla dachte stirnrunzelnd über dieses Argument nach und versuchte dann, allerdings ohne jeden Erfolg, die Umstände zu erklären, die Mr. Elmore dazu bewogen hatten, sich auf das wahrscheinlich einzige Abenteuer seiner bisher untadeligen Laufbahn einzulassen. »Er hätte es nie getan, wenn er nicht überzeugt gewesen wäre, dass Lord Iverley es für richtig halten würde«, sagte sie. »Obwohl Lord Iverley wahrscheinlich sehr böse auf ihn sein wird, weil er mich nicht an meinem Vorhaben gehindert hat, aber das ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit! Das werde ich ihm auch sagen, wenn er dem armen Ninian eine Strafpredigt halten will! Denn wie kann er schließlich von Ninian ein energisches Auftreten erwarten, wenn er ihn zu einem Musterbeispiel an – an liebenswürdiger Unterwürfigkeit erzogen hat! Ninian tut immer nur das, was Lord Iverley will – sogar wenn es darum geht, mich zu heiraten, wozu er nicht die geringste Lust verspürt. Und ich persönlich glaube jedenfalls nicht, dass Lord Iverley eine tödliche Herzattacke bekäme, wenn Ninian sich weigern sollte, ihm zu gehorchen, aber Lady Iverley ist davon felsenfest überzeugt und hat Ninian eingeredet, es sei seine Pflicht, alles, aber auch wirklich alles zu vermeiden, was seinen Papa aufregen könnte. Und das muss man Ninian lassen: Er ist eine Seele von einem Menschen, und außerdem hängt er sehr an seinem Vater und nimmt seine – seine Sohnespflichten schrecklich ernst. Und ich glaube, nichts auf der Welt liegt ihm ferner, als seinen Papa ins Grab bringen zu wollen.«

»Demnach ist Lord Iverley – wenn ich Sie richtig verstanden habe, Ninians Vater – wohl ein sehr alter Mann?«, fragte Miss Wychwood überrascht.

»O nein, nein, nicht sehr alt!«, antwortete Lucilla. »Er ist genau so alt, wie mein Papa jetzt sein könnte, wenn er nicht gestorben wäre, als ich gerade sieben war. Er ist bei Corunna gefallen, und Lord Iverley – das heißt, damals hieß er natürlich noch nicht so, sondern Mr. William Elmore, weil der alte Lord Iverley noch lebte – nun, auf jeden Fall hat er meiner Mama Papas Degen und seine Uhr und sein Tagebuch gebracht und den allerletzten Brief, den er noch an sie geschrieben hatte. Angeblich soll er Papas Tod nie verwunden haben. Sie waren nämlich schon zusammen in Harrow und später dann beim gleichen Regiment – mit einem Wort, sie waren eben unzertrennlich, bis das mit Papa passiert ist. Und ich finde die Geschichte wirklich rührend, weil ich überhaupt nicht gefühllos bin, auch wenn Tante Clara das hundertmal von mir behauptet! Aber trotzdem sehe ich nicht ein – und daran wird sich auch nichts ändern –, warum Ninian und ich unbedingt heiraten müssen, nur weil unsere Väter das einmal völlig idiotischerweise geplant haben!«

»Es scheint mir in der Tat ein bisschen unvernünftig!«, bestätigte Miss Wychwood.

»Ja, und dazu kommt noch, dass Papa anlässlich seiner Hochzeit mit Mama ein Haus ganz in der Nähe von Chartley Place kaufte, weshalb Ninian und ich zwangsläufig miteinander aufwuchsen. Und weil wir uns immer gut verstanden, kann jetzt nichts und niemand Lord Iverley von der fixen Idee abbringen, dass wir einfach füreinander geschaffen sind! Und zu allem Unglück hat sich Ninian noch in eine Dame verliebt, die Lord und Lady Iverley in höchstem Grade unsympathisch finden – obwohl ich mir nicht vorstellen kann, warum, weil sie sich doch nie auch nur einen Schritt von Chartley Place fortrühren und seine Flamme noch nie gesehen haben! Wahrscheinlich sind sie der Meinung, dass sie zu alt für Ninian ist, und ehrlich gesagt kommt es auch mir komisch vor, dass er hinter einer Dame herläuft, die mindestens dreißig ist, wenn nicht noch älter!«

Dieser Umstand versetzte Miss Wychwood keineswegs in Erstaunen, dafür aber begriff sie umso weniger, wie die Iverleys eine Affaire, bei der es sich ganz offensichtlich um ein heftiges, aber sicher nur kurzlebiges Strohfeuer handelte, derart ernst nehmen konnten. »Das komisch zu finden, spricht zwar für Sie, Lucilla«, erwiderte sie lächelnd, »doch es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass junge Männer dazu neigen, sich in reifere Frauen zu verlieben. Meiner Ansicht nach besteht für die Iverleys kein Grund, sich deshalb übermäßig aufzuregen!«

»O nein, natürlich nicht«, pflichtete ihr Lucilla bei. »Meine Güte, als er das erste Jahr in Oxford war, verliebte er sich unsterblich in irgendein Mädchen, bei dem sogar ich sofort wusste, dass sie absolut nicht infrage kam! Gott sei Dank war die Sache schon wieder vorbei, bevor seine Eltern überhaupt etwas davon erfuhren. Aber diesmal schrieb so ein klatschsüchtiger Wichtigtuer an Lord Iverley, dass Ninian besagter Londoner Dame den Hof macht, und Lord Iverley stellte Ninian daraufhin natürlich zur Rede, und auch Lady Iverley beschwor ihn, ja nicht dickköpfig zu sein, damit er seinen Vater nicht – nicht frühzeitig ins Grab bringt, und –«

»Du lieber Himmel!«, rief Miss Wychwood. »Wie kann man denn nur so ungeschickt sein! Die beiden verdienen fast, dass Ninian dieses dubiose Frauenzimmer auf der Stelle vor den Traualtar schleppt!« Sie hob ganz erschrocken die Hand an den Mund. »Oh, das hätte ich nicht sagen dürfen! Aber ich bin leider immer viel zu impulsiv. Verzeihen Sie bitte. Gehe ich richtig in der Annahme, dass Chartley Place irgendwo im Norden von Salisbury liegt? Sind Sie dort zu Hause?«

»Nicht mehr. Ich habe dort gelebt, bis Mama vor drei Jahren starb. Seither wohne ich mit meiner Tante und meinem Onkel in Cheltenham, und das Haus, das eigentlich mir gehört, ist an Fremde vermietet.«

Diese Enthüllung brachte Miss Wychwood in Verlegenheit. Immerhin handelte es sich doch um eine recht traurige Feststellung, doch die Art, wie Lucilla sie vorgebracht hatte, klang alles andere als betrübt. »Sicher ist es Ihnen sehr schwergefallen, Fremde in Ihrem Haus zu sehen?«, fragte sie vorsichtig.

»O nein, überhaupt nicht!«, beteuerte Lucilla heiter. »Es sind sehr nette Leute, und abgesehen davon, dass sie ein hübsches Sümmchen zahlen, halten sie auch den Besitz erstklassig in Ordnung. Ich wäre gern in Cheltenham geblieben, wenn mich meine Tante auf Gesellschaften und ins Theater mitgenommen hätte – aber sie meint immer, ich bin noch zu jung und es wäre unschicklich, wenn ich schon vor meinem offiziellen Debüt auf Bälle und Routs und Empfänge ginge. Nur zum Heiraten bin ich nicht zu jung! Und das« – ihre Augen funkelten zornig – »ist auch der Grund, warum sie mich nach Chartley Place brachte!« Sie hielt inne und rang sichtlich nach Fassung. »Miss Wychwood!«, stieß sie dann heftig hervor. »Wü – würden Sie es für möglich halten, dass jemand so – so hirnverbrannt sein kann, sich einzubilden, Ninian könnte auch nur die geringste Lust haben, mir einen Antrag zu machen, wo er doch bis über beide Ohren in eine andere verliebt ist? Oder dass ich seinen Antrag annehmen würde, wenn er sich tatsächlich dazu aufrafft? Aber stellen Sie sich vor – alle haben das geglaubt!« Sie war mittlerweile vor Aufregung puterrot geworden, und es dauerte ein paar Sekunden, bis sie sich so weit beruhigt hatte, um hervorzupressen: »Ich dachte, wenn ich die Iverleys schon besuche, könnte ich mich darauf verlassen, dass Ninian wenigstens den Mund hält, wenn er schon nicht den Mut aufbringt, seinem Vater einfach zu erklären, dass er mich nicht heiraten will! Aber das war ein großer Irrtum!«

»Soll das heißen«, fragte Miss Wychwood reichlich erstaunt, »dass er seinem Vater gesagt hat, er wolle Sie heiraten? Wäre es in diesem Fall nicht möglich –«

»Nein«, unterbrach Lucilla sie unverblümt. »Ich weiß nicht, was er zu seinem Vater sagte, aber mir erklärte er jedenfalls, es wäre unklug, einen Streit zu provozieren, und wir sollten am besten so tun, als wären wir hocherfreut, uns zu verloben, und im Übrigen darauf bauen, dass uns die göttliche Vorsehung noch ein Hintertürchen offenlässt, bevor das dicke Ende kommt. Aber was mich betrifft, so vertraue ich mich nur höchst ungern der Vorsehung an, Madam, und deshalb hatte ich das Gefühl, in einer Falle zu sitzen. Der einzige Ausweg, der mir einfiel, war, davonzulaufen, denn seit dem Tod meines Onkels habe ich ja niemanden mehr, an den ich mich wenden könnte, und ich glaube, im Grunde hätte auch der Onkel mir nicht viel nützen können, weil er Tante Clara ohnehin immer nachgab. Er war zwar furchtbar nett, aber ein richtiger Waschlappen.«

Miss Wychwood blinzelte. »Ich verstehe nicht – Ihr Onkel ist tot? Aber sagten Sie nicht vorhin, als wir uns kennenlernten, er würde aller Wahrscheinlichkeit nach auch nach Ihnen suchen, falls es gelungen sei, ihn zu überreden, sich ausnahmsweise einmal vom Fleck zu rühren?«

Lucilla starrte sie an, dann lachte sie plötzlich auf. Es war ein verächtliches Lachen. »Nicht der Onkel, Madam! Der andere!«

»Der andere? Ach ja, natürlich! Wie dumm von mir zu glauben, Sie hätten nur einen Onkel! Aber bitte, erzählen Sie mir doch von ihm, damit ich nicht wieder alles durcheinanderbringe! Der nette Onkel war wohl sein Bruder?«