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Packend. Mysteriös. Spannend. "Herzkalt" hat alles, was ein guter Krimi haben sollte: Eine durchgängige Handlung, eine klare, unmißverständliche Sprache, interessante Charaktere und ungewöhnliche Schauplätze. Die Hauptperson ist nicht einer der üblichen Ermittler, sondern ein Werbetexter aus New Yorks Kreativmeile Madison Avenue. Wie er mit dem organisierten Verbrechen in Berührung kommt und damit umgeht, fesselt und überrascht bis zur letzten Zeile. Das Tempo der Hauptstadt der Welt, die niemals schläft und ihre ganz besondere Atmosphäre werden authentisch geschildert. Spannung pur für Anspruchsvolle!
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Seitenzahl: 320
Veröffentlichungsjahr: 2013
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Joachim Kath
Herzkalt
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
Impressum neobooks
Es war an einem Tag wie jeder andere, als alles begann. In den seriösen Zeitungen stand auf der ersten Seite, was in den Boulevardblättern auf der letzten stand. Und umgekehrt! Irgendjemand hatte sich mit irgendjemand getroffen. Ein Politiker mit seinesgleichen, ein Mörder mit seinem Opfer, ein prominentes Liebenspaar miteinander. Die Luftfeuchtigkeit lag bei gerade noch erträglichen 86 Prozent.
Ich hatte an jenem Tag, wie an allen Wochentagen, das berühmte Herzklopfen des New Yorkers, der kleine ausländische Münzen oder Metallplättchen von geringem Wert in die Schlitze der Subway-Sperren wirft. Die Dinger, rund zwanzig Mal billiger als die offiziellen Tokens zu erstehen, wurden ganz offen in den Straßen vor den Stationen feilgeboten. Verkaufen und besitzen durfte man sie, nur in die Automaten stecken durfte man sie natürlich nicht. Aber wer hielt sich in einer Stadt, in der schon der Normalverdiener ums nackte Überleben kämpft, an Vorschriften?
Was an dem Tag im Büro los war, business as usual wahrscheinlich, habe ich verdrängt. Doch daran, dass ich mir von Ernesto, dem Puertorikaner, an dessen Kolonialwarenlädchen ich auf dem Nachhauseweg immer vorbei kam und das er mit Hilfe seiner ständig wachsenden Familie fast rund um die Uhr offen hielt, ein Paar Büchsen Bier und Sandwiches einpacken ließ, erinnere ich mich noch genau. Oder waren es zwei Portionen Pastrami, jenes unglaublich dünn geschnittene, gepökelte und gebratene Rindfleisch, von dem immer alle behaupteten, es würde nie eine Weide gesehen haben? Und das sie trotzdem alle mit Genuss aßen. Seit Jahren.
Gerade als ich mich, wenigstens daran ist meine Erinnerung exakt, vom Schnürbänderlösen aufrichtete, die Lehne meines Lieblingssessels sanft im Kreuz spürte und mich anschickte, die am Morgen begonnene Zeitung zu Ende zu bringen, ließ meine Frau Judith, die von der Küche aus mit halbem Auge die CBS Evening News verfolgte, ihr verzweifelt aufgeregtes Doppel-Nein hören. Das zweite Nein lauter als das erste. Entweder war etwas Dramatisches geschehen oder etwas Banales. "Vielleicht ist die Milch wieder übergekocht", dachte ich.
Trotzdem blickte ich hoch. Auf dem Bildschirm zeigten sie gerade einen ziemlich schmutzigen, gefliesten Raum, wie er für öffentliche Toiletten typisch ist. Auf dem Boden lag, soweit man das überhaupt erkennen konnte, ein junges Mädchen oder eine junge Frau, von der im Kommentar behauptet wurde, es sei die 27. Drogentote in diesem, erst zwei Wochen alten Jahr. Allein in New York.
"Das ist doch Dorothy", rief Judith entsetzt, "Dorothy, mit der Jane auf Europatrip ist! Ihre Freundin Dorothy!"
"Das kann nicht sein!" versuchte ich meine Frau zu beruhigen, "wir haben erst gestern von unserer Tochter Jane eine Ansichtskarte aus Salzburg bekommen, mit Mozarts Geburtshaus drauf. Und beide Mädchen haben unterschrieben."
Im Fernsehen versuchten sie sich bereits an der Wetterprognose anhand eines unscharfen Satellitenfotos. Lot of thunderstorms in der Karibik, so viel war mal sicher. Judith beharrte, es wäre Dorothy gewesen und ich müsste unbedingt Dr. Snyder anrufen, den Vater des Mädchens, der ein paar Blocks weiter eine Zahnarztpraxis betrieb.
"Warum die Welt mit einer Vermutung verrückt machen?" war mein Standpunkt. Aber Judith blieb hartnäckig. Sie griff selbst zum Telefon und weil sich bei den Snyders niemand meldete, rief sie schließlich die Polizei an.
Die Tote könne im zentralen Leichenschauhaus von Manhattan identifiziert werden. Einen Ausweis habe sie nicht dabei gehabt, erfuhr man.
"Es war Dorothy!" sagte Judith, so als wenn sie sich in ihrer Meinung bestätigen wollte. "Es ist unsere Pflicht, hinzufahren! Wie du so ruhig im Sessel sitzen kannst, verstehe ich nicht. Wir müssen der Sache auf den Grund gehen!"
"Das können wir immernoch! Morgen ist Zeit dafür! Tote laufen einem nicht weg! Aus der Hölle von Manhattan komme ich gerade! Ich argumentierte, doch sie blieb stur.
"Wenn du nicht mitkommst, fahre ich allein", sagte sie, wohlwissend, dass ich das niemals zulassen würde. Zu dieser Stunde konnte keine Frau alleine auf die Straße. Nach einigem hin und her begleitete ich sie schließlich mit mürrischem Gesicht.
In der Subway saß ein junger, schwarzer Polizist, über dessen lange Beine jeder Passagier, der in den hinteren Teil des Wagens gelangen wollte, steigen musste. Am liebsten hätte ich eine Bemerkung gemacht. Aber er hatte einen großen, polierten Massivholzknüppel über seine Knie gelegt, den er liebevoll streichelte. Dr Retter im Falle eines Überfalls gab sich drohend, auch gegenüber den möglichen Opfern.
Der Museumsbau des Leichenschauhauses wirkte gespenstisch. Die Wände des Raumes, in den sie uns führten, zierten statt Gemälde blanke Metallplatten mit Griffen dran. Es brannte kaltes, fahles Licht. Die Platten waren die Stirnseiten von mannsgroßen Schubladen, in denen die Toten der letzten 24 Stunden lagen.
"Junge Frauen haben wir sechs!" sagte der Mann im grünen Kittel, "die normale Tagesquote! Im Jahresdurchschnitt!"
"Sie ist erst heute Abend im TV gezeigt worden!" sagte Judith.
"Die neu Eingelieferten sind auf der anderen Seite", sagte der Mann, als wenn er von War sprach. Mit einiger Anstrengung zog er einen der schweren Metallbehälter auf Schienen halb heraus.
"Sind Sie die Eltern?" fragte er und deckte vorsichtig, ohne die Antwort abzuwarten, das Kopfende auf. Wir waren auf den Anblick vorbereitet, aber wir brachten einfach einige Sekunden, eher wir etwas erkannten. Es war Dorothy. Auf dem vom Pathologen ausgefüllten Formular stand als Todesursache: Überdosis Heroin. Judith schluchzte.
"Nein, wir sind nicht die Eltern", sagte ich, "aber wir kennen ihren Namen. Sie heißt Dorothy Snyder.
"Die Tote muss von ihren nächsten Angehörigen identifiziert werden, wenn sie in der Stadt sind, das ist Vorschrift. Und zwar innerhalb eines Tages!"
"Was ist, wenn nicht?" fragte ich automatisch.
"Dann wird sie auf Hard Island von Sträflingen in einem Massengrab verscharrt. Die Stadt New York muss sparen. Einäschern käme teurer!"
Wir gaben ihm die Adresse.
Dann sahen wir uns noch die Gsichter der anderen fünf weiblichen Leichen an, aber unsere Tochter Jane war nicht darunter. Es war keine vollkommene Beruhigung. Wo war Jane? War sie noch in Europa? Waren die beiden Mädchen, gerade achtzehn Jahre alt, überhaupt in Europa gewesen? Judith bestürmte mich mit Fragen.
Wir geingen noch in der selben Nacht zum Polizeirevier und gaben eine Suchmeldung auf. Der Wachhabende versuchte uns zu trösten: "In New York gehen jede Nacht mehr Frauen als Autos verloren und tauchen am nächsten Morgen wieder auf. Die allermeisten unbeschädigt, was man von den Autos nicht behaupten kann!" Er grinste dabei zynisch und hielt auch nicht inne, als ich ihn strafend ansah. Unsensibel wie er war, kam für ihn nur Sex in Frage, wenn Frauen verschwanden. Er hatte es nicht ausgesprochen, aber sein Grinsen war deutlich genug gewesen.
"Schon mal was von Rauschgift gehört?" fragte ich den Rothaarigen verbittert.
"Nein, Sir! Nur der ganze Asservatenschrank ist voll von dem Zeug", erwiderte er mit rauher Stimme und deutete mit dem Daumen hinter sich. "Die Kids pumpen sich den Stoff rein und kippen um, wenn sie zuviel erwischen. Die Dealer strecken die Ware normalerweise mit Strychnin oder Traubenzucker. Abr wenn sie nur den leisesten Verdacht haben, jemand würde sie verpfeifen, liefern sie auch schon mal was Pures. Und dann steht im Protokoll des Doktors Überdosis. Das ist der berühnte goldene Schuß, der vermutlich mehr unfreiwillig als bewusst gesetzt wird."
"KennenSie die?" fragte ich und zeigte ihm ein Passbild von Jane, das ich in meiner Brieftasche hatte. Es war nicht mehr ganz neu und die Wahrscheinlichkeit war ohnehin gering, dass er sie zufällig gesehen hatte. Trotzdem enttäuschte mich seine Antwort. "In New York City", meinte er treuherzig, "kann auch die Polizei niemanden finden, der nicht gefunden werden will oder soll! Es hängen rund 200.000 Menschen an der Nadel. Und dann die vielen Alkoholiker und Medikamentensüchtigen und jetzt auch noch die Crackies. Wer soll sich da noch zurecht finden?"
In dieser Nacht beschloss ich, Jane selbst zu suchen. Noch wusste ich nicht, wo ich anfangen sollte. Es war zweifelsfrei ihre Schrift auf der Karte aus Salzburg und die Karte trug auch einen österreichischen Poststempel. Echt oder falsch? Keine Ahnung! Und Europa war weit!
„Ich habe nie etwas an Jane bemerkt“, sagte Judith, „keine engen oder weiten Pupillen, kein geklautes Geld, keine Vernachlässigung“.
Ich antwortete nicht. War es nicht immer so, dass Eltern oder Freunde zuletzt bemerkten, wenn sich irgendetwas veränderte? Raubt die fehlende Distanz nicht den Durchblick? Wie war das mit den Bäumen und dem Wald? Nein, Sprichwörter und Redensarten stimmten fast nie. Vielleicht hat Jane mit der ganzen Katastrophe überhaupt nichts zu tun, versuchte ich mich zu beruhigen und Ordnung in meine Gedanken zu bekommen. Aber ich konnte nicht verhindern, dass ihr Leben wie ein Film vor meinen Augen ablief – das einzige Leben, meines eingeschlossen, dass ich buchstäblich von Anfang an kannte und hautnah erlebt hatte.
Ich sah Jane vor mir, als die Säuglingsschwester sie zum ersten Mal hinter einer Glasscheibe hochhielt. Ein rotes, verschrumpeltes Etwas mit Resten von Käseschmiere in den spärlichen Härchen auf dem vom engen Geburtskanal länglich verformten Kopf. Ich sah sie vor mir, als sie zum ersten Mal mit zahnlosem Mund lächelte und ihr rosa Gaumen wie zwei Schienen sichtbar wurde. Sah sie auch vor mir, als sie zum ersten Mal in Bauchlage den Kopf hob, zum ersten Mal saß, stand und lief.
Diese Ersterlebnisse sind es, die man nicht vergisst. Die sich einem tief eingraben in ein sonst noch so löchriges Gedächtnis. Wenn sie krank war – und sie war nie ernstlich krank – hatte ich auch tagsüber an meinem Schreibtisch an sie gedacht. Ich hatte jahrelang auf ihre tausend Fragen geantwortet, so gut es ging und mir dabei bewusst werdend, wie wenig wir Erwachsenen eigentlich wissen. Ich hatte ihr das Radfahren beigebracht und das Schwimmen, das Rollschuhlaufen und Schlagballwerfen. War mit ihr in Walt Disneys bunten Filmen gewesen und hatte sie laut mitlachen hören und auch schluchzen, wenn Bambi seine Mutter suchte. Wie Millionen Väter auf der Welt.
In den letzten Jahren waren wir nicht immer einer Meinung gewesen. Wie unwichtig das jetzt war! Sie wollte nicht studieren, sondern etwas Praktisches lernen. Goldschmiedin oder Grafikerin. „Es ist mein Leben!“ war ihr häufigster Spruch. Wie recht sie hatte. Es war ihr Leben. Aber irgendwie war es auch meins. Und ob sie aus ihrem Leben jetzt noch machen konnte, was sie wollte? Genau das war die Frage, die jetzt auf meiner Seele brannte.
„Was wirst du unternehmen?“ fragte Judith, als sie die Sicherheitskette unserer Wohnungstür von innen mit einer automatischen Bewegung vorlegte und danach noch zwei weitere Riegel herumdrehte, während ich etwas ratlos hinter ihr in der Diele stand.
„Ich weiß es nicht“, sagte ich achselzuckend.
„Ich kenne dich, David! Du hast etwas vor! Wenn du deine Wangenmuskeln anspannst, hast du etwas vor“!
Ich schaute in den Dielenspiegel und fühlte mich durchschaut.
„Ich werde Jane finden“, sagte ich nach einer Pause.
„Natürlich!“ sagte sie und genauso gut hätte sie mich auch einen Idioten nennen können.
„In dieser Stadt mögen Tausende von Menschen jedes Jahr verloren gehen, spurlos und für immer. Aber nicht meine Tochter! Ich tue es nicht nur für sie, sondern auch für mich und für uns. Ich kann keine Ruhe geben, weil ich sonst keine Ruhe finde! Und wenn ich alle elf Millionen Einwohner persönlich überprüfen muss. Eines Tages werde ich sie finden. Wir werden uns in die Arme schließen und sie wird schweigen. Und ich werde ihr keine Vorwürfe machen.“
„Du wirst keine Zeit dazu haben“, sagte Judith praktisch, „tagsüber wird dein Chef dich nerven und abends wirst du die Beine ausstrecken wollen“.
„Ich werde meinen Job kündigen, aber vorher noch einen Kredit aufnehmen, denn ohne feste Arbeit geben sie einem bei der Bank nichts“.
„Aha, das steht schon alles fest. Wo willst du anfangen zu suchen, im Central Park? Oder wo?“ fragte Judith sarkastisch.
„Ich werde mir einen Plan machen! Wahrscheinlich werde ich mit den Fluggesellschaften beginnen und nach den Passagierlisten von jenem Montag fragen, an dem die Mädchen angeblich losgeflogen sind. Dann werde ich in der Highschool jeden unter die Lupe nehmen, der im letzten Vierteljahr und vor diesen Ferien, an die sich dann das Examen anschließt, auch nur ein Wort mit den Zweien gewechselt hat. Und ich werde jeden fragen, der sie kennt, ob sie mit jemand gesehen wurde, der nicht zu ihrer Clique gehört.“
„Was ist, wenn du dich einfach in deiner Firma krank meldest?“ fragte Judith, die meinen Entschluss zu impulsiv fand und vermutlich auch wegen des fehlenden Einkommens in Sorge war.
„Sie werden mich besuchen kommen, dauernd anrufen, wo etwas liegt, Atteste verlangen. Ich fühle, dies hier wird eine längere Sache sein, ein paar Monate vielleicht, oder sogar ein Jahr. Mein Leben wird sich total verändern. Am besten du ziehst für die Zeit zu deinen Eltern nach Neuengland.“
„Neuengland sagst du ja nur, weil du Massachusetts nicht aussprechen kannst!“
„Ich werde nachts weg sein und tags schlafen, ich werde müde, unrasiert, übellaunig sein – ich möchte nicht, dass du mich so siehst und ich möchte nicht, dass die im Büro mich so sehen“.
„Ich kann dir helfen. Wir können das ganze Projekt gemeinsam durchziehen. Warum willst du nicht, dass ich dir helfe“? fragte Judith beleidigt.
„Ich werde dich ab und zu anrufen. Das verspreche ich. Aber es ist besser, wenn du nicht in dieser Stadt bleibst. Ich muss mich konzentrieren, darf keine Rücksicht nehmen müssen. Es wird keine geregelte und regelmäßige Arbeit sein. Sie wird gefährlich sein, vielleicht hinterhältig, ich muss frei Hand haben, ein Spiel zu spielen, dessen Regeln ich noch nicht kenne“.
Abschiede sind entsetzlich. Man ist so sprachlos und wenn man etwas sagt, klingt es so hohl. „Pass gut auf dich auf“, sagte Judith am Morgen von Dorothys Beerdigung, als wir uns am Zug nach Boston voneinander verabschiedeten. „Du auch“! sagte ich und empfahl ihr, keiner Menschenseele ihren Aufenthaltsort zu verraten, obwohl ich wusste, dass die Wohnungen von engen Verwandten zum Wegtauchen völlig ungeeignet sind.
Uns beide hatte die Reaktion der Schneyders, Dorothys Eltern, tief erschüttert, auch wenn wir dafür Verständnis hatten. Er sprach ziemlich unreflektiert von der Todesstrafe und sie davon, ihre Tochter schon immer vor dem Umgang mit unserer Jane gewarnt zu haben. Sie fingen an, für das furchtbare Geschehen Schuldige zu suchen, die sie kannten. Wir hatten uns nur stumm angeblickt und uns nicht verteidigt.
Wie sollte ich mit der Suche nach Jane beginnen? Welche Strategie anwenden und welche Taktik? Was zuerst angehen? Nach dem Mittagessen in einem Schnellrestaurant, in dem die Hast des Großstädters perfekt kommerzialisiert wird und in dem ich mich wie eine Marionette fühlte, die von dem hektischen Takt mitgerissen wurde, fühlte ich mich wie besinnungslos. Irgendwie darf man dort drin kurz inhalieren und wird sofort wieder auf die laute Ausfallstraße gespuckt.
So richtig klare Gedanken konnte ich noch nicht fassen und rief deshalb die erste Fluggesellschaft auf meiner langen Liste an, die von New York gen Europa rotierten. Na klar, über die Namen von Passagieren dürften keine Auskünfte gegeben werden. Auch die Namen derer, die längst geflogen waren und denen folglich keine explosivern Gegenstände mehr ins Gepäck geschmuggelt werden konnten, dürften nicht bekannt werden. Man nannte so einleuchtende Gründe wie eifersüchtige Ehepartner, die sich gegenseitig hinterher spionieren und Anwälte wie Privatdetektive beauftragen. Aber auch Arbeitgeber, die Reisespesen kontrollieren wollen. Nein, es sei grundsätzlich verboten, Datenschutz! So sorry!
Trotzdem ließ ich mich nicht entmutigen und klapperte weitere Fluggesellschaften ab. Hingehen muss man, das war immer meine Devise gewesen, die Leute persönlich konfrontieren, wenn man etwas erreichen will. In den Direktionen von ihrer antrainierten Plastikfreundlichkeit profitieren. Die können gar nicht anders, wenn man vor ihnen steht. So war es. Keiner war wirklich abweisend in den höheren Etagen. Schon bei der vierten Adresse wurde ich fündig. Ja, die Namen der beiden Mädchen waren tatsächlich auf der Passagierliste. Nein, mehr könnte man beim besten Willen nicht … Thanks a lot! You are welcome!
Was bedeuteten denn schon zwei Namen auf einem Stück Papier? Dass sie geflogen sein konnten, aber nicht geflogen sein mussten. Zwei andere Mädchen konnten genauso gut unter falschem Namen und echten Papieren die Maschine benutzt haben. Ich war so schlau wie vorher, bedankte mich aber ausführlich. Die Drehtür schleuderte mich in die raue Kälte des Januarnachmittags zurück. Ein Blizzard ging über der Stadt nieder. Der Verkehr brach zusammen. Der Schnee lag bald knöchelhoch und näherte sich den Knien. Ich rannte die glitschigen Stufen eines Eingangs zur Subway hinunter.
Vielleicht gab der Fundort der toten Dorothy Aufschluss? Die Toilette der Zentralbibliothek. Ich hatte das Mädchen noch bei uns zu Hause vor rund acht Wochen gesehen, lustig und voller Tatendrang. Jane und sie waren euphorisch wegen ihrer Reise. Paris natürlich, Rom, Berlin – sie hatten sich die Namen ihrer Ziele begeistert zugerufen. Aber nach Auskunft der Gerichtsmediziner gab es keinen Zweifel, dass Dorothy schon seit mindestens einigen Monaten drogensüchtig gewesen war. Das hatten sie anhand der Vernarbungen an den Einstichstellen festgestellt. Bücher aus der Bibliothek hatte man bei der Toten nicht entdeckt, überhaupt keine schriftlichen Aufzeichnungen.
Ich zeigte den Bibliothekarinnen trotzdem das Bild von Jane. „Nein, nie gesehen!“ So oder so ähnlich antworteten alle, mich über ihre leicht verrutschten Brillen musternd. Manche nahmen das Foto in die Hand, um es dann doch weit von sich zu halten. Es gehörte zu ihrem Berufsbild, halbe Lesebrillen zu tragen und sorgfältig zu sein. Man kann nicht behaupten, sie würden sich keine Mühe geben.
Was mir an der ganzen Sache nicht einleuchtete, war die Europareise der beiden Freundinnen. Zumindest von Dorothy wusste ich definitiv, dass sie süchtig war. Wer süchtig ist, verreist nicht, außer er kommt auf diese Weise leichter an Stoff heran. Möglich war natürlich, dass sie einfach untertauchen wollten und deshalb eine Spur in den alten Kontinent mit seinem Sprachengewirr, seinen Ländergrenzen und zahlreichen Millionenstädten legen wollten. Aus der Sicht eines Amerikaners gewiss ein Denkansatz, doch dann fliegt man sicherlich zuerst nach London, schon wegen der Sprache. Nein, irgendwie erschien mir auch diese Idee als einigermaßen absurd. Süchtige verlassen nicht freiwillig ihren Dealer. Irgendetwas stimmt da nicht.
Ich musste zurück zu der konkreten Spur bei der Fluggesellschaft. Dieses verdammte Flugzeug blieb zunächst der einzige Schlüssel. Ich musste an die Passagierliste herankommen. An diese auf Endlospapier per Computer gedruckten Daten, die der Direktor der Airline als mehrfach gefalteten, grauweiß gestreiften Bogen, in seinen Händen gehalten hatte.
Damals bei meinem Besuch, der erst Stunden her war, hatte er gemeint, er könne mir nur sagen, ob einer der von mir genannten Namen auf seiner Aufstellung wäre, mehr nicht. So hatte er mich gleich an der Tür empfangen. Weitere Namen, Telefonnummern, Adressen – kein Kommentar! Eigentlich dürfe er überhaupt nichts sagen. Von ihm war also kein größeres Entgegenkommen zu erwarten. Und für die Polizei war der Fall auch gelöst. Es hat eine Drogentote gegeben und eine Vermisste. Na und? So etwas ist in New York so alltäglich wie Apfelkuchen.
Wie kommt man an eine Passagierliste heran, die in einer Schreibtischschublade oder sogar im Panzerschrank einer Fluggesellschaft lagert, deren Büros in einem riesigen Glaskasten sind, beginnend ab dem 22. Stock? „Durch einen Anwalt“, meinte meine Frau Judith, als ich sie bei ihren Eltern anrief, auch um zu hören, ob sie gut angekommen sei. Ja, natürlich, möglicherweise, aber Anwälte haben Tarife, die einen Teil meines Geldes, von dem ich noch länger leben musste, aufgefressen hätten.
Ich beschloss an jenem Abend, gleich morgen früh die Highschool der Mädchen aufzusuchen, weil ich keine andere Lösung wusste und die Ferien endlich vorüber waren. So geschah es.
„Hey, Alter, bist du der Neue?“ fragte ein Schlacks, der seine Jeansbeine auf dem Tisch hatte und mich durch das V seiner genobbten Turnschuhsohlen beobachtete, als ich den Unterrichtsraum betrat. Sie hatten Pause und es war ziemlich laut. Einige seiner Kumpels bogen sich vor Lachen über den gelungenen Witz ihres Anführers. Alle trugen Baseball-Capes, einige hatten sie verkehrt herum auf und auf ihren T-Shirts standen irgendwelche Sprüche, bei denen das F-Wort die Hauptrolle spielte.
„Ich bin Janes Vater!“ versuchte ich mir Gehör zu verschaffen.
„Welche Jane?“ riefen einige.
„Jane Koch!“
Die meisten schauten neugierig auf. Einige der Mädchen drehten sich um. Ein paar Jungen pfiffen anerkennend. „Baby Jane!“ rief einer mit einem dünnen Vollbart süffisant.
„Was ist mit Jane?“ fragte ein Mädchen.
„Das genau weiß ich nicht, ich suche sie!“
„Da fragen Sie am besten ihre Freundin Dorothy!“
„Dorothy ist tot!“ sagte ich leise.
„Das hat man davon, wenn man nach Europa fliegt“, sagte der Lange ungerührt. „Die rasen dort auf ihren Autobahnen wie die Teufel!“
„Dorothy“, sagte ich ruhig, „ist in New York gestorben, es stand in der Zeitung und war im Fernsehen zu sehen!“
„Es ist unser erster Schultag, Mann!“ sagte der Wortführer gelangweilt. „Außerdem bekommen wir nur mit, was im Internet steht!“
„Ich will von euch wissen, wer mit Jane und Dorothy Kontakt hatte!“ wurde ich energisch.
„Ich denke, Sie sind der Vater von Jane“, sagte die Bohnenstange mit dem frechen Mundwerk, „Sie müssten ihre Tochter eigentlich kennen.“
„Hier sind sie immer unter sich geblieben, hatten kleine Freunde in der Klasse!“ sagte schließlich ein Mädchen in einer knallroten Latzhose.
„Manchmal wurden sie von einem silbernen Mercedes abgeholt!“ sagte ein Sommersprossiger mit Nickelbrille.
„Kennzeichen?“ fragte ich lässig und kam mir im selben Augenblick albern vor, weil ich ihren Jargon imitierte.
„New York City, wahrscheinlich“, sagte der Junge, „mehr weiß ich nicht!“
In diesem Augenblick betrat Mr. Miller den Klassenraum. „Ich vermisse Ihre Tochter, Mr. Koch!“ sagte der Lehrer in seinem texanischen Akzent, der Vorwürfe glättet. „Deswegen bin ich hier“, sagte ich und erzählte ihm die Geschichte mit Dorothy. Er kannte auch niemanden der mit den Mädchen zusammen gewesen war, wollte mal seine Kollegen fragen, den Hausmeister, Schüler aus anderen Klassen. Ich sollte ihn in der nächsten Woche anrufen. Hoffentlich war mein Lächeln nicht zu mild.
Der silberne Mercedes! Das war ein konkreter Anhaltspunkt! Es waren genau 2.956 silberne Mercedesse im Staat New York registriert, erfuhr ich bei der Behörde. Damit alleine kann man natürlich nichts anfangen. Meine Idee war, nachdem ich wenigstens das herausgefunden hatte, die Passagierliste, wenn ich sie denn hätte, mit den Zulassungen der Autos zu vergleichen, wenn ich deren Besitzer namentlich hätte. So eine Art Rasterfahndung. Ich ging nochmals zur Polizei, um meine Idee vorzutragen. An höherer Stelle, diesmal.
Wenn Laien schon Fachleuten einen Gedanken näher bringen wollen, so etwas scheitert regelmäßig an der Psychologie. „Die Tote ist nicht ermordet worden“, sagte mir der Inspektor, „folglich ist der Fall für uns abgeschlossen! Und was die Vermisste angeht: Die Meldung ist an jede Polizeidienststelle im ganzen Land durchgegeben. Wenn sie aufgefunden wird, werden Sie sofort benachrichtigt.“
„Es ist mein einziges Kind“, sagte ich.
„Sie kümmern sich wenigstens um Ihr Kind, auch wenn es kein Kind mehr ist. Das ist lobenswert, Sir! Wir haben oft Vermisste, die niemanden mehr haben und die folglich auch niemand vermisst.“
„Was würden Sie an meiner Stelle tun?“
„Ich würde nach Hause gehen und dort warten. Vielleicht klingelt das Telefon gerade jetzt und ihre Tochter ruft an, um Ihnen zu sagen, Sie sollen sie irgendwo abholen, weil sie kein Geld mehr für die Subway hat“.
„Sie kennt meine Handy-Nummer!“ sagte ich und dachte zugleich, hat der eine Ahnung, Jane kennt den Trick mit den Metallplättchen und ausländischen Münzen auch. Die kann immer fast umsonst mit der Bahn fahren, wenn sie will.
„War ja nur ein Beispiel! Vielleicht hat sie bei ihrem Freund übernachtet!“
„Es sind jetzt schon diverse Nächte vergangen. Es fällt mir schwer, nichts zu tun!“ versuchte ich mein Engagement zu rechtfertigen.
„Wenn wir sie nicht finden, finden Sie Ihre Tochter schon gar nicht!“ stellte er nüchtern fest.
„Wied diese Chance größer, wenn ich tatenlos abwarte?“ fragte ich ironisch und verließ wütend das Revier.
Mich als Fassadenkletterer zu betätigen und in Fluggesellschaften oder Behörden einzubrechen, war nicht gerade meine Spezialität. Ich hatte mein Geld bisher am Schreibtisch verdient. Das macht nicht gelenkiger, höchstens geistig. So kam ich nach einigem Nachdenken auf die Idee, nicht nur die Behörden hätten Zulassungskarteien in ihren gewöhnlich abgeschrubbten grauen Blechschränken, die sie für nichts in der Welt Normalsterblichen zugänglich machen, sondern auch die Autoverkäufer. Wie man weiß, haben sie Kundenadressen in ihren Computern, hantieren gerne mit Tageszulassungen und verkaufen überhaupt so allerhand.
Ja, so manchem Autoverkäufer ist alles zuzutrauen. Sie müssen sich um ihre Aufträge selbst bemühen und sind immer geneigt, etwas nebenbei zu verdienen, beispielsweise mit der Vermittlung von Versicherungen, Krediten und Leasing-Verträgen. Vielleicht auch, so dachte ich mir, mit dem Verkauf von Adressmaterial, sagen wir mal an eine Firma, die Zubehör für Autos jener Nobelmarke vertreibt, deren selbsternannter Repräsentant ich augenblicklich wurde. So eine Visitenkarte, die etwas hermacht, selbst mittels eines speziellen Programms am PC zu gestalten, fiel mir nicht besonders schwer.
Alle diese Verkäufer von großen Luxuslimousinen scheinen diese identische Arroganz und diese mühsam geschulten Manieren, sowie diese aufgesetzte Eleganz aus der Werbung für Herrendüfte, unbedingt verströmen zu müssen. Auch der geschniegelte Herr mit den grauen Schläfen und der Perle in der Krawatte missverstand mich zunächst, weil ich nicht als Käufer auftrat. Die Zubehörabteilung wäre in der Bronx, versuchte er mich loszuwerden.
„Ich hätte da ein Geschäft für die Park Avenue“, blieb ich hartnäckig.
„Mein Job ist es, Autos zu verkaufen“, wollte er mich abwimmeln.
„Das ist mir klar, Sir! So wie Sie auftreten, können Sie gar nichts anderes als ein Star-Verkäufer sein. Ich hätte Ihnen ein brandneues Konzept zu präsentieren, wie Sie potenzielle Käufer teuerer Wagen per Mail ansprechen können, ohne dass die gleich gelangweilt wegschauen“.
„Schießen Sie los!“ sagte er und die Dollarzeichen blitzten in seinen Augen.
„Meine Firma hat einen Super-Metallic-Sprühlack entwickelt, der teuer und sehr gut ist. Wir wollen eine Testimonial-Kampagne machen und suchen dafür Leute, die unser innovatives Produkt kostenlos ausprobieren wollen und gleichzeitig fotogen sind. Ich hatte an alle Fahrer von silbernen Mercedessen in der Stadt gedacht.“
„Verstehe! Was sind Ihnen die Adressen wert?“ fragte er eilfertig und gar nicht erst bemüht, sein Interesse an dem Geschäft zu verbergen.
„Die Adressenvermittler verlangen für tausend Stück 50 Dollar. Ich biete Ihnen das Doppelte!“
„Sagen wir 200 und die Sache läuft!“ sagte der feine Herr leise.
„Okay, 120!“
„180!“
Es war wie auf dem Basar. Ich zog 450 Dollar aus der Tasche, die ich vorher abgezählt hatte und sagte: „Die gehören Ihnen, wenn Sie die kompletten fast dreitausend Adressen liefern!“
„Wir treffen uns in zwei Tagen, ich muss die Datei erst auf eine CD brennen. Am besten in dem Lokal an der Ecke!“ Er gab mir seine stahlgestochene Visitenkarte mit englischer Schreibschrift. Ich sollte ihn anrufen.
Zwei Tage hatte ich Zeit zum Nachdenken. Wie kam ich an die Liste der Fluggesellschaft? Die gusseiserne Vorzimmerdame des Direktors wirkte nicht so empfänglich für Nebenverdienste und auch mein Charme würde bei ihr wohl nicht ausreichen. Wenn ich in zwei Tagen mit der Mercedeskäuferliste zur Fluggesellschaft ginge und darum bitten würde, zu prüfen, ob ein Name in beiden Listen auftaucht, was würde dann passieren? So ein Vergleich von rund 200 Namen von Flugpassagieren mit um die dreitausend Namen von Autobesitzern würde glatt zwei bis drei Stunden dauern. War das überhaupt realistisch? Sicherlich würden sie mir ihre Liste nicht mitgeben, auch nicht als Kopie. Außerdem wusste ich ja noch gar nicht, nach welchen Namen ich überhaupt suchte, sondern die theoretische Annahme bestand darin, dass in den beiden Verzeichnissen ein identischer Name auftauchte. Ein wahnsinniger Zufall wäre das!
Es war ein kalkuliertes Risiko, einfach nochmals das Büro der Fluggesellschaft aufzusuchen, mit der Liste der Mercedes-Fahrer in der Hand. Wenn mir meine Bitte abgeschlagen würde, die Passagierliste durchzugehen, hätte ich kaum noch eine Chance, durch einen Trick zum Ziel zu kommen. Jedenfalls würde die Wahrscheinlichkeit minimal werden, an die Daten zu kommen. Einen Einbruch zog ich gar nicht erst in Erwägung, schon weil ich mir das selbst nicht zutraute und einen Profi zu dingen, erschien mir unmöglich, weil ich mich in diesem Milieu nicht auskannte. Trotzdem beschloss ich, wieder zum Glaspalast der Airline zu fahren, sobald der Autoverkäufer sein Versprechen eingehalten hatte. Die zwei Tage dauerten ewig und waren die Hölle.
Als ich ihn wie vereinbart anrief, um die Zeit für unser Treffen festzulegen, dirigierte er mich zu seiner Wohnung um. Ich befürchtete schon, er wollte bluffen. Doch er hatte nur vergessen, dass es in dem ursprünglich vorgesehenen Lokal genügend Leute gab, die ihn kannten und deshalb war aus seiner Sicht eine Übergabe dort unmöglich. Ich schlug ihm vor, sich in einem Park zu treffen, weil ich ungern alleine in fremde Wohnungen gehe, doch er meinte, unter freiem Himmel wären wir nicht abgeschottet genug und irgendjemand könnte mit seinem Foto-Handy zufällig eine Aufnahme machen oder der Ort würde sowieso videoüberwacht.
Er wohnte in einer der vornehmen Appartementhäuser auf der Ostseite von Manhattan, mit Türsteher und Marmor überall sowie zwei den Eingang flankierenden, kugelförmig zurechtgestutzten Lebensbäumchen unter einem gelben Baldachin, auf dem irgendeiner dieser hochgestochenen Namen wie Exelsior oder Pallas stand. Ich verwechsle diese international gebräuchlichen Edelbezeichnungen immer. Wahrscheinlich wissen die Bewohner solcher Residenzen auch zuweilen nicht, in welcher Stadt sie sich gerade befinden. Dann ist es natürlich praktisch, dem Taxifahrer einen dieser Begriffe zu nennen. Irgendeine Herberge der gehobenen Art wird am Ende vermutlich gefunden. So wird das Leben wenigstens ein bisschen abenteuerlich.
„Das ist das komplette Adressenmaterial. Fotokopiert!“
„Hatten Sie nicht gesagt, Sie wollten es auf eine DVD brennen?“
„Ja, hatte ich, aber das hat aus technischen Gründen nicht funktioniert, weil die Daten schreibgeschützt waren!“
„Das sind ja jetzt über hundert Blätter und die sind nicht einmal nummeriert“, sagte ich, weil ich schon die Schwierigkeiten vor Augen hatte, sie mit der Passagierliste abzugleichen.
„Aber die Namen sind in alphabetischer Reihenfolge!“ erwiderte er.
Der Autoverkäufer war ebenso teuer wie geschmacklos eingerichtet und tat sehr geschäftsmäßig. Er verstaute die Dollarscheine umständlich in seiner Börse. Wir verabschiedeten uns unsinnigerweise wie Leute, die sich wiedersehen.
Als ich zu Hause war ging ich die gerade gekaufte Liste schon einmal sorgfältig durch, kannte aber niemanden. Schon nach dem ersten Drittel waren mir Zweifel durch den Kopf geschossen. Was tun, wenn der Gesuchte seinen Wagen in einer freien Werkstatt umgespritzt hatte und folglich gar nicht aufgeführt sein konnte? Was war, wenn der Junge aus Janes Klasse sich versehen hatte und weder ein Mercedes, noch eine New Yorker Autonummer gewesen war? Man weiß doch, was von Zeugenaussagen zu halten ist. Vielleicht hatte der Mann, der die Mädchen angeblich mit dem silbernen Mercedes abgeholt hatte, sowieso nichts mit Dorothys Tod und Janes Verschwinden zu tun. Der Weg zur Fluggesellschaft blieb unvermeidlich.
„Ich habe hier eine Liste aller Besitzer von silberfarbenen Mercedeswagen, die im Staat New York gemeldet sind“, sagte ich zu dem Direktor der Airline.
„Na und?“ fragte er.
„Ich möchte Sie bitten, die Namen mit der Passagierliste des Fluges zu vergleichen, den meine Tochter und deren Freundin genommen haben“.
„Warum?“ fragte er kühl und ich sah schon alle meine Hoffnungen schwinden.
„Die beiden Mädchen sind von Klassenkameraden beobachtet worden, wie sie mehrmals von einem solchen Wagen abgeholt wurden.“
„Ist das nicht Sache der Polizei?“ fragte er.
„Ja, das dachte ich auch, aber die Polizei stellt die Ermittlungen ein, wenn jemand tot ist und wenn jemand verschwunden ist und es sich um einen Erwachsenen handelt, sucht sie nicht aktiv, wenn es keine Anzeichen für ein Kapitalverbrechen gibt.“
„Passen Sie auf“, sagte er wider Erwarten. „Sie setzen sich hier in den Besprechungsraum und vergleichen selbst. Ich mache eine Ausnahme, weil ich Leute, die hartnäckig sind, mag. Aber sie dürfen nichts mitnehmen und niemand etwas davon sagen“.
„Einverstanden!“ sagte ich erfreut.
Nachdem ich drei Stunden lang Namen für Namen verglichen hatte, ließ meine Konzentration nach. Nichts hatte ich gefunden, was mir verdächtig erschien. Aber ich wollte noch nicht aufgeben, sondern nach einem Imbiss weiter machen. Der Direktor verständigte seine Sekretärin, mich wieder einzulassen, weil er selbst nachmittags nicht da war.
Bei Schinkensandwich, einem Glas Milch und anschließendem Reispudding als Dessert in einer der zahlreichen Cafeterias, die sich um die Bürohochhäuser in Manhattan scharrten und deren Besitzer recht einträglich von dem Heer der Angestellten lebten, kam mir die Idee, gleich klingende Namen miteinander zu vergleichen. Denn Flugkarten werden oft telefonisch bestellt. Mir war es auch schon trotz meines einfachen Namens passiert, dass dann Cook oder Cos statt Koch auf dem Schein stand. Mein Vorname David war immer korrekt, weil die Schreibweise allgemein bekannt war.
Euphorisch ging ich nach der Pause wieder an die Arbeit, weil mir meine Vermutung plausibel erschien. Nach ungefähr vier Stunden und kurz vor Büroschluss, hatte ich neben den Namen Brown und Miller, die todsicher dabei sind, wenn zehn US-Amerikaner sich treffen, folgende ähnlich klingende Nachnamen mit gleichen Vornamen entdeckt:
Paul Wester und Paul Vester
Robert Vance und Robert Fence
Mike Harris und Mike Lavis
Hinzu kamen noch ein Peter Brown und ein Tom Miller, die beide doppelt waren. Insgesamt fünf Männer, die ich genauer unter die Lupe nehmen musste. Im Prinzip kein Problem, denn auf der Autokäuferliste standen die Anschriften, weil sie die Adressen für ihre Werbung nutzten und die Fluggesellschaft hatte sich die Telefonnummern notiert. So ganz war ich mir über das weitere Vorgehen noch nicht klar, doch irgendwie keimte Hoffnung, es könnte einen Treffer geben.
Als ich gerade zu Hause zur Tür hereinkam, klingelte das Telefon. Es war Judith. Sie hatte schon den ganzen Tag versucht, mich zu erreichen. Aber ich hatte mein Handy abgeschaltet, weil ich in dem Airline-Büro niemand stören wollte, vor allem aber auch, weil ich mir mehr und mehr bewusst wurde, dass es vielleicht Leute geben könnte, die von meinen Recherchen nicht sonderlich begeistert sein könnten. Und ich wollte nicht geortet werden können, wenn die möglicherweise Hacker beschäftigen oder Personen bestechen, die Zugang zu sensiblen Daten haben. Judith hatte die Ungewissheit nicht mehr ausgehalten. Jane müsse schließlich zur Schule, bestimmt sei ihr auch etwas passiert. Ob ich schon eine Spur hätte?
„Ich weiß noch nicht, ob es eine Spur ist!“ sagte ich, „aber in spätestens einer Woche werde ich es wissen.“ „In einer ganzen Woche, dass schaffe ich nicht?“ sagte Judith. Sie wollte Einzelheiten wissen und fing an zu weinen. „Sobald ich etwas weiß, rufe ich dich an“, tröste ich sie.
In ziemlich mieser Stimmung griff ich anschließend zum New Yorker Telefonbuch. Wahrscheinlich hatte Judith recht mit ihrem Pessimismus. Aber ich hatte mein ganzes Leben lang an den Erfolg systematischer Arbeit geglaubt, jetzt wollte ich nicht nur auf den Zufall hoffen. Es hätte einfach nicht meinem Charakter entsprochen. Hoffnung hatte ich immer gesagt, wäre keine Strategie, wenn etwas aussichtslos erschien. Aufgeben kam nicht in Frage.
Die Namen Brown und Miller schieden beim Blick ins Telefonbuch schon gleich aus. Das hatte ich erwartet. Dubletten waren das Wahrscheinlichste bei so gebräuchlichen Namen. Ihre Adressen stimmten mit den Telefonnummern aus der Airline-Liste nicht überein. Was kein Wunder war, denn im New Yorker Telefonbuch standen seitenweise Peter Browns und Tom Millers.
Blieben noch drei Namen, von denen zwei im Telefonbuch standen, aber nicht in der Mercedesliste. Jedenfalls nicht in der richtigen Schreibweise. Ein Name blieb zunächst einmal übrig, den ich nicht im Telefonbuch fand. Die vermeintliche Fährte schien sich als Flop zu entpuppen. Eine Woche Arbeit umsonst!
Allerdings sah ich nach längerer Überlegung noch eine hauchdünne Chance darin, auch das Telefonverzeichnis vom Staat New York zu überprüfen. Deshalb rief ich als letzte Rettung die Dame von der Telefongesellschaft an.
„Here is your operator, what can I do for you, Sir?” meldete sie sich mit ihrer auf absolute Freundlichkeit trainierten Stimme.
„Geben Sie mir bitte die Nummer von Robert Vance oder Fence“, sagte ich.
„Can you spell it, please?”
“Vielleicht ist es besser, wenn ich Ihnen die Telefonnummer gebe, die ich habe und Sie können mir sagen, wie sich der Teilnehmer schreibt!“ sagte ich.
„No problem, Sir, our system works also the other way!”
Es stellte sich innerhalb einer Minute heraus: ein Robert Fence hatte die Telefonnummer, die in der Passagierliste unter Vance stand. Und genau dieser Robert Fence war eben auch der Käufer eines silberfarbenen Mercedes-Benz, vor fast drei Jahren erworben, ein Achtzylinder, neu.
Was soll ich sagen: Das war’s! Meine Zähigkeit hatte sich gelohnt. Die Spur schien heiß. Doch ich jubelte nicht.
Natürlich brannte ich darauf, diesen Robert Fence kennenzulernen. Am liebsten wäre ich sofort hinausgefahren, um ihn zu konfrontieren. Doch was wusste ich schon, so etwas musste minutiös vorbereitet werden. Ich konnte schlecht einfach an seiner Haustür klingeln und fragen: „Hey Bob, wo ist Jane?“ Vielleicht war er verheiratet und hatte Kinder. Dann würde er womöglich aus Gründen leugnen, die Mädchen gekannt zu haben, die mir in der Situation völlig gleichgültig waren.
Auch wenn er mit Drogen zu tun hatte, was ich wegen Dorothys Tod stark annahm, würde er es mir nicht einfach ins Gesicht sagen. Nur einem Süchtigen würde er seine Identität offenbaren, wenn er überzeugt wäre, ein Geschäft machen zu können. Aber dealte er überhaupt und wenn ja, dealte er selbst direkt, oder war er schon weiter oben in der Hierarchie und brauchte sich die Hände nicht mehr schmutzig zu machen? Wenn das so wäre, dann allerdings wäre es lebensgefährlich, nicht nur für mich, auch für Judith und erst recht für Jane. Nicht, dass ich eine Ahnung gehabt hätte von diesen kriminellen Organisationen, aber als Medienkonsument ist man schließlich nicht ganz unbedarft und hat das böse Wort vom angeheuerten Killer ab und zu in Prozessberichten wahrnehmen dürfen.
Es blieb mir nichts anderes übrig, als Robert Fence zunächst nur zu beobachten.
Ich nahm meinen alten, abgewetzten Feldstecher und steckte ihn in den Aktenkoffer. Eine Waffe hatte ich nicht. Außerdem kaufte ich bei Ernesto drei Sandwichs und zwei Büchsen Bier und machte mich auf den Weg nach Albany, der Hauptstadt des Bundesstaates New York, gelegen wo der Mohawk River in den Hudson mündet. Es war doch ein ganzes Stück in Richtung Nordosten, immerhin um die 240 Kilometer und weil man in den USA nicht so schnell fahren darf, brauchte ich mehr als vier Stunden.
Er wohnte in einer ruhigen Straße mit Vorgärten. Es war nicht möglich, sich dort lange aufzuhalten, ohne aufzufallen. Der Mercedes stand nicht vor der Tür, war aber vielleicht in der Garage. Im Moment wäre es sinnlos gewesen, zu warten und ich wollte gerade wegfahren, als mich genau der Wagen, den ich suchte, überholte und in die Garteneinfahrt bog, das Garagentor offenbar über Funk geöffnet wurde und sich sofort wieder hinter der Limousine schloss. Den Fahrer hatte ich nur als Schatten zu Gesicht bekommen.