Herzmassaker - Ina Brinkmann - E-Book

Herzmassaker E-Book

Ina Brinkmann

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Beschreibung

"Gelangweilt warf ich das sterbende Ding in die Büsche, lehnte mich zurück und wartete – auf den Regen, der nicht kam." Patrick Fechner bekommt Hausverbot im städtischen Schwimmbad und will dafür Rache nehmen. Ob Rasierklingen in Wasserrutschbahnen versteckt wirklich das ultimative Blutband anrichten würden? "Aber die Welt ist für die Lebenden gedacht. Tote tun nichts. Das ist ein Problem. Denn wer sich nicht bewegt, über den gibt es nichts zu sagen. "Hast du das von dem toten Herrn Dingens gehört?", ist nicht sehr lange interessant." Patrick ist der Schrecken der Kleinstadt, schafft es aber immer wieder, die Leute um den Finger zu wickeln; er ist clever, gerissen und scheut auch vor großen Aufgaben nicht zurück. Zum Beispiel wenn es darum geht, es dem Mädchen heimzuzahlen, das eigentlich ihm gehört ... "In mir ist alles ruhig. Das Wunderland schweigt. Ich freue mich auf das Fegefeuer."

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Ina Brinkmann

Herzmassaker

1. Auflage Juni 2011

Titelbild von Benjamin Borucki | www.irrleuchten.de

Schriftzug von Nadja Riedel | www.d-ligo.com

©opyright 2011 by Ina Brinkmann

Lektorat: Franziska Köhler

Satz: nimatypografik

ISBN: 978-3-939239-96-3

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder

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Gewidmet

* Udo Seebergen *

(† 21.07.2010)

– a vida anterior –

I’m the narrator, and this is just the ...

Prologue!

(Panic at the Disco – The only difference between martyrdom and suicide)

Mein bester Freund ist kleiner als ich und irgendwie ist er ein Freak. Autist. Nicht so ein Savoy-Spinner mit Übertalent – nur eben etwas verdreht. Bei dem muss immer alles logisch sein. Manchmal versteht er die Menschen nicht, sagt er. Sie sind nicht logisch.

Logisch ..!?Na ja, ich finde zum Beispiel logisch, dass ich ihn ficken darf.

Immerhin bin ich es, der ihm die Dinge erklärt. Und wenn ich ihn ficke, erkläre ich ihm, dass es normal ist. Ich bin nicht schwul oder so. HALLO!? Ich stehe schon ziemlich auf Titten und Tussis – aber wenn man mal ehrlich ist, geht es doch nur um die Sache an sich. Rein, raus, abspritzen.

Ob Ficken literarischen Wert hat, weiß ich nicht. Heutzutage vielleicht.

Ich weiß, dass er manchmal Schmerzen hat, wenn ich in ihm rumbohre. Ich vergesse das hin und wieder, und dann tut es mir leid. Aber meistens mache ich es auch mit Absicht fester. Dann krümmt er sich zusammen und spannt die Muskeln an.

Das mag ich.

Also, Simon ist der, der behauptet, ich wäre ein Sadist. Darüber hat er gelesen. Aber er sagt auch, dass er mich trotzdem gern hat. Klar weiß ich, dass normale Menschen ihre besten Freunde nicht ficken. Aber ich glaube auch, die meisten würden gerne und trauen sich nur nicht.

Ein Prolog ist wohl so was wie ein Einstieg in eine Geschichte. Damit man Dinge erfährt, die einem helfen, dem Rest der Handlung zu folgen. In dieser Geschichte geht es um mich. Also steigen wir doch mal ein:

Mein Name ist Patrick Fechner. Mittelschichtsohn in einer Kleinstadt irgendwo in Deutschland und fast sechzehn. Mittelschicht meint hier aber eigentlich nur, dass die meisten Leute in meiner Nachbarschaft in ihren Mittelschichtreihenhäusern asoziale Penner sind – und nicht im Plattenbau.

Und ich erzähle auch von Simon. Wir sind nicht wegen des Fickens beste Freunde, das kam erst später – wie auch das mit den Drogen. Ebenfalls fast sechzehn mit einem Zimmer, dessen Fenster meinem gegenüberliegt.

Sein Vater, Eduard Veit, arbeitet für die Rechtsabteilung irgendeiner Firma. Ich kann ihn nicht ausstehen, und er trägt eigentlich immer graue Anzüge und hängende Mundwinkel.

Mein Patenonkel, Carlos, ist Portugiese und hat eine Spedition, die jede Menge Zeug durch Europa transportiert. Mein Dad macht die Finanzen und ist besonders gut in kreativer Buchführung – was uns finanziell auch gar nicht so schlecht dastehen lässt, allerdings nicht halb so spannend ist, wie man es sich vielleicht vorstellt. Die Bullen waren zumindest bisher noch nicht bei uns – und erst recht keine Mafiatypen mit Maschinenpistolen.

Wir haben keinen englischen Oldtimer vor der Garage wie Simons Vater, sondern einen Jeep, der irgendwie prollig wirkt auf der Winzstraße, in der wir wohnen, den Dad und ich aber megapornocool finden, weil wir ihn mit allem an Technikschnickschnack aufgemotzt haben, den sie beiPimp myRide benutzen und der weitgehend überflüssig ist. Kein Mensch braucht wirklich einen Monitor in der Rückenlehne oder LED-Leuchten unter den Sitzen. Aber was soll’s. Wir stehen drauf. In unserem Haus finden sich auch keine Antiquitäten, wenn man das Schulbrot von 1999, das ich hinter meinem Kleiderschrank vermute, mal außen vor lässt. Aber dafür habe ich die neue Playstation und darf auf Dads Kreditkarte auch die unzensierten Spiele aus Österreich bestellen. Außerdem lässt er mich rauchen und trinken.

Er meckert auch nicht dauernd wie Simons Alter. Wenn wir Mist bauen, werde ich verdroschen oder nicht. Je nachdem. Dad schreit nie. Man merkt sich die Sachen einfach besser, wenn man sie fühlt, sagt er – und ich glaube, er hat recht. Natürlich schlägt er Simon nicht. Da würde sein Alter auch einen Wutanfall bekommen. Aber manchmal lässt er Simon zusehen, wenn er mich bearbeitet. Zum Beispiel, als ich mich selbst tätowiert habe und Dad das ganze verdreckte Bildchen mit einem Feuerzeug rausbrennen musste. Oder als ich in der Schule rausgeflogen bin, weil ich mit Mandy ficken wollte, sie aber nicht mit mir. Ich meine zwar immer noch, dass sie eigentlich doch wollte – aber Mädchen bekommen bei so was immer recht. Sagt Dad auch. Mädchen sind Fotzen. Doch natürlich musste er mich bestrafen. Man muss halt mit den Fotzen klarkommen und darf sie nicht einfach in der Schule ficken, wenn sie Nein sagen. Das macht nur Ärger. Dad hasst Ärger, er mag es friedlich und ruhig und entspannt. Mandy hat mich jedenfalls verpetzt, und Dad hat mich und Simon in die Küche geholt, uns den Schlampenvortrag gehalten und schließlich Simon auf die Arbeitsplatte gehoben. Dann hat er meine Hand in den Toaster gesteckt, mein Handgelenk fest umgriffen und das Gerät auf Stufe drei laufen lassen. Noch Wochen später hatte ich Brandblasen. Aber Mandy habe ich nie wieder angerührt ...

Kennengelernt haben Simon und ich uns mit sechs. Ich habe im Garten rumgehangen. Damals hatten wir noch einen Hund.Killerwar seines Zeichens Dackel und ein absolut nerviger Kläffer. Dad hat versucht, ihm Manieren beizubringen, doch da hat einfach nichts gefruchtet. Killer war Moms Hund und sie hatte ihn echt gern, nur deswegen haben wir ihn behalten. Na ja, auf jeden Fall saß ich im Planschbecken und habe Killer mit einem alten Dosenöffner gepikst – ihn fest unter den Armen eingeklemmt, so dass sein Schwanz beim Wedeln immer gegen meinen Rücken geplatscht ist – und dann habe ich mir die Muster angesehen, die sein Blut im Wasser hinterließ. Feine, wabernde, rote Spiralen. Rot und blau sind meine Lieblingsfarben.

Ich habe mich auf jeden Fall tierisch erschrocken, als Simon plötzlich in unserem Garten stand und mich anstarrte. Er ist klein, blass, blond und trägt immer eine Sonnenbrille. Ich glaube, das hat etwas mit seiner Weltsicht zu tun. Oder er will nicht, dass die Leute in seinen Augen erkennen, dass er ein Freak ist. Manchmal kann man ihm ansehen, dass er nicht ganz richtig tickt. Na ja, vor lauter Schreck ließ ich sogar den Köter los und Killer rannte nicht weg. Er flutschte einfach träge ins Plastikbecken zu seinem Blut ... Es gibt Momente, in denen man sich wünscht, man hätte eine Kamera zur Hand.

«Der Hund ist tot.»

Simons Stimme klang irgendwie klein. Aber deutlich. Als ob man mit dem Finger über den Rand eines Weinglases fährt.

«Kann sein», hatte ich geantwortet.Wo war nur die verfickte Kamera?

«Warum?»

Als er das fragte, wusste ich, dass er jemanden brauchte, der ihm mal zeigt, wie die Welt funktioniert.

Und dafür muss er sich nur zwischendurch mal ficken lassen. Ist doch echt keine große Sache. Man muss ja auch immer drauf achten, dass diese verdrehten Typen nicht irgendwann völlig ausflippen! Ich habe da die übelsten Geschichten gehört ... Aber ich passe auf ihn auf. Vielleicht ist er ja bald nicht mehr so klein und mickrig. Dann kann er sich jemanden suchen, den er ficken kann. Wir werden ja erst sechzehn, der wächst noch – sein Alter ist auch groß. Mein Dad ist aber größer.

Mich fickt der nicht!

I

If you ever get close to a human and human behaviour be ready to get confused

(Bjork – Human Behaviour)

Draußen ist es verdammt warm geworden. Mein Shirt klebt mir am Körper. Ich kann es klatschen lassen, wenn ich es abziehe, loslasse und es dann gegen meine Haut schnalzt. Unten saugt es sich an den Bauch und streicht über die Brandwunden, die langsam verheilen. Das hilft gut gegen das Jucken. Simon und ich sitzen am Kanalufer, auf einer der Steinplatten, die sie da mal für die Angler angebaut haben, als es bei uns noch Forellen zu holen gab. Doch irgendwie sind fast alle Fische weg. Vielleicht weggeangelt oder impotent und von chemischen Abfällen verseucht, keine Ahnung. Aber seit einiger Zeit gibt es nichts mehr im Kanal als diese völlig missgestalteten Krebse, die in dicken Haufen übereinanderkriechend wie bei einem Gangbang miteinander vögeln – oder was weiß ich tun – und dabei mit ihren Scheren wedeln wie verrückt. Simon liegt auf dem Bauch und hat den Kopf auf die Hände gelegt, während er die Viecher anstarrt, als wären sie ultrainteressant. Ich habe die Ärmel meines Shirts bis zu den Schultern hochgeschoben und greife immer mal wieder in den Fickhaufen, ziehe ein paar der aneinanderhängenden Biester heraus und werfe sie hinter mir auf die Plattform. Wo sie dann versuchen, sich voneinander loszumachen, und wild umherirren, was lustig klackert. Meine Hände sind von den feinen roten Kratzern schon ganz dick angeschwollen. Sie leuchten an den Wundrändern ungesund rosa, wegen der frischen Blutkruste und des Kanalwassers. Es brennt auch, doch das stört mich nicht, weil ich weiß, dass die Viecher mit ihren winzigen Scheren nichts weiter anrichten können. Nichts, das verhindern würde, was ihnen bevorsteht. Ich grinse und werfe eines der graugrünen Mistviecher in hohem Bogen auf Simons Rücken. Es machtplatschund er erschreckt sich fast zu Tode.

«Maaaann, spinnst du?», japst er, springt auf und schüttelt den Krebs von seinem bescheuerten Spießerhemd. Mann, wie ich diese langweilig gestreiften, immer akkurat glattgebügelten und ultrapeinlichen Dinger an ihm hasse. Es ist, verfluchte Scheiße noch mal, NICHT COOL Hemden zu tragen und Stoffhosen – und mit seinen Spießerturnschuhen sieht Simon einfach aus wie eine verdammte Missgeburt.

Ich klatsche in die Hände und umfasse dann sein dürres Bein mit einer Hand, während ich die andere nach einem der verwirrten Steinplattenkrebse ausstrecke, nach dem Krebs greife und dann mit einem kräftigen Ruck an Simons Bein zerre. Er rudert kurz mit den Armen, was irre witzig aussieht, und landet rücklings mit dem Kopf auf der Plattform. Es machtplongund Simons blonder Schopf federt noch einmal vor und zurück. Dann höre ich, wie er die Luft aus den Lungen stößt, schwer einatmet ... und schreit. Ein langer Schmerzensschrei, der zum anderen Ufer hallt und wieder zu uns herübergespuckt wird. Der Krebs in meiner linken Hand zappelt und schnappt nach mir, hat mich am Daumen erwischt und versucht, ihn mit klickernden Scheren zu zerhacken. Während mir glucksend eine Lachsalve den Rachen heraufwandert, schreit Simon immer noch. Also rapple ich mich auf, sehe auf ihn herunter, wie er in seinem Trotteldress und mit seinen hässlichen, bleichen Ärmchen ausgestreckt daliegt, Blut über seine weißblonden Haare läuft und dann weiter auf die Steinplatte. Seine blauen Augen glänzen glasig über den Rand der Sonnenbrille hinweg und auf seinen schmalen Lippen sammelt sich Sabber, während er immer weiter schreit.

Das Lachen bricht sich endlich seinen Weg, doch dann erinnert die Krebsmissgeburt mich mit einem weiteren Schnappen an seine Existenz und plötzlich macht mich das Geschrei nervös. Simon will einfach nicht aufhören. Ratlos glotze ich erst den Krebs, dann Simons dummes Gesicht an. Wer nicht schreit, kriegt keinen Schnuller, hat Dad mal gesagt. Das ist eben so im Leben!

Simon schreit, also soll er seinen verfickten Schnuller haben. Ich lasse mich rittlings auf ihn runterplumpsen, was seinen Schrei kurz unterbricht, reiße seine Handgelenke hoch über seinen Kopf, wo ich sie mit meiner viel größeren Faust festhalten kann, und drücke ihm den Krebs in den Mund. Wie ein Fisch japsend versucht er, den Mund zu schließen, doch ich drücke so fest zu, dass ich den Krebs knacken höre und eine zähe, grüne Flüssigkeit aus ihm herausquillt und in Simons Mund tropft – und über meine Hand. Wie eklig.

«Siehst du das?», zische ich ihn an, «wegen dir bin ich jetzt schmutzig – ganz toll!»

Zumindest mit dem Schreien hat er jetzt aufgehört und gibt nur noch würgende, gurgelnde Töne von sich, während sich die Krebsschere, die nur noch lose an dem zerklumpten Vieh hängt, in seinen Mundwinkel bohrt und er stärker blutet. Mit den Beinen versucht er, mich von sich herunterzutreten. Lächerlich. Das könnte er nicht einmal, wenn ich mich nicht bemühen würde, sitzen zu bleiben. Ich bin stärker als er. Viel stärker. Doch durch die Anstrengung und den Matschkrebs in seinem Mund läuft er rot an. Seine Wangen plustern sich auf und ein wenig erinnert er mich an einen Gockel. Was mich nun wieder zum Lachen bringt. Kichernd drücke ich also immer fester zu, bis das ganze matschig-scharfkantige Zeug in seinem Mund steckt, er keine Luft mehr bekommt und strampelnd komische Geräusche macht wie ein erstickender Frosch. Und weil ich jetzt erst richtig aufdrehe, packe ich noch fester zu. Drücke seine Handgelenke, bis ich seinen monoton hämmernden Puls in den Fingerspitzen fühle, und zerre seine Hände unter seinen Kopf bis in den Nacken. Dabei schnellt sein Kopf etwas in die Höhe, was den Blick freigibt auf eine kleine Platzwunde am Haaransatz. Doch aus der Wunde kommt kein Blut mehr und das, was kam, verklebt schon zäh und breiig klumpig. Irgendwie weiß ich nicht, ob ich das gut oder schlecht finde, höre aber auf zu kichern und pikse mit dem Zeigefinger der nun freien Krebshand in den Blutschorf.

«Das ist nichts Schlimmes», sage ich, und Simon nutzt die Gelegenheit, mir das ganze eklige Krebsmousse aufs Shirt zu spucken. Wo es sich mit seinem Sabber und seinem Blut und etwas herabgelaufenem Rotz verteilt und dann klebrig zurück auf sein Hemd tropft.

Ich meine, wir sind Freunde, aber mal im Ernst – anspucken geht nicht! Gar nicht! Anrotzen ist das Schlimmste. Schlimmer als schlagen oder so. Damit sagt man dem anderen sehr direkt, dass er weniger wert ist als gottverfluchte Verdauungssekrete. So als wollte man denjenigen, den man anrotzt, auflösen. Ein Stück von ihm einfach extern verdauen. Und es ist widerlich.

Ich werde ziemlich wütend und gebe Simon das auch zu verstehen, indem ich ihn im Nacken packe und seinen Kopf wieder etwas hochziehe. Das Ganze ist jetzt wirklich kein Spaß mehr. Mein bester Freund hat soeben versucht, mich extern zu verdauen, und dabei auch noch mein Shirt mit diesem Rotz versaut ...

Ich schimpfe ihn nicht aus – das bringt sowieso nichts –, sondern entschließe mich, ihm beizubringen, dass so etwas nun mal Konsequenzen nach sich zieht. Man kann nicht einfach so durchs Leben gehen und die Leute anspucken.

Vielleicht weiß er das ja nicht,denke ich mir – Autisten wissen ja weniger als wir normalen Menschen. Also sollte ich es ihm beibringen, ist doch auch mein Job als sein bester Freund, oder?

So ziehe ich also das vollgerotzte Shirt mit der freien Hand von meinem Bauch und drücke es ihm ins Gesicht. Man macht das, sagt Dad, damit der direkte Bezug zur Ursache im Kopf bleibt. Simons Hände greifen nach mir und zerren irgendwo an meiner Seite herum.

«Leck das weg!», befehle ich ihm. Klare, knappe Anweisung.

«Leck das weg, Arschloch! Man darf seine Freunde nicht anspucken. Das ist VER-BOTEN!»

Simon presst die Lippen zusammen und starrt mich an. Die Gläser seiner Brille sind schmierig und reflektieren mich verzerrt und zu breit. Außerdem ist die Brille verrutscht, so dass sie ihm fast auf der Stirn hängt. Ich stupse dagegen und wische ihm das Ding aus dem Gesicht. Das Plastik schlägt klappernd auf den Boden. Aber seine Augen, die immer noch glasig rot sind, tränen nicht. Dieser verdammte Bastard weint nie. Ich muss zugeben, das finde ich cool.

«Nein, Patrick!», zischt er mich an und bleibt einen Moment ganz ruhig liegen. Jetzt geht das Starren los. Das kenne ich. Anstarren und ausfechten, wer recht hat. Ich natürlich! Ist ja klar!

Verdammt! Irgendetwas ist an meinem Bein. Es juckt. Es juckt ganz fies und ist feucht und kalt. Ich zucke zusammen und wende den Blick von Simon ab, um nach der Ursache zu sehen. MIST! Eines der beschissenen Krebsviecher hangelt sich gerade in meinem Hosenbein hoch und ein anderes ist schon im Aufschlag verschwunden. So eine Scheiße. Ich habe weggeguckt. Verloren! Was für eine Scheiße!

Simon stößt mich von sich, und ich gebe nach und stehe auf. Schüttle die Biester von mir ab und zertrete sie mit voller Wucht. Das Knacken und glitschige Schmatzen unter meinem Fuß beruhigt mich etwas, ein kleines bisschen, und ich halte Simon die Hand hin, um ihm aufzuhelfen. Doch er stößt sie weg und rappelt sich alleine hoch. Klopft sich seine Klamotten ab und schaut besorgt auf sein Hemd. Auf der Brust zeichnet sich ein großer grünbrauner Fleck ab.

«Klasse, Patrick!Ichhabedichschmutzig gemacht?»

Seine Stimme klingt scharf und bitter. Auf der anderen Seite des Kanals, dort, wo die alten Fischerhütten verrotten, hat jemand ein Feuer gemacht und der Qualm wabert zu uns herüber. Verbranntes Holz und Plastik kitzeln beißend in meiner Nase und ich versuche, durch den Mund weiterzuatmen. Simon bemerkt davon nichts.

Er zieht einfach sein Hemd etwas vom Körper und hält mir die Stelle mit dem Fleck unter die Nase.

«Ach, komm. Reg dich nicht auf, Pumpkin. Du hast mich angerotzt, Alter! Meinst du, das lass ich mir einfach gefallen?»

Beim Sprechen gelangt Qualm in meine Luftröhre und mein Hals fühlt sich plötzlich schleimig und zäh an. Ich ziehe hoch, drehe mich um und einigermaßen ungeplant synchron spucken wir aus. Klatschend landet mein brauner Rotz neben ein paar Krebsleichen, daneben Simons Flatschen in Grün und Rot. Blut und Krebsgedärm wahrscheinlich.

Ich wasche mir die Hände im Kanal. Das Wasser riecht nach Algen und Fisch und sieht aus wie dunkelblaue Ölfarbe.

Immer noch ziemlich sauer – ein bisschen auch auf mich selbst, räume ich mein Zeug zusammen und klettere zurück ans Ufer. Simon bückt sich nach seiner Brille, reibt sie am Sockenbund sauber und kommt mir dann hinterher. Hinter ihm geht die Sonne unter und im orangenen Flackerlicht vom anderen Ufer und von einem Schwarm Mücken umflattert sieht er gar nicht mehr peinlich oder wie eine Missgeburt aus. Aus meiner Hosentasche krame ich ein Taschentuch.

«Zeig mal her.»

Ich greife sein Kinn und quetsche mit den Fingern seine Lippen ein wenig auseinander, um die gerissene Stelle abtupfen zu können. Ich merke, dass er das nicht will, aber er lässt mich trotzdem machen.

«Was machen wir jetzt?», frage ich ihn, während ich vorsichtig tupfe. «Willst du ein Eis? Ich geb eins aus!»

Er antwortet nicht, also lege ich meinen Arm um ihn und schiebe ihn vorwärts. Das blutige Taschentuch flattert aus meiner Hand in Richtung einiger krüppeliger Büsche und bleibt dort hängen.

Ich schließe die Tür auf und schleiche mich in den Flur. Im Wohnzimmer kann ich Carlos sonore Brummstimme hören und Dad, der hin und wieder mhmt. Durch den Türspalt sehe ich seinen Schatten, der wie eine dicke Kugel aus Schwarz in den Flur gleitet. «Hab mir doch gedacht, dass ich die Tür gehört habe», murmelt er ins Zwielicht, in das sich sein verschwitzt-rotes Gesicht geschoben hat. Carlos redet nicht mehr.

«Wo warst du?»

Ich lasse meinen Rucksack von den Schultern auf den Boden gleiten und schnaube so vor mich hin, weil ich mir noch nicht sicher bin, ob ich mit Dad reden will.

«Ich hab dich was gefragt, Patrick.»

Dad walzt jetzt ganz in den Flur und schließt die Tür zum Wohnzimmer, so dass ich nicht sehen kann, ob außer Carlos noch jemand da ist. Aber ich glaube nicht, denn wenn Dad sich die Zeit nimmt, mein Heimkommen zu bemerken, wird das Treffen nicht wichtig und Carlos nur auf einen Kaffee oder ein Bier da sein. Eher Bier ... und eher nicht nur eins.

Ich nuschel mir was zurecht, was an «Eiscafé» erinnern könnte, und will an ihm vorbei zur Treppe. Da trifft mich von hinten etwas knallend am Schädel. Vor meinen Augen explodieren Farben, und ehe ich meine Hand ausstrecken kann, lande ich mit dem Kinn voran auf der untersten Treppenstufe. Es klappert und knirscht, als meine Zähne aufeinanderschlagen. Der satte Geschmack von Metall verteilt sich flüssig in meinem Mund und läuft mir übers Kinn. Kurz ist mir schwindelig und irgendwie beschwert sich das Eis in meinem Bauch über seinen momentanen Aufenthaltsort. Ich ziehe mich am Treppengeländer hoch und ringe um Gleichgewicht.

«Du sollst deinen Scheiß nicht ständig überall liegen lassen. Ich räum dir doch nicht dauernd alles hinterher!»

Dad hält meinen Rucksack, mit dem er gerade nach mir geschlagen hat, am linken Zeigefinger hoch und funkelt mich an.

«Bin schließlich nicht deine Putzfrau.»

Er zieht den Reißverschluss auf, kramt ein wenig in meinem Zeug herum und kippt den Inhalt dann mit Schwung auf den Teppich. Stifte, Bücher, Müll und ein paar Steine, die ich vom Kanal mitgenommen habe, kullern herum.

«Räum das vernünftig auf und mach das da sauber.»

Dad deutet auf mein Kinn und auf die Treppe, dann dreht er sich um, wirft meinen grauen Rucksack hinter sich auf den Haufen mit meinen Sachen und verschwindet wieder im Wohnzimmer.

Ich weiß, dass er recht hat, ist schon klar. Aber gottverdammt, esnervtmich. Mein Kiefer tanzt Walzer mit meinem Zahnfleisch, wobei sich beide gegenseitig auf die Füße treten, und schlecht ist mir auch. Aus dem Küchenfenster sehe ich Simons Alten im Nachbargarten, während ich einen Lappen auswringe, um die Treppe zu wischen. Der Wichser geht mir mit seinem Gehabe dermaßen auf den Sack, dass mir erneut Galle sauer die Speiseröhre heraufkriecht. Rübergehen, mich vor ihm aufbauen und ihn mal megamäßig vollkotzen. Einen dicken grünen Kotzeschwall auf seinem Anzug hinterlassen, mich dann wieder umdrehen und gehen. Das wäre was. Ich grinse und überlege, ob es großen Ärger gäbe, wenn ich es machte ... Gäbe es leider. Wäre es das wert? Auf jeden Fall!

Okay – Nein! Wäre es nicht. Dad würde mich wahrscheinlich an Ort und Stelle umbringen, wenn ich das täte. Er mag den Veit-Snob zwar auch nicht, doch sie hopsen immer umeinander herum und machen ein Riesenzinnober um den Schwanzvergleich, den sie wegen jedem Scheiß austragen. Ich denke nicht, dass«Mein Sohn kotzt besser als dein Sohn»da irgendwelche Scorerpunkte bringt. Schnell wische ich also mein Blut und den Sabber von der Treppe, sammle meine Sachen zusammen, schmeiße sie wahllos in den Rucksack und renne die Treppe rauf in mein Zimmer.

Der Rucksack landet unterm Schreibtisch, ich auf dem ungemachten Bett an der Stirnseite des Raumes. Einfach so schreie ich ein paar Mal in mein Kissen. Ich drücke es fest in mein Gesicht, so dass es meine Stimme dämpft. Ich schmecke den weich gespülten Stoff – und genieße ein wenig die aufkommende Atemnot, die mein Gehirn erleichtert.

In meinem Zimmer herrscht Chaos. Dad nimmt das hin, solange ich es nicht übertreibe, und nutzt die«Du hast dein Zimmer nicht aufgeräumt»-Masche nur, wenn er wirklich schlechte Laune hat und sonst nichts findet, was er mir ankreiden kann. Das ist okay für mich. Aus dem Wäschehaufen vor meinem Bett pule ich saubere Kleidung. Bevor ich ins Bad gehe, lege ich aber das Kissen gut sichtbar in den Türrahmen. Auf dem weißen Bezug leuchtet der nasse Blutfleck fratzenartig, so dass das Kissen selbst wie ein blutendes, missgestaltetes Wesen aussieht, das doof aus der Tür glotzt. Es geht mir gar nicht darum, dass Dad es sieht. Meistens denke ich mir nicht viel bei solchen Sachen. Ich finde sie einfach gut. Vielleicht schlummert ja ein Künstler in mir. Bei diesem Gedanken huscht über mein Gesicht ein breites, höhnisches Grinsen.

Das Badezimmer im ersten Stock gehört eigentlich mir allein. Wenn Dad nicht gerade ein Fickverhältnis mit nach Hause bringt, das selbst Blagen hat, muss ich es mir nicht teilen. Er hat unten sein eigenes, größeres und vor allem moderneres mit Hightechdusche und Handtuchheizung. Ich schmeiße meine Klamotten auf den Wannenrand und stelle das kalte Wasser an. Während es einläuft, setze ich mich im Schneidersitz auf den Klodeckel und ziehe Grimassen im Spiegel. Mein Kinn ist unten links jetzt schon dick geschwollen und mit der Beule von gestern, über dem linken Auge, ist mein ganzes Gesicht ziemlich linkslastig. Das Gummiband, das sonst meine dunklen Haare im Nacken zusammenhält, ist rausgerutscht und dichte Strähnen fallen mir ins Gesicht, die sich nur widerwillig hinters Ohr verbannen lassen. Kurz denke ich darüber nach, ob ich mir vorm Baden noch einen runterholen soll, aber dann bin ich doch zu faul.

Nach dem Eiswasserbad ist mir komisch. Eigentlich sollte das helfen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, aber mir tun die Gelenke weh und alles ist so verdammt anstrengend. Selbst das Anziehen.

Im Flur glotzt mir der Kissenkopf entgegen. Ich steige über ihn weg und stehe stumpf in meinem Chaos, ohne recht zu wissen, was ich eigentlich tun will. Dann drehe ich mich wieder um, trete das Kissenvieh in den Flur und gehe nach unten. Carlos und Dad unterhalten sich über irgendeine Sportsache und bemerken mich gar nicht, als ich durch den Bierflaschenpark hinter ihnen stakse, um mir Geld aus meiner Spardose zu holen.

Die Luft draußen ist frisch, trotzdem ist es immer noch warm genug. Die Straßenlaternen schmeißen fahles Licht in die Vorgärten, an denen ich mich vorbeischleiche. Vorsichtig werfe ich noch einen Blick auf das Haus der Veits. Bei Simon ist kein Licht an. Aber wirklich Lust, ihn zu sehen, habe ich sowieso nicht.

An der Hauptstraße, die meiner Meinung nach nur bei Feierabendverkehr überhaupt diese Bezeichnung verdient und auf der jetzt gerade vollkommen friedlich und ohne Verletzte ein Schneckenwoodstock stattfinden könnte, biege ich rechts ab. Ich schlage mich ein Stückchen durch ein Gebüsch, wo ich mir den Arm an einer Dornenranke aufreiße, und stolpere dann leise fluchend auf eine Art künstliche Minilichtung im Stadtpark. Hier hängt das allerletzte Pack rum. Jede Nacht treiben es hier irgendwelche Schlampen aus der Oberstufe mit fetten Typen für Geld oder Drogen. Ein paar Möchtegern-Gangster mit Ghettoblastern machen ihre krummen Geschäfte, geben sich die Kante oder misshandeln irgendwelche Penner. Dad weiß nicht, dass ich einen der «Gangster» kenne. Geschweige denn, dass ich mich überhaupt hin und wieder hier rumtreibe – und wenn er es wüsste, wäre ich wahrscheinlich selbst bald einer der Obdachlosen, denen sie hier das mickrige Leben zur Hölle machen. Simon hingegen kennt Franky und kann ihn nicht leiden. Ich kann den kleinen Wichser meistens auch nicht leiden, aber er mich – und das bringt mir hin und wieder einen kostenlosen Trip oder einen Tipp für die Gestaltung eines langweiligen Abends ein.

Auf einer Bank liegen zwei Mädchen, halb nackt, und schnüffeln an irgendetwas, das in einer ranzigen braunen Papiertüte steckt. Die eine lacht hysterisch, die andere röchelt wie ein asthmatischer Hamster. Ich schlendere auf die beiden zu, schnappe mir die Tüte und rieche vorsichtig daran. Unter dem kreischenden Protest der Schlampen, die viel zu high sind, um aufzustehen, inhaliere ich ein wenig von dem Lösungsmittel, ehe ich die Tüte samt Inhalt in die Büsche schmeiße. In meinem Kopf explodiert ein Karussell. Blitzartig pulsieren feurig-bunte Lichtflecke über den Spiralnebel in meinem Gehirn und wirbeln mir den scharfen Geschmack durch Mund und Rachen.Yeah.

Die beiden haben sich von der Bank plumpsen lassen und robben, mich als Arschloch und Wichser beschimpfend, in Richtung der Büsche. Ich lasse sie. Die sind fertig genug.

«Heeeey Patrick, du kleiner Scheißer! Yo, man – lass ma die beiden Süßen in Ruhe. Die brauch ich noch zum Spielen!»

Frankys Stimme dröhnt mir im Ohr und sein hässliches Wieselgesicht schiebt sich in das explodierende Karussell, während er einen rot behaarten Arm über meine Schulter legt. Franky ist älter als ich. Für einen Junkie Mitte zwanzig aber noch gut in Schuss. Wie alt GENAU er ist, weiß ich nicht, und es interessiert mich auch nicht weiter, aber ich sehe in seiner schmutzigen Hackfresse etwas, das mir gefällt. Das LSD-Schimmern.

«Hi Franky. Alter, gib mir was von dem Stoff, den du gezischt hast ... Der muss gut sein!», begrüße ich ihn, während ich versuche, sein übertrieben breites Grinsen unter den Farbbomben, die noch immer in meinem Kopf platzen, zu fixieren.

Franky schiebt sich fahrig ein paar der fettig-braunroten Locken aus der breiten Stirn, guckt sich übertrieben gründlich um und schiebt mir ein briefmarkengroßes Löschpapier zu. LSD!Der Sommer kommt.

Ich umarme ihn, weil ich weiß, dass er auf diese Kleiner-Bruder-Gesten voll abfährt und lasse es mir sogar gefallen, von ihm zu seinen vollspastischen Kumpels geführt und rumgereicht zu werden. Franky meint, er würde auf mich achtgeben. Ich lasse ihn das glauben und bin einfach nur high! Megahigh – und jetzt auch ziemlich geil. Verdammt, ich hätte eben doch wichsen sollen! Mein Blick sucht die beiden Schlampen von vorhin, doch ich kann sie nirgendwo finden. Und so wirklich scharf darauf, so eine flachzulegen, bin ich auch nicht.

Nach einer Weile packt Franky das Spritzbesteck aus. Das Zeichen für mich abzuhauen. Auf diese kranke Heroinscheiße bin ich genauso wenig scharf wie auf die Junkienutten. Die Spastis lachen mich aus, als ich von der Bank aufstehe und meine Knie nachgeben, als wären sie heißer, flüssiger Pudding. Wieder macht mein Kinn Bekanntschaft mit dem Boden, doch dieses Mal stört es mich nicht. Es ist mir egal! Alles ist egal. Weil die Welt bunt ist. Klischee? Vielleicht! Aber ein gutes!

Ich ordne mich, sehe beim Wegwanken noch, wie Franky das H verteilt, Scheine kassiert und denke dabei an den Gestank von verbranntem Vanillepudding. Wenn man den einfach auf den Herd stellt und dort vergisst, qualmt er alles voll und stinkt bestialisch, ehe er anfängt zu brennen. Auch wenn es schon nachts um zwei ist und alle Nachbarn schlafen. Dass man lieber draußen im Planschbecken nackt auf seinem bewusstlosen Kind eingeschlafen ist, ist da keine Ausrede. Den Geruch bekommt man nie mehr aus den Vorhängen. Auf dem Weg nach Hause entscheide ich, keinen Pudding zu mögen, merke, dass ich noch immer nicht müde bin, und sammle Kiesel aus den Vorgärten. Aus irgendeinem Haus dröhnt eine Stimme, die mich ermuntern will, mich: «Mal ganz schnell zu verpissen!»

«Erstick doch an deinem Wichspudding, du Penner!»

Zuhause setze ich mich in unsere Auffahrt, strecke die Beine aus und schmeiße die Steinchen nach drüben, gegen die strahlend weiße Fassade des Veit-Hauses. In der Hoffnung mit einem Simons Fenster zu treffen.

«Was zum Teufel tust du da?»

Ich öffne die Augen und über mir dreht sich Simons Gesicht. Groß wie ein Ballon schwebt es bleich vor mir. Mein Kopf wummert. Erst jetzt schnalle ich, dass ich auf dem Boden in unserer Auffahrt liege. Mit einem Kitzeln krabbelt wieder ein glucksendes Lachen meinen Hals hinauf.

«Du bist ja total high.»

Simon seufzt und zieht an meinen Armen, um mich irgendwie wieder in eine aufrechte Position zu bekommen. Ich kippe nach vorne und mein Kiefer, der immer noch scheiße wehtut, fällt auf meine Brust. In meinem Kopf brennt und qualmt dieses verdammte Karussell mit all seinen dummen Holzpferdchen und Kutschen, so dass ich den verschmorenden Lack sogar riechen und schmecken kann. Als mir einfällt, wie eklig das ist, würge ich ein paar Brocken hoch und spucke sie hustend Simon entgegen.

Unser Haus leuchtet gelblich und beugt sich über mich, als wollte es mich mit seinen beigen Fensterläden – die nie klappern, weil Dad jemanden bezahlt, der das Haus zumindest von außen in Schuss hält – wie mit Tausenden Fühlern betatschen, vielleicht sogar fressen. Ich stelle mir vor, wie die Läden herausspringen und um mich herumtanzen, ein Lied auf den Lippen, was sie alles mit mir anstellen könnten. Das nette Einfamilienhaus, in dem ich wohne und von dem ich sicher bin, dass es lebt, atmet und sich freut, wenn wir es füttern mit all der Scheiße, ist von außen wie jedes andere in unserer Straße. Nur etwas größer vielleicht. Darauf legt Dad enormen Wert. Ich habe mal einen Film über ein Gebäude gesehen, das sich selbst weiterbaut. Es entscheidet frei, wo es was verändern, dransetzen oder abmontieren will, und nimmt dabei keine Rücksicht auf die Bewohner, die jedes Mal aufs Neue die beschissenen Zimmer und Flure suchen müssen. Manchmal frage ich mich, ob unseres das auch kann. Ich habe es gefragt, doch natürlich redet dieses Miststück nicht mit mir – nur um mich mit meiner Theorie wie einen Spinner aussehen zu lassen.

Von innen ist es dafür um so beschissener. Nicht, dass es so aussehen würde. Wir sind zwar nicht die Ordentlichsten, doch es hat alles irgendwie seinen Platz. Es sind die Möbel vorhanden, die in einem guten Haushalt eben da sein müssen, und doch ist alles ziemlich verkommen. Auf so eine pseudopsychologische geistige Art.

Der Grund dafür, dass das Haus immer größer zu werden scheint und auf mich herunterzukippen droht, ist, dass Simon mich auf die Beine gehievt und seinen kleinen Körper unter meinen Arm geschoben hat, um mich reinzubringen. Ich spüre, dass er warm ist. Wahrscheinlich habe ich ihn wirklich geweckt, und er schleppt noch die Traumhitze mit sich herum.

Ich denke an meine Mom. Okay, Simon hat wirklich nicht viel Ähnlichkeit mit meiner Mutter, schon klar – aber ich muss an sie denken und werde unheimlich sentimental.

Traumhitze ist ein Mommywort. Ein paar davon begleiten mich, seit sie tot ist.

Und weil ich an Mom denke, denke ich an den Dackel, den ich ins Jenseits befördert habe. Ewig her, ich weiß, aber sein dummes kleines Gesicht schiebt sich in meinen Gedanken vor das Monsterhaus und das brennende Karussell, und ich werde unheimlich sauer.Verdammtes Vieh.