Herzensruhe - Anselm Grün - E-Book

Herzensruhe E-Book

Anselm Grün

4,4

Beschreibung

Leistung und äußerer Wohlstand allein können dem Menschen nicht das geben, wonach er sich wirklich sehnt: innere Ruhe und Seelenfrieden. Ein moderner Seelenführer zu einem tieferen Leben.

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Anselm Grün

Herzensruhe

In Einklang mit sich selber sein

IMPRESSUM

Titel der Originalausgabe: Herzensruhe

In Einklang mit sich selber sein

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 1998, 2013

ISBN 978-3-451-04925-5

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung:

R·M·E Eschlbeck / Liana Tuchel

Umschlagmotiv: / © Tony Stone

Autorenfoto: © Markus Bollen

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-451-80320-8

ISBN (Buch): 978-3-451-04925-5

INHALT

DEM SCHATTEN NICHT DAVONLAUFENEINLEITUNG

I. URSACHEN DER RUHELOSIGKEIT HEUTE

1. Das soziale und wirtschaftliche Umfeld

2. Psychische Ursachen der Ruhelosigkeit

II. WEGE ZUR RUHE

1. Aufruf zur Sorglosigkeit

2. Einladung zur Ruhe

3. Eingehen in die Sabbatruhe

4. Der Weg zur Herzensruhe

5. Ruhe und Unruhe

6. Das unruhige Herz

7. Wege zur Ruhe heute

IM SCHATTEN SEINES BAUMESSCHLUSS

LITERATUR

Dem Schatten nicht davonlaufenEinleitung

„Es war einmal ein Mann, den verstimmte der Anblick seines eigenen Schattens so sehr, der war so unglücklich über seine eigenen Schritte, daß er beschloß, sie hinter sich zu lassen. Er sagte zu sich: Ich laufe ihnen einfach davon. So stand er auf und lief davon. Aber jedesmal, wenn er seinen Fuß aufsetzte, hatte er wieder einen Schritt getan, und sein Schatten folgte ihm mühelos. Er sagte zu sich: Ich muß schneller laufen. Also lief er schneller und schneller, lief so lange, bis er tot zu Boden sank. Wäre er einfach in den Schatten eines Baumes getreten, so wäre er seinen eigenen Schatten losgeworden, und hätte er sich hingesetzt, so hätte es keine Schritte mehr gegeben. Aber darauf kam er nicht.“

Auf die Idee, sich einfach in den Schatten eines Baumes zu setzen, kommen viele Menschen heute nicht. Sie laufen lieber vor sich davon wie der Mann in der Geschichte, die uns Dschuang Dse überliefert hat. Doch wer vor seinem Schatten davonläuft, der läuft sich zu Tode. Er kommt nie zur Ruhe. Das ist wohl die Situation vieler Menschen, die sich heute schier zu Tode laufen, nur weil sie Angst haben, ihrem eigenen Schatten zu begegnen, sich in den weniger angenehmen Seiten anzuschauen. Sie wollen ihrem Schatten entkommen. Aber dadurch kommen sie in eine Ruhelosigkeit, die sich oft genug dann in Herzproblemen äußert. Nicht umsonst zählen die Herz-Kreislauf-Krankheiten heute mit zu den häufigsten Todesursachen. Wenn das Herz nie zur Ruhe kommt, wird es überfordert, dann kann es nur irgendwann den Dienst versagen. Es sind vorwiegend Männer, die am Herzen erkranken. Bei manchen ist das Herz kerngesund. Aber sie haben trotzdem Angst, ihr Herz würde aussetzen und sie würden sterben. Herzprobleme haben oft mit Angst zu tun. Man läuft vor etwas davon. Das Herz symbolisiert vor allem die Gefühle. Häufig sind es die nicht zugelassenen und verdrängten Emotionen wie Liebe und Haß, die Herzprobleme verursachen, beim einen Herzrhythmusstörungen, beim andern Herzanfälle. Weil man dem Herzen zu entfliehen sucht, meldet es sich ständig zu Wort und zwingt einen, sich mit ihm zu beschäftigen. Bei manchen spricht man von Herzneurose. Sie sind fixiert auf ihr Herz und leben ständig in der Angst, es könne aussetzen. Herzkranke machen oft einen verbissenen Eindruck. Sie gleichen dem Mann in der Geschichte. Sie können nicht ausruhen und genießen. Sie können sich nicht in den Schatten eines Baumes setzen. Daher spricht man ja von der typischen Managerkrankheit. Man muß immer etwas Wichtiges tun. Sich mit dem eigenen Schatten zu beschäftigen wäre für sie Kinderkram. So plagen sie sich lieber mit ihren Herzkrankheiten herum.

Der Weg der Herzensruhe, wie er vor allem im frühen Mönchtum beschrieben worden ist, ist heute hochaktuell; denn die Ruhelosigkeit ist eine Zeitkrankheit geworden. Unzählige Menschen klagen darüber, daß sie nicht zur Ruhe kommen. Die frühen Mönche wissen aus eigener Erfahrung, daß man nicht einfach zur Ruhe kommt, wenn man weniger arbeitet. Die Herzensruhe zu finden ist ein langer Weg, der über die ehrliche Selbsterkenntnis und Selbstbegegnung letztlich zu Gott führt, in dem unser unruhiges Herz nach dem berühmten Wort des hl. Augustinus allein zur Ruhe kommen kann. Es ist ein anspruchsvoller Weg, den die Mönche beschreiben, aber zugleich ein einladender Weg, weil er uns verheißt, in die Sabbatruhe Gottes schon hier und jetzt, mitten im Trubel unserer Welt, einzugehen und sie zu genießen. So möchte ich in diesem Buch immer wieder die Erfahrungen der Mönche zu Wort kommen lassen, nicht nur, weil ich selbst aus dieser Mönchstradition schöpfe, sondern weil ich glaube, daß sie auch für unsere Zeit nicht nur Lehr-, sondern auch Lebemeister sind. Ich beziehe mich dabei vor allem auf Evagrius Ponticus, den wichtigsten Schriftsteller aus dem östlichen Mönchtum (345–399), und auf Johannes Cassian (um 360–430/435), der in die ägyptische Wüste zog, um die Erfahrungen der dortigen Mönche für den Westen fruchtbar werden zu lassen. Und ich schöpfe aus der Regel Benedikts (um 480–547), nach der ich selber als Mönch lebe und die seit dem Mittelalter auch für viele Weltleute Wegweiser zum Leben geworden ist. Die Grundlage, auf die sich die Mönche seit jeher bezogen haben, ist die Heilige Schrift. So möchte ich die Worte der Heiligen Schrift meditieren, die uns die Herzensruhe verheißen. Jesus selbst hat offensichtlich die Not der Menschen in ihrer Angst und Ruhelosigkeit gesehen und lädt sie deshalb ein, bei ihm wahrhaft Ruhe zu finden.

Das Thema der Ruhelosigkeit habe ich in letzter Zeit in vielen Seelsorgsgesprächen beobachtet. Da höre ich immer wieder die Klage, daß man einfach nicht zur Ruhe komme. Da sind die vielen Sorgen, die einem die Ruhe rauben, sogar die Nachtruhe. Man kann nicht schlafen, weil man sich Sorgen macht um die Kinder, die psychische Probleme haben, die ganz andere Wege gehen, als man sich das in der Erziehung gedacht hat. Da ist die Sorge um die finanzielle Lage der Familie. Die Arbeitslosigkeit läßt einen nicht mehr ruhig schlafen. Denn wenn die so weitergeht, dann kann der Vater die Familie nicht mehr ernähren, dann kann er das Haus nicht mehr abzahlen. Da sind die vielen Sorgen, die man sich täglich macht, die Sorge, was die andern wohl von einem denken, ob man auch alles richtig macht, ob man mit seinem Verhalten auch ja nicht aneckt. Man zergrübelt sich den Kopf damit, was die andern sich über einen für Gedanken machen. Manchmal ist dieses Sorgen schon krankhaft geworden. Da geht eine Frau in ein Geschäft zum Einkaufen. Die Verkäuferin ist heute nicht so freundlich. Vermutlich hat sie nicht gut geschlafen. Aber sofort bezieht die Frau es auf sich selbst. Den ganzen Tag überlegt sie, was der Verkäuferin an ihr wohl aufgefallen sei, was sie wohl von ihr halte, ob sie sich da irgendwie blamiert habe, ob sie etwas Falsches gesagt habe. Sie ruft ihre Freundin an und erzählt ihr, was sie erlebt hat. Und schon wird die kleine Begebenheit, die gar keinen realen Grund hat außer der eigenen Sorge um einen guten Ruf, zum beherrschenden Thema, von dem die Frau einfach nicht mehr loskommt.

Vor allem Menschen, die eine verantwortliche Stelle innehaben, klagen darüber, daß sie nicht zur Ruhe kommen. Ständig wollen die Menschen etwas von ihnen. Und sie überlegen, ob sie immer richtig reagiert haben, ob die Entscheidungen, die sie getroffen haben, wohl dem Unternehmen dienen oder ob sie in die falsche Richtung weisen. Wenn sie abends heimkommen und sich nach Ruhe sehnen, kommen sie doch nicht zur Ruhe, weil sie einfach nicht abschalten können. Sie fahren in Urlaub und finden keine Ruhe. Ständig nagt ihr Gewissen, ob alles, was sie getan haben, wirklich in Ordnung war und welche Folgen es für sie haben könnte. Weil sie innerlich nicht zur Ruhe kommen, nützt ihnen der beste Urlaub nichts. Gestreßt und verspannt kehren sie aus dem Urlaub zurück, und die gleiche Tretmühle geht weiter. Irgendwann einmal brechen sie dann überfordert zusammen.

Andere kommen nie zur Ruhe, weil sie letztlich Angst davor haben, einmal nichts zu tun. Sie haben Angst, in der Stille und in der Ruhe mit der eigenen Wahrheit konfrontiert zu werden. Wenn ich nichts habe, an dem ich mich festhalten kann, dann könnte ja die ganze Enttäuschung über mein Leben hochkommen, dann könnte ich ja entdecken, daß mein Leben gar nicht mehr stimmt, daß mein ganzer Einsatz für die andern in der Luft hängt. Ich mache nur so weiter, um meiner Verzweiflung aus dem Weg zu gehen. Aber eigentlich glaube ich nicht mehr daran, daß das, was ich tue und was ich lebe, noch einen Sinn habe. Alles ist leer. Vor dieser Leere laufe ich davon. Oder mein Gewissen könnte sich zu Wort melden. Schuldgefühle könnten aufsteigen. Davor habe ich Angst. So laufe ich vor der Stille und vor der Ruhe davon. Das Schlimmste, das mir passieren könnte, wäre, einmal der eigenen Wahrheit begegnen zu müssen. Weil ich das unter allen Umständen vermeiden möchte, muß ich immer etwas tun, mich immer mit etwas beschäftigen. So wird auch die freie Zeit zum Streß. Ich stopfe die Leere auch in der Freizeit zu mit unzähligen Aktivitäten. Solche Menschen, die ihrer Wahrheit ausweichen, sind ständig auf der Flucht vor sich selbst. Und dann klagen sie darüber, daß sie so gestreßt sind. Sie machen sich den Streß selbst. Sie können nicht zur Ruhe kommen, weil sie es im Grunde ihres Herzens gar nicht wollen, weil eine tiefsitzende Angst sie ständig herumtreibt.

Der Unfähigkeit, zur Ruhe zu kommen, entspricht die Sehnsucht des heutigen Menschen, endlich einmal abschalten und ruhig werden zu können. Kurse, die Wege zur inneren Ruhe verheißen, sind überfüllt. Man erwartet von psychologischen Methoden oder von körperlichen Entspannungstechniken, daß man endlich auch die innere Ruhe findet, nach der man sich sehnt. Ruhe kann man aber nicht durch äußere Entspannungstechniken erzeugen. Sie ist Ergebnis eines spirituellen Weges. Die frühen Mönche zielten darauf ab, den Menschen in die Ruhe Gottes zu führen. Hesychia, das war das große Wort, das die Mönche fasziniert hat. Ja die Mönchsbewegung wurde sogar schon seit dem 3. Jahrhundert Hesychasmus genannt, Weg zur inneren Ruhe. Die Ruhe, von der die Mönche schreiben, ist allerdings nicht die königlich-bayerische Bierruhe, in der man sich von niemandem stören lassen will. Solche Bierruhe, in der man von allen in Ruhe gelassen werden möchte, ist eher ein sattes und starres Sich-Einlullen in einen Bierrausch, der von der Realität nichts mehr wahrnehmen möchte. Es geht den Mönchen um eine Ruhe, in der das Herz zur Ruhe kommt, in der sich die Angst beruhigt, in der man Erquickung und Regenerierung erfährt. Die Ruhe ist letztlich Erfahrung der ewigen Sabbatruhe, die Gott uns zugedacht hat. Wer Gott im Gebet und in der Meditation erfährt, der wird innerlich wie äußerlich ruhig, der kommt zu sich selbst, der kommt in Einklang mit sich selbst. Der spirituelle Weg der Mönche ist für mich zugleich ein therapeutischer Weg. Die therapeutische Weisheit, die in ihren Anweisungen steckt, wird heute von vielen Psychologen neu entdeckt. Es ist für sie ein hochaktueller Weg, den wir heute genauso zu gehen vermögen wie die Menschen damals, allerdings nur dann, wenn wir ihre Weisheit auch in unsere Sprache übersetzen.

So möchte dieses Buch den Leser einladen, sich unter den Schatten des Baumes zu setzen, den Gott selbst uns bereitet. Gott selbst lädt uns ein, daß wir uns im Schutz seiner Flügel bergen dürfen (vgl. Ps 61, 5). Er ist der Fels, in dessen Schatten wir Ruhe finden. In der Geborgenheit der göttlichen Liebe können wir es wagen, unsern Schatten auszuhalten, ohne zu erschrecken. Der Schatten „seiner Flügel“ nimmt unserem Schatten das Bedrohliche. Bei Gott sich bergen, bei Gott Heimat und Ruhe finden, in Gott zur Ruhe kommen, das ist wohl auch heute in unserer ruhelosen Zeit eine Verheißung, der es lohnt nachzuspüren.

I.URSACHEN DER RUHELOSIGKEIT HEUTE

Warum sind die Menschen heute so ruhelos? Wenn wir danach fragen, so lassen sich viele Ursachen ausmachen. Da gibt es äußere Ursachen, wie etwa die wirtschaftliche Situation oder das soziale Umfeld. Und es gibt psychische Ursachen, die dem Menschen die Ruhe rauben. Die Psychologen sprechen von neurotischer Ruhelosigkeit. Manchmal hat die innere und äußere Unruhe auch in der eigenen Lebensgeschichte ihren Grund, in traumatischen Erfahrungen, die den Menschen nicht zur Ruhe kommen lassen. Und es gibt eine krankhafte Ruhelosigkeit, die nur vom Arzt und Psychiater behandelt werden kann. Eine angemessene Zeitanalyse zu erstellen, übersteigt meine Kompetenz. Ich möchte nur ein paar Beobachtungen und Gedanken darlegen, die aus meiner Erfahrung an der Unfähigkeit zur Ruhe schuld sind. Dabei kann ich mich nicht auf Untersuchungen stützen, sondern nur auf die vielen Gespräche, die ich bei meinen Kursen immer wieder geführt habe. Aber ich hoffe, daß auch dieser begrenzte Erfahrungshorizont einige typische Zeitphänomene deutlich werden läßt.

1.DAS SOZIALE UND WIRTSCHAFTLICHE UMFELD

Da ist einmal der wirtschaftliche Druck, unter dem heute viele Menschen leiden, vor allem die Verantwortlichen in den Betrieben. Der Wettbewerb wird im Zeitalter der Globalisierung immer härter. So kann sich der Firmenchef nicht bequem in den Sessel setzen, er muß ständig auf der Hut sein, daß er keine Marktanteile verliert, daß seine Bilanzen stimmen, daß er auf die Bedürfnisse der Zeit richtig reagiert. Und diese Bedürfnisse wechseln heute mit einer Geschwindigkeit, daß sich eine Firma nicht mehr auf den Erfolgen von gestern ausruhen kann. Sie muß immer wieder nach neuen Wegen suchen, um heute bestehen zu können. Die vielen Sitzungen, die die Manager von einem Termin zum andern treiben, leiden alle an Kurzatmigkeit. Es ist nicht die große Perspektive, die heute gefragt ist, sondern der schnelle Erfolg, ohne Rücksicht, was die Folgen für die Schöpfung und für die Menschen im Betrieb auf Dauer sind. Auch in Führungsseminaren wird auf diesen kurzfristigen Erfolg gesetzt. Das führt aber dann zu einem ständigen Umbauen der Firma, zu einem ständigen Rollenwechsel der Mitarbeiter, zu immer neuen Fortbildungsmaßnahmen. Aber vor lauter Umbauen der Strukturen kommen die Menschen nicht zur Ruhe, kann man nicht mehr mit Ruhe arbeiten. Der kurzfristige Erfolg wird erkauft durch die Unzufriedenheit der Mitarbeiter und durch ihre psychische und physische Ausbeutung. Die Ruhelosigkeit der Verantwortlichen setzt sich fort in einer hektischen Atmosphäre in der Firma. Der Druck wird nach unten weitergegeben. Oft scheint der Druck nur Ausdruck der Ratlosigkeit zu sein, die die Leiter umtreibt. Die Geschäftigkeit ist nur eine Scheinlösung. Man meint, damit eine angemessene Antwort auf die Probleme unserer Zeit zu geben. Aber da man nicht die Ruhe findet, wirkliche Lösungen zu finden, erzeugt man nur immer mehr Ruhelosigkeit bei allen Mitarbeitern. Immer weniger wissen einen Ausweg aus dem Teufelskreis der Hektik.

Dazu kommt eine äußere Mobilität, die unsere Gesellschaft prägt. Wer heute Arbeit finden will, muß mobil und flexibel sein. Er muß bereit sein, öfter seinen Wohnsitz zu wechseln. So aber kann er nirgends einwurzeln und nirgendwo zur Ruhe kommen. Man braucht nur einmal den Verkehr auf den Autobahnen zu beobachten, um die Ruhelosigkeit zu erspüren, die unsere Gesellschaft prägt. Zur Mobilität in bezug auf den Arbeitsplatz gehört der Drang, zu allen möglichen Ereignissen fahren zu müssen. Gerade die Freizeit verbringen viele nicht in ihrer Heimat. Sie müssen erst hinaus fahren ins Grüne oder gar in ferne Gegenden fliegen, um Freizeit zu genießen. Aber die Freizeit ist nicht von Ruhe geprägt, vielmehr von Hektik und Unruhe. Da gibt es den Animateur, der die Urlauber ständig auf Trab hält, oder den Entertainer, der uns davor bewahrt, mit uns selbst in Berührung zu kommen. Denn er hält ständig etwas zwischen uns und unsere Seele. Da verkommt die Freizeit zu einem ständigen In-Bewegung-Sein. Und so kommen die Urlauber nicht erholt nach Hause, sondern gestreßt. Das letzte Stück Erholung, das sie vielleicht mitbringen, geht in den Rückreisestaus auf den Autobahnen verloren.

Geschäftigkeit als Ausdruck der Ziellosigkeit

Wenn ich einmal im Urlaub durch die Fußgängerzone Münchens gehe, so erlebe ich da nur geschäftige Menschen. Sie eilen von einem Geschäft zum andern. Ja selbst die Touristen scheinen voller Hektik zu sein. Mark Twain meint, die Geschäftigkeit unserer Zeit sei Ausdruck der Ziel- und Orientierungslosigkeit: „Als sie das Ziel aus den Augen verloren, verdoppelten sie ihre Anstrengung.“ Wer ein Ziel vor Augen hat, der geht konsequent darauf zu, ohne sich ständig anzutreiben. Wer das Ziel nicht mehr kennt, der versucht, seine innere Leere mit Aktivismus auszufüllen. Er kommt sich wichtig vor, weil er soviel zu tun hat. Er will sich beweisen, daß sein Leben sinnvoll ist. Er ist doch ständig mit Wichtigem beschäftigt. Doch wenn er es genauer anschaut, ist es oft Luft, mit der er sich beschäftigt. Mit seiner Beschäftigung möchte er nur die Leere überdecken, die hinter seiner Hektik als gefährlicher Abgrund lauert. Paul Virilio hat diese Erfahrung in die Worte gekleidet: „Die Geschwindigkeit ruft die Leere hervor, die Leere treibt zur Eile.“ Je geschäftiger einer ist, desto mehr entsteht in ihm eine Leere. Und diese Leere versucht er wiederum, mit hektischer Betriebsamkeit zu füllen. So entsteht ein Teufelskreis, aus dem er nicht mehr ausbrechen kann. Unsere Zeit ist von diesem Teufelskreis von Hetze und Leere gekennzeichnet. Manchmal hat man den Eindruck, daß unsere Politik das Ziel aus den Augen verloren habe und deshalb so hektisch jeden Tag andere Lösungsmöglichkeiten präsentiere.

Die Ziellosigkeit und Orientierungslosigkeit zeigt sich auch in unserem Freizeitverhalten. Anstatt alte Kirchen anzuschauen oder die schöne Landschaft zu genießen, wird der Erlebnisurlaub organisiert. Man hetzt die Menschen von Event zu Event. Animateure müssen die Urlauber ständig beschäftigen. Hier wird deutlich, daß Hetze von Haß kommt, daß die Animateure die Leute „hassen machen“, daß so ein Urlaub nichts Menschenfreundliches ist, sondern Ausdruck des tiefen Menschenhasses, der sowohl Urlauber wie Organisatoren bestimmt. Je zielloser man ist, desto mehr treibt man einander in die Hetze, desto mehr hindert man sich daran, den Augenblick zu genießen. Urlaub kommt eigentlich von „Erlauben“. Im Urlaub sollten wir uns erlauben, die Muße zu genießen. Muße ist das Gegenteil von Hetze, in die der Animationsurlaub treibt. Muße ist Zustimmung zum Sein, Sich-Versenken in die Wirklichkeit, einfach Dasein, ohne Druck, sich beschäftigen zu müssen.

Pascal Bruckner, ein französischer Philosoph, hat den heutigen Menschen gekennzeichnet als „den hyperaktiven Nichtstuer, der immer in Alarmbereitschaft ist, bereit zum Erstürmen des Amüsierbabel“ (63). Früher war die Muße Privileg der Begüterten, heute scheint „die Arbeit zum letzten Refugium der Elite zu werden“ (ebd.). Die absolute Ruhe scheint heute nichts Erstrebenswertes zu sein, sondern eine Strafe. Freizeit ist heute nicht „jener wesenhafte Friede in den Tiefen des Seins, den Paul Valéry pries. Sie zeichnet sich durch die Unmöglichkeit aus, nichts zu tun. Überall Eile, Presse, Alarm im Dienst der größten Lächerlichkeiten: im Fernsehen die Tyrannei der Uhr, gelenkt von Werbenotwendigkeiten . . . Selbst in den Augenblicken der Entspannung bleibt der moderne Mensch ,ein Arbeiter ohne Arbeit‘ (Hannah Arendt).“ Er wird zum unruhigen Müßiggänger, der unfähig ist, seine Hektik zu lassen und die Ruhe zu genießen. Nicht die Sehnsucht nach Ruhe prägt die heutige Freizeitindustrie, sondern die Flucht vor der Ruhe in die Betriebsamkeit. Bruckner nennt die heutige Freizeit „die Kunst, den Wind zu umarmen, verkleidet als Überanstrengung“. Und schon Kurt Tucholsky schreibt davon, daß unsere Zeit „den zappelnden Nichtstuer“ erfunden habe. Der zappelnde Nichtstuer prägt unsere heutige Freizeitindustrie.

Maßlosigkeit

Eine wichtige Ursache für die Ruhelosigkeit unserer Zeit ist die Maßlosigkeit, die alles beherrscht. Diese Maßlosigkeit zeigt sich in der Werbung, die uns dazu anstachelt, immer noch mehr zu kaufen, immer wieder Neues auszuprobieren. Die Werbung spricht unsere maßlosen Bedürfnisse an, unser Bedürfnis nach immerwährendem Glück, nach sofortiger Befriedigung, nach Geborgenheit und Erfolg. Hinter der Maßlosigkeit der Werbung steht ein ganz bestimmtes Selbstbild, das wir haben, das Bild eines Menschen, der alles kann, für den es keine Grenzen gibt, der alles im Griff hat. Der maßlose Mensch bläht sich auf. C. G. Jung spricht von Inflation. Er versteht darunter den Menschen, der keine Grenze mehr anerkennt, der meint, alles sei machbar. Er wird unruhig, sobald er an seine Grenze stößt. Und er versucht der Grenze aus dem Weg zu gehen, indem er seine maßlosen Bedürfnisse befriedigt. Aber sobald ein Bedürfnis befriedigt ist, taucht schon das nächste auf. So kommt er nie zur Ruhe.

Die Maßlosigkeit bestimmt auch unsere Produktion. Wir müssen immer mehr produzieren, ohne Rücksicht darauf, ob die Produktion überhaupt sinnvoll ist. Wir müssen immer schneller fahren, immer mehr in weniger Zeit vollbringen. Wir müssen immer weiter in Urlaub fahren. Wir müssen immer teurere Autos kaufen. Es ist wie ein Zwang, unter dem viele Menschen stehen. Sie können das, was sie haben, nicht genießen. Weil sie die Mitte verloren haben, weil sie ihr Maß vergessen haben, können sie sich nur an den andern messen. Sie müssen besser abschneiden als die andern. So werden sie von den Bedürfnissen der anderen bestimmt, anstatt das Maß anzunehmen, das für sie stimmt. Nur wer maßvoll ist, kann auch Ruhe finden. Nur wer sein Maß kennt, kann auch nein sagen zu den Bedürfnissen, die man ihm aufdrängt.

Lärm als Ruheverhinderer