Herzmilch - Gertraud Klemm - E-Book

Herzmilch E-Book

Gertraud Klemm

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Beschreibung

In einem großen Haus voller Kinder wächst ein Mädchen auf wie alle anderen; statt für Puppen interessiert sie sich für Wasserkäfer, und dass im Fernsehen immer nur Männer kochen, irritiert sie. Sie wird allmählich erwachsen – Diätwahn, sexuelle Eskapaden, Zorn, Sehnsucht, Orientierungslosigkeit und Selbstzweifel inbegriffen. Sie lässt sich treiben, von Schule zu Uni zu Arbeitsplatz, von Beziehung zu Beziehung – immer auf der Suche nach ihrer Bestimmung 'als Frau', hinter der sie dumpf die Mutterschaft vermutet (und befürchtet): Alle Welt scheint nichts anderes im Kopf zu haben als sich fortzupflanzen. Aber so viel Unentschlossenheit geht nicht allzu lange gut. Gertraud Klemms Debüt bei Droschl ist ein vor Lebendigkeit sprudelnder Roman mit wachem, klarem Blick auf alte und neue Geschlechterrollen. Sein Witz und sein Humor übertönen aber nie den Ernst der Lage – nämlich die Trägheit der Verhältnisse, den Druck der inneren Zwänge und Neurosen und die Aussichtslosigkeit, wenn alles anders läuft als geplant … Mit Herzmilch ist Gertraud Klemm ein Romanerstling gelungen, der ein altes und immer gleich heißes Eisen originell, schonungslos und temperamentvoll anpackt und neu formuliert.

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Seitenzahl: 288

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Gertraud Klemm

Herzmilch

Roman

Literaturverlag Droschl

Ich träume Frauen, die wie Lurche an Land gehen und atmen lernen. Wie sie die Luft genießen und die Sonne. Wie sie in knackige Blätter beißen und genüsslich den Bauch auf den warmen Sand drücken. Sie spazieren im feinen Luftzug und lecken sich übers Auge, wenn ihnen ein Sandkörnchen hineinkommt.

I.

1.

Spinnen sterben mit angezogenen Beinen. Birkenrinde kann man abziehen und auf ihr schreiben. Marienkäfer falten ihre durchsichtigen Flügel unordentlich unter den gepunkteten Deckflügeln. Igel sind auf der Haut unter den Stacheln voller Zecken und Flöhe. Eine zusammengerollte Assel bewegt die Beine spürbar unter dem Panzer. Insekten kacken gelb.

Dass ein Schmetterling nicht mehr fliegen kann, nachdem man seine Flügel gestreichelt hat, ist eine Lüge.

Leise gehe ich die Hausmauer entlang, die Sandalen mit dem Katzengesicht im Auge behaltend. Die Schritte dürfen nicht den schmalen gepflasterten Weg verlassen, der an der Mauer entlangläuft. Wenn man den Handrücken zu fest über die Hauswand gleiten läßt, reißt der Putz die Haut auf. Die erste Schicht ist weiß, die nächste rot gestreift.

Wenn ums Eck ein Käfer liegt, werde ich einen Mann mit blauen Augen heiraten.

Wenn die gestreifte Schnecke noch immer auf der Mauer sitzt, werde ich Fernsehsprecherin.

Wenn jetzt gleich meine Cousins kommen, werden meine Eltern sterben.

Sofort schäme ich mich, dass das Wenn-dann-Spiel immer etwas mit dem Tod zu tun haben muss. Der liebe Gott sieht alles und hat seine Ohrfeigenhand schon in Position gebracht.

Ich wachse auf im Gelbton der Siebzigerjahre. Ich laufe neben dem Leben der Eltern her. Die warten nicht, bis ich mir alles ganz genau angesehen habe. Die ziehen mich weiter. Es herrscht große Eile, weil die Arbeit der Eltern den Tag in zwei Stränge scheitelt; einen mit Zeit für uns und einen mit keine Zeit für uns. An den Enden der Arbeitszeiten franst die Geduld der Eltern aus. Doch mein Bruder und ich sind geschickt, wenn es darum geht, uns auch noch dann in den Mittelpunkt zu drängen. Manchmal reicht es, sich auf ihren Schoß zu setzen und eine Geschichte über das kleine Ozelotkind Pfui, das aus dem Klo trinkt, einzufordern. Manchmal muss man vielversprechende Talente präsentieren oder blutende Wunden oder besorgniserregende Krampfanfälle. Kindsein heißt, auf der Zeit dahinzutreiben und immer wieder von den Eltern herausgefischt zu werden, sie füttern uns und schicken uns zur richtigen Zeit an die richtigen Orte, wo uns alles Wichtige beigebracht wird. Kindsein heißt, an wechselnden Orten das Leben auszuprobieren. Noch ist es wie eine Presswurst, ohne Leerstellen und Hohlräume, verdichtet bis zum Platzen.

Ich wachse auf im großen Gründerzeithaus, dort leben sechs Erwachsene und sieben Kinder, und Katzen natürlich. Zwischen den Familien liegt das Stiegenhaus mit seinen gelb-schwarz gemusterten Zementfliesen und Stufen aus Stein, von denen manche abgewetzter sind als andere. Der Handlauf aus speckigem Holz schraubt sich nach oben und in jedem Stockwerk zweigt eine Wohnung ab. Natürlich weiß ich, wer meine Eltern sind und wer mein Bruder ist, aber das große Haus verästelt uns zu einer Großfamilie, und wenn ich darüber nachdenke, ist es durchaus vorstellbar, dass ich in die Familie einer meiner beiden Tanten hineingeboren worden bin – es hätte nicht viel Unterschied gemacht, denn die glatthaarigen Schwestern sehen einander sehr ähnlich und auch wir Kinder; nur die angeheirateten Männer unterscheiden sich.

Wenn es um die Erwachsenen geht, ist viel Eile im Spiel. Eile bedeutet, dass die Mutter fahrig ist und der Vater grantig und an den Wochenenden endlich einmal eine Ruhe sein muss. Endlich einmal Ruhe bedeutet auch Ruhe von uns Kindern, die dennoch über alles geliebt werden, aber das wissen wir doch, oder?

Mit gedrehtem Kopf und hinter den Eltern herstolpernd nehme ich das Leben wahr. Mein Leben ist Zitroneneis, die rotglänzende Jausentasche mit dem Drehverschluss, die vielen Kinder und die Katzen. Es ist der müde tretende Käfer, den ich im Staub beobachten kann. Es ist der Häuserblock, den ich mit den Rollschuhen umrunden kann. Es ist meine schnittlauchgerade Stirnfransenfrisur, die ich mir nicht ausgesucht habe. Dass meine Haare nie länger sind als bis zum Kinn, habe ich meiner Wehleidigkeit beim Kämmen zuzuschreiben und meiner Begabung, mein Haar in klebrige Substanzen zu tauchen: Dispersion, Kaugummi, Fruchtjoghurt.

Natürlich schäme ich mich. Schämen ist mein größtes Talent. Es war von Anfang an da, ich wusste, wie das geht, über eine Bühne stolpern, tolpatschig sein. Das Schämen ist ein Schlund und wohnt ganz tief in meinem Bauch. Dort ist jeder einzelne Vorfall gespeichert. Wie ich etwas erzähle und keiner hört mir zu. Wie ich heimlich die kleinen gelben Fluoridtabletten der ganzen Klasse esse und es verschweige. Wie ich die glitzernde Kette der Tante gestohlen habe und im Garten vergrabe. Wie ich am Faschingsmontag als Katze verkleidet vor meiner Volksschule stehe, eine Haube mit Ohren auf dem Kopf, einen Schwanz an die Strumpfhose angenäht, mein Gesicht mit Schnurrhaaren bemalt, und außer mir ist niemand verkleidet.

Wenn ich auf dem Rücken liege und nachdenke, krabbelt das Schämen aus dem Schlund und besetzt meine Gedanken, und wenn ich jetzt nicht schnell aufstehe und etwas anderes mache, werde ich steif vor Angst, dass das Schämen nie weniger wird, sondern immer mehr.

Ich esse die Himbeeren, die schon rosa sind. Eine schmeckt sauer; eine sauer und nach Blattlaus. Ich spucke sie auf den Gartenweg und suche die Blattlaus. Ich finde sie nicht; mein Mund schmeckt ekelig. Ein paar besonders schöne Himbeeren müsst ihr für Großvater aufheben, sagt meine Mutter. Sie ärgert sich über uns, weil wir uns nicht um Großvater scheren. Wie eine Heuschreckenplage, jammert sie. Die Heuschrecke nimmt mich auf ihren Rücken und trägt mich fort von Mutter und ihren Klagen. Ich denke an das Knacken, wenn man auf eine Heuschrecke steigt, und an die Soße, die aus ihr herausrinnt. Warum soll Großvater unsere Himbeeren haben?

Der hat uns das Haus gekauft.

Warum wohnt er dann nicht bei uns?

Weil er bei der Großmutter in der Stadt wohnt.

Jetzt möchte ich gerne wissen, wieso er nicht mit den Himbeeren in seinem eigenen Garten genug hat, und warum alles ihm gehört. Und was genau mit meiner echten Großmutter passiert ist. Meine echte Großmutter ist während der letzten Kriegstage verschwunden. Einfach so. Wir sagen Großmutter zu der Frau, die mein Großvater 1950 geheiratet hat. Als er das Warten aufgegeben hat. Ich will wissen, welche Haarfarbe meine echte Großmutter gehabt hat. Aber ich weiß, dass ich genug gefragt habe. Die nächste Frage wird sie grantig machen. Ich frage nicht und schaue meiner Mutter zu, wie sie den Lippenstift nachzieht. Die Spitze des Lippenstiftes ist rund. Manche Frauen machen einen kleinen Keil in der Mitte, manche schrägen ihn einseitig ab. Ich weiß, wie Lippenstift riecht und schmeckt. Wenn man ihn ganz herausdreht, kann er abbrechen; das ist dann eine kleine Katastrophe. Meine Mutter lächelt, wenn ich mir die Lippen anmale. Ausnahmsweise, sagt sie, aber sie lässt mich immer mit ihren Schminksachen spielen. Meine Mutter freut sich darauf, dass ich eine kleine Frau werde.

2.

Am Abend sind wir komplett, wir kommen von überall; aus dem Büro, aus dem Geschäft, ich aus dem Staub mit den Käfern und Larven. Mein Bruder kommt zuletzt. Mein Bruder isst, schläft und scheißt bei uns, spricht aber nur im Notfall. So ist das mit Brüdern; alle meine Schulkolleginnen, die ältere Brüder haben, stöhnen unter ihnen. Ich stöhne nicht. Ich existiere einfach nicht, und es gibt Schlimmeres. Ich will und kann verschwinden, zwischen die Handflächen meiner Mutter, unter das Bett, aus den Seiten des Fotoalbums mit dem Spinnwebpapier dazwischen.

Bei meinem Bruder geht das nicht. Mein Bruder ist das Genie und seine Höchstleistungen ragen aus dem Durchschnitt empor: ausgezeichnete schulische Leistungen, Spitzenleistung im Sportlichen, überdurchschnittliche Merkfähigkeit. Das hat er von meinem Vater geerbt. Gemeinsam kennen sie alle Hauptstädte, alle Flüsse der Welt. Wenn ich ihn die Höhe von Bergen abprüfe, spricht mein Bruder sogar mit mir. Großglockner: 3798m! Grimming: 2352m! Hochschwab: 2277m! Traunstein 1691m! Bis die Berge Österreichs zur Neige gehen. Mein Bruder und mein Vater sind so klug. Aus mir kommen nur langgezogene Flötenklänge und Bilder von Pferden. Und Geschichten über meinen Wellensittich. Und Gebilde aus Holz und Federn, die ich gebastelt habe: magische Wunderwedel, Kreisgeflechte, Blumensterne. Wenn ich sie herzeige, nicken sie anerkennend, aber dann werde ich gefragt:»Schön. Aber was ist das?«Es ist immer ein Fragezeichen dabei. Es hilft dem Wunderwedel nicht, dass er zaubern kann, wenn er nicht etwas abbildet, das die Erwachsenen wiedererkennen können. Gezeichnete Pferde, gut proportioniert und sorgfältig angemalt, ohne dass die Stifte über die Ränder hinausfahren. Flötenstücke, die klar und richtig reproduziert werden. Die Füße in senkrechte Position gekippt, auf der Spitze der Ballettschuhe durch den Saal mit den Spiegeln gehen. Alles, was schön ist, gegen dieKlugheit, die aus Zahlen entspringt. Berge, Schach, das Wetter. Meteorologie ist mehr als ein Steckenpferd für meinen Bruder. Jeden Tag liest er die Temperatur ab und trägt sie in eine Liste ein.

Ob sie ihn mehr lieben als mich?

Vater ist in der Arbeit, und dann kommt er heim und sitzt viel und liest. Er ordnet seine Fotos und schneidet Filme, die er auf den Bergen gedreht hat und unter Wasser und in den Wäldern. Alles im Sitzen. Mutter hingegen läuft immer. Ihr Haar wippt und das Geklacker der Stöckelschuhe gibt das Tempo an: am Morgen die Stiegen hinab, dann wieder hinauf und hinab, weil etwas vergessen wurde. Am Abend hinauf und in der Wohnung tauscht sie die Stöckelschuhe gegen Flipflops: ihr Klatschen gegen die Fußsohlen ist der Applaus dafür, wie sie in der Wohnung herumläuft, in und aus der Küche, in und aus dem Bad, wieder und wieder von der Küche ins Esszimmer, und dann zwischen den Kinderzimmern und dem Schlafzimmer hin und her. Dauernd muss sie etwas tun. Nur wenn sich die Katze auf sie legt, ist Ruhe.

Wir sind anständige Leute. Trotzdem essen wir auf dem kleinen Couchtisch wie Tiere, vornübergebeugt, auf dem Boden sitzend, weil man beim Essen eigentlich nicht fernsieht und deswegen der Fernseher im Wohnzimmer steht. Es schmeckt uns, während JR Sue Ellen betrügt. Sue Ellen ist hysterisch und trinkt Alkohol aus der Flasche. Wenn sie das tut, wankt sie und wird von JR verhöhnt. Wenn JR trinkt, dann aus einem Bleikristallglas.

Familien essen, was Papas schmeckt, und das schmeckt uns auch. Papas mögen keine Nudeln, keinen Reis, keine Süßspeisen. Am liebsten mögen Papas Gegrilltes, Gebackenes und Kartoffeln. Sie mögen Scharfes und sie lieben Salz. Für uns gibt es immer Salat dazu. Salat macht schlank, sagt meine Mutter. Ich stelle mir vor, wie der Salat von innen am Magen zieht, damit der Bauch sich nach innen wölbt.

In unserer Familie sind die Mutter und die Tante und die großen Cousinen dauernd zu dick. Sie essen nichts oder passen ein bisserl auf. Ich sehe sie nie nicht aufpassen. Wenn sie einmal unsichtbar maßlos waren, erfahren wir davon, weil Buße getan wird. Saure Milch und Semmel statt des Mittagessens, drei Tage lang. Uns Kindern ekelt. Das ist köstlich, sagen die Frauen. Das hält schlank. Ihr wisst ja nicht, was gut ist!

Es ist sehr wichtig, nicht dick zu werden. Es ist sehr wichtig, jünger geschätzt zu werden. Es ist eine Tragödie, alt und hässlich zu sein. Aber natürlich gibt es Wichtigeres!

Frisuren sind wichtig, Farbberatung, sich von der Seite betrachten und von hinten. Jedes Jahr beginnt mit einer Fastenkur, jeder Tag beginnt mit demselben mühevollen Ritual: Haare waschen, einsprayen, um die Bürste wickeln, den Fön daraufhalten, darüberkämmen, façonnieren, einsprayen. Die Haut mit Cremen betätscheln, Makeup auftragen, die Kleidung mit Bedacht wählen, sie zurechtzupfen, bis sie optimal fällt, den Schmuck dazu kombinieren. Sich kritisch betrachten und bestehen. Während wir schlafen, leistet meine Mutter all diese Arbeit an sich. Das macht sie jeden Tag, auch, wenn Sonntag ist, und auch, wenn es ihr nicht gut geht. Manchmal, wenn ich früher wach bin, darf ich mich neben sie setzen, auf meine Fersen, und zusehen. Wie sie geschickt mit der Rundbürste hantiert, alles spiegelverkehrt und ohne dass sich die Haare in der Bürste verkrallen. All das kommt auf mich zu, denke ich dann. Noch kann ich alles anziehen und einfach aufstehen und mich um das Zähneputzen drücken. Ein paar Jahre habe ich noch, in denen älter werden erstrebenswert ist, ich gehe einen Berg hinauf und weiß, auf der anderen Seite beginnt der Abstieg. Der Zeitrahmen, in dem ich erwachsen sein darf und nicht alt, wird kurz sein; bald wird mein Körper den Kampf gegen die Tragödie – alt und hässlich zu werden – aufnehmen müssen. Obwohl es nicht wie ein Kampf aussieht, sondern wie ein unverzichtbares Ritual. Das ist tröstlich. Die meisten Mütter machen das, weil sie alle frisiert und geschminkt aussehen, wenngleich keine so schön ist wie meine Mutter. Aber sie ist nicht nur schön. Ganz nebenbei räumt meine Mutter noch schnell zusammen und macht das Frühstück, für uns und für die Katzen, die ihr auf den Fersen sind, seit sie auf ist, erst maunzend und zeternd, dann an ihr hochspringend und kratzend. Und dann weckt uns die schöngemachte Mutter, einzeln, in mehreren Etappen, denn: Morgenmenschen sind wir alle nicht.

Manchmal kommen Gäste. Die Freundin der Mutter. Sie ist dick. Mit ihren schmalzig glänzenden Wangen und ihrem kernigen Lachen, das wie ein Motorengeräusch das Gespräch untermalt, macht sie einen fröhlichen Eindruck, egal, was die Mutter und die Tante nachher sagen. Dass sie dicker und dicker wird. Dass der Mann eine Jüngere hat und man ihm das nicht vorwerfen kann. Dass das ein Suizidversuch war, als sie damals so abrupt ins Krankenhaus musste. Sie bekommt eine Tasse Kaffee und beginnt fast augenblicklich mit dem ununterbrochenen Rauchen und Quatschen. Anfangs darf ich daneben sitzen und zuhören, wie sie Bekannte ausrichten. Noch eine Tasse und noch eine Tasse und immer eine Zigarette dazu. Wenn das Wohnzimmer vernebelt ist und ich vom Zuhören – Scheidungen, Frisuren und unmögliche Kleidung – mürbe geworden aus dem Raum gehe, beginnt das Flüstern, ganz ohne Lachen.

Manchmal kommen entfernte Onkel und Tanten, die gehen nach Hause, ohne Musik zu hören. Oder es sind Bürokollegen oder Universitätsprofessoren, die kommen eigentlich meines Vaters wegen und hören gerne Musik. Viele haben keine Kinder, oder sie lassen die Kinder zu Hause. Ihre Frauen dürfen manchmal mit. Die Männer sehen bedeutsam aus, die Frauen haben lackiert wirkende Lippen, und sie duften aus den immer hoch aufgetürmten Frisuren. Manchmal kommt die kluge Wissenschaftlerin, deren Haar fett angeklebt ist und die viel zu viele Falten hat und keinen Mann und keine Kinder.

Wir sind die Kinder, die freundlich inspiziert werden. Die Gesichter der Erwachsenen kommen uns sehr nahe und begutachten unser Wachstum. Wachsen ist unsere Pflicht, genauso wie aufessen, grüßen und das Kleid nicht anpatzen, bevor der Besuch weg ist. Der Besuch kennt uns nicht, aber unser Wachstum, unsere ordentliche Kleidung und unseren ersten Eindruck zu kommentieren ist eine Pflicht, die keiner auslässt. Zufrieden sind Erwachsene, wenn man sich danach unsichtbar macht; verzückt sind sie, wenn man Flöte spielt, Sprüche aufsagt, einen Knicks macht und sich danach unsichtbar macht.

Wenn Besuch kommt, ist es ganz leicht, meine Eltern glücklich zu machen. Dann lasse ich meine Hände über das Klavier oder die Flöte fliegen, ohne Noten, auswendig, und ich ernte Oohs und Klatschen dafür. Ein Lied reicht; ein zweites ist schon zu viel, das Klatschen verebbt und die Hand meines Vaters legt sich dann auf meinen Rücken und schubst mich sanft vom Klavierhocker. Die fremden Erwachsenen stellen Fragen, die mit Und? Beginnen. Und? Gehst du schon in die Schule? Und in welche Klasse? Und? Was willst du denn einmal werden, wenn du groß bist? Es ist sehr wichtig, etwas werden zu wollen. Ich möchte mit Tieren sprechen können, sage ich. Sie lachen. Dann schenkt mir ein Mann einen Riesenschlecker mit einer rot-gelben Spirale. Darf ich den essen? Lachen. Ja warum denn nicht? Ich soll keine Schlecker von Fremden nehmen. Wieder Lachen. Es ist etwas anderes, wenn die Eltern die Fremden kennen. Dann sind sie nicht mehr fremd, erklärt der Mann, seine großen, haarigen Hände legt er mir auf die Schulter und lacht, sein Lachen schlüpft durch die Handflächen und bringt meine Schultern zum Mitlachen. So ist das, wenn Erwachsene etwas lustig finden und man versteht das nicht. Man bleibt stehen und wartet, bis sie wieder zu lachen aufhören. Dabei kriegt man allerhand mit: wie der Atem nach Rauch riecht, Knoblauch oder Minze. Wie bei den Männern die Nasenhaare zittern und die Glatzenhaut glänzt. Wie bei Frauen die Wimpern verklebt sind, Lippenstift auf den Zähnen ist und wieviele Falten zwischen den zwei Brüsten versteckt liegen können. Wie die Bögen der Zähne braun werden, dort, wo sie aus dem Zahnfleisch wachsen. Der Schlecker ist groß, flach, und meine Zähne bleiben auf ihm haften wie Fliegen auf dem Klebestreifen am Bauernhof. Ich packe ihn wieder ein und verstecke ihn unter meinem Bett.

Manchmal, wenn die Erwachsenen nachts zu laut Musik hören, erst Klassik, dann Jazz, wache ich auf und öffne meine Tür einen kleinen Spalt, denn niemand soll mich im Nachthemd sehen, aber ich finde das Geräusch magisch, die murmelnden Bässe, das Lachen, die Musik, die politischen Debatten. So stehe ich und horche, und ich verstehe gar nichts, außer, dass es KLUG klingt, und hie und da versteckt sich ein ordinäres Wort; das verstehe ich.

Die Gäste bleiben lange, ihr Geruch, die jetzt stumpfe Süße der Parfums, auch der kalte Rauch sind am Tag darauf immer noch da, viel zu spät ist es geworden, beklagt sich die Mutter. Sie hat zu viel getrunken und zu wenig geschlafen. Trotzdem sieht sie aus wie immer und tut auch alles wie immer, nur dass sie fahrig ist und lärmt, wenn sie lustlos die Gläser mit der Rotweinkruste und die vollen Aschenbecher abräumt und die Tischtücher aus dem Fenster ausbeutelt, mit heftigen, schnalzenden Schlägen, und das Fenster wieder schließt und die Platten in ihre Hüllen steckt, auf denen schwarze Musiker ihre Körper verbiegen, als würden sie rückwärts in die Erde hineinwachsen oder aus ihr heraus.

3.

Mein Großvater hat ein riesiges Haus für seine Kinder gekauft, und die sind eingezogen, mitsamt ihren Ehegatten und Kindern. Der Großvater hat Wände aufgestellt, Badezimmer verfliesen lassen und drei Klaviere bestellt, für die großbürgerliche Hausmusik. Er hat den Garten mit Baggern ebnen und die Stiege zum Fluss anlegen lassen, weil der Hund so gerne darin badet. Die Söhne und Schwiegerkinder waren dankbar, zogen ein und blieben. Hohe Räume hatte das Haus, Sternparkettböden und Kastenfenster, und mit Ausnahme der Eingangstür war keine Tür versperrt. Dann kamen Kinder, und Hochwässer, und Katzen. Es ist nicht selbstverständlich, sagt meine Mutter, es ist großzügig, sagt die Tante, ein Riesenhaus, sagen die Söhne und Onkel, und die Katzen fingen Libellen, Wasserläufer, Meisen und Bisamratten und legten sie säuberlich auf die Fußmatten.

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