Liebesgeschwüre - Ina Brinkmann - E-Book

Liebesgeschwüre E-Book

Ina Brinkmann

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Beschreibung

Manchmal wäre es besser, wenn es keine Hoffnung mehr gäbe, dann könnte man einfach sterben und das Leid hätte ein Ende. Wer gewonnen hat, ist mir egal! Davon verstehe ich sowieso nichts … Aber ich entscheide mich jetzt! Ein Junge, der eigentlich nie eine Chance hatte. Ein Junge, der allein durch den Glauben an seine geliebte Schwester sein Leben erträgt. Diese Liebe frisst ihn am Ende auf wie ein Metas-tasen bildender Krebs. Ina Brinkmanns zweiter Roman ist ein sprachlich sowie erzählerisch beeindruckendes Werk, in dem zwei Erzählstränge kunstvoll zu einer Geschichte verwoben sind. Damit bringt die Autorin uns den menschlichen Abgründen der Liebe näher, einer Liebe die uns aber auch dazu antreiben kann, weiterzugehen.

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Ina Brinkmann

– Anti-Pop –

1. Auflage März 2013

Titelbild: Mlenny | istockphoto.com

©opyright 2013 by U-Line und Ina Brinkmann

Lektorat: Franziska Köhler

E-Book-Konvertierung: nimatypografik

ISBN: 978-3-939239-81-9

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder

eine andere Verwertung ist nur mit schriftlicher

Genehmigung des Verlags gestattet.

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U-Line UG (haftungsbeschränkt)

Neudorf 6 | 64756 Mossautal

www.u-line-verlag.de

Inhalt

Prolog Treibgut

1. Weiter als die Welt ist und längerals die Zeit dauert

2. Wer ist jetzt schuld?Ich, du oder die Tür?

3. Sterben macht Spaß –wenn man es nicht wirklich muss!

4. Riria, ich würde lachen!

5. Wenn sie dich fragen, wo wir war'n – sag:«Da, wo wir nicht hingehören ...»

6. Ob mir das Leben passiertoder ob ich ihm passiere

7. Die Realität der letzten Monate wiegt ... 00,00 kg

Epilog Das ist, was du willst,aber nicht, was du brauchst

Jetzt wird abgerechnet

Geboren am 28.05.1986 in Berlin.

Aufgrund einer schweren angeborenen Sehbehinderung in den ersten Lebensjahren zahlreiche Krankenhausaufenthalte. Dort verlernte die junge Autorin sogar das Laufen.

Nach dem Tod des Vaters Umzug nach Wilhelmshaven und die Schule beendet, danach Praktika, u.a. bei einem Bestatter im Bereich Trauerbegleitung, einer Buchhandlung und beim Radio.

2011 Erfolgreiche Ausbildung zur Psychologischen Beraterin HP. Im gleichen Jahr erschien ihr vielbeachtetes Debüt Herzmassaker.

An dich, Manuel W. – mein liebes Zwergenkind

a vida agora!

So frag ich leis, ist’s bald vorbei?

Und bleib verwaist, allein …

Vorbei? – Anna Brormann

PrologTreibgut

Das Nass perlt auf meinem Rücken, rollt bedächtig auf die Rundungen der Rippenbögen zu, nimmt unangenehm kitzlig Tempo auf und stürzt sich dann über die Körperkante in zuverlässig unregelmäßigem Rhythmus. Wie der Bach im Wäldchen hinter dem Haus, der stetig leise vor sich hin dümpelt, dann – in der Nähe unseres Gartens - an Kraft gewinnt und sich am Ende selbst ausufert, chaotisch gezielt über Erdbruchkanten saust und in kleinen, laubbedeckten Pfützen versickert, fällt Tropfen um Tropfen, landet mit einem leisen Plong auf dem Laken, dringt in die Fasern ein, versinkt im Stoff, breitet sich gemächlich aus zu düsteren kleinen Tümpeln, die irgendwo tief in der schwitzenden, modernden, müffelnden Matratze gründen.

Ich presse mein Gesicht fest hinein in die federnde Oberfläche, atme den klebrigen Geruch, meinen angesammelten eigenen Ausdünstungsschlamm, sauge ihn schwerfällig in meine Lungen, die sich auch anfühlen wie Feuchtbiotope, in denen es surrt und rasselt mit jedem Japsen, die sich mit jedem neuen Atemzug hart gegen mein angespanntes Rippenfell drücken wie zu fest aufgeblasene Luftballons, dann wieder erschlaffen, in sich zusammenfallen, sich hängen lassen wie meine rechte Hand, mit der ich fast den Boden berühren kann. Hin und wieder spüre ich den rauen Untergrund, eine feine feste Spur an den Fingerkuppen in all dem niedergedrückten Schweben.

Mein Blut huscht ebenso aufgeschreckt durch meinen Körper. Der Schmerz krampft von den Fußballen in die Nackenmuskulatur mit jedem weiteren Ruck, den der gewaltige Schatten hinter mir, über mir durch mich hindurchjagt. Kalt und steinern und routiniert.

Das Nass kollidiert mit dieser ausgetrockneten Gestalt. Sie wischt über mich hinweg, kratzig rau und erdet mich wieder, gerade als ich dachte, ich würde mit dem Fluss in den Tümpel getragen wie ein dürres, zerbrechliches Stück Treibgut, das an einem massiven Felsen hängen geblieben ist und nun vom Strom hin und her geworfen wird.

Er legt klirrende Kälte mit der einen Hand auf meinen Rücken und füllt mich aus mit purem Schmerz. Reibt mir Splitter ein. Ich merke, wie sie in mir und durch mich hindurchkratzen. Lauwarm verklebt mir Blut die Mundwinkel. Meine Zunge fühlt sich trocken und dick an und gerät immer wieder zwischen meine Zähne, meine Hände greifen ins Tümpellaken und finden keinen Halt. Ich bin so ausgefüllt mit Schmerz und Wut und Fremdheit, dass ich denke, gleich muss ich zerspringen. Einfach platzen und mich in einem zerstäubenden Holzraspelmatschregen überall verteilen. Aber der Felsschatten hinter mir bleibt stur bei der Sache.

Ich öffne die Augen erst wieder, als ich die zarte Wärme der Sonnenstrahlen spüre, die durch das kleine matte Fenster auf mein Bett sickert und mich endlich wieder erreicht. Der Schatten ist gewichen und das Tosen des Baches entfernt sich, bis ich es nur noch ganz sachte erahnen kann.

«Die Regeln sind klar?»

«Klar!»

«Deine Spielfigur steht?»

«Steht.»

«Wer gewinnt, hat gewonnen?»

«Was für eine dämliche Frage …»

«Das sind die Regeln des Spiels, Mann!»

«Der Film?»

«Manchmal denke ich, du bist dümmer als ein Stück Brathering, echt …»

«Reizend. Können wir dann anfangen? Umso schneller habe ich diesen Schwachsinn hinter mir.»

«Yeah, Mann. Dieses Mal fickst du mich nicht!»

1. Weiter als die Welt ist und längerals die Zeit dauert

Das erste Mal wurde ich als kleines Kind gefickt. Aber nicht mit einem Pimmel, sondern mit dem Griff einer Klobürste. Einer olivgrünen aus dem Ein-Euro-Laden. Damals war es, als müsste es mich zerreißen.

Der steinerne Mann ist seit ein paar Stunden weg. Ich liege auf dem Bett, starre an die Decke und zähle die Sekundenabstände zwischen dem Schmerzpochern. Nur noch ein kleiner Nachhall im Vergleich zu den wie Kanonenkugeln durch meine Gliedmaßen zischenden Schmerzsalven von kurz danach.

Roswitha hat mir Saft reingebracht, und Bo versucht schon eine ganze Stunde lang einen Grund zu finden hereinzukommen, aber er traut sich nicht. Ich höre seine schweren Schritte im Treppenflur auf und ab schlurfen, wie er die Türen zu den Zimmern neben dem meinen öffnet und wieder schließt, ohne den jeweiligen Raum betreten zu haben. Ich ignoriere das.

«Jetzt komm da weg, Dickerchen. Der Kleine lebt noch!», ruft Rosi von unten herauf, und Bos Schritte entfernen sich, bis sie die alte Holztreppe knarzend belasten.

«Heute Abend kommt keiner mehr. Bis morgen um Mittag haste frei», hatte die alte Frau mit den knochigen Händen, die ich in der Öffentlichkeit Ma nennen muss, gesagt, meinen Körper gecheckt und gemeint, es wäre nicht so schlimm. «Bist morgen wieder arbeitsfein, ja!? Morgen kommt ein Neuer.»

Heißt so viel wie: Geh duschen, jammre nicht rum und sieh zu, dass du morgen ausgeruht bist, wenn der nächste Kunde kommt.

Vorsichtig wackle ich mit den Zehen, spüre die Kälte der Luft aus dem geöffneten kleinen Dachbodenfenster über die Knöchel streifen und setze mich ächzend auf. Unten schaltet Bo den Fernseher ein und das Gebrabbel irgendeiner Moderatorin surrt durch die Dielen.

Ich vermisse meine Schwester und sogar ihren dummen Freund Mario und frage mich, ob man im Gefängnis fernsehen darf und sie sich dasselbe ansieht wie Bo, der seinen massigen Körper wahrscheinlich in einem der alten Cordsessel im muffigen Wohnzimmer des Werfthauses geparkt und sich bereits über eine Tüte getrockneter Speckschwarten hergemacht hat.

Der schmuddelige Holzboden ist rau an den nackten Füßen und die kleine, hässliche Tischlampe mit beigefarbenem Stoffschirm wirft ein unheimliches Zwielicht in den Raum. Sachte bewege ich mich, die Beine nicht zu weit auseinander beim Gehen und den Po ein wenig angespannt, um dieses Kackgefühl zu unterdrücken.

Die verzogene Tür quietscht, als ich sie öffne, um nach nebenan zu huschen. Mir ist jetzt doch ein wenig kalt. Das ausgebaute Obergeschoss ist immer zugig. Außer im Sommer, wenn das Kondenswasser an den massiven Balken herunterrinnt, die das marode Dach tragen, das sonst wohl ohne große Mühe direkt auf uns herabkrachen würde. Zusammen mit ein paar verwaisten Schwalbennestern, in denen allerhöchstens noch die Larven von irgendwelchen Fliegen schlüpfen. Davon gibt es hier nämlich genug.

Das Badezimmer ist gelbgrün gekachelt, ein bisschen so wie unser Bad in dem Mietshaus, in dem Sarina, Mario und ich gewohnt haben. Sofort als ich mich auf die Klobrille sinken lasse, läuft die braunrote Flüssigkeit, die schon ein bisschen über meine Oberschenkelinnenseiten geplätschert ist, in die Schüssel und ein schlimmes Brennen zieht an meinen Eingeweiden. Es ist nicht viel, vielleicht ein Schnapsglas voll, aber es kommt mir vor, als liefen ein paar Liter Säure aus meinem Po.

Wieder fange ich an zu weinen, rutsche nervös auf der Brille hin und her und stütze die spitzen Ellenbogen auf die genauso spitzen Knie. Das Bad hat kein Fenster. Nur eine Duschkabine mit einer altmodischen kalkigen Sitzwanne, deren Rand mir bis zu den Knien geht, ein Waschbecken und die Toilette.

Über dem Becken hängt ein alter Alibertschrank, in dem die Dinge verstaut sind, die ich brauche oder die Roswitha gekauft hat, weil sie meint, dass man sie braucht, wenn man regelmäßig auf Zeit vermietet wird. Zahnbürsten zum Wechseln, ein paar Seifen und Salben, Schmerztabletten, die ich nicht mehr nehme, seit ich mich an einen kompletten Nachmittag nur noch schemenhaft erinnern kann, dann noch Haargel und Mädchen-Make-up, was ich mir unter Garantie nicht ins Gesicht schmiere, Deo, Parfum und Vaseline. Die wirklich wichtigen Sachen sind aber drüben im Nachtschrank.

Die Dusche kommt schwerfällig in Gang, nachdem es in den Rohren gebrummt und gebollert hat, und nach ein paar Augenblicken ist das Wasser auch erträglich warm. Also klettere ich über den Rand, setze mich hin und lasse mich sauber regnen.

Alles brennt, aber das ist in Ordnung. Viel schlimmer sind die Erinnerungen. An drahtige behaarte Männerbrüste, an die mein Kopf gedrückt wird, an schwer atmende und Wasser spuckende Stöhnmenschen und an meinen Körper - an die kalten Fliesen gepresst. An die Schmerzen.

Meistens bestehen die Kunden darauf, dass ich dusche vor dem Bett. Als ob ich mich nicht eh nach jedem Mal sauber waschen würde … Nur die, die schon zu hart sind und nicht warten wollen, kommen gleich zur Sache, und dann noch ein paar der Stammfreier.

Wie Rosi immer sagt: «Heute kommt dein bester Kunde. Dieter/Peter/Argül … freut sich schon auf dich. Sei bloß immer brav zu den Stammfreiern, die zahlen am besten.»

Und Steinmann gehört leider dazu …

Während kribblig und langsam wieder Leben in meine Glieder fährt, überlege ich fieberhaft, was ich mit den paar freien Stunden anfangen könnte. Mir geht es nicht gut. Meine Beine fühlen sich steif an, auf meinem Bauch bildet sich ein blasslilaner Bluterguss und dieses doofe Kackgefühl will einfach nicht verschwinden. Das Kackgefühl ist das Schlimmste. Noch lange Zeit, nachdem nichts mehr in mir drinsteckt, denke ich dauernd, es wäre doch noch etwas da. Als müsse man ganz dringend mal groß, aber wenn man es versucht, kommt sowieso nichts. Das macht einen wahnsinnig.

Sarina hatte früher öfter mal Blasenentzündung und meinte, das Schlimmste sei, dass man dauernd das Gefühl habe, mal Pipi zu müssen. Damals habe ich das nicht verstanden. Jetzt weiß ich genau, was sie meint. Riria. Gut, dass du hiervon nichts weißt …

Sarina fuhr mit ihren langen, dunkelblonden Locken über seinen Körper. Von den kleinen Zehen bis hoch zum spitzen Jungenkinn, das neugierig nach oben gereckt wurde. Ihr nackter Busen berührte mit den hellrosanen kleinen Nippeln seinen Bauch und seine Brust.

«Mein kleiner süßer Do …», säuselte sie leise und stupste ihre Nase gegen seine. Der Junge gluckste kichernd und griff ihr in den Nacken. «Dorian. Brüderchen. Wach auf.»

Ihre Stimme füllte den kleinen Körper mit einer warmen Welle zufriedener Sicherheit. «Riria!», rief er aus, kniff ihr ein wenig in die Haut am Nacken und zog sich an seiner Schwester hoch. «Riria? Geschenke!»

Die kleinen Wangen glühten. Von irgendwoher roch es nach Kaffee und der Duft vermischte sich verlockend mit dem des Badeschaums, der noch von Sarinas Schultern glitt. Sarina trocknete sich nicht gerne ab. Do verstand das gut, denn auf der zartweißen Haut seiner Schwester hinterließ der Kratzestoff sowieso nur rosarote Reizstellen.

Meistens waren die Handtücher eh nicht sauber und lagen wild verstreut auf dem Fußboden, bis sie irgendwann von Riria in die Wanne geworfen und eingeweicht wurden, nachdem sie baden war, zusammen mit der anderen Schmutzwäsche. Solange es nicht zu kalt wurde, lief sie dampfend herum und hinterließ dunkle Stapfen auf dem Boden des Zimmers, durch das man immer musste, um ins Bad zu kommen.

Gespielt überrascht legte das Mädchen die Hand auf den Mund und sog die Luft ein, sodass ein scharfer Pfeifton entstand. «Oh Scheiße! Do! Das hab ich ja ganz vergessen! Du hast ja Geburtstag!»

«Vergessen??», stieß der Kleine hervor, warf sich auf seine Schwester und schlug ihr mit geballten Fäusten auf den feuchten Rücken.

«Ja. Vergessen. Aber ist doch egal, Do. So wichtig ist das ja nun wirklich nicht», erwiderte sie, während sie versuchte, die kleinen Fäuste mit den Handflächen sachte abzuwehren.

«Wohl schlimm!», kreischte er, ließ sich auf die Matratze, die auf dem ranzigen Teppich lag, zurückfallen und schmollte.

«Was hat die Ratte denn jetzt schon wieder?»

Dorian drehte sich sofort zur Wand, als der Freund seiner Schwester - ebenso nackt wie sie - aus dem Badezimmer schlurfte und Wassertropfen aus seinem krausen Haar ebenso dunkle Flecken auf dem Boden hinterließen.

Do wollte es nicht zugeben, aber das, was Mario da zwischen den Beinen mit sich rumtrug und das um so viele Nummern größer war als das, was er selbst vorzuweisen hatte, flößte ihm größten Respekt ein. Vor allem nachdem Sarina ihm mal erklärt hatte, wozu das «Ding» im Grunde da war.

«Er stellt sich an, weil ich seinen Geburtstag vergessen habe», antwortete Sarina gehässig und überfiel den Jungen mit einer Kitzelattacke, die ihn aus der Reserve und mit dem Blick wieder in Richtung Marioding lockte.

Der Junge wurde unvermittelt rot, und der Dunkelhäutige grinste ein breites, weißzahniges Grinsen. «Neidisch, wa?»

Do sprang auf, um sich Sarinas Händen zu entziehen, hastete an Mario vorbei und in die Küche. Auf der Holzplatte, die Mario von irgendeiner Baustelle geklaut hatte, standen drei Plastikbecher, die einladend dampften. Außerdem sah er einen Kuchen in Zellophanpapier und sogar ein in Zeitungspapier eingewickeltes Bündel auf seinem Platz. Mit einem Stift hatte jemand eine wackelige Fünf daraufgemalt und eine halb heruntergebrannte Kerze auf einem Pappdeckel glimmte mit tanzender Flamme.

Dorian schrie und hüpfte um die Platte herum wie ein wild gewordenes Eichhörnchen, riss das Zeitungsbündel an sich und ließ die Fetzen quer durch den Raum fliegen. Sarina, die nach ihm in die Küche gekommen war, griff nach der Kerze, ebenso lachend, wobei ein wenig vom Wachs in Dos Kakaobecher plumpste. «Du brennst uns hier ja noch die ganze Bude ab, kleiner Penner!»

Mario ließ sich, nun in ein altes Handtuch gewickelt, auf den Boden sinken und machte sich im Schneidersitz über den Kuchen her.

«He, du Affe! Das ist mein Purzelkuchen!», protestierte Dorian.

Das hatte Anna immer gesagt. Purzelkuchen fürs Purzelkind. Also warf Dorian das Geschenk zur Seite und sich Mario ins brachiale Kreuz und grapschte nach dem Kuchenbrocken, den dieser sich gerade zwischen die wulstigen Lippen schieben wollte. «Finger weg!»

Mario wischte den Jungen problemlos vom Rücken, und Dorian knallte mit einem dumpfen Pock mit dem Hinterkopf auf den Teppich.

«Ey, sei vorsichtig!»

Sarina half ihrem Bruder auf, wischte ihm die Tränen aus dem Gesicht und zog ihn zu sich heran, setzte ihn sich zwischen die Beine und brach ihm ein noch größeres Stück vom Kuchen ab.

«Soll doch purzeln, der Zwerg», muffelte ihr Freund, während Do sich noch näher an seine Schwester drängte, deren immer noch nackter Schambereich eine interessante Wärme auspulsierte.

Riria war wundervoll weich, vor allem wenn sie nackt war. Nicht so knorrig wie seine Mutter Anna. Seit einem Jahr war sie nun tot und meistens vergaß er sowieso, sie zu vermissen. Er hatte ja seine Riria und irgendwann würde er den mächtig bestückten Schwarzen bestimmt auch loswerden. Spätestens, wenn er selbst etwas gewachsen wäre. Vor allem «da unten». Zwar fand er die Vorstellung, das mit seinem Ding zu tun, was Mario bei Sarina damit anstellte, ziemlich komisch, auch ein bisschen eklig, aber er hatte schon ein paar Mal zugehört, und so wie es klang, hatte seine Schwester daran großen Spaß.

«Willste dir nicht dein Geschenk angucken, Scheißer?», fragte Mario kauend und schob das zerknitterte Päckchen zu Do rüber.

Ein wenig verwundert über die Fast-schon-Freundlichkeit, die der unliebsame Freund Sarinas ihm zukommen ließ, griff er danach und fingerte eine kleine blaugelbe Umhängesporttasche heraus. Nicht ganz das, was er sich als Geburtstagsgeschenk vorgestellt hatte, aber immerhin.

«Die, mein Süßer, ist, weil du bald zu einer … Schatz, wie heißt das?» Sarina schaute über den Kaffeebecher zu ihrem Freund, der leicht die Augen verdrehte.

«Vorschule.»

«Genau. Weil du bald zu einer Vorschule gehen sollst. Da lernt man tolle Sachen und so.»

Do drehte die Tasche ein paar Mal in den Händen hin und her. «Was denn zum Beispiel?»

«Mädchen kennen vor allem!», witzelte Mario und schob sich noch mehr Kuchen in den Mund. «Woll’n wir jetzt mal einen Rauchen, Babe, oder wie sieht das aus?

Sarina zog die Bong – Do wusste genau Bescheid – aus dem Spalt zwischen dem E-Herd und der siffigen Spüle und nickte.

«Riria, gehen wir in den Zoo? Ich will Zebras sehen!»

Dorian lag in die Wolldecke eingewickelt und genoss die Streicheleinheiten seiner Schwester. Es war schon spät und die Müdigkeit zog an seinen Lidern.

«Vielleicht bald. Im Moment haben wir kein Geld.»

«Warum nicht?»

«Weil wir keins kriegen. Mama hat doch alles ausgegeben und so.»

«Und warum gehst du nicht arbeiten?»

Sarina schwieg und strich dem Kleinen übers Ohr. «Mach ich schon bald.»

«Und Mario?»

Do rümpfte die Nase, als er den Namen aussprach.

«Der arbeitet doch. Der verdient alles, was wir haben. Du weißt das Amt …»

«… können wir nicht nach Geld fragen, weil die nicht wissen dürfen, was mit uns ist».

«Genau. Sonst kommst du in so’n Kinderheim, willst du das?»

«Nee. Ich will bei dir bleiben!»

«Dann leb damit. Mario hat morgen wieder eine Arbeit bei Tom. Der kommt auch gleich. Vielleicht gehen wir dann nächste Woche in den Zoo.»

«Versprochen? Oder müsst ihr das wieder alles dem Dicken von oben geben?»

Der Dicke von oben jagte Do einen Schauer über den Rücken. Der Mann stank nach Alkohol und seine dunkelgrüne Bomberjacke stand vor Schmutz. Außerdem war er gemein und nahm ihnen oft das Geld ab. Wahrscheinlich, weil Mario manchmal so bekloppt war. Dann schrie er laut und trat gegen Sachen und tat Sarina weh.

Sie erklärte Dorian oft, dass Mario krank sei, weil er Heimweh nach seinem zu Hause hatte, wo immer die Sonne scheine und alle Menschen dunkle Haut hatten und alle Männer so riesige Dinger. Dann täte ihm alles weh und er würde traurig und sauer werden. Und Mario brüllte oft, dass es Dos Schuld wäre, dass er ihn nicht «mit durchziehen» wollte – und könnte, dass Sarina ihn weggeben oder aussetzen oder sogar verkaufen sollte. Aber das tat sie nicht. Weil sie sich liebten. Weiter als die Welt ist und länger als die Zeit dauert. Japs.

Aus der Küche hörte Do wildes Stimmengewirr. Irgendjemand spielte schräg Mundharmonika und Mario redete laut von «zu Hause» – wo alles geil ist.

Noch ein letzter Kuss auf die Schläfe. «Versprochen!», dann glitt Sarina aus dem Raum und verschwand hinter dem nikotingelben Bettlaken, das als Türersatz im Rahmen hing.

Der morgendliche Geburtstagskuchen war das Letzte, das Do gegessen hatte. Der Hunger zwickte ihn im Magen, aber dann schlief er doch ein. Dachte nicht mehr an Anna, die Hyäne. Und irgendwie war er trotz allem recht glücklich.

Als er wieder aufwachte, hörte er Schreie. «Riria!?», rief er verschlafen in den Raum, in dem es außer der Matratze keine Einrichtung gab.

Wieder ein Schrei, dann ein Rumpeln. Wackelig stand er auf, hielt sich an der Wand fest und rieb sich die Augen.

«Macht die verfickte Scheißtür auf!», dröhnte die Stimme des Dicken aus dem Treppenhaus herein. Dann ein lautes Krachen, als von draußen wieder Fäuste gegen die Tür schlugen.

«Riria? Mario?»

Angst machte sich in ihm breit und der Junge wagte es kaum, in den schmalen Flur zu gehen. Langsam und auf Zehenspitzen schaute er zuerst ins Bad, wo außer ein paar Fetzen Alufolie, die er auf Marios Heimweh zurückführte, nichts Ungewöhnliches zu finden war. Dann schlich er doch durch den Flur in die Küche. Das Tischbrett war chaotisch. Überall standen leere oder umgeworfene Bierdosen und Gläser herum. Ein paar Reste einer Tiefkühlpizza, die Tom wohl mitgebracht haben musste, klebten an der Wand, auf Dorians Augenhöhe, und wirkten fast wie zwei skurrile Monsteraugen, die aus der Küchentapete blinzelten.

Erschrocken machte er einen leichten Satz zurück und eines der «Augen» rutschte herunter, um platschend auf dem Boden zu landen - und auf der Spitze seines großen Zehs. Er japste auf, und aus dem Treppenhaus wurde das Gebrüll wieder laut.

«Ich höre euch doch, ihr Bitches! Ich will meine Kohle!»

Unschlüssig wog Do ab, was zu tun war, bückte sich zitternd nach dem Pizzateil und steckte es sich schnell in den Mund, um es unzerkaut, gegen den Würgreiz kämpfend runterzuschlucken. Dann ging er zur Tür. Erneut brachten die Fäuste des Dicken sie zum Zittern.

«Hör mal auf. Hallo?», rief der Junge, wobei seine Stimme irgendwie zaghaft und kratzig klang. Er räusperte sich und versuchte es erneut. «Hallo??»

Kurz wurde es still. «Bist du das, Do? Mach auf. Sag deiner Schlampe von Schwester, dass ich meine Kohle brauche!», erzürnte sich der Nachbar erneut, zimmerte aber nicht mehr mit den Fäusten an die Tür.

«Tut mir leid, die sind nicht da», antwortete er nur vorsichtig. Völlig verzweifelt und hilflos. Sarina ließ ihn sonst nie allein. «Ich weiß auch nicht, wo die sind.»

«Oh.» Normalerweise hätte der Dicke ihm kein Wort geglaubt. Sarina und Mario schickten Do manchmal an die Tür, um sie zu verleugnen, und irgendwann fiel selbst der Idiot in Bomberjacke nicht mehr darauf rein. Aber irgendetwas in Dos Stimme hatte ihn aufmerken lassen.

«Die sind nicht da? Du bist ganz alleine?», fragte er etwas ruhiger und sogar ein wenig versöhnlich.

Dorian nickte, schlug sich selbst mit der flachen Hand an die Stirn und sagte: «Ja, ich bin ganz alleine. Also … tut mir leid.»

Die Stimme des Nachbarn kam nun von weiter unten, so als hätte er sich hingehockt oder -gekniet. «Na, das wusste ich nicht. Tut mir leid … Aber hey, wie wäre es, wenn du mich reinlässt und wir warten zusammen, bis sie wiederkommen? Alleine ist doch scheiße.»

Verunsichert trippelte der Kleine von einem Fuß auf den anderen und biss sich auf die Unterlippe. Er mochte den Dicken nicht und wusste auch nicht, ob Sarina ihn leiden konnte. Gleichzeitig hatte seine Schwester ihn auch immer angehalten, wenn er mal zur Toilette müsse und sie nicht da wäre, ruhig beim Dicken zu klingeln und dort zu gehen, ehe er «an einen Baum oder so» pisste. Und das Alleinsein machte ihm Angst. Ganz gewaltige sogar.

«Ich … weiß nicht, ob ich dich reinlassen darf.»

«Aber klar darfst du das. Bin doch nich fremd. Ich könnt dir ’n Schokoriegel spendieren, den hab ich noch hier. Und dann warten wir einfach, bis deine Schwester kommt und ihr besch… ihr Freund. Das dauert ja bestimmt nicht mehr so lange», brummte der Dicke ihm zu und klang zumindest nicht mehr böse. Außerdem, selbst wenn er böse wäre – ja sicherlich nicht auf Do. Warum auch.

Also legte der Junge trotz des mulmigen Gefühls im Bauch, das er fix als Hunger auf Schokolade abtat, die Hand auf die Klinke und öffnete die Tür.

Im Alibertspiegel betrachte ich mich müde und ausgelaugt. Bescheuert, dass man mit fast dreizehn schon müde und ausgelaugt aussehen und Zombieränder unter den Augen haben kann. Echt megabescheuert. Dorian bin ich nicht mehr. Bo und Roswitha fanden den Namen nicht gut, und außerdem hat den ja auch meine Mutter ausgesucht, die ihren Besitzanspruch mit dem Selbstmord verwirkt hat, wie sie sagen.

Ich gehöre jetzt denen und heiße Manuel. Manu - wenn sie was wollen, Bursche - wenn es ihnen egal ist, Plage - wenn ich sie ärgere. Was meistens vorkommt, wenn ich sie länger als fünf Minuten um mich habe. Bei Rosi dann gerne auch «Strafe Gottes» - obwohl ich mich frage, wie sie überhaupt ohne schlechtes Gewissen über Gott reden kann.

Tatsächlich öffne ich die Tür des Schrankes und greife nach dem Haargeltübchen. Mit zwei Fingern schmiere ich mir das durchsichtige Klebezeug in die hellblonden Haarspitzen und schiebe sie ein bisschen hinters Ohr. Rosi will, dass ich die Haare Kinn lang trage, weil ich dann noch ein bisschen jünger und hübscher aussehe. Sarina hätte mich nie dazu gezwungen. Einmal im Monat hat sie mich in der Küche aufs Brett gesetzt und mir die coolsten Frisuren verpasst, mit einer Nagelschere und Marios Rasierer. Außerdem hat sie mir einmal an Fasching buntes Haarspray beim Woolworth gemopst, was ich manchmal drauftun durfte – blöderweise nur in Pink, was anderes konnte sie so schnell nicht in die Tasche stecken.

Ich fahre mit der Hand über meinen Scheitel und rupfe die Strähnen wieder hinterm Ohr hervor, dann quer über den Kopf, sodass es aussieht wie ein zu lang geratener Hahnenkamm. Letzten Endes entscheide ich mich aber doch für das nach hinten Gegelte, Ordentliche, das mich etwas älter wirken lässt.

Als ich wieder in mein «Zimmer» gehe, fühle ich mich schon besser. Rosi war nicht untätig. Sie hat neue Bettwäsche aufgezogen und den Papierkorb mit den Tüchern und dem benutzten Kondom ausgeleert. Mit den noch immer klebenden Gelfingerspitzen fahre ich über die kühlglatte Satindecke und verziehe das Gesicht. Ich kann Satin nicht ausstehen. Es ist viel zu glatt, und wenn man schwitzt, klebt es an der Haut. Wer hat sich nur ausgedacht, Bettwäsche aus so etwas zu machen?

«Wo willst’n hin, Bursche?», brummt Bo mir vom Sessel her entgegen, als ich versuche, unbemerkt die Treppe runterzuschleichen. Zwar sitzt er mit der Sessellehne und der schlohweißen Halbglatze zu mir und mit den fischigen Augen zum Flachbildfernseher, aber irgendwie bemerkt er mich immer. «Noch ein bisschen nach draußen?»

Es klingt verunsichert und wie eine Frage, obwohl ich weiß, dass Bo sich nichts daraus macht, solange ich freihabe. Hauptsache er verpasst nicht seine Sendung. Rosi ist da das größere Problem, aber die putzt gerade im Wintergarten und singt dazu einen unmelodischen Heimatschlager aus dem Radio mit. Bo hebt den schwabbeligen, mit Muttermalen übersäten Arm, wobei die Haut am Oberarm ein bisschen hin und her schwappt. Ein original deutscher «Winkearm».

«Ah geh, aber stell nichts an.»

Bevor er es sich anders überlegen kann, verschwinde ich durch die portalähnliche Haustür, springe die zwei Stufen auf den Schotterweg und haste auf die Böschung zu. Neben dem Haus liegt ein schmaler Waldstreifen, der erst wieder an der Bundesstraße endet. Auf der anderen Seite stirbt das Grundgerüst eines Hauses vor sich hin, das neben dem von Rosi und Bo klebt und damals wohl als zweites Glied in einer Zeile von Reihenwerfthäuschen gedacht war, die man nie weiterführte, und verwest zunehmend. Daneben kommt verwaistes Ackerland, auf der anderen Seite «unser» Wald, weit dahinter das Kanalufer und dann wieder die Bundesstraße. Wenn man die bei uns überquert, gelangt man in eine Neubausiedlung mit angrenzendem Park und einem Einkaufskomplex.

Meine Beine sind immer noch nicht so recht beweglich, also stakse ich über den unebenen Waldboden, genieße kurz die Luft, lausche dem Bachrauschen, werfe an der seichtesten Stelle ein paar Ästchen hinein und falle beim Rüberhüpfen auch einmal auf die Nase, ehe ich irgendwann doch das Straßenflussufer erreiche und zehn ganze Minuten warten muss, bis ich sie bedenkenlos überqueren kann.

Vorm Supermarkt sitzen Oli und Coco auf einer Bank und pöbeln eine alte Dame an, die sich schwer tut mit einer überladenen Einkaufstüte. Mit verächtlichem Blick und schnellem Schritt gehe ich auf sie zu und haue Coco mit der Faust auf die Schulter. Er lacht nur und schmeißt eine leere Coladose nach der Oma, die leise und ein wenig ängstlich schimpft - über die «Jugend heutzutage».

Vielleicht bin ich eine Nutte. Vielleicht bitte ich, wenn man es von mir verlangt, perverse Typen darum, es mir «so richtig zu besorgen». Vielleicht bin ich genau so ein Jugendlicher, dem die Alte lieber niemals nachts begegnen will, wenn sie wüsste, womit ich mir mein Dach über dem Kopf, mein Essen und all das «verdiene». Aber wenn die so denkt, dann bitte, weil sie verstockt ist und keine Ahnung hat, nicht weil ich sie auf offener Straße beschimpfe oder mit irgendwas bewerfe.

Also laufe ich auf sie zu, was sie dazu bringt, den Kopf noch mehr zwischen den Schultern zu vergraben. Allerdings scheint sie mein etwas geschrumpftes Auftreten – ich bin halt generell etwas klein geraten, na und!? - zu beruhigen.

«Was willst du? Geh zu deinen Freunden», blafft sie mich an und klammert sich an die Henkel einer Tüte.

«Entschuldigung bitte, die meinen das gar nicht böse. Soll ich Ihnen helfen?», frage ich höflich und deute auf die Einkäufe.

Sie schüttelt verstört den Kopf und macht sich davon. Coco springt auf und schubst mich von hinten, sodass ich mich gleich zum zweiten Mal langlege, diesmal mit dem Kinn auf den Asphalt. Der Boden ist kalt und schmutzig und ich spüre Blut an meinem Kinn. Kurz überlege ich, einfach aufzugeben und liegen zu bleiben.

Erst jetzt fällt mir auf, wie müde ich bin. Aber hinter mir hupt ein Auto, also rapple ich mich wortlos wieder auf und sehe nach oben zu Oli, deren Brüste über ein ordinäres Trägertop quellen und ihr so hoch gequetscht fast unterm Kinn hängen. Das Top, das definitiv ein paar Nummern zu klein ist – oben sowie unten –, ist dazu auch noch schweinchenfarben und schmutzig. Die Hüfthose presst ein Paar ansehnlicher Fettrollen über den Beckenknochen und das schwarz gefärbte Haar hängt ihr strähnig in die Stirn. Obwohl ihre Optik fast schon eine Beleidigung ist, freue ich mich ehrlich, sie zu sehen. Coco hingegen kann meinetwegen verschwinden.

«Hey Manu, was soll denn die Kacke?»

Oli verpasst mir eine nicht ganz so ernst gemeinte Backpfeife, lacht dann aber und zieht mich in eine Umarmung, die meinen Kopf direkt in ihren Speckbusen drückt. Ich schnappe nach Luft und lege einen Arm um ihre Taille, dann schiebe ich sie von mir weg. Der Möchtegernrapstar Coco sammelt gerade irgendwas aus dem Metallmülleimer neben der Bank, um es einfach doof in die Gegend zu werfen, und beatboxt dabei sabbernd vor sich hin.

«Was machst du?», frage ich Oli, die eigentlich Olivia heißt, zu der ein so netter Name aber wirklich nicht passt. «Wir chillen nur. So nix Besonderes», antwortet sie schnoddrig und schiebt mich zur Bank. «Musst du eigentlich immer so asi sein, Alter?»

Das kapiere ich nicht. Ich war nicht derjenige, der irgendwen mit irgendwas beworfen hat. «Ich war doch nicht derjenige, der die Oma beworfen hat. DAS ist eigentlich ziemlich asi.»

«Was’n los? Wieso siehste eigentlich aus, wie ausgeschissen, Alter?»

Coco lässt eine Handvoll Müll auf mich herabregnen und schmeißt sich dann breitbeinig neben mich auf die Bank. Ich ignoriere ihn. Oli keift ein bisschen, jedoch eher mit mir, dass ich mir «so was» gefallen lasse, aber das ignoriere ich auch. Alles egal. Ich bin draußen, an der frischen Luft, und Oli und Coco sind Zuckerstückchen im Vergleich zum Steinmann. Bei dem Gedanken brennt mein Po wieder und ich rutsche ein wenig hin und her.

«Gar nix», antworte ich.

Man sieht, wie sich in Cocos Kopf der Laut hä einen Weg bahnt und dann fragt er auch: «Hä?»

Ich muss lachen.

«Wegen dem Aussehen.»

«Ach so.» Cocos Familie ist ziemlich arm. Olis ist dafür ziemlich ungebildet, also wirklich dumm. Was mir lieber ist. Weil ich vor dummen Menschen keine Angst habe. Die sagen, was sie tun und andersrum. Dumme spielen keine Psychospielchen mit dir. Und die nehmen Sachen einfach hin. Auch bei meinen Kunden ist das so. Die Dummen kommen, um zu ficken, dann gehen sie wieder. Die reden nicht oder wollen irgendwelche Lügen hören. Die wollen nur kommen.

Coco ist ein Wiesel, so wie Dieter, der immer will, dass ich ihn verführe. Vorausgesetzt, Wiesel spielen im Müll.

«Komm, wir zeigen dir was!» Als der Laden schließt, machen wir uns an dem Müllcontainer auf der Rückseite zu schaffen. Im Schlösserknacken ist Coco ganz gut, zumindest wenn das Schloss hinterher nicht noch zu gebrauchen sein soll.

«Was willst du denn mit dem Müll?», frage ich, während ich an der Ecke stehe und aufpasse, dass keiner uns sieht. «Ist doch ziemlich eklig.»

Coco lacht und schmeißt schon wieder mit irgendwas nach mir. Als mich das Metall am Schulterblatt trifft und dann klirrend zu Boden fällt, weiß ich auch, dass es ein Vorhängeschloss ist. Oli steht auf der anderen Seite und kratzt sich gelangweilt am Po.

«Na, was glaubst du, was die hier alles wegschmeißen, Arschloch. Vielleicht kriegst du bei deinen Pflegeheinis genug zu fressen, aber ich wehre mich nicht gegen ’ne Extraportion.» Und schon steckt er kopfüber im Container. «Scheiße. Mein Cap!»

Ich lache, renne zu ihm und ziehe mich an der Kante hoch. «Oh je. Die findest du nie wieder.»

«Oh je», äfft er mich blechern nach und dann: «Fuck, komm lieber rein und hilf mir suchen!»

Noch bevor ich irgendwas dagegen machen kann, umfasst Oli meine Hüfte, hebt mich hoch und schiebt mich am Hosenboden über den Containerrand. Ich schreie auf, weil es wehtut, und lande neben Coco zwischen Salatresten, Joghurtpaletten und Fleischpaketen.

«Stinkt nicht so schlimm, wie ich dachte», merke ich an, streiche mir ein paar wirre Strähnen hinters Ohr und sehe mich im Dunkel des Containers angestrengt um. «Wir brauchen Licht.»

Oli keucht, als sie sich zu uns herunterplumpsen lässt, dann zückt sie ein Plastikfeuerzeug und versucht die Flamme aufflippen zu lassen. Das zappelnde Orange hilft nicht sehr, doch nach ein bisschen Wühlen finden wir die blöde Schirmmütze unter einem Haufen Salat.

«Da staunste, was die Säcke alles wegschmeißen, wa?»

Fast ein bisschen, als wäre er der Erfinder des Containerns, wirft Coco sich in Positur und deutet mit weiten Armen um sich herum. Aber er hat recht, ich staune. Bei Bo und Rosi bekomme ich immer genug zu Essen, aber ich weiß noch genau, wie es sich anfühlt, wenn man Hunger hat. Unvermittelt greife ich nach einem Joghurtbecher und lese das Verfallsdatum, indem ich ihn mir ganz nah vor die Augen halte.

«Der ist ja sogar noch gut!», rufe ich erstaunt aus und lasse mich auf die Knie nieder, um nach noch mehr Nützlichem zu suchen.

Jetzt lacht Coco über mich. «Du kannst aber nichts davon mitgehn lassen. Das ist Klauen.»

Oli hat sich in eine Ecke gesetzt und knabbert irgendetwas aus einer Zellophanhülle. Ich muss an Kuchen denken. Ob Sarina wusste, wie viel Essen man in so einem Container hätte finden können?

«Wieso? Die schmeißen das weg, und wenn ich das mitnehme, ist das Klauen? Das versteh ich nicht!»

Coco lacht noch lauter. Dann schnappt er sich einen Müsliriegel aus dem Wust und setzt sich mitten in den Salathaufen.

«Pass doch uff, dein Arsch wird nass!», kichert Oli mit vollem Mund.

«Hör ma, Kleiner. Das ist so: Wir brechen hier ein und schlagen uns die Bäuche voll. Dann ist das Sachbeschädigung und Mundraub, oder so. Ist zwar scheiße, wenn man erwischt wird, aber nicht so schlimm, weil man eh nicht erwischt wird. Wenn wir die Sachen mitnehmen, ist das Klauen. Kapiert?»

Nicht so ganz. Irgendwie ergibt das keinen großartigen Sinn. Aber das ist mir auch egal, denn hier drinnen ist es recht gemütlich, wie ich zugeben muss. Außerdem gibt es Essen, und wenn die Polizei kommen sollte – wen stört’s?! Mindestens zwei meiner Kunden sind Bullen, die werden ja wohl den Teufel tun, mich zu verraten. Aber das sag ich Oli und Coco lieber nicht. Da würde Rosi mich umbringen.

«Musst du eigentlich nicht rein?»

Oli reißt mich aus wohligen Müsliriegelgedanken und stupst mich in die Seite.

«Wahrscheinlich schon. Wie spät ist es?»

«Gleich zwölf.»

«Dann kriege ich sowieso Ärger.»

Sie grinst und nickt und füßelt mit Coco, der irgendwas mit Edding an die Innenwand des Containers kritzelt.

«Trotzdem. Du solltest dich langsam verpissen, Kleiner», grummelt er zu mir, bewirft mich noch mal mit Salat, den ich mir von der Kleidung wische, und spuckt neben sich.

«Ich find’s aber ganz cool grad.»

Oli beugt sich zu mir rüber und kneift mich in die Backe. «Coco und ich wollen aber noch ein bisschen rumvögeln, ehe wir abhauen, weißt du. Du störst.»

Komischerweise werde ich rot bei der Vorstellung und ziemlich verlegen. Also stammle ich eine Entschuldigung und lasse mir von Oli aus dem Container helfen.

Ich höre, dass Coco irgendwas über mich sagt und Oli lacht und antwortet: «Der is halt noch klein.»

Dann renne ich los bis zur Straße. Sollen die ruhig denken, ich hätte keine Ahnung. Ist wahrscheinlich das Beste. Trotzdem habe ich ein paar Joghurtbecher in meine Jackentasche geschoben, als Coco nicht hingesehen hat.

Neben der Einfahrt zum Einkaufskomplex steht ein Notarztwagen und die Polizei. Ich überlege einen Moment lang, ob ich zurücklaufen und Coco und Oli warnen soll, aber ich lasse es bleiben. Stattdessen gehe ich zu einem der Sanitäter, die etwas Abseits stehen und rauchen.

«Sagen Sie, was ist denn hier passiert?», frage ich unschuldig, aber neugierig und schaue aus großen Augen.

«Was zum … Solltest du nicht längst im Bett sein, Junge?»

Für einen Moment suche ich etwas Zweideutiges, Anzügliches in seinem Blick, doch ich finde nur Müdigkeit, also nicke ich und deute in Richtung der Wohnsiedlung. «Bin ja schon auf dem Weg.»

«Mach dich auf. Hier gibt’s nichts Interessantes für dich.»

Aber neben dem Notarztwagen steht eine verlassene Einkaufstüte, aus der ein paar Dosen herausgefallen und über den Bordstein gerollt sind. Ich erkenne sie wieder.

«Ist sie tot?», frage ich also und deute auf die Tüte.

Der Sani nickt genervt, zieht ein letztes Mal an der Zigarette und wirft sie mir vor die Füße. «Der Busfahrer hat sie in der Haltestelle entdeckt. Saß da schon ’ne ganze Weile tot rum. Einfach an die Scheibe gelehnt.» Dann macht er mit dem Zeigefinger eine Bewegung über seiner Kehle und ich weiß Bescheid.

Schnell laufe ich ein Stück in Richtung der Wohnsiedlung, schlage einen Haken, überquere die Straße und renne – so schnell es eben geht – in den Wald. Und schon wieder heule ich Unverständnis auf meine Jacke. Vor uns hatte sie Angst und dann lag sie stundenlang allein im Bushäuschen, während wir überhaupt nicht mehr an sie gedacht haben.

Ich habe mit ihr geredet und sie hat mich angesehen wie einen bissigen Hund, dabei wollte ich nur helfen. Vielleicht hat sie den Köter in mir erkannt, aber sie hat sich auch geirrt. Sicherlich hat sie nicht gedacht, dass ich sie töte, aber sie ist trotzdem tot. Vielleicht hat sie sich sogar noch ausgemalt, was wir für böse Dinge hätten tun können, und nicht einmal aufgesehen, als der «Knall» kam. Und ich hätte zu ihr sagen sollen, dass man sich auf seine Angst nicht verlassen kann. Dass ich selber immer wieder vergesse, dass es meistens die Dinge sind, an die man noch gar nicht gedacht hat, die einem den größten Schrecken einjagen, und alle anderen, bekannten, sicheren Ängste, mit denen man lebt und an die man sich gewöhnt hat, einfach wegschleudern, um ihr großes Knalltrauma richtig zu platzieren.

Daran denke ich und schaudere fröstelnd, wische mir die Tränen immer wieder von der Wange, ziehe den Rotz hoch und bekomme selber eine Heidenangst. Nur ganz kurz, aber kräftig. Weil wenn man sich nicht einmal mehr auf das verlassen kann, wovor man Angst hat, kann man sich dann überhaupt auf irgendetwas verlassen?

Der Dicke schob sich durch den Spalt in den Flur und musterte Do. Sein Bart wucherte schon lange über die drei Tage hinaus und klebte ihm fettig am Kinn. Instinktiv wich der Junge zurück.

«Schokoriegel?», fragte er, um einen Versuch zu wagen, das Unwohlsein wegzudrängeln, und schob das Kinn vor.

«Schieb dir den sonst wo hin …», grummelte der Dicke und begann sofort einen Rundgang durch die Räume. «Habt ihr hier nix, was auch nur ansatzweise Kohle bringt?»

Vorsichtig drückte der Kleine den Rücken an die raue Tapete und sah dem Mann nach, der seinen stabilen Körper nun in den Schlafraum drängte.

«Du sollst wieder gehen!», befahl er zu leise und deutete auf die Tür.

«Na hör mir mal zu, du kleiner Scheißer …» Der Dicke wirkte sauer – Do verstand nicht wieso – und kam auf ihn zu. Doch dann blieb er unschlüssig stehen, schürzte die Lippen, was einen schmatzenden Laut fabrizierte, der verzogen im Flur widerhallte. «… wie wär’s: Wir setzen uns ein bisschen hin und warten?»

Der Neue kommt wirklich. Am nächsten Tag um zwölf Uhr mittags. Rosi hat ganz sicher mitbekommen, dass ich so spät zu Hause war, aber noch hat sie nichts gesagt. Mein Körper rebelliert konstant gegen jede Bewegung, die über das Heben des linken Armes hinausgeht, aber ich raffe mich trotzdem auf und gehe zur Tür, als es klopft. Auch wenn das nicht nötig gewesen wäre. Die Tür ist nie abgeschlossen, es sei denn, Rosi und Bo sind nicht da und ich soll nicht raus. Nur um mich zu bestrafen. Dass ich weglaufe, befürchten sie nicht. Wohin auch.

«Hi», sage ich und bemühe mich um etwas Festigkeit in der Stimme. Dennoch bin ich überrascht. Im Holzrahmen vor mir lehnt ein viel zu junger Mann und grinst, als wäre das hier ’ne Bäckerei und er will Kuchen kaufen.

«Du bist also das Kinderbett?», begrüßt er mich spöttisch und lässt einen neugierigen Blick über meinen Haaransatz bis zu meinen Fußspitzen gleiten.

«Hm … Hä?»