Mord mit Liebesperlen - Jutta Mehler - E-Book

Mord mit Liebesperlen E-Book

Jutta Mehler

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Beschreibung

Ein cozy Heimatkrimi mit hintersinnigem Humor und Tiefgang. Eigentlich sollte es nur ein gemütlicher Tagesausflug zum Dreisessel werden, doch noch auf dem Parkplatz stolpern Hilde, Thekla und Wally in ihren nächsten Fall: Ein befreundetes Ehepaar wurde in seinem Wohnwagen ermordet. Natürlich können die drei rüstigen Damen ihre Spürnasen nicht aus den Ermittlungen heraushalten und machen sich im deutsch-tschechischen Grenzgebiet zwischen Bayerischem und Böhmerwald auf die gefährliche Suche nach dem Täter.

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Jutta Mehler, Jahrgang 1949, hängte frühzeitig das Jurastudium an den Nagel und zog wieder aufs Land, nach Niederbayern, wo sie während ihrer Kindheit gelebt hatte. Seit die beiden Töchter und der Sohn erwachsen sind, schreibt Jutta Mehler Romane und Erzählungen, die vorwiegend auf authentischen Lebensgeschichten basieren, sowie Kriminalromane.

Das Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen (mit Ausnahme von Ali Schraufstetter) sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht gewollt.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Judywie/photocase.de

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-980-8

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Aulo Literaturagentur.

Es gibt kein zufälliges Treffen. Jeder Mensch in unserem Leben ist entweder ein Test, eine Strafe oder ein Geschenk.

Lebensweisheit

1

Thekla legte die Kuchengabel zurück auf den Teller. Sie würde ihr Stück Agnes-Bernauer-Torte erst dann, womöglich aber auch gar nicht mehr genießen können, wenn sie wusste, was Hilde mit ihrer Einladung bezweckte.

»Nachdem unsere diversen Zipperlein die regelmäßigen Treffen monatelang verhindert haben, sollten wir baldmöglichst einen vergnüglichen Ausflug machen«, hatte Hilde gesagt und umgehend den von ihr geplanten Tagesablauf skizziert. »Ich hole euch am Morgen ab. Erst Wally, dann dich, Thekla. Danach fahren wir weiter Richtung Waldkirchen und tschechische Grenze bis Neureichenau und von da hinauf zum Parkplatz Dreisesselfels, zu dem recht bequem ein geteertes Sträßchen hinführt. Vom Parkplatz steigen wir dann zum Dreisesselgipfel auf.«

An Wally gewandt fügte sie soeben hinzu: »Keine Bange. Es ist nur ein Katzensprung auf einem mäßig ansteigenden Weg. Die letzten paar Meter sind zwar schroff und felsig, aber mit ausgehauenen Stufen und einem Geländer quasi seniorengerecht aufbereitet. Bei gutem Wetter soll man von da oben eine Fernsicht bis zu den Alpen haben. Und gleich unterhalb vom Gipfel steht das Dreisesselhaus auf seinem Plateau. Da seid ihr dann auf eine Brotzeit eingeladen.« Sie blickte erwartungsvoll in die Runde. »Na, was sagt ihr dazu?«

Thekla stellte die für sie alles entscheidende Frage: »Ist Ali Schraufstetter irgendwie an der Sache beteiligt?«

Hilde sah sie mit schmalen Augen an. »Nein, verdammt. Wie kommst du denn darauf?«

Thekla war sich sicher, dass Hilde ganz genau wusste, weshalb sie das gefragt hatte.

War Ali Schraufstetter, ehemaliger Friseurmeister und gegenwärtiger Kreisbrandrat, mit im Spiel, dann konnte man davon ausgehen, dass es einen Mord aufzuklären galt, dass die Sache heikel werden und dass Hilde, Wally und sie in Lebensgefahr geraten würden.

Thekla hatte ja nie mitmachen wollen, bei keiner der zahlreichen Mordermittlungen, die sie bisher durchgeführt hatten, aber Hilde und Ali hatten sie jedes Mal herumgekriegt – mit Hinterlist und Winkelzügen. In dieser Hinsicht war ihnen nicht über den Weg zu trauen.

»Nein, verdammt« hörte sich allerdings überzeugend an. Derart dreist würde ihr Hilde nicht ins Gesicht lügen.

Thekla nahm die Kuchengabel auf und stach in ihr Tortenstück.

»Also, was ist?« Hilde klang merklich vergrätzt.

Sie hatte ihnen also tatsächlich eine Freude machen wollen und fühlte sich nun brüskiert.

Thekla legte die Gabel wieder hin. Wenn sie Hilde nicht ernsthaft kränken wollte, würde sie auf ihren Vorschlag eingehen müssen.

»Ein Ausflug, warum nicht?«, antwortete sie deshalb verbindlich, obwohl sie lieber darauf verzichtet hätte.

Die regelmäßigen Kaffeeklatsch-Treffen im Krönner wollte sie ja gern wieder aufnehmen – vor allem der Agnes-Bernauer-Torte wegen. Doch selbst diese relativ kurzen Zusammenkünfte hatten sich schon oft als recht anstrengend erwiesen, denn Hilde und Wally ließen sich in ähnlich gegensätzliche Kategorien einordnen wie Spider Woman und Micky Maus.

Ein kurzer Seitenblick zeigte ihr, dass Wally glänzende Augen bekommen hatte. Sie klang jedoch auffällig zurückhaltend, als sie sagte: »Ja, so ein Ausflug wäre schön. Vor allem jetzt, nach so einer langen Durststrecke. Aber …« Sie brach ab und machte traurige Krötenaugen.

Thekla nickte, während sie einen Mundvoll Mandelbaiser schluckte. Sie glaubte zu wissen, was Wallys Vorfreude auf den gemeinsamen Ausflug trübte. Wallys Ehemann, Sepp Maibier.

Nach seiner blamablen Schlappe im Zusammenhang mit einem Mordfall im Nationalpark Bayerischer Wald hatte Sepp sich zwar eine Zeit lang im Zaum gehalten, war dann aber nach und nach wieder in die alte Machorolle zurückgefallen.

»Was jetzt?«, sagte Hilde barsch. »Können wir endlich Nägel mit Köpfen machen?«

»Gerne«, antwortete Thekla in neutralem Ton und schämte sich ein bisschen dafür, dass sie absolut keine Begeisterung aufbringen konnte.

»Wally?«

Hilde fasste Wally ins Auge, die ein unglückliches Gesicht machte.

»Ich …«, begann sie. Und dabei blieb es.

Hildes Brauen zogen sich so weit zusammen, dass sie sich berührten. »Du steckst also wieder in der alten Misere.«

Wally schwieg und starrte in ihre Tasse.

Hildes Fingerknöchel pochten hart und fast schmerzhaft laut auf den Tisch, was nicht nur Wally zusammenzucken ließ.

Gleich würde ein mit Flüchen gespicktes lautstarkes Donnerwetter auf die arme Wally niedergehen, wie Hildes Miene deutlich bekundete, und alle übrigen Gäste im Krönner würden unfreiwillige Zeugen davon werden.

Doch so weit wollte es Thekla nicht kommen lassen.

Betont beiläufig wandte sie sich an Wally. »Sepp wird wohl ein bisschen Theater machen. Aber das bist du ja gewohnt. Dass er dir nichts verbieten kann, weiß er selbst recht gut. Ob es ihm gelingt, dir den Ausflug zu verleiden, liegt allerdings an dir.« Sie blickte Wally ermunternd an. »Lass doch seine Sticheleien einfach an dir abprallen.«

Wally war anzusehen, was sie dachte: Als ob das so einfach wäre.

Trotz allem lächelte sie, wirkte auf einmal kühner. »Wann soll es denn losgehen?«

Hilde entspannte sich sichtlich. »Warum nicht gleich morgen?«

Thekla war nicht im Mindesten überrascht. Lange gefackelt hatte Hilde noch nie.

Wally seufzte verhalten.

Um Hilde keine Gelegenheit zu geben, sich erneut auf Wally einzuschießen, sagte Thekla schnell: »Kennt ihr die Dreisesselsage, die dem Berg ihren Namen gegeben hat?«

Hilde zuckte die Schultern. »Soweit ich weiß, geht es um die Könige von Bayern, Böhmen und Österreich, die sich auf dem Gipfel getroffen haben sollen, um die genauen Grenzen ihrer Reichsgebiete festzusetzen.«

Wally nickte zustimmend.

Thekla wiegte den Kopf. »Die vollständige Sage hört sich etwas mystischer an.« Sie legte die Kuchengabel neben das halb aufgegessene Tortenstück und setzte sich zurecht. »Sie geht so: Drei Prinzen machten sich einst auf die Reise, um sich jeder ein Königreich zu suchen, und fanden eines Tages auf einem Felsen zusammen, der wie drei im Halbkreis angeordnete Sessel geformt war. Sie nahmen dort Platz, blickten sich um und teilten das Land, das zu ihren Füßen lag, unter sich auf. So entstanden die Reiche Bayern, Böhmen und Österreich. Doch um Könige zu sein, fehlten den Prinzen die Kronen. Da erschienen drei Prinzessinnen, die so hässlich waren, dass man sie hierher auf den Berg verbannt hatte. Jede von ihnen bot einem der Prinzen die Krone eines der drei Reiche an, stellte aber die Bedingung, dass er sie zur Gemahlin nehmen müsse. Alle drei Prinzen ließen sich auf den Handel ein und wurden so zu Königen. Ihre hässlichen Gemahlinnen jedoch verwünschten sie in den Plöckensteinsee. Seitdem sind die Jungfern auf dem Grund des Sees gefangen und warten auf ihre Erlösung. Aber immer zur Dreikönigsnacht kommen sie zum Dreisessel und klagen ihr Leid.«

»Das ist ja schrecklich traurig«, rief Wally ernsthaft bestürzt.

Hilde verdrehte die Augen. »Wo hast du denn die Sülze her?«

Thekla nahm ihr den Ausdruck nicht übel. Dass Hilde nichts für Märchen und Sagen übrighatte, war ja nichts Neues, ebenso wenig wie die Tatsache, dass ihr so etwas wie eine romantische Ader vollkommen abging. Dies alles berücksichtigend antwortete Thekla ungerührt: »Vergangenes Jahr haben Heinrich und ich einmal eine Wanderung vom Dreisesselfels zum Plöckenstein gemacht. Vom Plöckensteingipfel sind wir dann noch zum See abgestiegen.« Mit Schaudern erinnerte sie sich, wie anstrengend die Tour gewesen war; und mit einem leisen Lächeln erinnerte sie sich, wie stolz sie hinterher auf sich gewesen waren. Mit diesem Lächeln auf den Lippen fuhr sie fort: »Heinrich hat vor der Tour natürlich alles gegoogelt, was es zum Dreisesselgebiet zu googeln gibt, und dabei diese Sage ausgegraben.«

»Plöckenstein«, meinte Hilde nachdenklich. »Liegt der in Deutschland?«

Thekla verneinte. »Der Gipfel befindet sich direkt auf dem österreichisch-tschechischen Grenzkamm. Der See am Fuß seiner Ostflanke«, fügte sie mit einem Schmunzeln hinzu, »gehört zum Reich des böhmischen Prinzen.«

Daraufhin kehrte Schweigen ein, das Hilde recht schnell und etwas unwirsch brach. »Also, was ist jetzt mit unserem Ausflug? Findet er morgen statt oder nicht?«

Sowohl Thekla als auch Wally nickten, was Hilde offenbar als »ja, er findet morgen statt« interpretierte, weil sie sogleich nachschob: »Gute Wahl. Der Wetterbericht für morgen ist vielversprechend, und ein Werktag ist dem Wochenende bestimmt vorzuziehen.«

Thekla stimmte ihr zu. Außerdem traf es sich gerade passend, dass Heinrich und sie für den morgigen Donnerstag ohnehin nichts Besonderes geplant hatten. Heinrich hatte eventuell die Rasenkanten zuschneiden wollen. Das konnte er aber auch in ihrer Abwesenheit tun.

Wally wirkte auf einmal wieder verunsichert, worauf Hilde sie scharf ins Auge nahm. »Du willst doch nicht etwa einen Rückzieher machen?«

»Eigentlich dachte ich nicht, dass es schon so bald …« Wallys Stimme versandete.

»Du glaubst wohl nicht im Ernst, dass Rausschieben es irgendwie leichter macht, Sepp die Sache beizubringen.« Hilde war nun doch noch laut geworden. Die Gäste an den Nebentischen wurden bereits aufmerksam. »Herrgott noch mal. Sag ihm einfach, was du vorhast, und lass dich verdammt noch mal auf keine Diskussion mit ihm ein.«

Natürlich wagte Wally keinen Einwand mehr.

Hilde wirkte recht zufrieden, als sie ihnen die Abfahrtszeiten diktierte. »Wally: acht Uhr fünfzehn, Thekla: neun Uhr. Pünktlich, kein Herumtrödeln!«

So kam es, dass Thekla tags darauf Punkt neun Uhr in Hildes Wagen stieg, sich über Land gondeln ließ und eine knappe Stunde später von dem auf gut tausendzweihundert Meter hoch gelegenen Parkplatz Dreisesselfels ins Tal blickte.

Den Ausflug auf einen Werktag zu legen war tatsächlich eine weise Entscheidung gewesen, denn es standen nur wenige Autos auf dem geteerten Platz, obwohl sich das Wetter durchaus akzeptabel zeigte. Sonne und Wolken wechselten sich ab, es sah nicht nach Regen aus, und es war auch keiner vorhergesagt. Allerdings wehte, wie so oft auf den Bayerwald-Bergen, ein frischer böhmischer Wind, dem sich nur mit Schal und Mütze trotzen ließ.

»Schön hier.« Wally sah sich sichtlich begeistert um. Offenbar war sie noch nie im Dreisesselgebiet gewesen. »Sanfte Hügel und dazwischen diese seltsamen Felsformationen. So etwas habe ich bis jetzt noch nirgends gesehen.«

»Man nennt sie ›Wollsäcke‹«, prahlte Thekla mit dem von ihrem Mann ergoogelten Wissen. »Das ist eine spezielle Verwitterung, die unterirdisch erfolgt und abgerundete Formen hervorbringt. Durch Fortspülen der Bodenkrume werden die Steinblöcke freigelegt und zeigen oft abenteuerlich wirkende Gestalten.«

Hilde machte bloß »Hm«, aber Wally dankte Thekla mit einem feierlichen: »Das ist ja unheimlich interessant. Felsen, die man Wollsäcke nennt. Nein, davon habe ich noch nie gehört.«

Sie musterten alle drei noch eine Weile die Umgebung, bis Wally geradezu schüchtern sagte: »Ich würde mir so gern die drei Sessel ansehen, in denen die Prinzen gesessen haben, als sie das Land unter sich aufgeteilt haben.«

»Was wir auch auf der Stelle tun«, antwortete Hilde entgegenkommend. »Auf geht’s zum Gipfel.«

Thekla wandte sich dem Sträßchen zu, auf dem sie gekommen waren, weil sie wusste, dass sie ihm vom Parkplatz aus noch ein Stück bergwärts folgen mussten. Innerhalb weniger Minuten würden sie dann das kleine Plateau erreichen, auf dem das Dreisesselhaus stand, und von da aus über eine Treppe aus Steinquadern auf den felsigen Gipfel gelangen. Zielstrebig lief sie über den Parkplatz, blickte sich irgendwann um und bemerkte, dass Hilde in die entgegengesetzte Richtung unterwegs war.

»Wo willst du denn hin?« Thekla war stehen geblieben. »Da hinten geht es nicht weiter.« Sie deutete auf eine Baumgruppe, in der die doppelte Reihe Parkbuchten zu verschwinden schien.

»Da ist eine Polizeiabsperrung«, rief Hilde über die Schulter zurück. »Spusi-Leute wuseln herum. Und wenn mich nicht alles täuscht, habe ich Ali hinter dem Band gesehen.«

Thekla wurde starr vor Zorn.

Hilde hatte Wally und sie aus gutem Grund hierhergebracht. Hatte ihnen, was den Anlass für diesen Ausflug betraf, schamlos ins Gesicht gelogen.

Sie registrierte, dass sie vergessen hatte zu atmen, und holte keuchend Luft.

Ali Schraufstetter hatte also sehr wohl etwas mit der Sache zu tun. Mehr noch. Thekla zweifelte nicht daran, dass Hilde und Ali den Vorschlag, den ihnen Hilde tags zuvor im Café Krönner gemacht hatte, gemeinsam ausgebrütet hatten. Hier auf diesem Parkplatz musste etwas geschehen sein, das Ali veranlasst hatte, Hilde zu kontaktieren, und die hatte nichts Eiligeres zu tun gehabt, als Wally und sie auszutricksen, zu übertölpeln, einzuseifen …

Thekla musste erneut um Luft ringen.

Aber damit würden die beiden nicht durchkommen. Ali nicht und Hilde erst recht nicht.

»Ganz sicher nicht«, sagte sie laut.

Hilde stand zwar zu weit entfernt, um sie gehört haben zu können, merkte aber offenbar, dass etwas nicht stimmte, und ging ein paar Schritte auf sie zu. »Ich will doch bloß wissen, was Ali da treibt.« Als sie Theklas Gesichtsausdruck sah, wurde ihr anscheinend klar, dass Thekla argwöhnte, sie sei hereingelegt worden.

Als müsse sie sich vor einem Angriff schützen, hob Hilde beide Hände. »Nein, nein, Thekla. Du verstehst das falsch. Das war nicht abgekartet. Ich hatte keine Ahnung, dass Ali hier sein würde. Deshalb will ich ihn nach dem Grund dafür fragen. Komm, damit du dich selbst überzeugen kannst, dass ich nicht lüge.«

Thekla zögerte, gelangte dann aber zu der Ansicht, dass es einfach nicht zu Hilde passte, ein derartiges Theater aufzuführen. Dinge verschweigen, die Wahrheit verbiegen, das kam schon vor bei ihr. Aber eine solche Show abziehen? Nein, das lag Hilde nicht.

Also setzte Thekla sich in Bewegung und folgte Hilde und Wally, die ohnehin nichts Besseres zu tun hatte, als sich den Hals nach Ali zu verrenken.

Sie waren noch etwa ein halbes Dutzend Schritte vom polizeilichen Absperrband entfernt, da gaben die Bäume den Blick auf eine kleine Lichtung frei, auf der ein ausgebranntes Wohnmobil stand.

Thekla packte Hilde am Arm und zwang sie, haltzumachen. »Jetzt weißt du, weshalb Ali hier ist. Wir können also wieder umkehren und dorthin gehen, wo wir eigentlich hinwollten.«

Hilde riss sich los. »Sei nicht albern, Thekla. Wir können Ali doch wenigstens Guten Tag sagen.« Damit stiefelte sie entschlossen weiter auf das Absperrband zu.

Thekla blieb bockig stehen. Sie wollte weder Ali Guten Tag sagen noch wissen, was da vorne auf der Lichtung geschehen war. Dabei war ihr jedoch vollkommen klar, dass Hilde keine Ruhe geben würde, bis sie sich genauestens im Bilde sah.

Und das konnte dauern.

Trotzdem rührte Thekla sich nicht vom Fleck, sah Wally nach, die Hilde gefolgt war und Ali soeben zuwinkte, ließ den Blick dann über die Lichtung schweifen und konnte nicht verhindern, dass er an dem ramponierten Wohnmobil hängen blieb.

Und in diesem Moment beschlich sie ein ungutes Gefühl.

Was ja nicht verwunderlich ist, versuchte sie sich zu beschwichtigen. Ein ausgebranntes Fahrzeug verursacht in jedem Fall ein Gruseln.

Aber so einfach ließ sich die beängstigende Empfindung nicht erklären, und wie unter Zwang fasste sie das Gefährt genauer ins Auge.

Die Karosserie zeigte sich rußgeschwärzt, schien aber weitgehend intakt, sämtliche Fenster waren allerdings zersplittert. Scherben glänzten ringsum auf dem grasigen Boden. Demnach musste es im Innenraum des Campers eine Explosion, mindestens aber eine Verpuffung gegeben haben.

Thekla erinnerte sich, wie Ali ihnen im Zuge einer ihrer Mordermittlungen den Unterschied zwischen einer Verpuffung (die Druckwelle bemisst sich in Zentimetern), einer Explosion (Druckwelle bemisst sich in Metern) und einer Detonation (die sogar in einigen Kilometern Entfernung noch Schaden anrichten kann) erklärt hatte.

Sie zuckte zusammen, als ihr klar wurde, was den Besitzern des Wohnmobils widerfahren sein musste, falls sie sich nicht rechtzeitig in Sicherheit hatten bringen können.

Unwillkürlich rückte sie bis zum Absperrband vor, ihr Blick irrte hierhin und dahin und suchte – wonach eigentlich? Hatte es Verletzte oder gar Tote gegeben, dann waren sie gewiss längst abtransportiert worden, denn das Unglück schien sich schon vor einiger Zeit ereignet zu haben. Jedenfalls war kein Rauch zu sehen und keine Hitze zu spüren. Es waren auch keine Einsatzwagen der Feuerwehr oder des ärztlichen Notdienstes vor Ort. Nur ein paar Kriminaltechniker in ihren weißen Schutzanzügen machten Fotos, sammelten irgendwelche Gegenstände auf und tüteten sie ein.

Thekla beobachtete, wie einer von ihnen ein Nummernschild aufhob, das offenbar abgesprengt worden war und unversehrt auf der Erde lag. Er hielt es hoch, sodass ein weiter entfernt stehender Kollege in Zivilkleidung (Thekla vermutete den ermittelnden Beamten in ihm) es gut sehen und das Kennzeichen lesen konnte.

Warum sie sich dafür interessierte, hätte sie nicht sagen können. Aber als die Buchstaben und Zahlen in ihr Bewusstsein drangen, öffnete sich ihr Mund zu einem Schrei, der jedoch in der Kehle stecken blieb. »WÜM LH 222«.

»Waldmünchen, Laura, Hannes, zwei, zwei, zwei«, sagte sie nach einer Weile, als müsse sie es laut aussprechen, um die wirkliche Bedeutung zu begreifen. Ihre Stimme klang gepresst, und sie fühlte einen Stich in der Magengrube.

Nein, das konnte nicht sein.

Ist aber so, erklärte ihr Verstand schonungslos. Dieses Nummernschild lässt nur einen einzigen logischen Schluss zu: Bei dem ausgebrannten Fahrzeug handelt es sich um das Wohnmobil von Laura und Hannes Möller.

Obwohl Thekla es nicht wahrhaben wollte und nach Gegenargumenten suchte, die jedoch nicht aufzutreiben waren, musste sie schließlich einsehen, dass sich nicht daran zweifeln ließ.

Was das Kennzeichen am Wohnmobil der Möllers betraf, war ein Irrtum ausgeschlossen. Dieses LH 222 war Thekla nur zu gut im Gedächtnis geblieben, weil Heinrich sich später darüber lustig gemacht hatte, dass es eine Menge Leute gab, die den Aufpreis für ein Wunschkennzeichen nicht scheuten, ansonsten aber an jeder Ecke sparten und beim Autokauf um jeden Cent feilschten. Thekla hatte zu dem Thema nur die Schultern gezuckt. Wenn Laura und Hannes Wert darauf legten, die Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen im Autokennzeichen zu haben, dann bitte sehr. Vielleicht hatten sie LH 222 ja nur deshalb gewählt, weil es für sie am leichtesten zu behalten war. Wie auch immer, sie erinnerte sich nur zu gut an dieses Nummernschild. Und an das Wohnmobil. Es war weiß, mit einem dunklen Streifen an beiden Seiten, der sich vom Heck bis zum Kühler zog. Das Dach, das nun ziemlich verbeult zu sein schien, war geschwungen gewesen wie eine Düne.

Und Thekla erinnerte sich an Laura und Hannes.

Die zwei hatten erst vor wenigen Tagen bei Heinrich und ihr Station gemacht. Das hatten sie auch in den beiden vergangenen Jahren schon getan, als sie in Richtung Tschechien unterwegs gewesen waren.

Laura war die Tochter eines früheren Kollegen von Heinrich, zu dem der Kontakt in all den Jahren nie ganz abgerissen war, obwohl oder gerade weil er seit Langem im Rollstuhl saß. Bei seinen meist recht ausgiebigen Telefonaten mit Heinrich hatte Egon Möller wiederholt davon gesprochen, dass er kleine Schnitzereien fertigte, um wenigstens die Hände in Bewegung zu halten. Als sich vor zwei Jahren herausstellte, dass es für Laura und ihren Mann (er hatte bei der Heirat den Namen »Möller« angenommen, weil er zuvor »Muschelknautz« hieß) auf dem Weg nach Krumau keinen großen Umweg bedeuten würde, bei Thekla und Heinrich vorbeizuschauen, hatte er eine Schale aus Wurzelholz gefertigt, die sie bei ihnen abliefern sollten. Und so ergab sich auch, dass die Möllers in Theklas und Heinrichs Garten campten. Bei ihrem ersten Besuch blieben die Möllers zwei Tage, wurden von Thekla und Heinrich zum Abendessen eingeladen und revanchierten sich mit einem Picknick am Eginger See. Im Jahr darauf und auch in diesem beschränkte sich der Aufenthalt auf jeweils eine Nacht.

Vor knapp einer Woche hatten Thekla und Heinrich den beiden nachgewinkt, als Hannes das Wohnmobil aus der Zufahrt auf die Straße gelenkt hatte, und nun stand es ausgebrannt auf dieser kleinen Lichtung am äußersten Ende des Dreisesselparkplatzes, und von Laura und Hannes fehlte jede Spur.

Unsinn. Thekla schüttelte heftig den Kopf. Die beiden waren selbstverständlich ins Krankenhaus gebracht worden. Oder … Das mochte Thekla nicht zu Ende denken.

Aber sie musste sich unbedingt Klarheit verschaffen. Ali würde wissen, was mit Laura und Hannes geschehen war.

Hastig hielt sie Ausschau nach ihm und entdeckte ihn zusammen mit Hilde und Wally am Waldrand neben einer Fichte, an der das Absperrband befestigt war. Offenbar beendeten sie soeben ihre Unterhaltung, denn Ali blickte zur Brandstätte hinüber und schien dorthin zurückkehren zu wollen.

»Warte!« Thekla hatte sich bereits in Bewegung gesetzt und hielt im Laufschritt auf die kleine Gruppe zu. Obwohl sie nur eine kurze Strecke zurückzulegen hatte, kam sie außer Atem bei Hilde, Wally und Ali an.

Hilde sah sie halb erstaunt, halb spöttisch an. »Was verschafft uns die Ehre?«

Thekla gönnte ihr nur einen kurzen Seitenblick, wandte sich mit dringlicher Geste an Ali. »Was ist aus den Besitzern des Campers geworden? Wie geht es ihnen? Mussten sie ins Krankenhaus?«

Alis Gesichtsausdruck veränderte sich jäh. Seine Miene wurde undurchdringlich.

Das genügte als Antwort.

Thekla lehnte sich an den Fichtenstamm und atmete schwer, während sie versuchte, ihres Entsetzens Herr zu werden.

»Offenbar waren sie bereits tot, als das Feuer ausgebrochen ist«, sagte Ali schließlich.

Thekla sah ihn verständnislos an. »Aber wie sollen sie schon vorher …« Sie wusste nicht weiter.

»Wir haben es mit Mord zu tun.« Hildes Stimme klang sachlich.

Thekla fühlte ihre Beine einknicken. Sie ließ sich den Fichtenstamm entlang nach unten gleiten, bis sie auf dem Boden hockte, dann legte sie die Stirn auf die Knie.

Nach einer Weile spürte sie Wallys weiche Hand auf ihrer Schulter. »Was ist mit dir, Thekla? Warum nimmt es dich gar so schlimm mit?«

»WÜM LH 222«, brachte Thekla mit Mühe hervor.

»Das steht auf dem Kennzeichen, das der Spusi-Mann vorhin gefunden hat«, sagte Ali verdutzt. »Was ist damit?«

»Waldmünchen – Laura und Hannes.« Thekla hob den Kopf, suchte erst Wallys, dann Hildes Blick. »Ich habe euch doch von den beiden erzählt.«

Wally war blass geworden.

Hilde schnappte nach Luft. »Willst du damit sagen, dass es sich bei dem ausgebrannten Fahrzeug um das Wohnmobil der jungen Leute handelt, die schon ein paarmal in eurem Garten gecampt haben?«

»Laura und Hannes sind gut in den Vierzigern«, antwortete Thekla darauf mechanisch, was ihr nicht nur von Hilde einen irritierten Blick einbrachte.

Ali wandte sich der Brandstätte zu, wo die Kriminaltechniker weiter ihrer Arbeit nachgingen. »Franz müsste die Identität der Toten eigentlich bereits festgestellt haben. Das Ergebnis der Halterabfrage ist sicher auch schon da. So etwas dauert heutzutage ja nur ein paar Minuten.«

Offensichtlich hatte er die Person entdeckt, nach der er Ausschau gehalten hatte, denn er begann zu rufen und zu winken.

Thekla fühlte einen leichten Druck von Wallys Hand. »Kommissar Sandler ist der ermittelnde Beamte. Du erinnerst dich doch an ihn?«

Was für eine Frage. Selbstverständlich erinnerte sich Thekla. Es war ja noch nicht so lange her, dass Hilde, Wally und sie im Nationalpark Bayerischer Wald auf Mörderjagd gegangen waren. Auch damals hatte Sandler die Ermittlungen geleitet, und gemeinsam mit Ali hatte er sie aus höchster Gefahr gerettet, nachdem sie sich wieder einmal heillos in die Bredouille gebracht hatten.

Sandler war herübergekommen, trat zu ihnen und begrüßte sie. Als Ali die Frage nach dem Fahrzeughalter des Wohnmobils stellte, antwortete er, was zu befürchten gewesen war: »Hannes Möller, Furth im Wald, Gartenstraße 17. Bei den Opfern handelt es sich um ihn und seine Frau. Wir konnten die Ausweise sicherstellen.«

Damit war es amtlich.

Thekla bemerkte gar nicht, dass sie laut aufgestöhnt hatte.

Erst als sie Hilde in strengem Ton sagen hörte: »Jammern und Klagen bringt nichts, und außerdem ist gar keine Zeit dafür«, kam es ihr zu Bewusstsein.

»Reiß dich zusammen, Thekla«, fuhr Hilde fort. »Erklär dem Kommissar, woher du die Möllers kennst, und spuck aus, was du über sie weißt.«

Hildes Ton und Wortwahl ließen wie so oft zu wünschen übrig, aber sie hatte selbstverständlich recht, weswegen Thekla sich mühsam aufrichtete und stockend zu sprechen begann.

Obwohl sie etliche Pausen einlegte, wurde keine einzige Zwischenfrage gestellt. Und auch als sie mit ihrem Bericht zu Ende war, blieb es still, sodass sie mit matter Stimme nachschob: »Könnte es nicht doch ein Unfall gewesen sein?«

Sandler machte eine unbestimmte Geste. »Völlig sicher können wir natürlich erst sein, wenn alle Spuren ausgewertet sind und das Obduktionsergebnis vorliegt.« Er bedachte sie mit einem teilnahmsvollen Blick. »Aber es sieht ganz nach einem Tötungsdelikt aus.«

Thekla rutschte wieder am Fichtenstamm nach unten, bis sie erneut auf dem Boden saß. »Woran …«

Weiter kam sie nicht, doch Sandler schien auch so klar zu sein, was sie wissen wollte. »Das Feuer hat zwar im Innenraum der vorderen Fahrgastkabine großen Schaden angerichtet, den dahinterliegenden Wohnbereich, der davon abgetrennt ist, aber einigermaßen verschont. Weil der Brand zum Glück frühzeitig entdeckt und gelöscht wurde, ist das Fahrzeug im Großen und Ganzen einigermaßen intakt geblieben. Unsere Fachleute konnten deshalb recht schnell erkennen, dass jemand die Standheizung manipuliert hatte.« Einen Moment lang sah es so aus, als wolle er seine Ausführungen damit beenden, doch dann fuhr er in erklärendem Ton fort: »Sie wird durch einen zusätzlichen kleinen Dieselmotor versorgt. Wenn man weiß, wo man hinschauen muss, kann man sofort sehen, dass der Ableitungsschlauch zum Wohnbereich gelegt worden ist, sodass die Abgase dort eindringen konnten.«

Sandler sah Thekla mit müden Augen an. »Kohlenmonoxid ist geruchlos und tötet schnell … Was später den Brand ausgelöst hat, ist noch nicht geklärt, spielt aber eigentlich auch keine Rolle. Unsere Fachleute vermuten, dass durch die Manipulation die Elektrik beschädigt wurde, was wiederum einen Kurzschluss verursacht hat. Fakt ist jedenfalls, dass die beiden Opfer nicht verbrannt, sondern schon vor Ausbruch des Feuers an einer Kohlenmonoxidvergiftung gestorben sind.«

»Ich muss Heinrich informieren«, sagte Thekla unglücklich und versuchte, das Mobiltelefon aus ihrer Tasche zu angeln.

Wallys heftiges »Aber nicht hier und jetzt« ließ sie innehalten. Verwirrt blickte sie auf.

»Du kannst nicht länger auf dem kalten Erdboden sitzen bleiben«, belehrte Wally sie streng. »Da holst du dir einen Schnupfen, wenn nicht Schlimmeres.«

Sandler, Ali, sogar Hilde nickten beipflichtend.

»Wir könnten zum Dreisesselhaus hinübergehen und uns in die Gaststube setzen«, schlug Wally vor. »Viel Betrieb wird dort hoffentlich nicht sein.«

Erneut fand sie uneingeschränkte Zustimmung.

»Franz wird sicher noch ein paar Fragen an Thekla haben«, sagte Ali.

Sandler bedachte die drei Damen mit einem strengen Blick. »Ich habe durchaus noch Fragen. Vor allem aber habe ich Instruktionen, die verhindern werden, dass ihr euch wieder so reinreitet wie seinerzeit am Baumwipfelpfad. Das möchte ich auf keinen Fall noch mal erleben.«

Er sah abwartend in die Runde, konnte aber nicht einmal ein Nicken verbuchen.

Wally studierte ihre Schuhspitzen, Hilde betrachtete einen Riss im Absperrband, und Thekla war schwer damit beschäftigt, auf die Beine zu kommen.

2

Hilde stellte mit Befriedigung fest, dass die Gaststube im Dreisesselhaus nur schwach besetzt war. Ein älterer Herr saß an einem Fenstertisch vor einer Tasse Kaffee, ein junges Paar hatte es sich in einer Ecke bequem gemacht, und zwei Männer in Radrennfahreroutfit ließen sich gerade in der Nähe des Eingangs nieder.

Zielbewusst steuerte sie auf den Tisch zu, der von allen anderen Gästen am weitesten entfernt stand, nahm Platz und hoffte, dass Thekla, Wally und Sandler nicht lange auf sich warten lassen würden. Ali hatte sich bereits verabschiedet, weil er irgendwo noch einen weiteren Ortstermin wahrnehmen musste. Thekla hatte sich draußen einen windgeschützten Winkel gesucht, um zu telefonieren. Wally hatte es sich nicht nehmen lassen, auf den Gipfelfelsen zu steigen, wo sie sich unbedingt die drei Sessel anschauen wollte. Hilde hatte schlecht etwas dagegen vorbringen können, weil Sandler sich ohnehin noch ein paar Minuten ausgebeten hatte, um an den Tatort zurückzukehren. Er wollte aber so bald wie möglich herkommen.

Sie bestellte sich erst einmal einen Kräutertee, nach der Besprechung mit Sandler würde man dann gemeinsam überlegen, ob es nicht am gescheitesten wäre, gleich hier zu Mittag zu essen.

Den momentanen Stillstand nutzend, lehnte sie sich zurück und ließ sich die Informationen durch den Kopf gehen, die ihr bis jetzt zugeflossen waren: Ein Touristenpaar war auf dem Dreisesselparkplatz getötet worden. Vorsätzlich, denn die Manipulation an der Standheizung schloss eine Tat im Affekt eigentlich aus. Ob der anschließende Brand beabsichtigt gewesen war, ließ sich offenbar nicht mit Gewissheit sagen, spielte aber – wie Sandler bereits erwähnt hatte – keine entscheidende Rolle. Als bedeutsam hingegen war zu vermerken, dass der Täter den Möllers bis zum Parkplatz gefolgt sein oder sie da erwartet haben musste.

Oder käme auch ein zufälliges Zusammentreffen in Frage?, überlegte sie kurz, glaubte das aber verneinen zu dürfen.

Der Täter war ohne Zweifel planvoll vorgegangen, was ein Motiv voraussetzte, das schon seit einiger Zeit existierte. Wie dieses Motiv aussehen mochte, lag erst einmal völlig im Dunkeln. Um es ans Licht zu bringen, war vermutlich mühselige Ermittlungsarbeit nötig. Dass Thekla und Heinrich mit den beiden Opfern bekannt gewesen waren, würde die Sache hoffentlich erleichtern.

»Heinrich wollte auf der Stelle herkommen.« Theklas Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

»Er wollte sich auf den Weg hierher machen, um bei den Ermittlungen zu helfen?« Hilde musste ein Grinsen unterdrücken.

Ausgerechnet Heinrich, der sich aus allen früheren Mordfällen, so gut es ging, herausgehalten, der auch Thekla, die ohnehin nie begeistert mitgemacht hatte, soweit irgend möglich abgeschirmt hatte, ausgerechnet Heinrich drängte sich diesmal geradezu auf?

Thekla hatte mittlerweile Platz genommen. »Er wollte sofort losfahren, hat sich dann aber bereit erklärt, erst einmal abzuwarten, was sich bei unserer Besprechung mit Sandler ergibt. In der Zwischenzeit will er mit Lauras Vater telefonieren.«

»Und ihm die Nachricht vom Tod seiner Tochter zukommen lassen?«, fragte Hilde erstaunt.

Thekla schüttelte den Kopf. »Heinrich geht davon aus, dass Egon bereits informiert ist.«

»Da müssten die Bullen vor Ort aber einen Blitzstart hingelegt haben«, entfuhr es Hilde, was ihr einen indignierten Blick einbrachte.

»Meinst du nicht, dass Sandler die Kollegen in Furth im Wald eingeschaltet hat, sobald die Ausweise der Toten sichergestellt waren?«, sagte Thekla schließlich kühl. »Und dass die dann unverzüglich gehandelt haben?«

Wallys Eintreffen enthob Hilde einer Antwort.

Sichtlich außer Atem setzte Wally sich an den Tisch. Offenbar hatte sie sich sehr beeilt, um bloß nicht zu spät zu kommen, und sie machte eine schuldbewusste Miene, obwohl es keinen Grund dafür gab, weil Sandler ohnehin noch fehlte.

So ist sie, ging es Hilde durch den Kopf. Wenn sie sich wirklich einmal nach eigenen Plänen richtet, dann plagt sie hinterher das schlechte Gewissen.

Sie lächelte ihr beruhigend zu. »Na, hast du alle drei Sessel ausprobiert?«

Wally wirkte erleichtert, holte noch einmal tief Luft. »Es sieht tatsächlich so aus, als wären drei Thronsessel in den Felsen gehauen. Bequem sind sie allerdings nicht.« Ihr Blick richtete sich nach innen. »Man kann sich wirklich gut vorstellen, dass es so war, wie die Sage erzählt: Drei Prinzen sitzen dort oben und teilen das Land unter sich auf. Sie sind selbstsüchtig und hartherzig. Wenn der Wind in die Bäume und zwischen die Felstrümmer fährt, glaubt man die Prinzessinnen klagen zu hören, denen sie so übel mitgespielt haben.«

Bevor Hilde sich über Wallys Gefühlsduselei mokieren konnte, trat Sandler an den Tisch, nahm Platz und fackelte nicht lang. »Nun also, Thekla. Was können Sie uns außer dem, was Sie auf dem Parkplatz schon erwähnt haben, über die beiden Mordopfer berichten?«

Hilde zweifelte nicht daran, dass Thekla ihr Bestes tat, aber allzu viel schien sie über Laura und Hannes Möller nicht zu wissen.

»Sie haben, wie gesagt, dreimal bei uns im Garten gecampt«, begann Thekla, »und wir haben jeweils einen Abend zusammen verbracht. Seit mir klar ist, dass wir nach ihrem Mörder suchen, versuche ich mich zu erinnern, was sie bei unseren Gesprächen über sich erzählt haben.« Sie schien zu überlegen, womit sie anfangen sollte, und sagte schließlich: »Die beiden wohnen in einer Randsiedlung von Furth im Wald, und wenn ich es richtig verstanden habe, lebt auch Lauras Vater Egon nur einen Katzensprung entfernt. Hannes arbeitet im nahe gelegenen Waldmünchen in der Buchhaltung irgendeiner Firma, Laura im Further Tourismusbüro. Kinder haben die beiden nicht. In ihren Jobs schienen sie ganz gut zu verdienen, denn ihr Haus, von dem sie uns einmal Fotos gezeigt haben, hat recht nobel auf mich gewirkt. Wintergarten, breite überdachte Terrasse mit exklusiver Grillstation, Loungemöbeln und Relaxliegen, Pool, Gartendusche … Ein Anwesen wie aus ›Schöner Wohnen‹.«

Hilde winkte ungeduldig ab. »Wie kommt es, dass sie auf ihren Urlaubsreisen so regelmäßig bei euch Station gemacht haben?«

»Das lag zum einen daran, dass sie von Egon immer etwas für uns abzugeben hatten, zum anderen daran, dass Eging abgesehen von einem kleinen Umweg auf ihrer Strecke lag.«

»Das heißt, sie waren jedes Mal unterwegs nach Tschechien?«, fragte Hilde.

»Beim ersten Mal nach Krumau, im Jahr darauf nach Budweis und heuer zum Moldaustausee«, erklärte Thekla.

»Krumau, Budweis, Moldaustausee.« Hilde kramte in ihrem Gedächtnis. »Die beiden Orte und der Stausee liegen in einem Umkreis von schätzungsweise fünfzig Kilometern. Das kann man alles innerhalb eines Nachmittags besichtigen. Ein einmaliger Aufenthalt von einem halben Tag würde mir demnach einleuchten. Aber ich frage mich, wozu jemand drei Jahre in Folge dort hinfahren sollte. Wie lange wollten die Möllers denn jeweils bleiben?«

Thekla zuckte die Schultern. »Zwei Wochen, soweit ich weiß. Die Zwischenstopps eingerechnet.«

Hilde spürte einen gewissen Argwohn aufkommen, den sie jedoch nicht zu greifen wusste. Sie blickte zu Kommissar Sandler hinüber, der jedoch schweigend dasaß und erst einmal abzuwarten schien. Schließlich tastete sie sich auf dem eben eingeschlagenen Weg weiter vor. »Was macht ein halbwegs junges Paar zehn Tage lang in Budweis, Krumau oder am Moldaustausee? Weißt du, ob sie am See an eine bestimmte Stelle wollten?«

Thekla nickte. »Sie haben von einem Campingplatz gesprochen, der sehr schön sein soll. Ich glaube, er liegt am nördlichen Ende.« Sie dachte eine Weile nach. »Laura hat auch den Namen des Ortes erwähnt, zu dem er gehört, aber ich komme leider nicht mehr drauf. Heinrich könnte ihn noch wissen. Er –«

»Wir werden uns später bei Heinrich danach erkundigen«, schnitt ihr Hilde das Wort ab. »Im Augenblick beschäftigt mich die Frage, was die Möllers dazu bewogen haben konnte, knapp zwei Wochen in einem schier unbewohnten Gebiet zu verbringen, in dem es weder besondere Sehenswürdigkeiten noch lohnenswerte Wandertouren und erst recht keine kulturellen Veranstaltungen gibt.«

»Aber Krumau ist doch für seine Musikfestivals bekannt«, wandte Wally ein. »Es gibt dort sogar ein Freilichttheater mit einer drehbaren Zuschauertribüne. Das habe ich in einer Zeitschrift …«

Hildes scharfer Blick ließ sie verstummen. »Wir reden gerade vom nördlichen Ende des Moldaustausees, falls du es nicht mitbekommen haben solltest. Und das ist meines Wissens nicht gerade für seine kulturellen Highlights bekannt. Also was wollten die Möllers tagelang da? Zum Baden ist es noch zu kalt. Segeln? Surfen? Hatten sie ein Boot dabei? Surfbretter?«

Thekla verneinte.

Sandler räusperte sich und beugte sich vor. Als sich Hilde, Thekla und Wally ihm zuwandten, konnten sie sehen, dass sich deutliche Falten in seine Stirn gegraben hatten. »Die Frage, was das Paar alljährlich nach Tschechien getrieben hat, erscheint mir mehr als berechtigt«, sagte er gedankenvoll. Die Falten vertieften sich noch. »Ich kann allerdings nicht einfach nach Tschechien fahren und dort Ermittlungen anstellen, sondern müsste die tschechischen Kollegen offiziell um Amtshilfe bitten. Das würde Zeit kosten. Und was sollte ich denen genau sagen? ›Kriegt doch mal für mich raus, warum Laura und Hannes Möller in einem gottverlassenen böhmischen Landstrich so um die zehn Tage lang gecampt haben‹?«

Von Wally kam ein nervöses Kichern, das Hilde wiederum mit einem strengen Blick ahndete.

Dann sagte sie maliziös: »Du wirst unsere Hilfe brauchen, Franz.«

Daraufhin herrschte Stille, denn es dauerte einige Zeit, bis alle sich von den beiden Botschaften erholt hatten, für die ihr dieser kurze Satz genügt hatte.

Die erste lautete: Kommissar Sandler wird ab sofort mit Vornamen angesprochen und geduzt. Die zweite: Wer wäre besser dazu geeignet, die erforderlichen Ermittlungen im Nachbarland zu übernehmen, als drei hinlänglich erprobte ältere Damen aus dem schönen Niederbayern?

Thekla und Wally sahen eindeutig schockiert aus. Sandler wirkte hin- und hergerissen. Hilde hatte ein Problem für ihn gelöst, ihm dafür aber womöglich ein größeres eingebrockt. Hatte er nicht verhindern wollen, dass sie sich wieder eigenmächtig in Ermittlungen stürzten?

»Du willst doch nicht –«, begann Wally, doch Hilde ließ sie nicht ausreden.

»Mach dir nicht gleich wieder in die Hose, weil du keine Zahnbürste dabeihast. Diesmal bekommst du noch Gelegenheit zu packen. Wir fahren nämlich erst mal wie geplant zurück nach Hause. Ich muss sowieso noch eine geeignete Route heraussuchen und nachsehen, wo wir am besten nach Tschechien einreisen. Direkt im Dreisesselgebiet gibt es, soweit ich weiß, keinen Übergang für den Fahrzeugverkehr. Man muss also entweder nach Süden ausweichen oder nach Norden.« An Thekla gewandt sagte sie: »Vergiss nicht, nachzufragen, wie der Ort mit dem Campingplatz heißt, zu dem die Möllers wollten.« Zu Wally meinte sie dann scharf: »Du, Wally, verklickerst deinem Sepp, dass du auf unbestimmte Dauer verreisen wirst. Und fang jetzt nicht an, deswegen zu lamentieren.«

Sandler hatte schweigend zugehört. Nun warf er einen Blick auf seine Armbanduhr, deren Zeiger ziemlich genau auf zwölf standen. »Ihr wollt euch also gleich auf den Heimweg machen?«

Hilde blickte zu Thekla und Wally, als müsse sie sich deren Einverständnis sichern. »So eilig haben wir es nun auch wieder nicht. Auf jeden Fall essen wir erst einmal was. Vielleicht gehen wir dann noch ein bisschen spazieren. Zum Hochstein hinüber ist es ja nicht weit.« Halb zu sich selbst fügte sie hinzu: »Der Plöckenstein wäre allerdings das lohnendere Ziel.«

Sandler nickte zerstreut und machte Anstalten, sich zu erheben, doch dann schien ihm noch etwas einzufallen. Sein Gesichtsausdruck zeigte Besorgnis. »Ich kann nicht behaupten, dass mir die Sache gefällt, und eins müsst ihr mir hoch und heilig versprechen: keine Aktionen ohne Absprache mit mir. Keine Alleingänge. Ich will über jeden eurer Schritte informiert sein. Will wissen, wo ihr euch jeweils aufhaltet und mit wem ihr in Kontakt tretet. Auf meinem Handy könnt ihr mich Tag und Nacht erreichen.« Er schaute sie der Reihe nach an. »Habe ich darauf euer Wort?«

Die drei nickten einmütig. Und es sah ganz so aus, als meinten sie es ehrlich.

Als die Mehlspeisen serviert wurden – Hilde hatte sich Kaiserschmarrn bestellt, und Thekla und Wally waren ihrem Beispiel gefolgt –, begann sie die Bedienung über die Möllers auszufragen.

War das Paar im Dreisesselhaus eingekehrt?

Das war es offenbar, denn die Frau erinnerte sich gut an die beiden. Außer ihnen waren im Laufe des gestrigen Tages nur noch ein einzelner Wanderer und ein älteres Paar da gewesen.

»Haben die beiden mit jemandem gesprochen? Haben sie irgendetwas über sich erzählt? Was für einen Eindruck haben sie gemacht? Glücklich? Ängstlich? Besorgt oder unbekümmert?« Hilde feuerte ihre Fragen so schnell ab, dass die Bedienung mit dem Antworten kaum nachkam und erst recht keine Zeit hatte, darüber nachzudenken, warum sich die alte Schachtel für all das interessierte.

Ihrer Aussage zufolge waren Laura und Hannes Möller also tatsächlich am frühen Mittwochabend im Dreisesselhaus eingekehrt, hatten Tee getrunken und eine Kleinigkeit gegessen. Offenbar hatten sie so gewirkt, als hätten sie eine lange Wanderung hinter sich: erhitzt, ein wenig erschöpft und ein bisschen steifbeinig. Sie hatten weder besonders glücklich noch besonders unglücklich gewirkt, aber anscheinend eine Menge wichtiger Dinge zu besprechen gehabt, denn sie hatten dauernd die Köpfe zusammengesteckt. Mit anderen Gästen hatten sie sich definitiv nicht unterhalten, weil zu der Zeit keine da gewesen waren.

»Aber jetzt wünsche ich erst mal guten Appetit«, sagte die Bedienung abschließend. »Wäre doch schade, wenn Sie Ihren Kaiserschmarrn kalt werden lassen. Falls Sie mehr Preiselbeeren dazu möchten, bringe ich gern noch ein Schüsselchen voll nach.« Damit zog sie sich zurück.

Nach dem Essen entspann sich zwischen Thekla, Hilde und Wally ein kurzer Disput über die Frage, wer an der Reihe war, die Rechnung zu begleichen.

»Du übernimmst ja eh die Kosten für den Sprit«, sagte Wally, und Thekla nickte dazu.

Aber Hilde gab nicht nach. »Ich habe euch zu dem Ausflug eingeladen und damit basta.«

Wenig später standen sie draußen auf dem kleinen Plateau und blickten den Hügelkamm entlang. Wenn sie ihm in nördlicher Richtung folgten, würden sie innerhalb kurzer Zeit zum Hochstein gelangen, einem bizarren Felsaufbau mit einem Kreuz auf der Spitze. In südlicher Richtung, allerdings gut eineinhalb Wegstunden entfernt, lag der Plöckenstein. Sein Gipfelkreuz befand sich exakt auf der Grenzlinie. Auf tschechischer Seite fiel der Berghang steil zum Plöckensteinsee ab, der rund dreihundert Höhenmeter tiefer lag.

Hilde sah auf ihre Armbanduhr. »Wir hätten eigentlich noch Zeit genug, um den Plöckenstein anzupeilen.« Als sie Wally aufseufzen hörte, fügte sie hinzu: »Die Wanderung ist wirklich nicht besonders anstrengend, weil der Weg immer am Hügelkamm entlangführt. Es geht zwar ein bisschen auf und ab, aber nie wirklich steil. Höchstens die letzten zwanzig Meter zum Felsgipfel hinauf könnten ein wenig mühsam werden.«

Gottergeben rückte Wally das kleine Rucksäckchen zwischen ihren Schulterblättern zurecht, das unmöglich mehr als eine Regenjacke und eine Halbliter-Trinkflasche enthalten konnte, und fügte sich ins Unvermeidliche. Sie wusste natürlich ganz genau, dass ihr Widerworte nichts einbringen würden.

Von Theklas Seite hatte Hilde ohnehin nicht mit Einwänden gerechnet.

Doch die meldete sich mit fester Stimme. »Versprichst du dir etwas Bestimmtes von der Tour zum Plöckenstein?«

Nicht wirklich, dachte Hilde. Sie wollte eigentlich nur einem heftigen Drang nach Bewegung nachgeben und hatte nicht speziell darüber nachgedacht, ob die Tour ihren Ermittlungen förderlich sein könnte. Jetzt tat sie es und sagte schließlich: »Im Nationalpark rennen doch überall diese Ranger herum. Vielleicht treffen wir einen, der die Möllers gestern auf dem Kammweg oder am Plöckenstein gesehen, möglicherweise sogar mit ihnen gesprochen hat.« Sie stach den Zeigefinger in die Luft. »Vielleicht hat er sie sogar mit jemandem zusammen gesehen.«

»Soweit ich weiß, gehört der Dreisessel nicht zum Nationalpark«, sagte Thekla trocken.

Damit lag sie richtig, wie Hilde recht gut wusste. Der Nationalpark erstreckte sich laut Gebietskarte von Bayerisch Eisenstein im Norden bis Mauth im Süden. Der Dreisesselberg befand sich aber noch ein schönes Stück weiter südlich von Mauth. Ranger würden hier nicht mehr patrouillieren.