Heumilch - Jutta Mehler - E-Book

Heumilch E-Book

Jutta Mehler

0,0

Beschreibung

Fanni unter Bikern. und ihr Enkel unter Mordverdacht. Kann es erblich sein, das Talent, über Leichen zu stolpern? Denn dieses Mal ist es nicht Fanni Rot, die einen Toten entdeckt, sondern ihr Enkel Max. Damit nicht genug, gerät Max auch noch in Verdacht, der Mörder zu sein. Fanni bleibt nichts anderes übrig, als gemeinsam mit Sprudel im von Tausenden Bikern bevölkerten Loher Kessel zu ermitteln. Aber die Zeit bis zum Ende des Elefantentreffens läuft ihnen davon, und der wahre Täter hat sie genau im Auge.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 323

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jutta Mehler, Jahrgang 1949, hängte frühzeitig das Jurastudium an den Nagel und zog wieder aufs Land, nach Niederbayern, wo sie während ihrer Kindheit gelebt hatte. Seit die beiden Töchter und der Sohn erwachsen sind, schreibt Jutta Mehler Romane und Erzählungen, die vorwiegend auf authentischen Lebensgeschichten basieren, sowie Kriminalromane.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2018 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Bethel Fath/Lookphotos

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-420-9

Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie

regelmäßig über Neues von emons:

Kostenlos bestellen unter

www.emons-verlag.de

Dieser Roman wurde vermittelt durch die Aulo Literaturagentur.

Motorradfahrenist die wildeste Spielarteiner friedlichen Seele.

Helmut A. Gansterer

Prolog

»Kann es erblich sein?«

»Was?«

»Das Talent, über Leichen zu stolpern.«

»Ach, Fanni.« Sprudel nahm sie in die Arme und drückte sie so fest an sich, dass er ihr die Luft aus den Lungen presste.

Wenigstens übertönte der Zischlaut den Schluchzer, der sich nicht verhindern ließ. Fanni barg den Kopf an seiner Brust. »Er war’s nicht, Sprudel.«

Statt einer Antwort strich er ihr übers Haar. Selbst Sprudel hatte also Zweifel. Hielt er es tatsächlich für möglich, dass ihr Enkel den jungen Mann erwürgt hatte?

»Max würde niemals …« Fanni konnte nicht weitersprechen. Zum einen erstickte ihre Stimme in einem neuerlichen Schluchzer, zum andern waren Aussagen wie »Mein Enkel würde niemals jemandem etwas zuleide tun«, »Mein Sohn ist ein guter Junge«, »Mein Mann macht so was nicht« derart abgedroschen, dass sie sie nicht auszusprechen vermochte.

Sprudel schob sie ein Stück von sich weg, um ihr ins Gesicht sehen zu können. »Wir haben fast zehn Grad minus, Fanni, und stehen jetzt schon seit gut einer Stunde hier herum. Wenn wir das noch länger tun, frieren uns nicht nur die Zehen ab. Bitte lass uns irgendwohin gehen, wo wir uns aufwärmen können.«

Sie nickte und duldete, dass er den Arm um ihre Schultern legte und sie von der Absperrung, die das Zelt umgab, wegführte.

Rund um den Tatort war es ruhig geworden. Nur der platt getretene, mit einer Schmutzschicht überzogene Schnee zeugte noch von dem Aufruhr, der vor Kurzem hier geherrscht hatte.

Ein Entsetzensschrei, ausgestoßen von Max’ Kumpel Bruno, hatte dafür gesorgt, dass Dutzende Menschen hier zusammenströmten.

1

Vorher

Fanni war erstaunt, wie erwachsen ihr Enkel geworden war.

Sprudel und sie erwarteten Max am Plattlinger Bahnhof, um ihn mit nach Birkenweiler zu nehmen, wo sie beide sich momentan aufhielten. Sie hatten sich wieder einmal in dem Anwesen einquartiert, das Sprudel irgendwann geerbt und eigenhändig renoviert hatte. Später hatte er es Fannis Tochter Leni überschrieben, wobei er mit ihr übereingekommen war, dass Fanni und er jederzeit darin wohnen konnten.

In diesen Wintertagen waren sie beide angereist, um rund um den Hirschenstein Langlauftouren zu unternehmen oder einfach nur durch den verschneiten Wald zu stapfen. Sie hatten sich auch fest vorgenommen, das Hüttchen aufzusuchen, das Fanni vor vielen Jahren, als Sprudel und sie ihre Beziehung noch geheim halten mussten, für sie beide eingerichtet hatte. Fannis Gedächtnis hatte sich lange geweigert, sich an diese Zeiten zu erinnern, aber langsam ließ ihre Amnesie nach. Jedenfalls kam vieles zurück, was sie verloren geglaubt hatte.

Max war von Heidelberg, wo er gerade sein Studium begonnen hatte, mit dem Zug nach Plattling gekommen, weil er sich tags darauf mit einem Kumpel im Kessel von Loh treffen wollte. Fanni hatte sich die Gelegenheit, ein paar Stunden mit ihrem Enkel zu verbringen, nicht entgehen lassen wollen. Beim Abendessen kam die Rede sehr bald auf das Ereignis, das Max hergeführt hatte.

Sogar Fanni hatte schon davon gehört, dass sich Ende Januar, zu einer Zeit also, in der der Winter normalerweise am härtesten zuschlug, in Niederbayern die »Elefanten« trafen. Diese verwegenen Biker trotzten Eis und Schnee, nahmen weite Strecken und allerlei Unbill in Kauf, um mit ihren Motorrädern in »Loh« dabei zu sein.

Der den Rest des Jahres über wenig beachtete Weiler bestand aus etwa einem Dutzend Häusern an einer ehemaligen Eisenbahnlinie, die früher eine ganze Latte kleiner Orte zwischen Donau und tschechischem Grenzkamm verbunden hatte und später zu einem Radweg umfunktioniert worden war. Die am östlichen Rand gelegenen Anwesen bewachten ein ausgedehntes Tal, an dessen tiefstem Punkt eine Stockcarbahn angelegt worden war. Im Sommer fanden dort manchmal Rennen und Trainingsläufe statt. Im Winter zeigte sie sich eingeschneit, verwaist und verödet, bis im Januar die Elefanten kamen.

Max reagierte begeistert, als Fanni und Sprudel spontan beschlossen, ihn am nächsten Tag mit dem Auto zum Kessel zu bringen und sich das Treiben dort selbst anzusehen. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln von Birkenweiler nach Loh kommen zu wollen war ohnehin aussichtslos, denn Bus und Bahn fuhren in Niederbayern kaum häufiger als in der sibirischen Steppe. Sich Sprudels Auto zu leihen oder einen Mietwagen zu nehmen kam nicht in Frage, weil Max seine Führerscheinprüfung erst in zwei Wochen ablegen würde.

Fanni, Sprudel und Max trafen gegen Mittag in dem kleinen Örtchen Solla ein, wo Schaulustige ihre Fahrzeuge auf einem extra dafür ausgewiesenen Besucherparkplatz abstellen mussten. »Frei nur für Motorräder auf zwei oder drei Rädern« stand auf einem Schild an der Straße nach Loh.

Fanni dachte noch darüber nach, ob ihr je ein Motorrad mit drei Rädern untergekommen war, als eine Maschine mit Beiwagen an ihr vorbeiratterte und ihr schlagartig klar wurde, was gemeint war.

Sprudel, Max und sie machten sich also zu Fuß zum Kessel auf. Unterwegs sahen sie noch etliche Motorradgespanne an sich vorüberziehen. In ihren Beiwagen transportierten die Biker offensichtlich Campingausrüstung, Feuerholz und Bier.

Am Eingang zum Kessel trennte sich Max von ihr und Sprudel, um sich mit seinem Studienfreund Bruno beim Kassenhäuschen zu treffen. Fanni hatte von ihrem Enkel dies und das über Bruno erfahren wollen, aber die meisten ihrer Fragen waren mit einem Schulterzucken beantwortet worden. Max und er kannten sich noch nicht besonders gut. Sie waren sich an dem Tag, an dem Max sich an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg für den Studiengang Physik eingeschrieben hatte, in der Cafeteria zufällig begegnet und hatten sich eine Weile unterhalten. Bruno stammte aus Südtirol – Bozen, um genau zu sein – und nahm an einem Austauschprogramm teil. Irgendwann hatte er Max von dem Bikertreffen im Loher Kessel erzählt, an dem er schon im Vorjahr und dem Jahr davor teilgenommen hatte. Max war von Brunos Bericht so fasziniert gewesen, dass der ihm vorgeschlagen hatte, sich das Spektakel gemeinsam anzusehen.

Fanni und Sprudel hatten sich kaum von Max getrennt, da verloren sie ihn bereits aus den Augen. Nachdem sie ihr Eintrittsgeld bezahlt hatten, folgten sie ein Stück weit einem mit »Elefantenstraße« beschilderten, gut befestigten Weg, bogen dann aber mal auf den einen, mal auf den anderen Pfad ab und streiften auf diese Weise kreuz und quer durch das in der flachen Senke liegende Gelände.

»Krass«, sagte Sprudel nach längerem Schweigen.

Fanni musste lachen. »Krass« war Lenis Lieblingsausdruck gewesen, als sie noch ein Teenager gewesen war. »Krass« stand für gut und schlecht, für erfreulich und unerfreulich, für großartig und grauenhaft.

Bevor »krass« zum Kultwort avancierte, war es wohl im Sinne von »schroff« oder »augenfällig« verwendet worden. Inzwischen bedeutete es aber viel mehr als das. Fanni musste zugeben, dass es auch ihren Eindruck vom Loher Kessel am besten wiedergab.

Fast dreitausend Biker aus aller Herren Länder, die bei Schnee und Eis und Minusgraden über Hunderte von Kilometern mit ihrem Motorrad angereist waren – krass. Die es auf sich nahmen, hier zu campen und dabei mit dem Allernötigsten auszukommen: einem winzigen Zelt, einer Isomatte, Schlafsack und einer Garnitur Kleidung – krass. Klapprige Mopeds; aber auch Spitzenmaschinen, die geradezu futuristisch wirkten; Motorradgespanne aus den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts – megakrass.

Als sich die Kälte unaufhaltsam durch ihre Kleidung fraß und in ihre Knochen kroch, entschlossen sich Fanni und Sprudel, nach Solla zurückzukehren und nach einem Gasthof Ausschau zu halten, wo sie gemütlich Kaffee trinken und sich aufwärmen konnten. Zeit dazu hatten sie mehr als genug, denn die Rückfahrt nach Birkenweiler war erst für neun Uhr abends geplant.

Es kostete sie etwa fünfzehn Minuten, um wieder zum Besucherparkplatz zu gelangen, und von da noch einmal zehn bis zu einer Kreuzung, die offenbar das Zentrum des Dörfchens bildete. Einen Gasthof suchten sie jedoch vergeblich. Es gab nicht einmal ein Lebensmittelgeschäft. Auch keine Dorfkirche, kein Postamt, kein Rathaus, keine Bankfiliale. Fanni fragte sich, ob es Bewohner gab, denn sehen ließ sich niemand. Das Dorf wirkte wie ausgestorben.

Irritiert kehrten sie zum Parkplatz zurück, falteten die Straßenkarte auseinander, suchten nach einem größeren Ort in der Nähe und entschieden schließlich, ihr Glück in dem etwa sechs Kilometer entfernten Markt Schönberg zu versuchen.

Auch Schönberg erwies sich als recht verschlafen, der Gasthof im fast leer gefegten Ortskern hatte geschlossen, das Café drei Häuser weiter sah nicht so aus, als würde es jemals wieder öffnen, nur in der Pizzeria am unteren Ende des leicht abfallenden, mit Kopfsteinen gepflasterten Marktplatzes brannte Licht, und die Tür schwang auf, als Sprudel dagegendrückte.

Es ging schon auf fünf Uhr zu, als sie wieder in den Loher Kessel zurückkehrten, wo mittlerweile an vielen Stellen Lagerfeuer angezündet worden waren. An dreibeinigen Gestellen hingen Töpfe, in denen Wasser oder Suppe kochte.

Fanni zog ihre Mütze über die Ohren und wickelte sich ihren Schal fester um den Hals. Es wurde zusehends kälter. In der vergangenen Woche hatte es getaut, aber pünktlich zum Elefantentreffen war die Temperatur gefallen. In der Nacht davor hatte es sogar geschneit. »Ein Wetter, wie die Elefanten es sich wünschen«, hatte das Tagblatt getitelt.

Fanni konnte sich gut vorstellen, wie es bei Tauwetter im Kessel aussah, denn die Spuren, die sich durch den knöcheltiefen Schlamm gezogen hatten, waren inzwischen zu Gräben und kantigen Furchen erstarrt. Außerdem gehören Eis und Schnee zum Elefantentreffen wie Milchschaum auf Cappuccino, ging es ihr gerade durch den Kopf, als sie den Schrei hörte.

Irgendwie hob er sich vom übrigen Lärm ab, klang bestürzt und verstört. Sie horchte auf, aber da war er bereits verklungen. In der flachen Senke, die den Kessel von Loh bildete, überlagerten sich wieder scherzhafte Zurufe, Gelächter, Gejohle und Motorlärm.

»Das ist sie«, sagte Sprudel und deutete auf ein altertümliches, mattgrün lackiertes Motorrad mit Beiwagen. »Die Zündapp KS 601. Sie hat unter dem Namen ›der grüne Elefant‹ Geschichte geschrieben.«

Und dem Bikertreffen seinen Namen gegeben, dachte Fanni.

Sie wollte Sprudel gerade fragen, wie es dazu gekommen war, als plötzlich aus allen Richtungen Leute heranströmten. Die an der Spitze rannten bereits an ihr vorbei. Fanni wandte sich um und sah ihnen nach, um festzustellen, wohin sie wollten. Zielpunkt war offenbar ein blaues, tipiartiges Zelt, das ein knappes Duzend Schritte entfernt in einer flachen Mulde stand.

Was Fanni dort sah, ließ sie vor Schreck nach Luft schnappen und im nächsten Moment darauf zustürzen.

Während sie die kurze Strecke im Sprint zurücklegte, dabei zwei etwas kurzatmige Biker überholte und einen dritten grob anrempelte, was der mit einem »He, wo hakt’s denn?« beantwortete, haftete ihr Blick auf den beiden Gestalten, die, gerade als sie sich umgedreht hatte, aus dem Zelt herausgekommen waren. Es handelte sich um zwei junge Männer, der eine mittelgroß und untersetzt, der andere lang und dürr. Der Lange wirkte irgendwie orientierungslos, was wohl der Grund dafür war, dass ihn sein Gefährte am Arm gepackt hielt.

»Max!« Fanni hatte die beiden erreicht und hob beide Hände, als wolle sie ihren Enkel an sich reißen, hielt aber mitten in der Bewegung inne. »Max, was ist denn los? Hast du etwa vorhin geschrien? Ist was passiert?«

Der untersetzte junge Mann – das musste Bruno sein – hatte Max mittlerweile losgelassen und sich einem langen Kerl in rot-schwarzer Thermokombi zugewandt, mit dem er jetzt diskutierte.

Fanni konzentrierte sich wieder auf ihren Enkel und griff nach dem Arm, den Bruno freigegeben hatte. »Max, was ist denn? Jetzt sag halt endlich was.«

Aber Max blieb stumm. Fanni musterte ihn mit prüfenden Blicken und stellte erschrocken fest, dass er irgendwie abwesend wirkte, so als wüsste er nicht recht, wo er sich befand und was um ihn herum vorging.

Hatte er Drogen genommen?

Fanni hatte ihren Enkel immer für vernünftig genug gehalten, die Hände vom Rauschgift zu lassen. Aber was, wenn ihm etwas von dem Zeug aufgedrängt oder gar heimlich untergeschoben worden war?

Sie begann, ihn zu schütteln. »Hörst du mich, Max? Verstehst du, was ich sage? Hast du Drogen genommen?«

Als Antwort auf die letzte Frage deutete Max ein Kopfschütteln an.

»Dann sag mir jetzt, was passiert ist!«

Max zeigte wortlos auf den Zelteingang, den eine lose herabhängende Plane verdeckte, die im Wind sachte hin- und herschwang.

Was ihn mit Stummheit geschlagen und den Schrei – von wem immer er auch kam – ausgelöst hatte, musste sich im Zelt befinden.

Entschieden trat Fanni darauf zu und wollte gerade die Plane zurückklappen, als sich eine Stahlklammer um ihr Handgelenk legte.

Mehr zornig als erschrocken drehte sie sich um und sah sich dem langen Kerl in rot-schwarzer Thermokombi gegenüber, dessen Rechte ihr Handgelenk derart unerbittlich festhielt, als wäre es unversehens in Eisen gelegt. Mit der Linken verstaute er soeben sein Mobiltelefon in einer Brusttasche seiner Jacke.

Fanni sah er mit stahlhartem Blick an. »Sie dürfen nicht in das Zelt hinein, und Sie dürfen sich auch nicht so nah dran aufhalten. Die Polizei ist schon informiert und wird gleich eintreffen. Also bitte treten Sie zurück.«

»Aber –«

Er unterbrach sie mit einem strafenden Blick und zog sie mit sich fort. »Die Polizei hat Anweisung gegeben, den Umkreis des Zeltes und die beiden – ähm – Zeugen abzuschirmen.«

»Komm, Fanni. Wir können im Moment nichts anderes tun, als auf die Polizei zu warten.« Sprudels vertrauter Arm legte sich um ihre Schultern, seine vertraute Stimme klang in ihrem Ohr.

Hilflos ließ sie sich wegführen.

Einige Meter vor dem Zelt hatte sich eine Menschentraube gebildet, die sich noch immer vergrößerte wie ein Klumpen Eisenspäne an einem Magnetende, und um das Zelt herum begann sich ein geschlossener Ring aus Bikern zu formen, der geradezu hermetisch wirkte. Die Männer standen unerschütterlich wie ein Zaun aus Stahlpfosten und trennten Fanni von ihrem Enkel, der die Sprache verloren hatte.

In der Menge verbreitete es sich wie ein Lauffeuer: »Im Zelt liegt ein Toter mit einer Stahlschlinge um den Hals.«

Fanni starrte Sprudel entgeistert an.

Redeten die Leute von Mord? Und was hatte Max damit zu tun? Der Biker, der sie fortgezogen hatte, hatte von Max und Bruno als Zeugen gesprochen. Aber er hatte gezögert, bevor er das Wort aussprach, und es hatte wie eine Beschönigung geklungen. Was hatte er lieber nicht sagen wollen? Dass die beiden weniger Zeugen als Verdächtige waren?

Sie musste mit Max reden. Jetzt.

Fanni wollte sich in Bewegung setzen, den Ring der Biker durchbrechen und wieder zu Max vordringen, aber Sprudel hielt sie entschlossen an sich gepresst.

»Lass mich los, ich muss zu meinem Enkel!«

Sprudel zeigte sich unnachgiebig, zwang sie, ihn anzusehen, und wiederholte eindringlich: »Wir müssen auf die Polizei warten, Fanni.«

»Aber Max …«

Fanni konnte nicht weitersprechen, weil ihr gerade jemand den Ellbogen in die Seite rammte, was ihr für einen Moment die Luft nahm. Erst jetzt merkte sie, dass Sprudel und sie mitten in die Menschenmenge geraten waren; der Schutzwall, den die Biker gebildet hatten, war schon nicht mehr zu erkennen. Fanni kam es so vor, als würden Sprudel und sie immer weiter vom Zelt weggespült und an den äußersten Rand der Menge gedrängt.

Sie begann sich dagegen zu wehren, aber auch das ließ Sprudel nicht zu. »Wir halten uns besser etwas abseits.«

»Aber Max …«, wiederholte Fanni aufgelöst.

»Max und Bruno müssen bleiben, wo sie sind. Es wird sich alles klären, Fanni.« Sprudel blieb an einer Stelle stehen, an der kein Gedränge mehr herrschte, und drückte Fanni fest an sich. »Sobald die Polizei eintrifft, melden wir uns bei einem Beamten und erklären ihm, wer wir sind.«

Fanni presste die Lippen aufeinander. Sie war dazu verurteilt, tatenlos zuzusehen, wie ihr Enkel, eingekreist von einer Horde Biker, neben diesem Zelt ausharren musste, in dem sich offenbar ein Mordopfer befand.

Etliche Minuten verstrichen. Die Menschenmenge pulsierte wie ein Organismus. Hin und wieder trennte sich ein Teil ab und löste sich auf. Dann wieder kam eine Gestalt hinzu, verschmolz mit der Masse.

Satzfetzen, Informationsbrocken flogen von Mund zu Mund.

Sprudel und sie standen aneinandergelehnt etwas außerhalb der Ansammlung. Schräg vor ihnen hatten zwei junge Burschen in Blaumann und Sicherheitsschuhen Stellung bezogen. Fanni nahm an, dass sie auf dem Heimweg von der Arbeit einen Abstecher zum Loher Kessel gemacht hatten.

»Ich weiß, wem das Zelt gehört. Hab den Typen gestern Abend aufbauen sehen«, sagte der eine.

Der andere – er wirkte sehr jung und etwas einfältig – antwortete: »Und wer ist der Typ?«

»Weiß ich doch nicht. Hab ihn nur gesehen. Oben an der Straße parkt seine Amsel.«

»Was macht er mit einer Amsel?«

»Das ist eine Honda CBR 1100 XX Super Blackbird, Blödmann. Ich hab dir doch vorhin erklärt, dass die Maschinen fast alle Spitznamen haben. Die alte Zündapp ist der Elefant, die BMW 100 GS ist der Elch, die …«

Fanni hörte nicht mehr hin. Nach einer Weile verstummte der Bursche. Als er erneut zu sprechen anfing, horchte sie wieder auf.

»Einer von den zwei Typen da vor dem Zelt soll ihn erdrosselt haben«, sagte der Bursche.

»Den mit der Amsel?«

»Wen sonst.«

Fanni rang nach Luft. Es kam ihr so vor, als würde sich der Ring der Biker um Max und Bruno immer enger zusammenziehen. Die beiden waren jetzt überhaupt nicht mehr zu sehen. Sie konnte nicht an sich halten. »Ich muss wissen, was da vorgeht.«

Kaum hatte sie es ausgesprochen, spürte sie, wie Sprudel sich versteifte und sie wieder näher an sich zog. Er würde dafür sorgen, dass sie sich nicht von der Stelle rührte.

Doch unvermittelt ließ seine Anspannung nach. »Da sind sie ja.«

Jetzt vernahm auch Fanni die Geräusche, die mit der Ankunft der Polizei einhergingen: das Zuschlagen von Autotüren, Zurufe, schwere Schritte auf harschem Schnee.

»Zurücktreten bitte.«

Fanni wollte sich auf einen der Polizisten stürzen, aber erneut hielt Sprudel sie fest. »Wir warten auf die Kripo.«

Die traf etwas später ein, und bald darauf kamen die Leute von der Spurensicherung.

Als die Streifenbeamten begannen, die Personalien der Umstehenden aufzunehmen, schmolz die Menschentraube jäh zusammen, sodass es schließlich ganz einfach war, in die Nähe des Schauplatzes zu gelangen, der inzwischen von Polizisten bewacht wurde.

Sprudel wandte sich an einen der beiden Kriminalkommissare. Der hörte ihm zu, gab sich freundlich, sagte dann aber in entschiedenem Ton: »Die zwei Burschen sind aus einem Zelt gekommen, in dem ein Mordopfer liegt. Da brauche ich Ihnen wohl nicht zu erklären, dass die Aussagen unverzüglich zu Protokoll genommen werden müssen.«

Was durchaus vernünftig klang, wäre nicht auch bei ihm der unausgesprochene Verdacht herauszuhören gewesen, dass einer von den beiden die Tat begangen hatte. Vielleicht auch beide zusammen.

Als Fanni beobachtete, wie ein Streifenpolizist Max Handschellen anlegte und ihn abführte, machte sie eine heftige Bewegung, aber Sprudels fester Griff vereitelte ihr Vorhaben, den beiden nachzulaufen.

»Wohin bringen sie ihn?«, fragte Sprudel den Kommissar, der sich mit dem Namen Bauer vorgestellt hatte.

Bauer sagte es ihm und fügte hinzu: »Es steht Ihnen frei, nach Passau ins Kommissariat zu kommen und dort abzuwarten, was sich aus den Verhören ergibt. Die Sache wird allerdings eine Weile dauern. Also lassen Sie sich besser Zeit. Gehen Sie noch einen Kaffee trinken, damit Sie nicht stundenlang auf der Dienststelle herumsitzen müssen.«

Damit ließ er sie stehen und kehrte zum Zelt zurück, wo die Leute von der Spurensicherung und ein sichtlich angespannter Arzt, der als Letzter eingetroffen war, ihre Arbeit taten.

Mittlerweile hatten sich die Schaulustigen größtenteils verlaufen.

Als irgendwann der Leichenwagen eintraf, kamen einige zurück, zogen aber enttäuscht wieder ab, weil es nur einen verschlossenen Zinksarg zu sehen gab und zwei Träger mit grimmigen Mienen, die ihn zur Straße brachten und in den Wagen schoben, der gleich darauf losfuhr.

Schließlich standen nur noch Fanni und Sprudel vor dem Band, mit dem die Polizei den Tatort gesichert hatte. Außerhalb des abgesperrten Bereichs herrschte Dunkelheit. Eine einzige Lampe wies den Weg zum Eingang des Zeltes, dessen Innenraum hell erleuchtet war. Die Menschen dort wirkten von draußen betrachtet wie Puppen in einem Schattenspiel.

»Fanni?«

Sie machte eine abwehrende Geste. Solange hier noch nach Spuren gesucht wurde und die – zugegeben unwahrscheinliche – Möglichkeit bestand, etwas über das Opfer, die Tat oder gar den Täter zu erfahren, würde sie das Feld auf keinen Fall räumen.

Aber auch als die Kriminaltechniker den Schauplatz endlich verließen, konnte sie sich nicht aufraffen zu gehen.

»Wir sollten Vera informieren«, sagte Sprudel.

Fanni schüttelte den Kopf. »Nicht bevor wir wissen, was der Kommissar aus der Sache macht. Vielleicht klärt sich ja ganz schnell, dass Max mit dem Mord nichts zu tun hat. Dann können wir ihn mit nach Hause nehmen und den Schrecken vergessen.«

Sie spürte, wie Sprudel mit sich kämpfte, und drückte seinen Arm, was so viel heißen sollte wie »Bitte sag’s nicht«. Sie wollte jetzt keine Einwände hören, keine Gegenargumente, keine Vernunftsgründe. Nicht jetzt. Und auch nicht später. So lange nicht, bis Max von jeglichem Verdacht reingewaschen war. Bis er ihr persönlich erklärt hatte, was sich im Zelt abgespielt hatte, und bis er wieder frisch und freimütig auftrat.

Kopf frei, Hand am Gasgriff und immer eine Handbreit Luft unterm Vorderreifen!

Fanni schnappte so entsetzt nach Luft, dass Sprudel abrupt stehen blieb.

»Was ist?«

Nicht zu fassen ist das, dachte Fanni.

Die Gedankenstimme, die sie seit Jahren (oder waren es schon Jahrzehnte?) plagte, die alles besser wusste und schlichtweg unerträglich war, hatte sich ja schon eine Menge Humbug geleistet: alberne Ratschläge, Unverschämtheiten noch und noch, vorlautes Dazwischenreden im unpassendsten Augenblick, nervige Redensarten – Never-Sprüche, chinesische Pseudo-Weisheiten, skurrile Grabsprüche – und jetzt das: Bikerparolen.

Fanni atmete tief durch. Ausblenden, so gut es ging, möglichst ausblenden. Abschalten ließ sich die Gedankenstimme nicht. Auslöschen ebenso wenig. Denn die Stimme führte ein Eigenleben, war unsterblich und unverwundbar.

»Er war’s nicht, Sprudel.«

Statt einer Antwort strich er ihr beruhigend übers Haar. Aber Fanni konnte spüren, dass auch er sich Sorgen machte.

War es tatsächlich möglich, dass man ihren Enkel des Mordes anklagte?

Selbst Sprudel hatte also Zweifel. Hielt er es tatsächlich für möglich, dass ihr Enkel den jungen Mann erwürgt hatte?

»Max würde niemals …« Fanni konnte nicht weitersprechen. Zum einen erstickte ihre Stimme in einem neuerlichen Schluchzer, zum andern waren Aussagen wie »Mein Enkel würde niemals jemandem etwas zuleide tun«, »Mein Sohn ist ein guter Junge«, »Mein Mann macht so was nicht« derart abgedroschen, dass sie sie nicht auszusprechen vermochte.

Sprudel schob sie ein Stück von sich weg, um ihr ins Gesicht sehen zu können. »Wir haben fast zehn Grad minus, Fanni, und stehen jetzt schon seit gut einer Stunde hier herum. Wenn wir das noch länger tun, frieren uns nicht nur die Zehen ab. Bitte lass uns irgendwohin gehen, wo wir uns aufwärmen können.«

Sie nickte und duldete, dass er den Arm um ihre Schultern legte und sie von der Absperrung, die das Zelt umgab, wegführte.

Rund um den Tatort war es ruhig geworden. Nur der platt getretene, mit einer Schmutzschicht überzogene Schnee zeugte noch von dem Aufruhr, der vor Kurzem hier geherrscht hatte.

2

»Setzt euch her. Bei uns könnt ihr euch aufwärmen. Das Mädel ist ja halb erfroren. Die Kleine braucht was Hochprozentiges, sonst schafft sie die Strecke bis hinter zum Parkboden nicht mehr.«

Es dauerte einen Augenblick, bis Fanni begriff, dass tatsächlich jemand – er sprach mit auffällig brüchiger Stimme – das Wort an sie gerichtet hatte.

Und er hat dich Mädel genannt!

Das, fand Fanni, war in Anbetracht ihres Alters wahrhaftig bemerkenswert.

»Kommt doch her zu uns.« Mit »uns« war offensichtlich ein halbes Dutzend Biker gemeint, die auf Ballen aus gepresstem Stroh um ein offenes Feuer saßen. Einer von ihnen klopfte neben sich auf einen Strohsitz.

Als Fanni ihn näher in Augenschein nahm, verstand sie, weshalb er für eine fast Siebzigjährige den Ausdruck »Mädel« gebraucht hatte. Er selbst schien weit über hundert zu sein.

Na, wen haben wir denn da? Gandalf aus »Herr der Ringe«?

Fannis Blick glitt über die weißen, leicht gekräuselten Haare, die zottelig unter der Pelzkappe herabfielen; über den Bart, der auf der Brust in fransigen Zipfeln auslief und die Farbe schmutzigen Schnees hatte; über die tausend Falten um die Augen des Mannes. Sie musste zugeben, dass die Ähnlichkeit mit dem Zauberer aus der bekannten Filmtrilogie frappierend war.

»Ja, setzt euch doch endlich«, sagte nun auch ein etwa vierzigjähriger, glatt rasierter Typ, der barhäuptig und mit offener Jacke dasaß. »Ihr seht wirklich aus, als könntet ihr eine Verschnaufpause am Feuer vertragen.« Er streckte die Hand aus. »Ich bin der Bert aus Hannover. Und der da«, er deutete auf Gandalf, »ist der Karl aus Krumbach, unser Ältester. Er war schon ’56 auf der Solitude in Stuttgart dabei.«

»Setz dich hin zu ihm, Mädel«, übernahm ein junger Kerl das Wort, der eine Mütze mit weit hinunterhängenden Ohrenklappen trug, die offenbar Elefantenohren darstellen sollten. »Hitze gibt der Karl zwar keine mehr ab, aber dafür haben wir das größte Feuer im Kessel. Deswegen hat sich auch der Luigi zu uns hergemacht. Der ist nämlich aus Italien, und die Kälte setzt ihm närrisch zu. Ja, und ich bin der Xarre aus Neureichenau. Hast du auch einen Namen?«

Fanni spürte etwas wie einen Sog, der sie zu dem alten Mann auf dem Strohsitz hinzog. Der Bursche mit der Elefantenohrenmütze, Xarre hieß er anscheinend, hatte recht. Das Feuer war tatsächlich das größte und schönste im ganzen Umkreis. Meterlange Holzscheite standen senkrecht in einem Metallring, der an einem kleinen Tisch – ebenfalls aus Metall – befestigt war. Die Scheite glühten rot und gaben fühlbar Wärme ab. Auf der Tischplatte saß ein Teekessel, in dem es leise brodelte. Die Atmosphäre wirkte einladend.

Fanni warf Sprudel einen um Einverständnis bittenden Blick zu, den er mit einem fragenden Stirnrunzeln beantwortete.

Die Gedankenstimme hatte entschieden mehr beizutragen:

Du willst dir doch nicht wirklich das Fell wärmen lassen und Motorradfahrergarn spinnen, während dein Enkel von den Bullen in die Mangel genommen wird!

Doch, dachte Fanni, genau das werde ich tun. Max nützt es nämlich nichts, wenn Sprudel und ich im Flur vor dem Verhörraum auf und ab tigern, bis die Polizei mit ihm fertig ist. Aber hier unter den Bikern zu sitzen, die richtigen Fragen zu stellen, sich die Antworten genau anzuhören, auf Stimmungen und Untertöne zu achten, das könnte hilfreich sein.

»Ich bin die Fanni, und das ist der Sprudel.« Sie ließ sich neben Karl aufs Stroh fallen.

»Bastian aus Innsbruck«, kam eine angenehme Stimme von der anderen Seite der Feuerstelle.

Fanni konnte von Bastian nur die Konturen erkennen, denn die langen, hochkant stehenden Scheite verdeckten ihr die Sicht auf ihn.

»Neben Bastian hockt der Johann aus dem Villnösstal«, ließ sich Elefantenohr-Xarre wieder vernehmen.

Fanni sah eine Schirmmütze, eine breite Nase und ein bärtiges Kinn. Eine Hand hob sich und senkte sich wieder. Sie nahm es als Begrüßungsgeste.

»Mountain Riders«, fügte Xarre mit hörbarem Respekt hinzu.

Fanni war offenbar anzusehen, dass sie nicht wusste, was der Ausdruck bedeuten wollte. Waren mit »Mountain Riders« Motorradfahrer gemeint, die mit ihren Maschinen in den Bergen herumschwirrten?

Damit lag sie anscheinend richtig.

»Kein Alpenpass ist denen zu vertrackt«, erklärte Xarre. »Und Johann ist ihr Road Captain.«

Fanni versuchte, Johanns Gesichtszüge genauer auszumachen, und hätte beinahe überhört, was Xarre als Nächstes sagte:

»Neben Johann siehst du unsere Bambi sitzen.«

Fannis Blick ließ von Johann ab und glitt seitwärts.

Bambi befand sich schräg vis-à-vis von ihr und war im Schein des Feuers gut zu sehen.

Rote Glut spiegelte sich in rehbraunen Augen.

Rehbraune Augen! Das scheint aber auch das Einzige zu sein, was »Unsere Bambi« mit einem Rehkitz gemeinsam hat!

Die junge Frau hob lässig das Kinn und sagte mit einer Stimme, die wie Eisenfeile auf Stahlträger klang: »Bratislava. Slovenská republika. Vitajte.«

»Geh, Bambi, red Deutsch mit uns. Wir wollen ja verstehen, was …«

Fanni überhörte den Rest, weil ihre gesamte Aufmerksamkeit von der Erscheinung der Bikerin aus der Slowakei gefesselt war.

Die junge Frau hatte mehr Piercings als Karl Zähne, mintgrüne Haare mit orangeroten Strähnen und offenbar Heizstäbe im Körper, denn sie hatte die Ärmel ihres Wollpullovers bis über die Ellbogen zurückgeschoben. Fasziniert betrachtete Fanni die lückenlos tätowierten Unterarme.

»Du hast ja ein neues Patch auf deiner Kutte. Wo hast du denn das her?« Xarre tippte mit der Fingerspitze auf die Schulterpartie der ärmellosen Weste, die Bambi über dem Pullover trug. Auf das schwarze Leder waren dicht an dicht Abzeichen genäht.

Bert aus Hannover kam Bambis Antwort zuvor. »Die Patches gibt es doch heuer im Elefantenshop. Noch gar nicht gesehen?«

»Er schaut sich ja im Shop bloß den neuen Pin-up-Kalender an«, stichelte jemand in Reinhold-Messner-Tonfall.

Johann aus Villnöss, mutmaßte Fanni. Sie hatte zu spät in seine Richtung geschaut, sodass sie nicht ganz sicher sein konnte.

Eilig kehrte ihr Blick zu Bambi zurück, heftete sich auf die vielen bunten Aufnäher an ihrer ärmellosen Jacke, die im Bikerjargon offenbar »Kutte« hieß. Doch bevor sie die Schriftzüge und Gebilde auf den Patches näher ins Auge fassen konnte, bezog sie von Karl einen Rempler in die Rippen.

»Nehmt ein Schlückchen, das wärmt von innen.« Er hielt ihr einen Flachmann hin.

Na dann prost! Ride hard or stay home!

Fanni setzte die Flasche vorsichtig an den Mund.

»Aber geh. Nicht so zaghaft«, wurde sie von Xarre ermuntert.

Während eine homöopathische Dosis Alkohol durch ihre Kehle rann, erfasste ihr Blick die Runde am Feuer, und jetzt fiel ihr auf, dass auch die meisten anderen über der Kleidung eine ärmellose Lederweste trugen, allerdings mit viel weniger Patches darauf als Bambis.

Xarre hatte einen Snoopy auf der linken Brustseite und auf der rechten einen Schriftzug, den Fanni nicht entziffern konnte. Die Patches auf Johanns und Berts Kutten nahm sie nur als bunte Kringel wahr. Karl hatte statt einer Kutte einen Fellumhang um die Schultern, und Luigi trug eine dicke rote Daunenjacke.

»Ihr seid so lang vor dem Zelt von dem Toten gestanden, kennt ihr ihn?«, fragte Karl.

Fanni nahm einen zweiten etwas ausgiebigeren Schluck und gab den Flachmann dann an Sprudel weiter. »Einer der beiden, die offenbar bei dem Toten im Zelt waren, ist mein Enkel.«

»Holy shit«, kam es von Bambi.

»Shit happens«, hatte Luigi, der Italiener, beizutragen.

»Haben ihn die Bullen kassiert?«, fragte die Reinhold-Messner-Stimme von vorhin, die das H von ganz hinten aus dem Rachen hervorholte.

Jetzt reagierte Fanni schneller und konnte verbuchen, dass sie – wie konnte es anders sein – dem Südtiroler gehörte. Sie musste den scharfen Schnaps weghusten, bevor sie bejahen konnte.

»Ist es nicht vollkommen logisch, dass die beiden Burschen zur Vernehmung ins Kommissariat gebracht wurden?«, meldete sich eine ruhige, angenehme Stimme, die Fanni dem noch immer hinter den Holzscheiten verborgenen Bastian aus Innsbruck zuordnete. »Sie sind ja die wichtigsten Zeugen. Und die einzigen womöglich.«

Daraufhin herrschte eine Weile Schweigen.

Fanni konnte sich denken, was den Bikern durch den Kopf ging: Sind die beiden Burschen tatsächlich bloß Zeugen, oder sind sie die Mörder?

Sprudel räusperte sich.

Aber Fanni kam ihm zuvor. »Haben Sie den Toten gut gekannt?«, fragte sie an Karl gewandt.

»Im Elefantenlager sagen wir uns alle Du, Mädel, das ist so der Brauch.«

Fanni nickte. Es war ihr herzlich egal, ob im Loher Kessel geduzt oder gesiezt wurde. Sie wollte Auskünfte, in welcher Form auch immer.

»Wer von euch hat ihn denn am besten gekannt?« Sie schaute gespannt in die Runde, sah aber nur ausdruckslose Gesichter.

»Mir ist der aus dem blauen Tipi überhaupt nie untergekommen«, sagte Xarre nach einiger Zeit.

»Non del tutto«, pflichtete ihm Luigi bei.

»Soviel ich gehört habe, war es für Arno und seine Amsel das erste Elefantentreffen.« Fanni ordnete die Stimme dem Glattrasierten aus Hannover zu. Bert, ja, so hatte er sich vorgestellt. Was er gesagt hatte, irritierte sie, bis ihr das Gespräch einfiel, das die beiden jungen Männer im Blaumann geführt hatten. Der eine hatte die Maschine des Toten als »Amsel« bezeichnet und dem andern erklärt, dass es für Motorräder bestimmte Spitznamen gab.

Bastian, den sie nach wie vor nur als Silhouette wahrnahm, bestätigte das und fügte hinzu: »Karl reist mit seinem Wasserbüffel, Xarre mit seiner Gummisau, Bert mit seinem Superelch, Bambi mit ihrem Schnabeltier –«

»Auffrisiert«, warf Xarre ein. »Die BMW von Bambi ist so tierisch auffrisiert, die bringt’s spielend auf dreihundert. Mit Tempo zweihundertdreißig brettert unsere Bambi über die A 3, da geb ich euch Brief und Siegel.«

»Wer später bremst, bleibt länger schnell«, meinte Bambi darauf trocken.

Coole Braut! Markiger Spruch! Erinnernswert! Da war doch noch so einer … Ach ja: Wir rasen nicht, wir fliegen tief!

Im darauffolgenden Schweigen wurde Fanni unvermittelt bewusst, dass Bert den Toten »Arno« genannt hatte.

Sie schaute an Karl vorbei zu ihm hinüber. »Du hast ihn also gekannt?« Es gab keinen Zweifel, wen sie meinte.

Bert schüttelte den Kopf. »Nein, nur seine Maschine. Eine Super Blackbird von Honda. Sie war oben an der Straße geparkt.«

»Mit so einem Ofen fährst nicht durch den Kessel, wenn dir deine Maschine und deine Knochen was wert sind«, warf Xarre ein.

»Die Amsel hat etliche Bewunderer angezogen«, fuhr Bert fort. »Irgendwann ist wohl auch der Name des Besitzers gefallen. Keine Ahnung, wer ihn genannt hat. Der war aber auch nicht weiter wichtig. Man hat sich hauptsächlich für die Alpenpässe interessiert, die dieser Arno mit seiner Blackbird offenbar gefahren ist. Timmelsjoch, Grimselpass …«

»Die Super Blackbird galt Mitte der Neunziger als das schnellste Motorrad der Welt. Ein echtes Geschoss«, sagte Johann schwärmerisch.

»Für so einen Ofen könnte man glatt …« Xarre unterbrach sich, sprang auf, griff sich ein Holzscheit und rammte es in den Metallring, dass die Funken stoben.

Karls Kopf ruckte hoch. »Pass auf, was du sagst. Und gib acht wegen dem Funkenflug. Das Stroh ist schnell in Brand …«

Fanni hörte ihm nicht mehr zu. Der Tote, Arno – nach seinem Nachnamen zu fragen, schien ihr sinnlos –, war offenbar in diesem Jahr zum ersten Mal im Loher Kessel aufgetaucht und folglich ein Fremder. Aber er hatte Bekanntschaften geschlossen. Mit Max und Bruno zweifellos, denn sie waren ja bei ihm in Zelt gewesen. Mit wem hatte er noch Kontakt gehabt? Es würde nicht einfach werden, das herauszufinden.

Aber was bringt es schon, zu wissen, mit wem der Neuankömmling dort und da ein paar Worte gewechselt hat?, überlegte sie dann. Wie könnte aus einer kurzen Berührung ein Mordmotiv entstanden sein?

Das war so wenig denkbar, dass sie zu dem Schluss gelangte, zumindest eine Person im Kessel müsse Arno gut genug gekannt und tief genug gehasst haben, um ihm nach dem Leben zu trachten.

Einer unter dreitausend Bikern im Kessel von Loh war Arnos Mörder. Allerdings kam auch jemand von den Tagesgästen in Frage, die aus der ganzen Gegend anreisten, um sich anzusehen, wie es im Hexenkessel brodelte.

Unwillkürlich glitt Fannis Blick über die riesige Zeltstadt, die innerhalb weniger Tage in der weitläufigen Senke gewachsen war.

Das Lagerfeuer, um das sie mit den Bikern saß, befand sich südöstlich des Kesseleingangs, etwas abseits der breiten Elefantenstraße, die zum tiefsten Punkt hinunterführte. Selbst dort unten standen noch ein paar Zelte. Die meisten aber drängten sich an den flachen Hängen.

Es sind so viele, dachte sie deprimiert. Und in jedem könnte sich der Täter verstecken. Schlimmstenfalls könnte er auch schon fort sein. Was, wenn er gleich nach der Tat auf seine Maschine gestiegen und davongebraust ist? Dann haben wir nichts als ein Phantom.

Nur Max und Bruno sind real, greifbar und höchst verdächtig!

Fanni versuchte, einen schweren Seufzer zu unterdrücken, was ihr nicht wirklich gelang.

»Und keiner von euch hat mit diesem Arno gesprochen?«, hörte sie Sprudel fragen.

»Du fragst ja nicht jeden, der dir übern Weg rennt und ein Wort zu dir sagt, gleich nach seinem Namen«, hatte Xarre dazu anzumerken.

»Wir wissen aber, wo der Arno herkommt.« Karl zwinkerte Fanni zu. »Die Amsel hat nämlich ein I auf dem Nummernschild.«

War Arno Südtiroler wie Johann? Oder kam er von weiter im Süden Italiens, wie Luigi vermutlich? War er Umbrier oder Sizilianer oder Sardinier?

Spielte es irgendeine Rolle? Wohl kaum.

»Schade«, sagte Sprudel, »dass keiner von euch näher an ihn herangekommen ist.«

Bambi beugte sich ein wenig vor, der Glitzerstein in ihrem rechten Nasenflügel leuchtete im Schein des Feuers auf. »Ich schon.«

Alle Gesichter drehten sich ihr zu. Spannung lag in der Luft.

Sie hob abwehrend die Hand. »Hey. Nicht, was ihr denkt!«

»Dann solltest du uns aufklären«, sagte Bastian.

Bambi fummelte an dem Ring in ihrem Ohr. »Gestern, am späten Nachmittag, steh ich im Imbiss und halte einen Jacky-Cola in der Hand.« Mit einem leicht gereizten Blick auf Fanni fügte sie hinzu: »Das ist Jack-Daniel’s-Whiskey mit Cola.«

Fanni dankte ihr mit der Andeutung eines Lächelns für die Auskunft, und Bambi fuhr fort. »Ein Typ kommt an den Tresen. Bestellt sich einen Drink. Sagt, er ist gerade eingetroffen. Ich frage, woher, und er murmelt etwas wie ›Dolomiti‹, lässt sich aber nicht weiter aus. Fragt dann, wo gute Zeltplätze sind. Ich antworte: Kommt drauf an. Das kapiert er aber nicht. Also erkläre ich es ihm.« Sie warf Fanni einen forschenden Blick zu und verdrehte die Augen, weil offensichtlich war, dass die ebenso wenig kapierte, wie Arno es getan hatte.

Fanni wollte gerade abwinken und damit andeuten, dass sie auf eine Erklärung verzichtete, da sagte Xarre: »Bei der Wahl vom Zeltplatz kommt es halt ganz drauf an, was dir wichtig ist. Magst mitten im Kessel lagern oder mehr am Rand. Magst in der Nähe von einem Klohäusl sein oder in der Nähe vom Imbiss. Oder willst du nicht weit von der Straße weg campen, weil du deine Maschine dort stehen hast. Wie schon gesagt, mit einem schweren Ofen fährst du nicht in den Kessel, das ist viel zu gefährlich mit all den gefrorenen Spurrillen, dem Schneematsch und den Eisplatten.«

Bambi nickte beipflichtend und fuhr mit ihrem Bericht fort. »Der Typ zuckt die Schultern. Anscheinend weiß er nicht, was er will. Dann stellt er sein leeres Glas ab und sagt, dass er mal eine Runde dreht und sich die Sache anschaut.«

»Das war alles?«, fragte Sprudel.

Bambi nickte. »Wir haben noch kurz über seine Amsel geredet. Die war an der Straße geparkt, logisch. Heißer Ofen. Ich habe mich für ein paar Daten interessiert: Hubraum, Leistung, Drehmoment …«

Fanni fragte sich, ob es auf Zufall beruhte, wie Arno schließlich seinen Zeltplatz gewählt hatte, oder ob es einen bestimmten Grund dafür gab. Sie warf einen Blick in die Richtung, in der sein Tipi ihrer Orientierung nach stehen musste, und stellte fest, dass hinter einer Ansammlung von Iglus, einer Reihe von aufgeschichteten Strohquadern und einigen teils kuriosen Motorradgespannen nur die Spitze davon zu sehen war.

Sie horchte auf, als sie Sprudel sagen hörte: »Hast du Arno denn noch mal gesehen, bevor …« Er verstummte, schien nicht recht zu wissen, wie er sich ausdrücken sollte.

Bambi hob die Hand, wie um sich zu verabschieden. »Arno sagt noch: ›See you‹, dann geht er. Geht für immer.« In ihrer Stimme klang tiefes Bedauern mit, was Fanni nicht daran zweifeln ließ, dass Bambi diesen jungen Mann gern wiedergesehen und die Bekanntschaft vertieft hätte.

Weil nach Bambis »Geht für immer« Schweigen einkehrte, blickte Fanni erneut zu Arnos Zeltplatz hinüber.