Herzmuscheln und Bernsteinnächte - Susanne Lieder - E-Book

Herzmuscheln und Bernsteinnächte E-Book

Susanne Lieder

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Beschreibung

Hella ist fünfzig, frisch getrennt und überarbeitet. Außer für ihren Sohn Marius findet sie neben ihrem Job als Psychotherapeutin kaum Zeit — schon gar nicht für einen neuen Liebhaber. Doch dann taucht plötzlich Karlo auf und stellt ihre Welt auf den Kopf. Karlo ist das genaue Gegenteil der durchorganisierten Hella: abenteuerlustig, unkonventionell, spontan. Gemeinsam reisen sie nach Usedom und genießen das unbeschwerte Urlaubsgefühl bei Picknick am Strand und romantischen Dünenwanderungen zu zweit. Dann muss Hella unerwartet früher nach Hause. Zurück im Alltag meldet sich Karlo kaum noch bei ihr. Ganz im Gegensatz zu ihrem Exmann Joachim. Hella merkt, wie sehr sie Joachim vermisst. Sie muss sich entscheiden, worauf es ihr im Leben ankommt.

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Das Buch

Dass das Leben als 52-jährige, getrenntlebende Frau so stressig ist, hätte Hella nicht gedacht: Sie ist von ihrer Arbeit als Psychotherapeutin so überlastet, dass sie kaum Zeit für ihren Teenagersohn Marius findet. Zudem muss sie sich um ihre 81-jährige Mutter Thea kümmern, die in letzter Zeit recht tüdelig geworden ist. Bei all dem Trubel ist an einen neuen Liebhaber gar nicht erst zu denken. Bis Hella eines Tages Karlo trifft: Frei von Konventionen geht Karlo durchs Leben, macht Musik, liebt Kunst und lässt sich einfach treiben – ganz das Gegenteil von Hellas Mann Joachim. Gemeinsam verbringen Karlo und Hella traumhafte Ferien auf Usedom: Sonne, Strand, Meer, Picknick zu zweit, es könnte romantischer nicht sein. Doch als ein Notfall Hella zurück in den Alltag holt, wird die neue Liebe auf die Probe gestellt, und Hella steht vor einer wichtigen Entscheidung.

Die Autorin

Susanne Lieder wurde 1963 in Ostwestfalen geboren. Sie ist verheiratet und hat drei erwachsene Söhne. Inzwischen lebt sie mit ihrem Mann auf einem kleinen Resthof in der Nähe von Bremen. Wenn sie könnte, würde sie sofort auf den Darß ziehen.

Von Susanne Lieder ist in unserem Hause bereits erschienen:Ostseewind und Sanddornküsse

Unter ihrem Pseudonym Rieke Schermer:Liebe wie gedruckt

SUSANNE LIEDER

Herzmuscheln undBernsteinnächte

Roman

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1197-5

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, München

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Mit 20 regiert der Wille,mit 30 der Verstandund mit 40 das Urteilsvermögen

– Benjamin Franklin –

1.

Mai

Hella stieß mit Schwung die Haustür des Mehrfamilienhauses auf, presste ihre rechte Hüfte dagegen und versuchte gleichzeitig, ihre beiden vollen Einkaufstaschen auszubalancieren.

Im Treppenhaus roch es grauenvoll nach gebratenen Zwiebeln, Fahrradreifen und nassen Socken.

Hella rümpfte die Nase und hielt die Luft bis zum zweiten Stock an. Die beiden Taschen fest an ihren Oberkörper gedrückt, versuchte sie, mit einer Hand den Schlüssel ins Schlüsselloch zu stecken.

Was nicht funktionierte.

Also stellte sie die Taschen ab und probierte es erneut.

»Ich bin’s, Mama!«, rief sie laut über den Flur.

Thea Hollenstedt, Hellas einundachtzigjährige Mutter, selbst um die Mittagszeit noch im geblümten, gesteppten Bademantel, kam über den Flur getrippelt und blickte sie verwirrt an.

»Hallo, tut mir leid, ich bin etwas spät.« Hella schob sich vorsichtig an der alten Dame vorbei und brachte die beiden Taschen in die aufgeräumte, blitzsaubere Küche.

»Frau Brandt war ja schon da«, stellte sie fest. Sie hatte Frau Brandt, eine freundliche, gutmütige Dame in den Sechzigern, vor gut einem halben Jahr angeheuert, Theas Wohnung in Schuss und sie selbst ein bisschen bei Laune zu halten.

»Ja?«, fragte ihre Mutter, die hinter ihr hergekommen war, verblüfft.

Hella begann, die Einkäufe einzuräumen. »So sauber, wie es hier ist.« Seit einiger Zeit kam auch der mobile Pflegedienst einmal täglich ins Haus. Außerdem hatte Hella ihre Mutter überreden können, immer einen tragbaren Notrufsender bei sich zu haben. Der Pflegedienst kam früh morgens, und Hella übernahm dann die Mittagsschicht, wie sie es nannte. Sie fragte sich gerade, wieso ihre Mutter noch im Morgenmantel war. Oder wieder?

»Warum bist du denn nicht angezogen, Mama?«

Thea blickte an sich herunter. »Ach das …« Sie runzelte angestrengt die Stirn und schien darüber nachzudenken, warum sie einen Morgenmantel anhatte. »Ich weiß nicht. Vielleicht wollte ich grade wieder ins Bett?« Sie schwirrte in Richtung Schlafzimmer ab.

Hella lief ihr nach und fasste sie sanft am Ellbogen.

»Es ist nach zwölf. Du hast ausgeschlafen.«

Ihre Mutter blieb stehen. »Ja?«

Hella nickte nachdrücklich. »Komm, ich koche uns was Leckeres.«

Thea schob ihre blasse, fast durchsichtige, mit Altersflecken übersäte Hand unter Hellas Arm. »Das ist schön. Ich hab ja solchen Hunger.«

»Tatsächlich?«

»Seit gestern hab ich nichts mehr gegessen.«

»Ach, Mama …« Hella seufzte, schob ihrer Mutter den Küchenstuhl unter den Allerwertesten und öffnete den Kühlschrank. »Worauf hast du denn Appetit?«

»Königsberger Klopse«, erwiderte ihre Mutter wie aus der Pistole geschossen.

Hella folgte einer Eingebung und öffnete das Tiefkühlfach über dem Kühlschrank.

Und tatsächlich, da war eine Tupperdose mit Königsberger Klopsen. Sie sprach im Geiste einen Toast auf Frau Brandt aus. Vielleicht sollte sie ihr eine kleine Gehaltserhöhung zahlen.

Dorothea Brandt war eine Perle. Sie kam dreimal die Woche, putzte, wusch ab, wienerte den Boden, saugte in sämtlichen Ecken und unterhielt Thea nebenbei mit kleinen, lustigen Anekdoten. Und sie kochte wie eine Göttin.

Hella nahm den Stieltopf, öffnete die blaue Tupperdose und klopfte so lange auf den Rand des Topfes, bis die eingefrorene Masse langsam hineinrutschte.

Sie drehte sich zu ihrer Mutter um, die am Tisch saß, das Kinn in der Handfläche aufgestützt, und verträumt vor sich hin blickte. »Mama? Möchtest du Nachtisch?«

Hella warf einen verstohlenen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie wusste, dass sie zu spät dran war. Sie würde ihre Freundin Anna, Sekretärin und Retterin in der Not, anrufen und bitten müssen, etwas länger zu bleiben. Mit ein bisschen Glück und flachen Schuhen, in denen man gut rennen kann, könnte Hella es schaffen.

»Wackelpudding.« Ihre Mutter blickte noch immer verträumt auf ihre Hände.

»Du magst doch gar keinen Wackelpudding.«

Thea sah etwas pikiert auf. »Natürlich mag ich den. Als Kind hab ich den immer gegessen.«

Hella verkniff sich einen Kommentar. Sie rührte die Königsberger Klopse um und holte eine Packung Reis aus dem Schrank. Manchmal schaffte sie es, ihre Mutter auszutricksen, indem sie ihr etwas vor die Nase setzte, was Thea zwar nicht verlangt hatte, dennoch aber brav aß oder trank.

Hella deckte den Tisch und stellte eine hübsche weiße Kerze hin. Dann setzte sie sich zu ihrer Mutter und griff über den Tisch nach deren eiskalten Händen. »Wie geht’s dir heute? Macht dir das Wetter noch so zu schaffen?«

Thea Hollenstedt schenkte ihrer einzigen Tochter ein warmherziges Lächeln. »Ach, Kind … Du weißt ja, wie das ist. Was hilft all das Jammern und Klagen?«

Hella stand wieder auf, um den Reisbeutel ins kochende Wasser zu geben. »Weißt du, ich hab mir was überlegt. Was hältst du davon, wenn du zu mir ziehst?«, fragte sie wie beiläufig.

Ihre Mutter aus dieser Wohnung zu bekommen, in der sie seit über vierzig Jahren wohnte, hatte sich zu einem großen Problem entwickelt. Hier hatte sie mit ihrem Mann, Hellas Vater, gelebt und viele glückliche Jahre verbracht.

Vor etwa einem halben Jahr hatte Hella die ersten Veränderungen an ihrer Mutter bemerkt. Sie wurde eigenartig fahrig und launisch und vergaß zunehmend Dinge, die sie sich früher spielend gemerkt hatte. Manchmal ging sie ins Wohnzimmer und dachte nicht daran, das Küchenfenster zu schließen. Schlimmer noch, zweimal schon hatte sie einen Topf auf der heißen Herdplatte vergessen.

Sie hatten ein Abkommen: keine Kerzen, kein Feuerzeug, nichts, was irgendwie in Brand geraten könnte.

Der Reis kochte, und Hella sprang wieder auf.

Während sie im Topf rührte, musste sie an ihren Sohn denken. Marius war seit einiger Zeit nicht weniger durcheinander als seine Großmutter, wenn auch aus anderen Gründen. Er steckte mitten in einer ausgesprochen schwierigen, nervtötenden Pubertät. Nervtötend nicht für ihn, sondern für seine Umwelt, allen voran seine Mutter. Joachim, sein Vater, war vor gut einem Jahr aus dem gemeinsamen Reihenhaus ausgezogen, so dass Hella das Pubertätschaos hauptsächlich allein ertragen musste. Seit ein paar Monaten lebte Joachim mit Daniela zusammen. Das Verhältnis zwischen Joachim und Hella war freundschaftlich. Das war es bereits gewesen, bevor er ausgezogen war. Es war einer der Hauptgründe, weshalb sie sich überhaupt getrennt hatten. Aus ihrer großen Liebe war Freundschaft geworden.

Hella gab etwas Reis und zwei Klopse auf einen Teller. Dann füllte sie einen großzügigen Klecks Soße dazu. Sie wusste, dass ihre Mutter Soße über alles liebte.

Sie schob ihrer Mutter eine Gabel hin und nahm sich selbst einen Teller.

Thea wartete brav, bis Hella ihren eigenen Teller gefüllt hatte. »Schön, dass du gekommen bist, Minchen.«

Hella setzte sich ihr gegenüber und lächelte. »Ich komme doch jeden Tag, Mama.«

Ihre Mutter begann zu essen, wobei sie die Königsberger Klopse auf dem Teller hin- und herjagte.

Schließlich nahm Hella ihr Messer und zerteilte die Klöße so, dass ihre Mutter sie essen konnte. »Ich muss gleich wieder in die Praxis.«

»Was für eine Praxis, Kind?«

»Meine eigene.« Hella legte ihre Hand auf die ihrer Mutter. »Ich hab mich doch selbstständig gemacht. Vor einem halben Jahr. Erinnerst du dich? Ich hab’s dir doch erzählt.«

Ihre Mutter nickte langsam, doch Hella ahnte, dass sie höchstwahrscheinlich keinerlei Erinnerung daran hatte.

Ihr Kurzzeitgedächtnis war eine einzige Katastrophe, oft wusste sie nicht mal mehr, was sie eine halbe Stunde zuvor getan hatte. Ihr Langzeitgedächtnis hingegen funktionierte einwandfrei.

Hella stand auf und holte zwei Joghurt aus dem Kühlschrank. Sie stellte ihrer Mutter den mit Himbeergeschmack hin.

Thea versuchte, den Deckel zu öffnen, wobei sie den Becher umwarf.

Hella bemühte sich, geduldig abzuwarten, dann erst griff sie ein. Sie öffnete den Deckel und schob ihrer Mutter den Becher hin.

Die schien bereits wieder vergessen zu haben, dass sie Wackelpudding verlangt hatte. »Bist du Ärztin?«

»So etwas Ähnliches. Ich bin Psychotherapeutin.«

»Ach ja.«

»Denk doch einfach mal darüber nach, ob du nicht zu uns ziehen möchtest.« Hella, die in Windeseile aufgegessen hatte und damit sehr wahrscheinlich wieder Magenschmerzen bekommen würde, erhob sich und räumte den Tisch ab. Wenn ihre Mutter bei ihr wohnen würde, ersparte ihr das eine Menge Zeit, Hektik und Sorgen. Sie wusch das Geschirr ab und stellte es kopfüber auf die Spüle.

Dann schob sie den Arm unter den ihrer Mutter und brachte sie ins Wohnzimmer hinüber. Die alte Dame setzte sich in ihren Ohrensessel, die Beine legte sie auf den Hocker davor.

Hella rückte den kleinen Tisch zurecht, vergewisserte sich, dass alles an Ort und Stelle lag, was ihre Mutter den Nachmittag über brauchen würde, und überprüfte, ob sie den Notrufsender um den Hals trug. Dann gab sie ihr einen Kuss auf die Stirn. »Bis heute Abend, Mama.«

»Ach, dann kommst du heute Abend wieder?«

»Natürlich.« Hella wusste, dass ihre Mutter es bereits in spätestens einer halben Stunde wieder vergessen hatte.

Thea lächelte verzückt. »Ich sehe mir die Serie an. Die mit dem Hotel in Bayern. Der Portier ist ein so Lieber.«

»Ich weiß. Deine Lieblingsserie.« Hella holte ihre Handtasche, versteckte die Kerze in einer der Schubladen, falls ihre Mutter auf die Idee kommen sollte, dass bereits Advent war, und rief laut: »Bis später, Mama!«

Für ein paar Sekunden lehnte sie sich von außen gegen die Tür und atmete tief ein und aus. Es brauchte immer einen Augenblick, um ihre Mutter auch gedanklich zurückzulassen.

Anna, ihre Freundin und neuerdings auch Sekretärin, stand am Fenster, in der Hand eine Tasse Kaffee, als Hella zur Tür hereinkam. »Ich dachte, du wolltest zum Friseur?«

Hella küsste sie auf die Wange. »Wollte ich auch. Um ehrlich zu sein, ich hatte einfach Angst, dass meine Mutter mich nicht mehr erkennt.« Sie holte sich eine Tasse Kaffee. »Danke, dass du gewartet hast.«

»Ehrensache. Und wie geht’s Thea?«

»Wie immer. Ich hab ihr gesagt, sie soll darüber nachdenken, ob sie nicht doch zu uns ziehen möchte. Wie jeden Tag. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass sie es irgendwann tun wird.«

»Die Hoffnung stirbt zuletzt.« Anna hob die Augenbrauen, dann machte sie ein zerknirschtes Gesicht. »Entschuldige, das klang jetzt irgendwie blöd.«

»Schon gut.« Hella ging zu ihrem kleinen Schreibtisch, auf dem es wie immer chaotisch aussah. Ihr Laptop war aufgeklappt, daneben stapelten sich Papiere, Berichte und Briefe. Eine Tasse mit kaltem Kaffee stand seit gestern ebenfalls da, daneben ein Teller mit zwei inzwischen weichen Keksen. Dabei war sie eigentlich ein ausgesprochen ordnungsliebender Mensch, sie hasste Unordnung und Chaos. Doch sie kam momentan einfach nicht dagegen an.

»Hier sieht’s ja wieder aus«, stöhnte sie und schüttelte den Kopf.

»Leg mir das, was ich erledigen soll, auf meinen Schreibtisch.« Anna schaute auf ihre Uhr. »Für heute werde ich Feierabend machen, wenn das in Ordnung ist.«

Hella nickte träge. »Sicher. Du machst ja sowieso schon wieder Überstunden.«

Seit vier Monaten half Anna ihr in der Praxis mit den Büroarbeiten, damit sie nicht vollends im Chaos versank.

»Wie war’s gestern Abend im Kino?«, erkundigte sie sich und schob die Tasse mit dem kalten Kaffee angewidert beiseite.

Anna nahm die Tasse und den Teller und ging damit zur Tür.

»Der Film war so langweilig, dass ich glatt schon wieder vergessen habe, worum es eigentlich ging.«

Hella sank auf den nagelneuen Schreibtischstuhl, den sie sich vor ein paar Tagen gegönnt hatte; eine Wohltat für ihren Rücken. Sie drehte sich ein paarmal hin und her und blickte gedankenverloren aus dem Fenster.

Anna brachte einen Teller mit Kuchen. »Selbst gebacken. Birne-Marzipan. Den magst du doch so.«

Hella drückte ihre Hand. »Du rettest meinen Tag. Wieder mal.«

Anna war schon fast wieder draußen, wandte sich dann noch mal um und fragte: »Ach, sag mal, wolltest du dir nicht das Ferienhaus ansehen, das dir deine Tante … wie heißt sie noch gleich?«

»Waltraud.«

»Genau. Das dir deine Tante Waltraud vererbt hat?«

»Ja, schon, aber ich hab kein gutes Gefühl, meine Mutter in die Kurzzeitpflege zu geben.«

»Warum denn nicht? Der Pflegedienst wird sich wunderbar um sie kümmern. Ich dachte, du vertraust ihnen.«

»Das tue ich auch.«

Anna sah sie eindringlich an. »Es würde dir guttun, Hella. Du musst mal ausspannen, nur an dich denken.«

»Ja, ich weiß.«

»Ich helfe auch gerne aus, wenn’s brennt, das weißt du.«

Zurzeit brannte es eigentlich immer irgendwo. Aber Anna hatte recht, sie sollte dringend mal auf andere Gedanken kommen. Tante Waltraud, die Schwester ihrer Mutter, hatte ihr ein kleines Ferienhaus auf Usedom vermacht. Bisher war sie nicht ein einziges Mal dort gewesen. Die Zeit reichte einfach von vorn bis hinten nicht, und im Moment sah es nicht so aus, als würde sich das bald ändern.

»Danke, Anna, lieb von dir. Ich lasse es mir durch den Kopf gehen.«

»Ich bin gespannt.« Sehr überzeugt sah Anna nicht aus. Sie nahm ihre Handtasche und ging zur Tür. »Bis morgen dann.«

Hella hörte die Tür zufallen und schloss für einen Moment die Augen. Dann schlug sie ihren Terminkalender auf und blätterte darin.

Der Türsummer ertönte, und sie drückte auf den Öffner an der Wand. Kurz darauf kam Diether Pfeffer in ihr Zimmer gestürmt. Er ließ sich in einen der hellen Korbsessel fallen, der wie immer laut knarzte.

Hella öffnete ihr Notizbuch und setzte ihre Brille auf. Sie schlug die Beine übereinander und schaute ihren Patienten an. Sie bekam mit, wie er einen Blick auf ihre Beine warf, und überlegte, sich anders hinzusetzen. Nein, schließlich war genau diese Reaktion einer der Gründe, weshalb er hier war.

Diether Pfeffer war ein attraktiver Mann in den Fünfzigern; groß, gut gebaut, mit vollem dunklem Haar. Einziger Makel in seinem Gesicht war eine Narbe auf seiner Oberlippe, die von einer Hasenscharte aus seiner Kindheit herrührte. Eigentlich war sie kaum zu sehen, aber Pfeffer, dem weiblichen Geschlecht sehr zugetan, schwor, dass jede Frau das Weite suchte, sobald er nahe genug vor ihr stand. Dabei schienen sie zu fliehen, weil sie von seinen sehr direkten, teilweise anzüglichen Komplimenten und Annäherungsversuchen überfordert waren.

Sein Blick wanderte nun ihre Beine hinauf.

Eine dunkle Röte überzog seine Ohren. »Neulich hat sich eine junge Frau in der S-Bahn neben mich gesetzt. War sonst kein Platz mehr frei. Sie trug keinen BH, und ihre Brustwarzen zeichneten sich durch den dünnen Stoff ihres T-Shirts ab. Und sie hatte herrliche Brüste.« Er kaute an seiner Unterlippe und kratzte sich nervös am Ohrläppchen.

»Das haben Sie ihr hoffentlich nicht gesagt.« Hella notierte sich etwas in ihrem Büchlein und blickte ihn dann über den Brillenrand hinweg an. »Herr Pfeffer?«

»Doch.« Er sackte in sich zusammen.

»Und wie hat sie reagiert?«

Er wurde noch roter. »Sie hat mich einen perversen Sausack genannt. Dann sprang sie auf und setzte sich auf einen gerade frei gewordenen Platz.« Er schüttelte den Kopf und seufzte. »Ich bin so ein widerlicher … Ich hab’s verdient.«

»Seien Sie nicht so hart mit sich, Herr Pfeffer.«

Er schnaubte. »Sie sind doch selbst eine Frau. Wie würden Sie denn reagieren?«

»Möglicherweise hätte ich Ihnen eine Ohrfeige gegeben«, erwiderte sie nüchtern und sachlich.

Er starrte sie fassungslos an. »Da bin ich ja noch mal glimpflich davongekommen«, sagte er dann trocken.

»Was, meinen Sie, könnten Sie einer hübschen Frau sagen, die Ihnen gefällt, die Sie aber nicht verschrecken möchten?«

Er kaute wieder auf seiner Unterlippe. »Tja …« Er schluckte. »Vielleicht sollte ich ihr sagen, dass sie tolle Beine hat, auch wenn ich eigentlich ihren Busen meine.«

»Finden Sie wirklich?«

Er schüttelte wieder den Kopf. »Nein, das sollte ich vermutlich nicht.«

»Was gefällt Ihnen sonst noch an einer Frau?«

Er sah sie an. »Ihr Haar?«, schlug er etwas skeptisch vor.

»Das wäre doch schon mal ein Anfang.«

Er machte »Hmm« und schien darüber nachzudenken.

»Sie könnten auch einfach versuchen dazu überzugehen, all die Dinge, die Ihnen auf der Zunge liegen, nicht auszusprechen, sondern sie nur zu denken.«

Er blickte auf und sah sie verwirrt an.

»Wenn Ihnen eine Frau in der Bahn gegenübersitzt, die eine hübsche Figur hat, denken Sie: Was für wunderschöne Beine sie hat. Sie dürfen die Frau anlächeln, aber mehr nicht.«

Er kratzte sich wieder an seinem Ohrläppchen, eine Angewohnheit, die ihr bereits in der ersten Stunde aufgefallen war. »Versuchen könnte ich’s ja mal.«

»Und wenn Sie das eine Weile getan haben, beschäftigen wir uns damit, was Sie sagen können, um eine Frau kennenzulernen.«

Die Zeit bis zur nächsten Patientin nutzte sie, um sich im Bad kaltes Wasser übers Gesicht laufen zu lassen.

Sie warf einen Blick in den Spiegel. Warum hatte sie nicht die glatte, zarte Haut ihrer Mutter geerbt, die selbst jetzt mit einundachtzig noch fast zehn Jahre jünger aussah?

Hella zupfte an ihren Augenlidern, schnitt ein paar Grimassen, streckte sich die Zunge heraus und kramte dann in ihrer Handtasche nach ihrem Seidenmattpuder, der jedes Mal eine verblüffende Wirkung erzeugte.

Auch jetzt.

Danach straffte sie die Schultern, ging in ihr Therapiezimmer und öffnete beide Fenster weit.

2.

Hellas Praxis lag nur wenige Straßen von der Wohnung ihrer Mutter entfernt, und so brauchte sie selten mehr als zehn Minuten.

Der Fernseher lief, und Thea war davor eingeschlafen.

Hella tätschelte vorsichtig ihre Schulter und flüsterte: »Ich bin wieder da.«

Ihre Mutter schreckte hoch und blinzelte. Dann schien sie sich an ihre Tochter zu erinnern. »Hast du meine Brille gesehen?«

»Nein. Ich mache dir erst mal Abendbrot, dann suchen wir sie gemeinsam.«

Ihre Mutter sah sie verwirrt an. »Warst du heute schon mal da?«

»Heute Mittag.« Hella half ihr aufzustehen.

»Ich erinnere mich.« Thea strahlte übers ganze Gesicht. »Es gab Sauerbraten.«

Hella lächelte nachsichtig. Sauerbraten, Königsberger Klopse, war es im Grunde nicht vollkommen egal? »Hast du deine Lieblingsserie gesehen, Mama?«

Thea schnaubte. »Da geht’s doch sowieso immer nur um Liebe. Alle haben Liebeskummer. Schrecklich.«

»Das reale Leben.« Hella seufzte leise.

Sie setzte sich hin und bestrich eine Scheibe Brot mit Butter, legte Tomatenscheiben und frischen Schnittlauch darauf, so wie Thea es mochte. Dann schnitt sie alles in kleine Häppchen, legte die auf einen Teller und schob ihn ihrer Mutter zu. »Es wäre wirklich schön, wenn du bei uns wohnen würdest. Wir könnten jeden Morgen zusammen frühstücken …«

»Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages«, unterbrach Thea sie. »Hat dein Vater immer gesagt.«

»Ja, ich weiß, Mama …«

»Wenn du gesehen hättest, was für Mengen er morgens schon verdrücken konnte.«

»Würdest du denn nicht gerne bei uns wohnen?«

Ihre Mutter nahm ein Schnittchen und steckte es sich in den Mund. »Nein, ich glaube nicht.«

»Es ist nett bei uns. Du würdest ein sehr schönes Zimmer bekommen. Ich habe sogar einen kleinen Garten.«

Ihre Mutter kaute und sah sie verständnislos an. »Aber ich habe doch eine schöne Wohnung, Kind.«

»Ja, aber du bist immer allein.«

»Das macht mir nichts.« Ihre Mutter steckte sich ein weiteres Häppchen in den Mund.

»Sieh mal, ich würde für uns kochen, du könntest mit Marius Halma spielen …«

»Wer ist noch mal Marius?«

»Dein Enkel. Marius ist mein Sohn.«

»Ach ja. Gott, warum vergesse ich nur immer alles?«

»Du vergisst nicht alles, Mama.« Was sie als Kind Weihnachten immer am liebsten gesungen hatte, wusste sie zum Beispiel noch sehr gut.

»Tu ich wohl.« Thea lehnte sich entschlossen zurück. »Hier ist meine Wohnung, und hier will ich bleiben.«

»Aber sieh mal, Mama …«

»Und jetzt möchte ich ins Bett.« Ihre Mutter wollte aufstehen, wozu sie allerdings den Stuhl nicht weit genug zurückgeschoben hatte. Sie kippte leicht vornüber, und Hella eilte herbei, um ihr zu helfen.

»Ich kann das alleine«, zischte sie. Gleich darauf hakte sie ihre Tochter unter und lehnte den Kopf an deren Schulter. »Ach, Kind, was würde ich nur ohne dich machen?«

Bereits im Flur hörte Hella die Musik.

Grauenhafte, dröhnende, hämmernde, Übelkeit erregende und vor allem sehr laute Musik, die ihr Sohn Heavy Metal nannte.

Meine Güte, wie konnte man sich freiwillig seine Ohren so ruinieren?

Mit einem Fuß schob sie die Haustür auf, klemmte sich die Post unters Kinn und geriet ins Taumeln, als sie beinahe über die achtlos hingeworfenen Turnschuhe ihres Sohnes stolperte.

Hella beförderte sie mit einem Fußtritt unters Schuhregal.

»Ich bin da!«, brüllte sie durchs Haus, auch wenn es aussichtslos war, dass er sie hören würde. Wie auch, bei dem Lärm?

Sie ging in die Küche, legte die Post auf den Tisch und stellte sich vor den geöffneten Kühlschrank, an dessen Tür eine Karte mit einem Zitat von Benjamin Franklin klebte:

Wenn man es nicht schafft zu planen, plant man, es nicht zu schaffen.

Ihr Magen knurrte leise. Sie hatte Appetit auf etwas, wusste aber nicht, worauf.

»Hi«, sagte eine Stimme hinter ihr.

Sie wirbelte herum und sah ihren Sohn am Türrahmen lehnen.

»Grüße von Oma.« Wenn er wüsste, dass seine Großmutter sich kurzfristig nicht mal an ihn erinnert hatte.

Er brummte irgendetwas und war schon wieder verschwunden.

»Hast du Hunger?«, rief sie ihm nach.

Er kam zurück. »Hmm …«, machte er. Was alles und nichts bedeuten konnte.

»Hast du nun oder hast du nicht?«

»Wir könnten Pizza bestellen«, schlug er vor und betrachtete seine Socken.

Hella musterte ihn. »Was ist los, Marius? Und nein, keine Pizza. Ich koche uns was, wenn du möchtest.«

»Mir reicht auch eine Scheibe Brot. Du sollst morgen in die Schule kommen.«

Nicht schon wieder. »Was ist es diesmal, Marius?«

»Die soll sich bloß nicht so aufregen.«

»Mit ›die‹ meinst du vermutlich Frau Dr. Lindemann.«

Sie war Marius’ Geschichtslehrerin und eine der Lehrerinnen, mit denen er ständig aneinandergeriet.

Hella holte alles für ein ausgewogenes Abendessen aus dem Kühlschrank und stellte es auf den Tisch. »Was ist passiert, Marius? Womit hast du sie diesmal verspottet? Raus mit der Sprache.«

Er verzog das Gesicht. »Verspottet.«

»Du weißt genau, was ich meine.«

Natürlich wusste er das. Immerhin kannte er sie seit fast sechzehn Jahren. »Ich hab sie ein bisschen verbessert.« Er zuckte mit den Schultern. »Was soll ich tun? Die Klappe halten, wenn sie mal wieder Blödsinn quatscht?«

Hella unterdrückte ein Stöhnen. »Und was hat sie deiner Meinung nach gequatscht?«

»Es ging um Kildrummy Castle. Ich hab erzählt, dass der Hufschmied die Burgbewohner verraten hat. Das wusste sie.« Er verzog das Gesicht. »Aber nicht, wie er es gemacht hat.«

»Und wie?« Hella hatte sich zu ihm umgedreht.

Im letzten Sommer, kurz nachdem Joachim ausgezogen war, hatte sie ihrem Sohn den lang ersehnten Wunsch erfüllt und war mit ihm nach Schottland gefahren. Sie hatten beinahe jede Burganlage südlich der Highlands abgeklappert.

Marius’ Steckenpferd, besser gesagt eins davon, waren schottische und englische Burgen vom zwölften bis zum sechzehnten Jahrhundert. Hella hatte die Zähne zusammengebissen und ihre gepeinigten Füße ignoriert. Was waren schon wundgelaufene, aufgequollene, mit Blasen übersäte Füße gegen das strahlende, glückliche Gesicht ihres Sohnes?

Marius warf ihr einen vielsagenden Blick zu. »Das hab ich dir doch erzählt, als wir da waren.«

»Wir haben diese Burg auch besichtigt? Ich meine, die Ruinen?«

Er nickte. »Die Engländer konnten die Burg nur durch Verrat erobern. Der Hufschmied wollte so viel Gold haben, wie er tragen konnte.« Er hob die Schultern. »Das hat er dann auch gekriegt.«

»Klingt nach einer scheußlichen Pointe.«

Ein hämisches Grinsen huschte über sein Gesicht. »Sie haben ihm flüssiges Gold in den Hals geschüttet.«

Hella schnappte nach Luft. »Pfui Teufel.« Dann wurde sie ernst. »Und inwiefern hast du Frau Dr. Lindemann verbessert?«

»Sie hat behauptet, die Engländer hätten ihm den Kopf abgeschlagen. Was nicht stimmt.«

»Egal wie, ich kann mir einen angenehmeren Tod vorstellen.« Außerdem fragte sie sich gerade, ob Marius’ Lehrerin nur mit ihm aneinandergeraten war, weil er die Geschichte besser kannte als sie. Auch ein Lehrer brach sich keinen Zacken aus der Krone, wenn er zugeben musste, nicht jedes geschichtliche Detail zu wissen. Marius war Experte in diversen geschichtlichen Dingen, das musste Frau Dr. Lindemann nun wirklich nicht persönlich nehmen.

»Sie ruft dich nachher an.« Marius setzte sich nun ihr gegenüber an den Tisch.

Hella nickte seufzend und nahm sich eine Scheibe Brot aus dem Körbchen. »Ich würde gerne etwas mit dir besprechen.«

»Wenn es wegen Ole ist … Seine Eltern bezahlen den Schaden.« Marius griff ebenfalls nach einer Scheibe Brot.

Sein bester Freund Ole war neulich mit dem Skateboard in Marius’ Kleiderschrank gekracht. Seitdem stand er ziemlich schief und gab erschreckende Geräusche von sich, wenn man ihn öffnete.

Hella stöhnte auf. »Gott, wie oft hab ich euch gesagt, ihr sollt draußen fahren. Nein, ich wollte etwas anderes mit dir besprechen. Oma weigert sich noch immer, zu uns zu ziehen.«

»Und du willst sie zwingen.« Er kaute geräuschvoll.

»Nein, natürlich nicht.«

»Sondern?«

»Ich dachte, du könntest vielleicht mal mit ihr reden.«

Er sah sie irritiert an. »Ich? Auf mich wird sie noch weniger hören.«

»Du könntest versuchen, es ihr schmackhaft zu machen, du weißt schon.«

»Nee, weiß ich nicht.«

»Marius.« Sie seufzte. »Du bist doch ein phantasievoller, kreativer Mensch. Du könntest ihr zum Beispiel sagen, wie nett es wäre, wenn sie mit dir Halma spielen würde.«

Ihm klappte die Kinnlade herunter, und er legte sein angebissenes Brot beiseite. »Ich soll Halma mit ihr spielen? Das hab ich das letzte Mal gespielt, als ich vier war.«

»Du sollst ja auch nur so tun, als würde es dir Spaß machen, meine Güte.«

»Mann, Halma ist so was von uncool.«

»Marius, nun stell dich doch nicht so dumm.«

»Was für Kinder.«

»Bitte, ich meinte ja auch nur …«

»Für Babys.«

Sie stieß einen resignierten Seufzer aus. »Schön, dann eben nicht.«

»Mühle.«

Hella sah ihn verwirrt an. »Wie Mühle?«

»Na, wir könnten Mühle spielen.«

Sie schloss für einen Moment die Augen. Entweder, sie hatte ihn auf dem falschen Fuß erwischt oder aber er nahm sie hoch. Das wäre nicht das erste Mal.

Er grinste sie an, und ihr wurde klar, dass er sie wieder mal veralbert hatte. »Du würdest es also tun?«

»Klar. Krieg ich dann mehr Taschengeld?«

Hella verschluckte sich an ihrem Bissen und trank einen großen Schluck Wasser. »Bitte?«

»Wenn sie hierherzieht, spart sie die Miete. Müssten so um die vierhundert sein …«

»Fünfhundertzwanzig.«

»Umso besser. Ihr spart fünfhundertzwanzig Ocken, da könnte doch ein bisschen was für mich abfallen.« Er legte den Kopf schief und setzte seinen berüchtigten Dackelblick auf. »Ich bin dein einziger Sohn. Und Omas einziger Enkel.« Er klimperte mit den Wimpern.

»Zehn Euro.« Hatte er gerade »Ocken« gesagt? Was war das nun wieder für ein fürchterliches Wort?

Er hob die Augenbrauen. Wobei er die rechte deutlich höher heben konnte als die linke. »Zehn Euro?«

»Du bekommst zehn Euro mehr, wenn du es schaffst, Oma zu überzeugen.«

»Fünfzehn.«

»Zwölf.«

»Vierzehn.«

Hella schüttelte fassungslos und amüsiert zugleich den Kopf. »Zwölf. Mein letztes Wort.« Sie lachte. »Du Halsabschneider.«

Er streckte seine Hand über den Tisch aus. »Abgemacht.«

Frau Dr. Lindemann war noch immer nicht besonders begeistert, dass sie von einem ihrer Schüler bloßgestellt worden war. So nannte sie es tatsächlich.

»Tut mir leid, Frau Dr. Lindemann, aber mein Sohn hatte ganz sicher nicht vor, Sie bloßzustellen.«

»Frau Trinkaus.« Die Lehrerin machte eine kurze Pause. »Ihr Sohn liebt es, mich und andere Kollegen auflaufen zu lassen. Ich gebe ja zu, es gibt einige Dinge, von denen er schlicht mehr Ahnung hat als ich … als wir. Aber stellen Sie sich die Gesichter seiner Mitschüler vor …«

»Sehen Sie, Frau Dr. Lindemann, Marius interessiert sich seit seinem achten Lebensjahr für Burgenbau, besonders in England und Schottland. Ich glaube, es gibt keine einzige Burg, die er nicht gesehen hat. Und sei es nur in Büchern. Wir waren in den letzten Sommerferien in Schottland und haben gefühlte tausend Burgen besichtigt.«

»Sie möchten mein Mitleid?«

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht …«

Sie lachten beide.

»Ich habe heute Abend mit ihm gesprochen. Es tut ihm leid, Frau Dr. Lindemann, er wollte Sie gewiss nicht brüskieren.« Doch, wollte er. Und es tat ihm alles andere als leid. Aber das musste Frau Dr. Lindemann ja nicht wissen.

»Na, schön. Ich bin nicht nachtragend, Frau Trinkaus. Marius ist ein helles Köpfchen, Sie wissen das, wir alle wissen das. Er langweilt sich manchmal einfach zu Tode, und wenn ich ehrlich sein soll, ich hab nicht die geringste Ahnung, was ich ihm vorsetzen soll, damit er zufrieden ist. Haben Sie schon mal daran gedacht, ihn auf ein Internat für Hochbegabte zu schicken?«

»Mehrfach. Er will nicht.«

»Verstehe. Manchmal bin ich wirklich etwas ratlos, Frau Trinkaus.«

»Was nehmen Sie denn in der Oberstufe gerade durch?«, fragte Hella.

»Die Attische Polis.«

»Legen Sie einige Bücher so auf Ihren Schreibtisch, dass mein Sohn sie entdeckt. Tun Sie so, als würde ihn das vermutlich überhaupt nicht interessieren, und er wird begeistert sein.«

»Glauben Sie wirklich? So einfach soll das sein?« Wieder lachte Frau Dr. Lindemann vergnügt. »Warum zerbreche ich mir den Kopf, um diesen intelligenten jungen Mann – vom dem wir alle noch hören werden, davon bin ich überzeugt – zufriedenzustellen?«

»Manchmal sind die Dinge einfacher, als wir denken«, fügte Hella hinzu und verkniff es sich, ein Franklin-Zitat anzuhängen. Die ganz Schlauen sehen um fünf Ecken und sind geradeaus blind …

3.

Hella hatte verschlafen, war innerhalb von zwei Sekunden aus dem Bett hochgeschossen und taumelnd Richtung Bad gewankt.

Wo ihr Sohn sich bereits verbarrikadiert und ganz offenbar Ohrstöpsel in seinen wohlgeformten Ohrmuscheln hatte, da er sich auch auf hartnäckiges Klopfen hin nicht rührte.

»Marius! Bitte mach die Tür auf! Ich bin spät dran.« Das hätte sie sich sparen können. Er würde sie ja doch nicht hören.

Stöhnend lehnte sie sich an die Tür, die im selben Moment aufgemacht wurde. Um ein Haar wäre Hella auf den flauschigen Badteppich geplumpst. »Gott, hast du mich erschreckt.«

Ihr Sohn sprang an ihr vorbei. »Ich muss los. Du hast verschlafen.«

»Du bist ein schlauer Junge«, gab sie trocken zurück. »Hast du gefrühstückt?«

»Keine Zeit.« Er war bereits auf der Treppe. Und ein ziemlich aufdringlicher Geruch wehte ihm hinterher.

Hella schnupperte. »Was ist das denn für ein Duft?«

Keine Antwort.

Sie fragte sich, ob er irgendwo heimlich ein Rasierwasser oder Herrenduftwässerchen aufbewahrte. Entdeckt hatte sie nämlich noch keins. »Marius?«, rief sie über den Flur. »Ohne Frühstück gehst du mir nicht aus dem Haus!«

Er hantierte unten in der Küche mit irgendetwas herum und rief zurück: »Tschüs, bis heute Abend!«

Sie lief nach unten und erwischte ihn gerade noch an der Kapuze seines Shirts. »Hiergeblieben, junger Mann. Was ist mit Frühstück?«

»Keine Zeit.«

»Dafür muss immer Zeit sein.« Hella lief in die Küche, nahm einen Fünfer aus ihrem Portemonnaie und drückte ihn Marius in die Hand.

Er betrachtete den Schein, als hätte er so etwas ewig nicht mehr gesehen. »Wow! Wofür ist der denn?«

»Wofür wohl?« Sie schüttelte den Kopf. Der Junge war hochintelligent und brachte manchmal die einfachsten Dinge nicht zusammen.

»Ach, für ein vollwertiges Frühstück!«

Sie nickte zufrieden. »Mit Betonung auf vollwertig.«

Er klopfte sich auf die Brust. »Wofür hältst du mich?«

»Für jemanden, der loszieht und sich eins dieser ekelhaft süßen Brötchen kauft.« Sie musterte ihn unverhohlen. »Versprichst du mir, dass du dir etwas Vernünftiges kaufst?«

Er hob zwei Finger und legte sie auf die Brust. »Ich schwöre.«

»Ich kenne die Frau in der Bäckerei«, warnte Hella.

»Ich auch«, gab er zurück. Und noch bevor sie ihn festhalten konnte, war er unter ihrer Hand hindurchgeschlüpft und zur Gartenpforte gelaufen.

Ihr Handy, ein nagelneues Smartphone, mit dem sie nach wie vor überhaupt nicht zurechtkam, klingelte irgendwo.

Sie verabscheute dieses Ding. Sie hatte sich eins angeschafft, damit ihr Sohn und der Pflegedienst sie immer und überall erreichen konnten. Und umgekehrt.

Sie folgte dem Geräusch. Das Handy lag auf dem Wohnzimmertisch. Und es passierte wieder, dass sie die falsche Taste und damit das Gespräch wegdrückte.

Kurz darauf klingelte es erneut.

»Ja?«

»Ich bin’s, Hella. Guten Morgen.« Joachim.

Warum nur zuckte sie auch nach fast fünfundzwanzig Jahren, die sie sich nun kannten, beim Klang seiner Stimme zusammen? Sie schalt sich selbst eine Närrin. »Guten Morgen, Joachim. Tut mir leid, ich habe eben die falsche Taste erwischt. Ist was passiert?«

»Ich wollte nur Bescheid sagen, dass es bei morgen bleibt.«

Sie stutzte. »Morgen?«

»Hat Marius dir nichts gesagt?«

»Nein, hat er nicht.«

»Wir sind verabredet.«

»Wir?«

»Marius und ich.«

»Ach so.« Sie unterdrückte das aufkommende Gefühl einer leisen Enttäuschung. War sie noch zu retten? Joachim war vor einem Jahr ausgezogen, nachdem sie eine ganze Weile verzweifelt versucht hatten, das »Ruder herumzureißen«, wie er es genannt hatte. Dabei hatten sie sich mal geliebt, sehr sogar. Joachim war der Mann ihrer Träume gewesen, ein Mann, mit dem sie nach Timbuktu gegangen wäre, hätte er sie darum gebeten. Und Hella war eher ein Mensch, der Urlaub grundsätzlich nur dort machte, wo er auf der Stelle wieder hätte zurück nach Hause fahren können. Flugreisen ängstigten sie halb zu Tode, und auf einem Schiff wurde sie seekrank, sobald sie auch nur eins betrat. Doch für Joachim wäre sie nach Feuerland oder Timbuktu ausgewandert. Eine größere Liebeserklärung würde sie in diesem Leben keinem anderen Mann mehr machen, das wusste sie.

»Ich möchte mal wieder einen Männerabend mit ihm machen.«

Hella nickte, obwohl sie kein Wort verstanden hatte, weil sie mit ihren Gedanken ganz woanders gewesen war. »Was hast du grade gesagt? Entschuldige, ich hab verschlafen und bin noch immer ein bisschen durcheinander.«

Er lachte leise. »Ach, du auch? Ich bin auch viel zu spät dran. Ich sagte, dass ich gerne mal wieder einen Männerabend mit ihm machen würde.«

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