Herzstation - Caterina Westphal - E-Book

Herzstation E-Book

Caterina Westphal

0,0

Beschreibung

Lenja hat den schönsten Beruf der Welt. Meint sie und gibt alles. Lenja ist Krankenschwester auf einer kardiologischen Intensivstation. Täglich ist sie gefordert, muss Patienten versorgen, die alle ihre Eigenheiten haben, muss Entscheidungen treffen – ein Fehler darf nicht passieren. Das ist Daueranspannung. Zum Glück kann sie mit ihrer selbstironischen und humorvollen Art die Extreme managen. Aber Arbeitslast, Sparmaßnahmen und eine Reihe unfassbarer Ereignisse auf der Station greifen ihren Körper und ihre Seele an, und belasten auch die Beziehungen zu Familie und Freunden. Lenja muss ihren Weg finden. "Herzstation« ist ein sehr persönlicher Erfahrungsbericht und ein Buch voller Geschichten, -ergreifender, verstörender und auch viele heiterer.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 508

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist nicht gestattet,

dieses Werk oder Teile daraus auf fotomechanischem Weg zu vervielfältigen oder in Datenbanken aufzunehmen.

Neues Leben – eine Marke der

Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage

Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten.

ISBN E-Book 978-3-355-50071-5

ISBN Print 978-3-355-01915-6

© 2022 Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin

Covergestaltung: Cornelius Ochs

www.eulenspiegel.com

Über die Autorin:

Caterina Westphal, in Potsdam geboren, studierte Kultur- und Musikwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin, arbeitete als Redak­teurin, Kulturmanagerin und Senderegisseurin, komponiert Filmmusik, schreibt Lieder und Texte. Sie hat ein Kind und lebt in der Nähe von Brandenburg. Und Caterina Westphal hat eine Schwester: Von deren Arbeit als Krankenschwester auf einer kardiochirurgischen Intensivstation erzählt sie hier. »Herzstation« ist ein sehr persönlicher Erfahrungsbericht und ein Buch voller ergreifender und auch heiterer Geschichten.

Meiner Schwester und allen in diesem Buch vorkommenden Pflegekräften gewidmet.

Inhalt

Es geht wieder los

Wäre ich doch Blumenverkäuferin

Ganz normaler Dienst

Nicht schon wieder

Neurologische Ausfälle

Aussichten und Einsichten

Abgeschafft

It’s time to say goodbye

Kätzchen, Kätzchen

Comic-Helden

Lise, liebe Lise

Young Donors

Zwei Geburtstage und ein Apotheker

Der Herr in der schwarzen Jacke

Polenmarkt

Wo ist der Haken?

Unter Männern

Fauli oder Fetti?

Zweihundert Kilo

Bedeutend

Mein ist die Rache

Halluzination in Rosa

Das Leben hängt manchmal an einemWaschmaschinenschlauch

Minimal – maximal – kolossal

Maus

Der Onkel wird aufgemacht

Durchgeknallt

Versprochen ist versprochen

Ein idealer Arbeitstag

Hirntod oder die letzte Fahrt

Fehleinschätzung

Schlaf der Gerechten

Raus aufs Land

Das Lazarus-Phänomen

Kommunikationsdefizite

Probleme sind absolut relativ

Salz in der Suppe

Urlaub

Auf unsrer Wiese gehet was

Logisch werde ich Proband. Oder lieber doch nicht?

Idealisten voran

Metamorphose

Baldarzt

Auftanken

Leichtsinn

Säugling M

Märchenstunde

Der schönste traurigste Tag

Bleib fröhlich!

Arschkarte

Verzweifelt

Styropor, hellblau

Gefunkstillt

Déjà-vu

Filmstars leben gefährlich

Psycho-Falle

Pomeli, Pomela, Pomeloho

Reality-Show

Rock’n’Roll

Regler auf Anschlag

Einhundert in bar

Träume sind Schäume

Es geht wieder los

1. Januar, 5.00 Uhr. Aufstehen. Duschen, anziehen und ab. Aufs Fahrrad. Schnee bedeckt die Wege, hauchzart. Ich schaue die Straße hinunter. Niemand zu sehen. Offensichtlich liegen alle noch im Koma. Wenn dieses unberührte Weiß doch nur eine Zeit lang so bliebe. Alles ist so still. Gedämpfte Geräusche, friedlich und gefahrlos. Gegen Mittag ist wahrscheinlich alles Matsch.

Auf den Wegen abgebrannte Reste von Silvesterfeuerwerk. Vereinzelte schwankende Gestalten und ein paar Taxis. Peng! Ein Knaller. Und noch einer. Na toll. Doch nicht so friedlich, wie angenommen. Achtung Schlagloch. Ausweichen. Über die Brücke. Und weiter. Immer schön geradeaus. Vorsicht Straßenbahnschienen. Die Kälte macht munter. Trotzdem aufpassen. Um die Ecke. Nur noch an den parkenden Autos vorbei. Fahrrad abstellen, Schloss klemmt. Klamme Finger. Ruckel, ruckel, zieh, drück, Scheißding! Mach endlich. Na geht doch! Ein letztes Mal tief durchatmen. Die schöne, klare Schneeluft wird gleich durch stickige Desinfektionsluft abgelöst werden. Auf die Tür. Und rein. Da bin ich wieder. Ich, Lenja. Krankenschwester auf einer kardiochirurgischen Intensivstation. Es ist 5.50 Uhr.

»Herzlichen Glückwunsch, hast Zimmer 3. Den Koloss von Rhodos!«, begrüßt mich Ina.

»Den Kloß von Rhodos?«

»Oder so. Auf jeden Fall XXL, bitte schön.«

»Ach, vielen Dank.«

»Keine Ursache. Gibste mal einen aus.«

Beim Anblick des Mannes im Bett vor mir schießt mir erst einmal nur eins durch den Kopf: Schieb, schieb, o schieb den Wal zurück ins Meer! Er hat wirklich einen enormen Körperumfang, und ich stelle die obligatorische Frage: »Wie viel wiegt er?«

Ich muss das wissen, denn schließlich berechnen sich alle Medikamentenmengen nach dem Körpergewicht. Bekommt der Patient zu wenig, hilft es nicht und er stirbt im schlechtesten Fall. Wird ihm dagegen zu viel verabreicht, stirbt er möglicherweise auch. Es kommt eben, wie bei allem im Leben, auf die richtige Dosis an. Ina grinst in sich hinein.

»Halloho, was wiegt er?«, wiederhole ich meine Frage. Das Grinsen ist ansteckend.

»Angegeben hat er achtzig Kilo.«

Ungläubig sehe ich auf den Fettklops.

»Der soll nur achtzig Kilo wiegen?«

Erfahrungsgemäß untertreiben die übergewichtigen Patienten, aber der hier ist nicht nur übergewichtig, sondern tja ... hm ... schieb, schieb, o schieb den Wal ...

»Hat er angegeben. Ist wohl beinamputiert.«

Ich stutze.

»Beinamputiert? Beide Beine?«

Mitleidsvoll schlage ich in Erwartung eines grausam behinderten Menschen das Laken zurück. Zwei unverschämt fette Gliedmaßen liegen ordnungsgemäß an ihrem Platz. Der Dicke scheint eher penisamputiert. Kein Schwanz da, ist inmitten der Fleischmassen jedenfalls nicht auszumachen.

Inas Grinsen verbreitet sich übers ganze Gesicht. Sie freut sich diebisch über den gelungenen Scherz.

»Ach, sind doch welche dran? Dann hat er wohl gelogen!«

Wir prusten los wie Teenager, die gerade jemanden bei etwas Peinlichem überrascht haben.

»Ja, freut euch nur. Schon gesehen? Der Mops hat eine von den billigen Matratzen«, ruft uns Carola zu, die mit einem Stapel frischer Wäsche an unserem Zimmer vorbeihastet.

»Ja stimmt«, bestätigt Ina und streckt stöhnend ihren Rücken, »da kann einem das Lachen vergehen, was?«

Oje, dann wird es schwer werden, den Brocken zu bewegen und zu lagern.

»Hallo, hallo, hört mich denn niemand? Wo bleibt das Fachpersonal? Ich brauche Fachpersonal! Fachpersonal!«

Der Ruf kommt von Herrn Maiwald, dem anderen meiner beiden heutigen Patienten.

»Oh, Herr Maiwald hat sein Schläfchen beendet. Na, prima«, meint meine Kollegin und wendet sich an den Siebzigjährigen: »Herr Maiwald, wie geht es Ihnen? Ich bin Schwester Ina. Sie haben Ihre Herzoperation erfolgreich überstanden. Aber Sie bekommen noch viele Medikamente, damit Sie sich stabilisieren. Also bleiben Sie ruhig liegen. Schwester Lenja kümmert sich ab jetzt um Sie. Und wenn Sie etwas brauchen …«

»Ich brauche Fachpersonal! Fachpersonal. Wo bleibt denn nur das Fachpersonal?!«

»Ich bin Ihr Fachpersonal«, antworte ich, einer Eingebung folgend, und irgendwie entspricht das ja auch der Wahrheit.

Herr Maiwald sieht kurz zu mir, dann gibt er eine klare Anweisung: »Gut, hören Sie zu: Beschaffen Sie mir umgehend die Unterlagen aus Sektor 12 G. Haben Sie verstanden? Sektor 12 G. Und beeilen Sie sich! Ich habe keine Lust, mich wegen Ihrer Schlamperei abmurksen zu lassen!«

Okay, alles klar. Herr Maiwald ist durchgeknallt. Das wird mir, genauso wie Ina, im Bruchteil einer Sekunde bewusst. Nicht, dass dies ungewöhnlich wäre. Regelmäßig gibt es Patienten, die einige Tage nach ihrer Operation am Durchgangssyndrom zu leiden haben. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. So kann es zum Beispiel als Folge der Narkose, der Schmerzen oder des Schlafentzugs auftreten. (Die OP ist überstanden. Die Maschinen arbeiten rund um die Uhr. Sie machen alle möglichen und unmöglichen Geräusche. Sie knacken, piepen, rattern, rauschen. Ohne Ohrstöpsel ist das nicht auszuhalten, aber wer von den Patienten weiß schon, dass es gut wäre, Ohrstöpsel dabeizuhaben?) In Kombination dieser, aber auch noch anderer Faktoren kommt es bei den Betroffenen zu psychischen Störungen bis hin zu Halluzinationen. Ich weiß, dass in diesem Falle Vorsicht geboten ist, aber zugleich kann ich nichts gegen die spontan in mir aufsteigende Reaktion tun. Was hat er gesagt? Ich soll ihm die Unterlagen aus Sektor 12 G holen, andernfalls wird er abgemurkst? Es ist zu komisch. Ich rufe: »Zu Befehl!«, und lache laut los.

Schwerer Fehler.

Herr Maiwald schreit uns urplötzlich an: »Schweinebande! Ihr steckt alle unter einer Decke! Umbringen wollt ihr mich. Umbringen!«

Es folgt, was unbedingt zu vermeiden ist. Unser Patient reißt wütend an seinen Zugängen. Er zerrt nicht nur an sich herum, nein, er versucht jetzt auch noch, aus dem Bett zu steigen. Dabei schlägt er wild um sich.

Und nun geschieht alles gleichzeitig. Ina ist an die eine Seite des Bettes gesprungen. Ich versuche, den Durchgeknallten an der anderen Bettseite festzuhalten und zu verhindern, dass er sich die Zugänge abreißt. Allgemeines Gerangel. Herr Maiwald schreit pausenlos, dass wir ihn umbringen wollen. Mit der Kraft eines Jungbullen tritt er nach mir, und ich versuche auszuweichen, denn solche Tritte können einen außer Gefecht setzen. Jetzt schlägt er in die andere Richtung aus und will Ina boxen. Die duckt sich gerade noch rechtzeitig und drückt die Bolustaste, um an der Spritzenpumpe eine zusätzliche Medikamentengabe auszulösen, aber wir sehen: Den zentralen Venenkatheter, über den alle Medikamente laufen, hat er sich schon gezogen.

»Verdammter Mist, der ZVK ist raus!«

Wir rufen nach unserem Doktor, denn zu zweit haben wir kaum eine Chance, den sich mit aller Kraft aufbäumenden Mann zu fixieren. Und er muss schleunigst fixiert werden, sonst überlebt er seine Aktion vielleicht nicht.

Dominik, einer unserer diensthabenden Ärzte, taucht neben uns auf. Rangelt mit. Schließlich unterliegt der Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit und wird mit den dafür vorgesehenen Manschetten rechts und links am Bett festgeklettet. Er brüllt zwar immer noch, aber die Hände kann er nun nicht mehr so gut bewegen. Dafür tritt er weiter um sich. Es gelingt uns, ihm über die Flexüle ein Beruhigungsmittel zu verabreichen, und nach fünf Minuten ist der ganze Spuk vorbei. Unter dem Einfluss des Medikaments kann Herr Maiwald gar nicht anders. Er beruhigt sich und schläft schließlich ein.

»Heidewitzka, der war aber temperamentvoll.«

»Danke fürs Helfen.«

»Immer gerne.«

Dominik wird schon wieder bei einem anderen Fall gebraucht und eilt aus dem Zimmer.

»Ina, es tut mir so leid. Entschuldige. Nun musstest du wegen mir länger arbeiten.«

»Komm, du weißt so gut wie ich, dass es völlig egal ist, ob du lachst oder weinst. Es wäre sowieso passiert.«

Ich weiß, sie hat recht. Nichts und niemand hätte unseren Patienten davon überzeugen können, dass wir es gut mit ihm meinen. Trotzdem fühle ich mich ein wenig schuldig an den Vorgängen.

»Dafür musst du nun alles neu machen und die Unterlagen holen.«

»Welche Unterlagen?«

»Na, die aus Sektor 12 G!«

Ina entschwindet lachend, und ich seufze. Es stimmt. Herr Maiwald braucht nun ein komplett neues System. Das Bett muss frisch bezogen werden, da das Laken blutig ist. Der ZVK muss neu gelegt und alle Medikamente müssen neu aufgezogen werden. Um kontrollieren zu können, ob der ZVK richtig liegt, muss Herr Maiwald geröntgt werden. Und ich habe ja auch noch den anderen Patienten, den Pseudo-Bein-Amputierten, der ebenfalls versorgt sein will.

Als einige Zeit später die Wirkung des Beruhigungsmittels nachlässt, erkenne ich sofort, dass Herrn Maiwalds Wahnvorstellungen noch immer nicht verschwunden sind. Wieder beginnt er zu strampeln, zu treten und zu schreien und denkt nun, an einem brennenden Kreuz zu hängen. Wahrscheinlich, weil ihm die Klettverschlüsse zu schaffen machen. Die Panik glänzt in seinen Augen: »Hilfe, Polizei! Man hat mich angenagelt. Man will mich töten. Das Kreuz brennt! Hiiilfe, es brennt!«

Ich möchte gern schnell die Pein meines Patienten vermindern und suche Dominik, aber der ist beschäftigt. Bleibt noch Mechthild. Mechthild Käsbrot – Pastorentochter, und frisch von der Uni auf unsere Station gekommen – redet gern und viel, aber meist inhaltsloses Zeug, ist furchtbar langsam und bekommt nichts auf die Reihe. Von den Kollegen wird sie respektvoll »Stulle« genannt.

»Kann ich Herrn Maiwald noch ein Beruhigungsmittel geben? Er denkt, wir wollen ihn alle umbringen.«

Auch jetzt macht Mechthild ihrem Ruf als besonders begriffsstutziges Wesen wieder alle Ehre.

»Ein Beruhigungsmittel? Meinst du denn, dass er Angst hat?«

O bitte, Stulle, streng mal ein bisschen deinen Kopf an.

»Was hättest du denn, wenn es dir so vorkäme, als seiest du an ein brennendes Kreuz genagelt worden und alle wollten dich umbringen?«, frage ich die Ärztin, als wäre sie ein Schulkind.

Stulle denkt. Denkt über das Gehörte nach. Es dauert erwartungsgemäß lange. Als löste sie eine komplizierte Rechenaufgabe. Plötzlich die Erkenntnis: »Angst?«

»Genau.«

Ich bin froh, dass sie von selbst darauf gekommen ist. Doch nun ist die Pastorentochter in Stulle erwacht. Ihre Augen weiten sich und sie flüstert irritiert: »An ein brennendes Kreuz, sagst du? Seltsam. Warum denn an ein brennendes?«

Sie kann ja noch ein Weilchen drüber nachdenken. Jedenfalls darf ich jetzt Herrn Maiwald Linderung verschaffen und hoffe, dass seine Halluzinationen beim nächsten Aufwachen verschwunden sein werden. Nach meinen Berechnungen müsste dann der Spätdienst das Vergnügen haben.

»Was für eine Trantüte … « Katie, die den erbaulichen Dialog mitbekommen hat, zieht mich zu unserer Miniküche im Flur und lässt Wasser in den verkalkten Wasserkocher laufen.

»Ich mache dir erst mal einen schönen starken Kaffee, damit du nicht einpennst, während Stulle das nächste Mal denkt. Wie war dein Urlaub?«

Die freien Tage scheinen schon wieder in eine ganz andere Zeit zu gehören. Ich winke ab.

Wäre ich doch Blumenverkäufern

Ich rufe meine Oma an, um ihr ein frohes neues Jahr zu wünschen. Ihre erste Frage lautet: »Na, hast du immer noch keinen Freund?«

Ich habe Lust, das Gespräch, das eigentlich noch gar keins ist, abzubrechen und aufzulegen, aber ich antworte brav.

»Nein, Oma.«

»Versteh ich nicht, da kann doch was mit dir nicht stimmen.«

»Na danke, Oma.«

»In deinem Alter haben die meisten schon massig Kinder.«

Meine neunundachtzigjährige Oma verwendet tatsächlich dieses Wort – ich bin sprachlos.

»Bist du noch dran? Ich hör gar nichts.«

»Tja. Ähm, dann wünsch dir doch mal einen für mich.« Was Besseres fällt mir nicht ein.

»Ach ja, das mach ich. Das mach ich. Das ist eine tolle Idee. Tschüss, meine Kleine. Ich wünsche, ich wünsche.« Sagt’s und legt auf. Ich lausche noch in den Hörer, aber da knackt es nur leise.

Nun bin ich also schon anormal. Eine freundlose Enttäuschung. Na klasse, Oma! Du hast mir unglaublich weitergeholfen.

Ich habe keinen Freund. Es liegt an mir. Ich habe eine auffallende Psyche. Es muss an mir liegen. Keinesfalls spielt es eine Rolle, dass ich seit Jahren als Krankenschwester im Schichtdienst arbeite, sieben davon auf einer herzchirurgischen Intensivstation. Früh, spät, nachts, früh, spät, nachts, siebenundzwanzig Tage Urlaub im Jahr.

Ich bin doof. Ich gehe auch nach der Arbeit keinen geregelten Freizeitbetätigungen nach. Belege keinen Tanz- oder Sprachkurs, wo ich vielleicht jemanden kennenlernen könnte. Wegen meiner unregelmäßigen Arbeitszeiten ist die Einhaltung von Regelmäßigkeit de facto unmöglich, Fortschritte wären also so gut wie ausgeschlossen. Ich müsste teure Sondertermine vereinbaren. Oder ich stünde als Trottel da, der in der achten Woche immer noch keinen Tangoschritt aufs Parkett legen kann. Gott, was ist sie nur für ein Tollpatsch, wann begreift sie es endlich ...

Warum rege ich mich eigentlich so auf? Auch andere Krankenschwestern haben Ehemänner oder/und Freunde. Das kann doch nicht so schwer sein. Früh, spät, nachts. Nachts, spät, früh. Ist doch alles kein Grund, meine Lieben. Sonst noch was?

Ich hab den Richtigen bisher noch nicht gefunden. Na und? Da geht’s mir wie tausend anderen. Mir doch egal. Okay, es ist mir nicht egal, aber was soll ich machen? Die Auswahl ist nicht so groß, wie Oma vielleicht denkt. Zum Beispiel fallen verheiratete Männer aus. Ich würde es nicht darauf anlegen, bestehende Familien auseinander zu bringen. Da sind Stress und Kummer vorprogrammiert. Schwule Männer fallen aus (Originalton Oma: ja natürlich, ja natürlich Kind!). Raucher und alle Über-Hundert-Kilo-Wiegenden fallen ebenfalls durchs Raster. Ich habe auf Station täglich mit den Folgen zu kämpfen, nein danke. Das muss ich nicht noch zu Hause haben. Und auch diese stehen nicht auf meiner Wunschliste: Psychopathen, die sich an einen ranhängen und die Kräfte abzapfen: Fällt aus! Besonders Alkoholiker verstehen sich gut darauf. Was bleibt?

Ich reibe mir die Schläfen, das Jahr fängt gut an. Meine Oma hat’s nötig. Ist seit dreißig Jahren Witwe und verkündet, wenn ihr jemand die Zweisamkeit nahe bringen möchte: »Ich?! Ich hab doch keine Lust, irgendwem die dreckigen Socken zu waschen!«

Aber ich, oder wer?

Ich weiß, sie meint es gut. Doch ich kann mir nun mal keinen passenden Mann kneten, verdammt noch mal. Auch ist es oft, wirklich auffallend oft vorgekommen, dass junge Männer an mir Interesse bekundeten, aber zusammenzuckten, wenn sie meine wahrheitsgemäße Antwort auf ihr »und was machst du so beruflich« vernahmen. Kurze Zeit später wandten sich dann die eben noch so interessierten jungen Männer anderen jungen Frauen zu.

Als ich Katie einmal von solch einem Erlebnis berichtete, fragte sie nur – und es war mehr eine Feststellung, denn eine Frage: »Du hast erzählt, als was du arbeitest?!« Sie klang so vorwurfsvoll, als hätte ich verkündet, im Rotlichtmilieu mein Geld zu verdienen.

Ich nickte.

»Das solltest du nicht tun, Dummerchen.« Sie schüttelte missbilligend den Kopf. »Ich kenne das. Ich kenne das.«

Katie erzählte mir, dass sie, bevor sie ihren Mann kennenlernte, ähnliches erlebt hatte, und weihte mich in ihre Theorie ein. Die Jungs hätten einfach zu viel Schiss vor Frauen, denen die Anatomie des Mannes vertrauter ist als ihnen selbst. Nach einem halben Dutzend solch deprimierender Erfahrungen hatte sie sich dann offiziell und bei jedermann als Blumenverkäuferin ausgegeben.

Als ich an Katies Theorie denke, muss ich lächeln. Möglicherweise probiere ich es das nächste Mal auch mit etwas anderem. Vielleicht mit »Assistentin für Medizintechnik«? Klingt schick. Es wäre nicht einmal richtig gelogen. Und auf Technik stehen die Jungs.

Ganz normaler Dienst

Ich kann kaum glauben, dass heute erst der zweite Dienst nach meinem Urlaub ist. In der Eingangshalle des Krankenhauses begegne ich Schnatterente Christa. Sie hat mich schon von weitem gesehen, und so habe ich keine Chance, ihr auszuweichen. Und da geht’s auch schon los, denn sie hat heute bereits wegen ihres Dienstplans auf Station angerufen und berichtet mir nun ganz aufgeregt, welcher Patient gestorben ist, was für neue und sterbenskranke Patienten aufgenommen wurden und wer wieder was zu wem gesagt hat.

Eigentlich möchte ich rufen: Halt den Mund! Ich will überhaupt nichts hören! Ich hatte Urlaub! Frohes neues Jahr, du Nervensäge! Lass mich in Ruhe! Irgendetwas in der Art. Aber ich schaffe es nicht. Alles, was ich herausbekomme, sind nicht eindeutig als Ablehnung zu identifizierende und im Übrigen recht eigentümliche Laute wie »goaah«, »moaahhh« und »näääh«. Warum musste ich sie nur schon treffen?!

Als wir oben auf der Station ankommen, habe ich endlich Ruhe, weil Christa sich auf Jana stürzt, die bereits umgezogen ist. Und die ganze Litanei beginnt von vorn. Aber ich bin erlöst, schlüpfe in die frische Intensivkleidung und betrete pünktlich die Station.

Wie vor jedem Dienstwechsel findet auch heute die kurze Übergabe statt, in der mit wenigen Worten gesagt wird, was auf Station los ist und was noch anliegt. Dann folgen die Einteilung und die detaillierte Übergabe am Bett des jeweiligen Patienten.

Meine Stimmung bessert sich, denn Steffen wird heute mit mir zusammen arbeiten. Er ist für gewöhnlich ausgeglichen, gutgelaunt und außerdem noch witzig. Eine prima Kombination.

Herr Maiwald hat sich beruhigt und wird heute von Christa versorgt. Der Pseudo-Beinamputierte oder »unser kleiner Wal« (Ina meinte, das klänge etwas liebevoller) konnte sogar schon auf die Wachstation verlegt werden. Also sollen Steffen und ich das Dreibettzimmer übernehmen und das gleich nebenan liegende Einzelzimmer. Da das Zimmer mit den drei Betten erstaunlicherweise noch leer ist, haben wir im Moment nur eine Patientin: Frau Rischke.

Frau Rischke liegt schon ewig und drei Tage bei uns. Jedenfalls kommt es mir so vor. Tatsächlich liegt sie seit knapp zwei Monaten hier, aber durch den langen Aufenthalt auf der Intensivstation ist sie mittlerweile schon total hospitalisiert.

Ich bin Steffen dankbar, dass er Frau Rischke übernimmt, denn ehrlich gesagt können die Eigenheiten von hospitalisierten Patienten sehr anstrengend sein. Die Eigenheiten von Frau Rischke sind zum Beispiel folgende: Ihr wird von unserem Mineralwasser schlecht. Sie bekommt beim Training – um vom Beatmungsgerät unabhängig zu werden – immer Luftnot. Sie übergibt sich, wenn man die Magensonde auch nur berührt (obwohl man nicht einmal Medikamente gegeben hat). Sie braucht immer ihre Mütze, weil sonst der Kopf zu kalt wird. Sie hat plötzlich eine Laktose-Allergie, aber als die Ernährung auf Soja umgestellt wird, hat sie natürlich eine Soja-Allergie. Um nur einige zu nennen.

»Frau Rischke ist eben ’ne arme Sau. Und sieh dir nur ihren Sohn an – bei dem kann sie ja auch nicht gesund werden.« Steffen deutet bei diesen Worten auf das riesengroße Foto, das im Zimmer an der Wand hängt. Auf dem Foto sind der Sohn, die Schwiegertochter und der Ehemann von Frau Rischke abgebildet. Mit einem großen, breiten Lächeln. Und alle zeigen mit ihren dicken Daumen nach oben.

Ich gehe zu den drei leeren Bettplätzen und kontrolliere, ob alles für die zu erwartenden nächsten Patienten bereit ist. Dass ich noch keine habe, freut mich. Ein bisschen weniger Arbeit ist auch mal nicht verkehrt.

Doch die Freude währt nicht lange. Steffen ruft mir zu: »Oh, nein! Jetzt ist Frau Rischkes Sohn schon da. Dabei wollte ich sie doch noch schnell waschen!«

»Er soll erst mal einen Kaffee trinken gehen, oder lass ihn helfen«, rufe ich zurück.

»Helfen?! Auf keinen Fall!«, kreischt eine grelle Stimme von irgendwoher. »Verrückte können wir hier nicht gebrauchen! Hahaha, Lenja! Da kommt gleich ein Notfall für dich aus der Rettungsstelle, hahaha.«

Ich frage mich, was daran so lustig ist.

Steffen verdreht die Augen gen Zimmerdecke, denn es war Mechthild, die da so kreischte. Wer sonst?

»Das war’s dann wohl mit waschen und schön pflegen. Ich hole den Sohn rein, und dann nehmen wir erst einmal den Notfall auf«, beschließt Steffen.

Ich suche derweil in den Schränken schnell die wichtigsten Utensilien zusammen und bereite alles für den angekündigten Neuankömmling vor. Doch zunächst höre ich eine bekannte, näselnde Stimme aus dem Zimmer nebenan: »Muttilein, hier ist dein Söhnilein, dein Lieblingssöhnilein, ich kraul dir gleich deine Füßis. Aber erst bekommst du eine große Umarmung.«

»Ich mach mal die Tür zu«, meint Steffen resolut, und an mich gewandt fügt er hinzu: »Stulle hat ausnahmsweise recht. Der hat ’n Knall.«

Christian – unser heutiger Doktor auf Station – hat ebenfalls die Ankunft des Sohnes mitbekommen und fragt gut gelaunt: »Gibt es nicht einen in dieser Zeichentrickserie, der immer alles mit einem I am Ende sagt?«

»Hm, den gibt’s«, antworte ich einsilbig.

»Wie heißt der doch gleich? Der ist doch auch so ein schräger Vogel.«

»In dieser Serie gibt’s nur schräge Vögel«, stellt Steffen unbeeindruckt fest und hat genau wie ich keine Lust, Christian den Namen besagter Zeichentrickfigur zu verraten, denn er will das Gespräch nicht unnötig in die Länge ziehen. Der Arzt ist einer von denen, die von sich selbst denken, sie seien witzig.

»Na, ich finde jedenfalls, dass Herr Rischke sich genauso anhört, hihihi«, freut er sich unbeirrt über seinen vermeintlich originellen Vergleich, indes Steffen nur gelangweilt das Gesicht verzieht.

»Die Rettung ist da, wohin sollen wir?«, höre ich es laut über den Flur schreien.

»Bett 9, beatmet oder nicht?«, rufe ich zurück.

»Ja, BIPAP60 Prozent«, kommt umgehend die Antwort, und ich schalte das Beatmungsgerät und den Monitor an.

»Da ist wohl unser netter Plausch vorbei?«, stöhnt Christian.

»Fünfundsechzigjährige Patientin, bewusstlos zu Hause aufgefunden.« Die Rettung steht im Zimmer.

»Äh, was stinkt hier so schrecklich?«

Ich sehe, wie Steffen sich zur Seite dreht und uns jedem einen Mundschutz holt. Fast jedem.

»Für mich hast du keinen?«, mault Mechthild, die eben dazukommt.

»Nö.« Steffen kann wirklich gnadenlos sein, und ich muss mich zusammenreißen, um nicht loszuprusten.

Der Doktor von der Rettungsstelle berichtet weiter: »Das ist die Dame, die so riecht. Ihr Sohn machte sich Sorgen, weil er eine Woche lang nichts von seiner Mutter gehört hatte. Er rief dann heute die Feuerwehr an, die haben die Wohnung aufgebrochen und sie gefunden. Wurde vom Notarzt versorgt und intubiert. Sie kamen dann zu uns. Wir haben die komplette Diagnostik gemacht, waren im CT, Bilder sind noch nicht fertig. Man kann aber schon laut Radiologen einen großen Hirninfarkt sehen. Keiner weiß, wie lange die Frau bereits bewusstlos in ihrer Wohnung lag. Es ist deshalb fraglich, wie die Therapie gestaltet werden soll. Bei uns hat sie sich kreislaufstabil gehalten, reagiert nicht auf Ansprache, zeigt keine Reaktion und hat keine Schutzreflexe, keine Ahnung wie man so … so lange überlebt. Äh, sonst ist noch zu sagen …«

Er wird von Frau Rischkes Sohn unterbrochen. »Hallo Schwester. Mein Muttilein …«

»Herr Rischke, gehen Sie BITTE zurück zu Ihrer Mutter! Ich habe Ihnen schon die ganzen letzten Tage gesagt, dass Sie nicht einfach durch alle Zimmer laufen können! Der Pfleger kommt gleich zu Ihnen.«

»Ja, aber ich kann die Salbe nicht finden und Muttilein möchte gerne die Füße eingecremt haben.«

»Herr Rischke! In diesem Zimmer besteht eine große Infektionsgefahr. Bitte gehen Sie in Ihr Zimmer. Wie gesagt, der Pfleger kommt gleich zu Ihnen.«

Herr Rischke Junior schaut sich mit groß aufgerissenen Augen um, wem wohl diese energische Männerstimme gehört.

»O ja. Natürlich, Herr Oberarzt.« Flink verlässt er das Zimmer.

»Danke, Hannes!«, rufe ich erleichtert aus.

»Bekomme ich dafür einen Kaffee?«

Einen verdammt großen. Ich nicke ihm zu und freue mich, dass Hannes heute Oberarztdienst hat.

»Kann ich weiter erzählen?«, fragt der Doktor von der Rettungsstelle genervt.

»Alle warten nur darauf«, brummt Steffen. Offenbar ist er von diesem Neuzugang nicht gerade begeistert.

Ich höre weiter zu und sehe aus dem Augenwinkel, wie Herr Rischke von nebenan an die Scheibe pocht und irgendwelche Zeichen gibt.

»Ach so. Das noch. Die Angehörigen der Dame sind sehr einfach gestrickt und warten schon draußen. Hm, na dann viel Spaß. Danke für die schnelle Übernahme. Und tschüss.« Das Rettungsteam samt Doktor verschwindet ebenso schnell, wie es gekommen ist.

Während Steffen und ich die Frau an unsere Überwachungsgeräte anschließen und als Patientin aufnehmen, bespricht Hannes mit mir, was weiter zu tun ist. Währenddessen pocht Herr Rischke immer noch an die Scheibe. Katie betritt eilig das Zimmer.

»Puh, was stinkt hier so eklig?! Bett 11 kommt gleich aus dem OP. Sehr schlechter Zustand und mit IABP. Wurde wohl schon im Saal reanimiert.« Schwupp ist sie wieder weg.

Fast zeitgleich schaut Stulle herein und flötet: »Haben wir noch ein Bett frei? Die Neurologie möchte uns einen Patienten verkaufen, der starke Herzstörungen hat und Brustschmerzen.«

»O nööö!«, ruft Steffen, und ich amüsiere mich über Mechthilds Ansage.

»Was hat er? Starke Herzstörungen? Was hat denn da sein Herz so gestört?«

Steffen stimmt sofort mit ein und fängt sogar nach einer alten Schlagermelodie zu singen an: »Wer hat sein Herz so gestört, na? Wer hat sein Herz so gestööhört?«

Gleich wird das eben noch leere Zimmer voll belegt sein. Zu früh gefreut. Ich wende mich an den Arzt.

»Christian, kannst du mit den Angehörigen dieser Frau reden?«

»Hm, na gut. Holst du in der Zwischenzeit alle Zugänge? Sie bekommt gleich das komplette Programm von mir gelegt.«

Ich gehe in den Versorgungsraum und suche alles zusammen: ZVK, Schleuse, Shaldon, Magensonde, Blasenkatheter und was noch so benötigt wird, um die Zugänge zu legen. Ich bin noch nicht ganz fertig, da höre ich es bereits über die Station schallen: »Zugang aus Saal 13!«

»Bett 11!«, rufe ich über den Flur.

»Na, Meine? Da kommt ja ein Neuer nach dem anderen. Hm, was? Hm, Meine?«, stellt Christa, die ebenfalls zum Helfen herbeigeeilt ist, etwas wunderlich fest. Soll sie rumwundern, Hauptsache sie hilft mit, denn so wie es aussieht, wird es eng.

Ich lege alles, was ich im Arm habe, auf den Tisch und ziehe mir Handschuhe an, um den Neuen mit aufzunehmen. Alle Kabel, Schläuche und Medikamente müssen angebaut werden.

Plötzlich wird der angekündigte Neuzugang von der Neurologie hereingeschoben. Der hat uns gerade noch gefehlt! Steffen und ich stöhnen: »Was soll das denn? Wer hat gesagt, dass ihr schon runterkommen sollt?«

»Na, eure Ärztin hat gesagt, wir können gleich losfahren.«

»Mechthild!!!«

»Ja, ich dachte, ihr wollt gleich alle auf einmal haben.«

»Mechthild, wie oft habe ich dir schon gesagt: Nicht denken, sondern reden – und zwar mit uns!«, ranzt Steffen die Trantüte an.

Oberarzt Hannes setzt noch einen drauf: »Mechthild, denke lieber nicht. Hilf lieber mit.«

Unvermutet steht Herr Rischke wieder im Zimmer. »Muttilein hat Durst.«

Der Neuzugang aus der Neurologie, ein sehr lebendiger Herr mittleren Alters, brüllt fröhlich: »Ich wichse euch die Hüte zu. Wichs, wichs!«

»Wie bitte? Hab ich richtig gehört?«

»Ja. Das ist also Herr Mertens«, sagt der Neurologe etwas betreten.

»Was ist mit Muttilein?«, nervt Herr Rischke, und gleichzeitig rutscht der frisch operierte Patient, der eben erst aus Saal 13 kam, in die Asystolie.

Herzstillstand!

»Scheiße!«, brüllt der Kardiochirurg. »Ich hab keine Lust mehr!«

Also Reanimation. Steffen übernimmt die Herzdruckmassage.

Währenddessen versuchen wir anderen, den Patienten weiter an unsere Geräte anzuschließen. Da Frau Rischkes Sohn immer noch breit im Wege steht, schreit Hannes wütend in dessen Richtung: »Raus hier!«

»Ich wichs dir einen!«, brüllt es als Antwort von Bett 10.

»Wann können wir was über unseren Patienten berichten und ihn übergeben?«

Das war der Neuro-Doktor. Geht’s noch?

Die Geräte klingeln und piepen. Weitere Ärzte und Schwestern kommen dazu, versuchen zu helfen und Dinge anzureichen. Wir funktionieren wie Maschinen. Ich hole neue Medikamente und ziehe sie blitzschnell auf. Ina hilft mir. Wir hören die Anordnungen des Chirurgen.

»Noch mal Adrenalin, wie lange sind wir schon dabei?«

»Fünfundzwanzig Minuten!«

»Was machen wir? Fünfundzwanzig Minuten und noch überhaupt kein Eigendruck!«, ruft Hannes in die Runde.

»Wichsen!«, brüllt es begeistert aus dem mittleren Bett.

Der Neurologie-Patient wurde von Christa und Ina inzwischen an den Monitor angeschlossen, und Pastorentochter Mechthild versucht nun, mit ihm zu reden.

»Herr Mertens, so böse Sachen darf man doch nicht sagen.«

Sie fuchtelt tatsächlich mit dem Zeigefinger vor seiner Nase herum. Es wäre besser, sie würde auf ihren Finger aufpassen. Schließlich hat sie einen Neurologie-Patienten vor sich. Aber ich habe keine Zeit, sie darauf hinzuweisen. Stulle wird schon merken, wenn das Fingerchen abgebissen ist.

»Wichsen, wichsen, wiiichseeeen!«, brüllt Herr Mertens unverdrossen.

»Mechthild, lass ihn einfach und kümmere dich um wichtigere Dinge«, gehe ich die Moralistin nun doch an und höre Herrn Rischke sagen: »Genau. Muttilein hat nämlich Durst.«

Was macht der denn schon wieder hier?

»Raus!!!«

»Okay. Wir machen ihn noch mal auf. Ich rufe das OP-Team«, entscheidet der Chirurg.

Na toll! Und das im engsten Zimmer der Station. Im Dreibettzimmer.

»Kannst du noch?«, frage ich Steffen, der immer noch fortwährend die Brust eindrückt.

»Chrrr, chrrr«, keucht der nur.

Das OP-Team ist in Windeseile vor Ort, und während sich Steffen abrackert, wird das OP-Feld steril gemacht. Auch alles drumherum muss steril sein. Wir ziehen Haube und Maske auf und machen die endlich angekommenen Blutkonserven fertig.

»Schneller, schneller, ich brauche Licht und Volumen!«, ruft der Chirurg.

Ein Knacken und Rütteln, ein Zerren und Schneiden und schon ist der Thorax offen. Jetzt kann der Kardiochirurg direkt am Herzen reanimieren und operieren. Ich hoffe, dass die Ursache für den schlechten Zustand des Patienten schnell gefunden wird.

Der Chirurg massiert das Herz.

Steffen ist vom Bett geklettert und kann sich jetzt wieder um Frau Rischke kümmern.

Gut, gut. Kurz durchatmen.

Ich reiche Mechthild die sterilen Gegenstände, damit sie der neuen Patientin in Bett 9, der zu Hause aufgefundenen, die wichtigen Zugänge legen kann. Christian und Hannes sind voll und ganz mit dem OP-Patienten in Bett 11 beschäftigt. Ebenso Kardiotechniker, Kardiochirurgen und OP-Schwester.

Endlich kann ich versuchen, mir für den Sohn von Frau Rischke etwas Zeit zu nehmen. Auch für den erregten Herrn Mertens im Mittelbett, der dank seiner Gehirnschädigung anscheinend immer das Gefühl hat, sich einen runterholen zu müssen. Vielleicht hat er deshalb so eine schnelle Herzfrequenz? Ich gebe ihm eine Unterlage, damit er nicht das ganze Bett – na ja was … hm ... Dann beruhige ich Frau und Herrn Rischke und versorge die Patientin im Bett 9. Nebenbei reiche ich an, was bei der OP gebraucht wird, und versuche, das aufzuholen, was liegen geblieben ist. Es ist viel und nimmt kein Ende.

Auch Steffen hat reichlich zu tun. Er rennt gerade aus dem Zimmer, um neue Medikamente für den OP-Patienten zu holen, da biegt unser katholischer Pfarrer um die Ecke. Fast prallt er mit ihm zusammen, und Steffen sagt unwirsch: »Eben habe ich gedacht, es kann nicht schlimmer werden, doch dann kamen Sie um die Ecke und es wurde schlimmer.«

»Tausend gute Wünsche von der Kirche«, antwortet dieser außerordentlich blasse Mensch unbeirrt mit einem Lächeln, das von andauernder Berufsfreundlichkeit schon ganz erstarrt wirkt. Steffen ist sofort wieder im Zimmer verschwunden, und ich schicke den Mann in die entgegengesetzte Richtung: »Heute ist’s hier gerade schlecht mit Beten.«

Geschafft. Der frisch Operierte ist stabil und hat seinen eigenen Druck, allerdings nur dank unglaublich vieler kreislaufunterstützender Medikamente. Das OP-Team baut alles ab und räumt zusammen.

»Die Angehörigen der Dame von Bett 9 sind da. Ich habe mit ihnen geredet, doch ich glaube, sie haben mich nicht verstanden«, teilt mir Hannes mit.

»Wieso nicht?«

»Na hol sie rein, dann weißt du es.«

Mechthild hat fast alle Zugänge gelegt und freut sich wie ein kleines Kind über ihr Ergebnis. Ich bin auch froh, dass es diesmal nicht drei Stunden gedauert hat.

Schnell eile ich nach vorn in den Warteraum. Dort stürzt ein kleiner, schief laufender Mann auf mich zu. Hinter ihm her humpelt eine hinkende Frau. Beide sehen sehr ungepflegt aus und riechen streng.

»Is meene Mutti tot?«

»Nein, ist sie nicht. Sie sind also der Sohn. Guten Tag. Ich bin Schwester Lenja und betreue Ihre Mutti heute Nachmittag. Unser Oberarzt hat Ihnen bereits alles erklärt? Konnten Sie alles verstehen oder haben Sie noch Fragen?«

»Ja. Is meene Mutti tooot?«

»Nnnein … ist sie nicht … kommen Sie doch bitte erst mal mit zu ihr.«

»Meene Mutti hat dit janze Sofa voll jepisst und jekackt. Dit hat Mutti noch nie jemacht. Die jeht sonst immer aufs Klo«, teilt der Mann mir auf dem Weg ins Zimmer mit. Die Frau hinkt hinterdrein. Dort angekommen brüllt Herr Mertens gerade triumphierend: »Schwester Lenja. Ich hab die ganze Unterlage vollgewichst.«

Ich bringe die beiden zu ihrer Mutter und gebe Herrn Mertens eine neue Unterlage. Dann höre ich den Sohn der Frau von Bett 9 rufen: »Mutti, Mutti! Warum haste denn aufs Sofa jeschissen? Dit bekommen wa nie wieder sauber, Mutti, Mutti, warum haste denn aufs Sofa jeschissen?«

Nebenan singt Herr Mertens: »… ich wichse den lieben langen Taahaag und freu mich ja so aahaarg.«

Der Allgemeinzustand von Bett 11 ist weiterhin sehr schlecht.

Christian sitzt angespannt am Computer. Er ist bemüht, alle vollzogenen Handlungen und Medikamentengaben gedanklich zu rekapitulieren und in die elektronische Akte des Patienten einzutragen. Alles ging so schnell. Bloß nichts vergessen.

Hannes versucht erneut, mit dem Sohn und der Tochter von Bett 9 zu reden und erklärt mit Engelsgeduld, wie es dazu kommen konnte, dass Mutti aufs Sofa »jeschissen« hat.

Es piept und klingelt – immer noch. Alle reden durcheinander – immer noch. Kollegen, Ärzte, Angehörige, Söhne, Töchter – jeder will oder fragt irgendetwas. Der Computer stürzt ab. Auch das noch. Ich brauche nach sieben Stunden Durcharbeiten erst einmal ein Glas Wasser. Was heute in den anderen Zimmern los war, habe ich gar nicht mitbekommen.

Vorm Küchentrakt treffe ich Ina. Sie starrt auf den Wasserkocher und stützt sich, den Rücken vorgebeugt, mit beiden Händen auf dem Rand der Arbeitsplatte ab.

»Na, Ina?«

»Was für ein Tag! Heute wieder keine Pause! Das kann doch nicht mehr lange gut gehen. Die ganzen letzten Dienste waren so. Acht hintereinander.«

Ich kann mich nicht aufregen, denn bei mir ist es erst Dienst Nummer zwei. Aber Ina wartet gar nicht auf Zustimmung.

»Acht! Und keiner war dabei, wo wir mal was essen oder trinken konnten. Nach der Arbeit stopf ich mich dann voll, und wo kommt das alles hin? Hm? Richtig! An die Hüfte, und dann muss ich mir jeden Abend ’ne neue Ausrede für meinen Mann einfallen lassen, weil der schon immer auf mich wartet und Sex haben will! Was sag ich heute?«

»Hä? Na dass du k.o. bist.«

»Das hab ich schon die ganze letzte Woche gesagt.«

»Na dann: Schlimme Kopfschmerzen, Regelschmerzen, irgendwelche Schmerzen.«

»Hm, mal sehen, vielleicht …«

Ich höre erneut den Notfallalarm. Im Losrennen rufe ich noch »Bis später!« und pralle fast mit Herrn Rischke zusammen.

»Ich gehe dann«, sagt der.

Aus dem Zimmer kommt der Sohn von Bett 9. »Is meene Mutti tot?«

Ich laufe an den beiden vorbei und stürze ins Zimmer. Steffen sitzt schon wieder auf dem frisch Operierten, der erneut reanimiert werden muss. Herr Mertens singt immer noch die gleiche Zeile, Herr Rischke ist hinter mir hergelaufen und erzählt mir nun zum dritten Mal, dass er jetzt geht, und der andere Sohn fragt (zum wievielten Mal?), warum seine Mutter nicht aufs Klo gegangen ist.

Warum sollte sich auch was geändert haben? Ich war ja nicht einmal fünf Minuten weg.

Plötzlich und wie eine Fata Morgana steht der Nachtdienst im Zimmer. Ich kann es kaum glauben. Hurra, die Ablösung! Erleichtert übergebe ich meine Patienten.

Im Flur treffe ich Steffen. Wir überlegen, ob wir auch nichts vergessen haben. Nur noch die Pflegeberichte schreiben. Werden wir morgen Geduld haben für den Sohn von Bett 9 und mehr Zeit für die arme Sau Frau Rischke?

Die anderen Kollegen vom Spätdienst kommen. Wir beschließen, schnell zu gehen. Wir sind fertig.

Hannes biegt um die Ecke.

»Bekomme ich jetzt meinen Kaffee?« Er sieht, dass wir gerade aufbrechen. »Ach ihr habt es gut, ihr könnt alle gehen …« Die Enttäuschung ist ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

»Wie lange hast du noch Dienst?«, frage ich ihn.

»Bis morgen früh. Vierundzwanzig-Stunden-Schicht.«

»Oooooh!«

Das kam von allen sehr bedauernd und aus vollstem Herzen.

Draußen liegt dicker Schnee. Es riecht frisch und winterlich. Ich atme tief die kalte Schneeluft ein. Dass es heute Nachmittag geschneit hat, habe ich gar nicht bemerkt.

Nicht schon wieder

Das Telefon klingelt. Wie spät ist es? Noch viel zu früh. Das Klingeln hört auf. Um nach kurzer Zeit wieder einzusetzen. Da ist aber jemand hartnäckig. Kann eigentlich nur die Mutter sein.

Es ist die Mutter. Sie berichtet, dass die Tochter der Nachbarin ein paar Häuser weiter sich verliebt hat und nun vollkommen glücklich ist. Sie ist nicht nur glücklich. Nein, sie ist vollkommen glücklich. Ob ich das nicht wunderbar fände. Ja, klar. Ist doch prima. Ich kenne die Tochter der Nachbarin vom anderen Ende der Straße nicht. Nicht einmal vom Sehen. Stammt aus erster Ehe. Aha. Darum wohl. Die Mutter kann kein Ende finden. Ich höre schon die Hochzeitsglocken durch das Telefon läuten. Und deshalb weckt sie mich so früh?!

Als ich wieder wegdösen will, ruft Bea an. Heult und hat sich von ihrem Freund getrennt. Schöner Mist. Sie tut mir leid. Natürlich ist er ein Arschloch. Rennt zu einer anderen. Das Schwein. Selbstverständlich erkläre ich mich solidarisch. Ob sie herkommen will. Sie will.

Ich springe aus dem Bett. Duschen. Anziehen. Kaffee kochen. Milch aufschäumen.

Zwanzig Minuten später steht meine Freundin, das Gesicht schon ganz verschrumpelt vom Heulen, vor der Tür. Als sie mich sieht, geht’s gleich wieder los. Ich drücke ihr eine große Tasse Milchkaffee in die Hand und hoffe, dass sie sich beruhigt.

»Kannst du dir das vorstellen? Da kaufe ich ihm noch neue Sachen, damit er zu seinem Vorstellungsgespräch in München gut aussieht und er, und er …«

Ich hole erst einmal Papiertaschentücher aus dem Bad.

»Hab schon welche. Danke …«, schluchzt Bea und wischt sich die Nase ab.

»Ich hab’s nur zufällig gesehen … er hätte mir nie etwas gesagt … er fährt nach München, in dem Mietwagen, den ich auch noch gebucht und bezahlt habe, und kutschiert dort mit einer anderen rum.«

»Woher weißt du das?«

»Ich … ich … er nimmt doch immer dasselbe Passwort ... immer dasselbe ... kann sich kein anderes merken, der Idiot.«

Aus Beas vom Weinen und Schluchzen unterbrochener Rede entnehme ich, dass sie am Computer ihres Freundes ein Schreiben an die Hausverwaltung ausdrucken wollte. Er hatte sich schon nach München aufgemacht und es vergessen. War wahrscheinlich schon mit den Gedanken bei seinem bevorstehenden Abenteuer. Das zuletzt geöffnete Dokument war dann aber nicht die Mängelanzeige wegen eines undichten Fensters. Es war ein kurzer Text ihres Freundes, der sie stutzig machte: eine Kontaktanzeige. Sie kam nach einigem Grübeln auf die Idee, die von ihm aufgerufenen Seiten im Internet zu recherchieren, und fand das Profil ihres Freundes auf einem Flirtportal. Dank des konstanten Passwortes weiß sie nun, dass er seit längerem auf der Suche nach anderen Frauen ist und wann er sich wo mit welcher trifft. Das war heute Nacht. Seitdem heult sie nur noch.

Bea ist völlig aufgelöst und braucht erst einmal eine Pause. Wir schlürfen beide langsam unseren Kaffee.

Vielleicht ist das ja der Grund für meine Freundlosigkeit. Vielleicht hab ich ja Angst. Vor Trennungen wegen Untreue, vor Trennungen aus Überdruss, vor Trennungen im Allgemeinen. Wenn ich es mir recht überlege, schrecken mich auch seltsame Alltäglichkeiten ab, die anscheinend zwangsläufig in Beziehungen vorkommen, zum Beispiel: alle Einkäufe für die Familie allein tätigen, weil der Ehegatte nicht vom Computer loskommt; dem Mann die Hemden bügeln, da er zwar keineswegs armamputiert ist, aber das allein angeblich nie hinkriegen würde; sich nach der Arbeit noch Sprüche anhören müssen, wie: ›Schatz, was gibt’s heute zu essen?‹ Oder: ›Kannst du mir mal den Nacken massieren? Ich bin so verspannt.‹ Oder, last but not least, der Klassiker: ›Wie, du bist ausgepowert. Und was wird aus mir? Ich bin ein Mann, ich habe Bedürfnisse.‹

Nach diesem Satz hat meine Kollegin Sandra ihrem Mann einmal geantwortet: Na denkst du denn, ich hab Lust auf deinen Schwanz, wenn ich den ganzen Tag über Pilzpenisse waschen muss?

Bea hat sich fürs Erste ausgeweint und ein wenig beruhigt. Ich überlege, wie ich sie trösten und aufheitern kann und erzähle ihr die Neuigkeit, die gestern wie ein Lauffeuer durch alle Stationen ging und von ungläubigem Getuschel begleitet wurde: In der Rettungsstelle war jemand mit einem perforierten, also durchbrochenen Darm eingeliefert worden. Er hatte sich einen Rettich in den Po gesteckt. Er bekam ihn nicht mehr heraus, weil das Grüne abgerissen war …

Bea sieht mich verblüfft an, vergisst ihren Kummer und kichert los. »Das Grüne war abgerissen? Oh, der Arme.«

Ja, das war mal ganz was Neues. Wir hatten ja schon an der Darmwand festgesaugte Wasser- oder Colaflaschen (kleiner Tipp: Plastikdeckel drauflassen, sonst entsteht ein Unterdruck und das Spielzeug geht nicht mehr heraus), aber einen Rettich hatten wir noch nie!

Neurologische Ausfälle

Nachtdienst. Der erste im neuen Jahr. Der erste von sieben hintereinander. Ich werde drei frisch Operierte betreuen. Einer der drei ist schon wach, adäquat, nett und freundlich. Die anderen beiden sind noch sediert und beatmet.

Es ist auch der erste Nachtdienst von Klaas auf unserer Station. Der Neurologe ist einer der Ärzte des zweiten Dienstes, die halbjährlich die Station wechseln, um überall Erfahrungen zu sammeln. Der erste Dienst, dem »alte Hasen« wie Dominik, Christian und auch Thomas angehören, wechselt nicht mehr oder nur, wenn er will.

Klaas wird von Mechthild eingearbeitet. Eine bessere Einarbeitung hätte ich mir für ihn nicht vorstellen können. Er soll die drei frischen Patienten betreuen, Anordnung von Mechthild.

Kaum haben wir uns miteinander bekannt gemacht, verkündet er auch schon eifrig: »Ich untersuche gerade diesen Patienten. Er hat große neurologische Schäden.«

Ganz kurz bin ich beeindruckt. Wie konnte er das so schnell feststellen? Laut meiner Übergabe ist der Mann erst vor einer Stunde aus dem OP gekommen. Doch dann stutze ich.

»Wie kommst du denn auf diese Diagnose?«

»Nun. Es ist ganz eindeutig. Er reagiert nicht auf Ansprache, zeigt keine Reaktion auf Schmerzreize und seine Reflexe lassen auch zu wünschen übrig.«

Okay. Ich habe es durchschaut. Er will mich verarschen. Doch sein besorgter Blick ist echt. Meint er es etwa ernst?

»Ich hab gehört, du bist Neurologe und ein Ass auf deinem Gebiet und nun brauchst du noch Intensiv-Erfahrung?«

»Hm, so ist es.«

»Fein. Dann hör mal gut zu! Dieser Patient hier hat soeben seine Herzoperation hinter sich gebracht. Er war längere Zeit an der Herz-Lungen-Maschine. Er ist sediert und sicher auch noch relaxiert. Seine Körpertemperatur beträgt gerade mal 33 Grad. Hast du dir seine Pupillen angesehen? Die sind stecknadelkopfgroß, das heißt, er befindet sich tief in Narkose. Gib ihm doch einfach noch etwas Zeit, sich nach solch einer langen Operation zu erholen, und teste seine Reflexe vielleicht erst, wenn er am Aufwachen ist. Wäre so meine Überlegung.«

Er starrt mich an. Ist er jetzt sauer? Ich gehe zu meinem anderen Patienten. Klaas steht immer noch wie versteinert am Bett. Dann kommt er hinterhergelaufen. »Ich habe mir alles genau durch den Kopf gehen lassen, was du gesagt hast.«

»Und?«

»Du könntest da wirklich recht haben.«

Ich muss lachen.

»Super Klaas! Na siehste, wieder was gelernt.«

Mechthild rauscht heran: »Klaasi-Hasi, kommst du zurecht? Die nächste Nacht bist du leider ohne mich hier. Da musst du dann alleine mit den netten Schwestern klarkommen.«

Mit den ›netten Schwestern‹? Was soll denn diese Bemerkung? Egal, es ist Stulle.

Den Patienten geht es gut. Ich freue mich, denn es scheint so, als könnten sie morgen vielleicht schon verlegt werden. Klaas ist wirklich lustig zu beobachten. Er kann einfach nicht aus seiner Haut, denn nun wird schon der nächste Patient einer neurologischen Untersuchung unterzogen.

Steffen spricht mich verärgert und äußerst schlecht gelaunt an. Ungewöhnlich für ihn.

»Frau Fuhrmann hat den ganzen Tag Abführmittel bekommen, und nun kackt sie sich die Seele aus dem Leib. Ich habe sie zweimal komplett sauber gemacht, doch es tropft schon wieder auf den Boden. Können wir sie schnell noch mal betten?«

»Ja, sicher.« Kein Wunder, dass er schlechte Laune hat.

Wir haben gerade mit beiden Händen voll in die Scheiße gegriffen (im wahrsten Sinne des Wortes) – die arme Frau ist zum Glück sediert und bekommt nicht mit, was dank der guten Abführmittel so alles aus ihr herauskommt –, als Mechthild ins Zimmer platzt.

»Die liebe Frau Fuhrmann! Steffen, hat sie denn nun schon abgeführt? Ich bete seit drei Tagen, dass bald was kommt.«

»Mach deine Augen auf«, faucht Steffen sie an.

»Hab ich das richtig verstanden?«, frage ich erstaunt, »du betest, dass die Patienten bald abführen?«

»Ja! Und wie du siehst, funktioniert es ja auch.«

Ich stelle mir Stulle an einem kleinen kerzengeschmückten Altar kniend in ihrer Wohnung vor, wie sie mit gefalteten Händen dafür betet, dass Frau Fuhrmann abführt, und bekomme einen Lachanfall. Steffen lässt sich anstecken, doch Mechthild ist höchst beleidigt und verlässt uns, da wir ihre Mühe offensichtlich nicht zu würdigen wissen.

»Beten: Eine glatte Eins«, lautet Steffens Beurteilung.

»Andere nerven: Eins plus«, ergänze ich.

»Wenn sie so weitermacht, muss sie aufpassen, dass sie nicht DIEBESTEDESMONATS wird.«

»Kann sie nicht, denn du bist unser Bester!«

»Ach, das ist lieb von dir.«

»Hm, du bist der beste Rosettenwischer der Nacht.«

»Ho, ho.« Steffen kneift die Augen zusammen. »Das hätte ich nicht erwartet, so eine Ehre. Wenn mich meine Freundin morgen früh fragt, wie die Nacht war, kann ich ihr stolz berichten, dass ich zum besten Rosettenwischer der Nacht erklärt wurde.«

Wir kleben Frau Fuhrmann einen Fäkalkollektor über ihren Darmausgang, in der Hoffnung, der schlimme Durchfall sammelt sich in diesem Beutel. Wenn er gut klebt, funktioniert das prima. Die Haut wird nicht länger strapaziert und Frau Fuhrmann muss nicht dauernd in ihren Fäkalien liegen. Für uns ist das eine riesige Arbeitserleichterung. Häufig können wir diese Beutel aber auch nicht verwenden, zum Beispiel wenn das Gesäß schon starke Hautschäden hat. Dann ist es nicht angebracht, auch noch etwas auf die Verletzung zu kleben; und das heißt für uns: Abwischen und sauber machen. Abwischen und sauber machen. Abwischen und sauber machen etc. pp.

Wir sind gerade fertig, als Mechthild erneut ins Zimmer stürmt. »Wenn der Durchfall so weitergeht, Steffen, dann brauchen wir unbedingt einen Abstrich auf Clostridien. Wir wollen doch nicht, dass andere Menschen sich anstecken.«

»Was?!« Steffen ist empört. »Erst ordnest du alles an Abführmitteln an, was im Schrank zu finden ist. Du betest auch noch dafür! Und macht die arme Frau endlich, was du willst – und das erst zwei Stunden lang –, soll ich ihren Stuhlgang ins Labor schicken? Wie sinnlos ist das denn?!«

Mechthild schießen Tränen in die Augen. Sie stürzt auf den Flur hinaus.

»Die heult doch jetzt nicht etwa? Mit was man sich so herumschlagen muss.« Steffen ist bedient.

Ich sehe nach Klaas und welche neurologischen Erkrankungen meine Patienten schon wieder haben. Ina passt mich ab.

»Stulle war eben bei mir. Sie sitzt hinten im Arztzimmer und heult. Steffen und du, ihr seid wohl gemein zu ihr gewesen.«

»Och nö. Das darf doch nicht wahr sein. Wenn sie schon bei solchen Kleinigkeiten heult, sollte sie sich vielleicht doch ein anderes Betätigungsfeld suchen.«

Mein wacher Patient ruft mich. Er möchte etwas zu trinken. Wir unterhalten uns ein wenig und ich gebe ihm seine Medikamente. Da höre ich die Beatmungsmaschine piepen. Schnell bin ich am anderen Bett.

»Klaas, schnell! Die Patientin hat sich selbst extubiert!«

»Wie konnte das passieren?«, ruft Klaas erschrocken aus und steht schon neben mir.

»Das frage ich mich auch. Wie ist sie so schnell wach geworden? Hast du etwa die Sedierung ausgemacht?«, will ich von ihm wissen, während ich der keuchenden Frau eine Sauerstoffmaske aufsetze.

»Ja, hab ich. Na und? Deshalb braucht sie sich nicht gleich den Beatmungsschlauch zu ziehen.«

»Das hättest du mir sagen müssen. Dann gehe ich doch nicht so weit aus dem Zimmer. Und ich hätte ihre Hände dann noch fester fixiert.«

»Warum haben Sie das gemacht, junge Frau? Sie wissen wohl nicht, wie gefährlich das ist?«

Klaas hat das jetzt nicht wirklich die Patientin gefragt?! Sie schaut ihn nur an.

»Hallohoo. Ich rede mit Ihnen.«

Er wedelt mit seiner Hand vor dem Gesicht der Frau herum.

»Klaas, sie wird dir keine ernsthafte Antwort geben. Sie versteht doch noch gar nicht, was los ist und wo sie sich befindet.«

»Aber hier wild Schläuche ziehen, das klappt, oder was?«

»Was würdest du denn machen, wenn du aufwachst und hast einen dicken Schlauch im Mund? Du musst mir einfach solche wichtigen Sachen sagen, wie zum Beispiel, dass du die Sedierung ausmachst. Okay, das nächste Mal. Bitte!«

»Hm ... und was machen wir nun mit ihr?«

»Wir lassen sie erst einmal unter der Sauerstoffmaske. Ich nehme nachher Blut ab und wir schauen, wie sie ohne Tubus zurechtkommt. Wenn es nicht funktioniert, musst du sie eben wieder intubieren.«

Gerade trage ich alles in die Patientenkurve ein, da höre ich Klaas, wie er erneut die Patientin fragt, warum sie sich so gefährdet hat. Ich rolle mit den Augen. Was soll das bringen? Plötzlich antwortet die Patientin doch, aber leider nicht so wie gewünscht: »Nag, nag, naaag.«

Klaas ist verblüfft. »Was soll das heißen: Nag?«

»Nag, nag, nag, nag, naaag …«

Sie klingt fast wie eine Ente.

»Was hat sie nur?«

»Lass sie doch bitte erst einmal richtig wach werden.«

»Nag, nag, naaaag!«

»Sie hört einfach nicht auf ... Das kann auch ein neurologisches Zeichen sein«, erwägt der Neurologe fasziniert.

Nach einem tiefen Seufzer gehe ich die Medikamente holen, die ich in den nächsten Stunden brauchen werde.

Alles hat sich vorerst beruhigt und wir haben uns hingesetzt, um etwas zu essen. Auch Klaas und Mechthild sitzen am Tisch und es wird diskutiert, warum Mechthild immer gleich losheult.

Mich langweilt das Thema, denn wir sind schließlich nicht ihre Psychologen. Als ich dann auch noch merke, dass mein Bein eingeschlafen ist, stehe ich auf und humple ein bisschen hin und her.

Ich gieße mir einen Kaffee ein. Als ich mich umdrehe, steht Klaas hinter mir und leuchtet mit einer kleinen Lampe direkt in meine Augen.

»He, was soll das?«

Hat der sie noch alle? Ich drehe mich aus dem Licht.

»Du ziehst dein linkes Bein nach. Das hast du vorhin noch nicht gemacht. Ich nehme bei dir nur eine Pupillenkontrolle vor. Es deutet alles auf einen schnellen Hirninfarkt hin.«

»Mein Bein ist eingeschlafen. Ich hab blöd gesessen, und jetzt kribbelt es eben.«

»Es kribbelt? Komm, lass dich bitte untersuchen.«

»Hör auf damit! Ich habe nichts!«

Er fasst mich an beiden Schultern und schiebt mich auf den Flur. »Damit ist nicht zu scherzen. Es dauert auch nicht lange. Du kennst doch die Untersuchungen bei einem Schlaganfall.«

»Du lässt mich sofort in Ruhe! Ich habe nichts, verstanden?!«

»Bei einer schnellen Diagnose können wir noch etwas machen, also los! Hab dich nicht so!«

»Jetzt reicht es! Wenn du wagst, mich zu untersuchen, untersuche ich deine Vitalzeichen«, zische ich ihn an.

»In Ordnung, das ist ein Kompromiss.«

Das gibt’s doch nicht, wie werde ich diesen eifrigen Neurologen nur los?

»Oder noch besser, ich nehme dir Blut ab, mit der größten Nadel, die wir haben.«

»Oi, das wird weh tun. Aber es ist mir wichtig, deinen Schlaganfall zu erkennen.«

»Ich hatte keinen Schlaganfall!«

Aufgebracht laufe ich den Flur hinunter. Der Arzt verfolgt mich weiter.

»Klaas, hör zu! Wenn du nicht sofort aufhörst, mich zu nerven oder weiter versuchst, mich zu untersuchen, lege ich dir schneller, als du gucken kannst, einen Blasenkatheter und untersuche deinen Urin auf alle Sachen, die mir so einfallen.«

Er zuckt zurück und verzieht das Gesicht. Das hat also gesessen. Klaas lässt die Finger von mir und spricht mich auch nicht mehr an. Dennoch habe ich im Laufe der Nacht ab und an das Gefühl, beobachtet zu werden.

Dank Klaas ist nun auch der dritte Patient extubiert; zwar schneller als gedacht und anders als sonst, aber egal. Es hat ihm nicht geschadet, wenn man davon absieht, dass er nicht mehr aufhört »ja« zu sagen.

So geht es jetzt also im Chor. Die Frau sagt ununterbrochen »nag, nag, nag« und der Mann »ja, ja, ja«.

Mein adäquater Patient hat ein Schmerzmittel bekommen und schnarcht vor sich hin.

Alle drei sind wohlauf: stabiler Kreislauf, unauffällige Saugungsverluste, gute Eigendiurese – die Niere arbeitet also –, und die Laborwerte sind auch im Rahmen. Ich bin zufrieden. Klaas allerdings ist es nicht. Er sucht nach neurologischen Defiziten. Plötzlich brüllt er ohne Vorwarnung: »Ihr verdammten Gefäßwracks! Wie lange ist euer Gehirn denn nicht mehr richtig durchblutet worden?!«

»Klaas, das reicht. Was ist los?«

Klaas verschränkt höchst genervt die Hände hinter dem Kopf. »Egal was ich sage: Sie halten einfach nicht die Klappe! Ich kann mich überhaupt nicht mehr konzentrieren. Ich muss mir so viel merken und genau aufpassen. Es ist ein ganz anderes Gebiet und es ist viel stressiger als gedacht. Aber die beiden hören und hören einfach nicht auf, gleichzeitig JA und NAG zu sagen. Wie kannst du dabei nur so ruhig bleiben?«

»Ich weiß, dass es nichts bringt, sie anzusprechen. Je mehr du den beiden Vernunft beibringen willst, umso schlimmer wird es. Sie brauchen noch Ruhe und Schlaf. Morgen früh reden sie dann ganz normal mit dir, glaub mir doch!«

»Aber ich muss hier AR-BEI-TEN!«

»Alles, was du machen musst, kannst du auch vor dem Zimmer erledigen. Du brauchst die beiden auch nicht ständig zu untersuchen.«

»Dann sollen sie wenigstens den Mund halten und schlafen, wenn das so wichtig für sie ist«, jammert mein Kollege hilflos.

»Klaas, hm, also wir machen noch einen Versuch. Aber du lässt sie dann in Ruhe, auch wenn es nicht klappt. Versprochen?«

»Ja, versprochen!«

Als Erstes nehme ich mir den Mann vor und rede ihn mit lauter Stimme an: »Herr Döring, hören Sie mir bitte zu! Sie sind auf der Intensivstation. Ihre Operation ist vorbei.«

»Ja, ja, ja, ja, ja.«

»Ich habe eine Frage an Sie. Schenken Sie mir tausend Euro?« Ich habe die Frage noch nicht ganz beendet, da ist Herr Döring bereits verstummt. Jetzt ist nur noch »Nag, nag, nag, nag, nag« zu hören.

»Frau Najorka? Auch Sie haben Ihre Operation gut überstanden. Doch wenn Sie weiter so tun, als würden Sie eine Ente sein, steckt Sie unser Doktor draußen in den kalten Teich.«

Ruhe.

Ich bin selber beeindruckt, und Klaas kann es nicht fassen. Der Trick mit dem Geldschenken hat schon öfters funktioniert, wenn die Patienten aus ihrem Ja-Sagen nicht mehr heraus kamen. Doch über die Reaktion von Frau Najorka bin ich selbst überrascht.

»Warum hast du das nicht schon vor einer Stunde gemacht?« Klaas bestaunt das Wunder und mich, die ich es vollbracht habe.

»So. Jetzt aber wie versprochen. Raus aus dem Zimmer und lass sie schlafen!«

»Geht klar.«

Es wird langsam hell. Die Nacht ist fast geschafft. Die drei haben gute vier Stunden schlafen können. Ich stehe bei dem Mann am Bett, der vor einigen Stunden nur ›Ja‹ sagen konnte.

»Herr Döring, haben Sie Schmerzen?«

Er schaut mich mit großen Augen an. »Bin ich schon operiert?«

»Ja, Sie haben alles überstanden, auch schon die erste Nacht. Es ist gleich 6.00 Uhr am nächsten Morgen.«

»Ach ehrlich? Das ging aber schnell, und ich habe nichts gemerkt!«

»Na, da seien Sie mal froh«, gebe ich ihm zu bedenken und lächle ihn an. Er freut sich und lacht zurück.

Klaas ist begeistert. »Du hattest wirklich recht. Ich kann auch keine neurologischen Schäden bemerken. Er ist zwar noch etwas verlangsamt, aber das steht ihm ja auch zu«, stellt er generös fest.

Der Frau geht es ebenfalls bestens. An ihr »Nag« kann sie sich nicht erinnern. Ich hätte sie auch nicht danach gefragt, doch Klaas ließ das keine Ruhe. Er musste sie einfach daraufhin ansprechen. Nun schaut sie ihn an, als wenn er nicht ganz dicht wäre.

»… und das nächste Mal ziehen Sie sich aber keine Schläuche alleine raus, Frau Najorka.«

Das hätte er nicht sagen sollen, denn nun ist sie empört und behauptet steif und fest, sich überhaupt nichts rausgezogen zu haben. Ich bin großzügig und werde Klaas noch etwas Zeit geben. Dann weiß er auch, wo der Hase lang läuft.

7.30 Uhr. Es ist Feierabend. Ab nach Hause und ins Bett. Gute Nacht!

Aussichten und Einsichten

Nachtschicht. Nachtschicht. Nachtschicht. Nachtschichten fordern ihren Tribut. Ich schlafe zu wenig. Eigentlich ist nur die jeweils erste Nachtschicht problematisch, da sich mein Körper noch nicht an den neuen Schlafrhythmus gewöhnt hat, aber diesmal ist es mit dem Schlafen noch schwieriger als sonst. Entweder ruft die Mutter an, um mir die neuesten Neuigkeiten von der Tochter ihrer Nachbarin mitzuteilen, oder mein Nachbar gibt keine Ruhe.

Den Telefonstecker kann ich rausziehen. Der Nachbar hingegen ist so lästig wie Kacke am Schuh. Er lümmelt den ganzen Tag in seiner Wohnung herum, hat nichts zu tun und beschäftigt sich somit quasi zwangsläufig mit dem Leben anderer Leute. Obwohl, das stimmt so nicht. Er beschäftigt sich, scheint’s, seitdem ich in dieses Haus eingezogen bin, nur noch mit meinem Leben oder mit dem, was er davon mitbekommt. Natürlich ist ihm das viel zu wenig. In unregelmäßigen Abständen, und immer, wenn ich fälschlicherweise angenommen habe, sein Interesse an meiner Person sei abgeebbt, steht er im Hausflur in seinen ausgeleierten, ausgewaschenen Unterhosen vor mir und versperrt mir den Weg.

»Hallo, Frau Nachberin!« Er sagt immer Frau Nachberin. »Lange Nacht jewesen, wat?« Dann folgt ein selbstgefällig meckerndes hä, hä, hä.

Was will der?

Ich sehe an ihm hinunter. Die weißen Stockbeine stecken in eingerissenen Badelatschen. Vorn schauen gelbe Zehen mit ein Zentimeter überstehenden Fußnägeln heraus. Es schüttelt mich und ich mache, dass ich an ihm vorbei in meine Wohnung komme.

Anfangs hab ich den circa sechzigjährigen, alleinstehenden Mann zwar als aufdringlich, aber ignorierbar wahrgenommen. Mittlerweile muss ich resigniert zugeben, dass so jemand nicht zu ignorieren geht. Jedenfalls nicht, wenn er auch noch Verstärkung hat. Die sitzt im Haus gegenüber. Keine zwölf Meter von meinem Balkon entfernt wohnt des Nachbarn bester Kumpel und brüllt um neun Uhr morgens (ich bin soeben nach meiner anstrengenden Nachtschicht eingeschlafen und befinde mich in einer beginnenden Tiefschlafphase): »Mojen, Horst! Na, hat die Kleene wieda die janze Nacht jefeijat?«

Boing! Ich bin wieder wach.

»Jo, die is erst um achte nach Hause jekomm.«

»Ui, ui, ui. Nu schläft se, wat?«

»Scheint so.«

»Na, neulich hat se in ihre Küche jesessen!«

»Ick hab jestan ihre Pflanzen jejossen. Die ham ja schon janz kümmalich ausjesehn.«

Das alles mit geschätzten achtzig Dezibel.

Ich kann vor Wut nicht mehr schlafen und suche meine Ohrstöpsel. Aber selbst mit den Dingern in den Ohren kann ich die beiden noch tratschen hören. Meine Pflanzen gegossen?! Es ist noch nicht einmal Frühling und der gießt meine Pflanzen?! Wo bitte gibt’s denn auf meinem Balkon Pflanzen, die gegossen werden müssten?

Bei der ausführlichen Beschreibung meines Nachbarn, wie er heldenhaft das Unkraut in meinem Blumenkasten verwöhnt hat – mit »janzem Körpaeinsatz rübajebeugt«, versteht sich und nicht ungefährlich angesichts der Höhe –, kommt mir eine Idee: Wie wäre es, den Blumenkasten immer Stückchen für Stückchen nach rechts zu versetzen? Der Nachbar müsste sich weiter und weiter herüberbeugen, um sein gutes Werk verrichten und damit angeben zu können. Schließlich eines Tages so weit, dass …

Es ist abscheulich, sich so etwas auch nur vorzustellen, aber ich habe es getan. Schlimmer noch: Ich fand es herrlich. Und meine Vorstellungskraft ging sogar noch weiter: Wenig später würde in die frisch renovierte Wohnung eine sympathische und außerordentlich ruhige Endsechzigerin einziehen, die mich ab und an, wenn wir uns dann zufällig im Flur träfen, zu einem Schnäpperken einlüde und mir spannende Geschichten aus ihrer Jugend erzählte.

Das ist das Ergebnis von Schlafentzug.