Mord mit Buttercreme - Jutta Mehler - E-Book

Mord mit Buttercreme E-Book

Jutta Mehler

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Beschreibung

Cowboyhut statt Kuchengabel: eine herrliche Krimikomödie mit Herz, Spannung und Witz. Ein neuer Fall für Thekla, Hilde und Wally. Doch diesmal weht ein ganz anderer Wind. Rote Feder, ein Indianer aus der Westernstadt Pullman City, ist spurlos verschwunden. Um Licht ins Dunkel zu bringen, tauchen die drei munteren Hobbyermittlerinnen in eine völlig andere Welt ein. Kommen sie im Wilden Westen zurecht, oder wird für sie schon bald das Lied vom Tod gespielt? Denn tatsächlich geraten sie nicht nur einmal in Lebensgefahr . . .

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Jutta Mehler, Jahrgang 1949, hängte frühzeitig das Jurastudium an den Nagel und zog wieder aufs Land, nach Niederbayern, wo sie während ihrer Kindheit gelebt hatte. Seit die beiden Töchter und der Sohn erwachsen sind, schreibt Jutta Mehler Romane und Erzählungen, die vorwiegend auf authentischen Lebensgeschichten basieren, sowie Kriminalromane.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen – abgesehen von Alois Schraufstetter – sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit anderen lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht gewollt.

© 2017 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: iStockphoto.com/vvvita

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, Tobias Doetsch

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-287-8

Originalausgabe

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www.emons-verlag.de

Dieser Roman wurde vermittelt durch die Aulo Literaturagentur.

Ich habe das wilde Pferd eingefangen und festgehalten, den Sattel aufgelegt und mich auf seinen Rücken geschwungen.

Wild Bronc Peeler

1

Mittwoch, der 10. August, am frühen Nachmittag bei Thekla zu Hause

»Die Buttercreme ist grieselig.« Thekla war den Tränen nahe.

Heinrich trat neben sie und warf einen Blick in die Schüssel, in der sie verzweifelt rührte. »Stimmt.« Er tauchte einen Finger hinein und leckte ihn ab. »Schmeckt aber gut.«

»Kann ich unmöglich verwenden.«

»Warum denn nicht?«, fragte er erstaunt. »Schokopudding mit winzigen Butterklümpchen drin. Schmeckt lecker und sieht originell aus.«

Thekla warf den Rührlöffel ins Spülbecken. »Damit würde ich mich vor Hilde, ganz besonders aber vor Wally bis auf die Knochen blamieren und auf ewig zum Gespött machen. Ich muss auf der Stelle zum Bäcker.« Sie sah auf das Display am Herd, das 11:51 Uhr anzeigte. »Noch eine gute Stunde, bis sie da sind.«

Heinrich verfolgte die Schüssel, die im Kühlschrank verschwand, mit begehrlichen Blicken. »Und was wird aus der Torte, die du –«

Thekla schob ihn aus dem Weg. »Überleg ich mir – aber nicht jetzt.«

Heinrich und sie hatten vor wenigen Monaten ihren Neubau in Eging am See bezogen. Hell, modern, funktionell. Schon seit einiger Zeit waren sie fertig eingerichtet, und Thekla hatte endlich Hildes und Wallys Drängen nachgegeben. Statt im Krönner würde das wöchentliche Kaffeekränzchen der drei Damen heute in ihrem neuen Heim stattfinden.

Nachdem sie mit etlichen Tüten vom Bäcker zurückgekehrt war, machte sie sich ans Tischdecken.

»Soll ich die Kaffeemaschine anwerfen?«, fragte Heinrich, als sie fertig war.

Thekla verdrehte die Augen. Als ob sie nicht selbst in der Lage wäre, auf den Startknopf zu drücken.

»Lass lieber die Gäste herein«, rief sie, denn in diesem Augenblick klingelte es an der Tür.

Heinrich klappte seinen Laptop zu, erhob sich, ging hinaus und öffnete.

Thekla hörte ihn all die freundlichen Worte sagen, mit denen man Besucher üblicherweise willkommen heißt, bemerkte in seinem Ton jedoch eine plötzliche Anspannung, die sie verblüffte.

Als sie in den Flur trat, um ihrerseits die Gäste zu begrüßen, wurde ihr klar, was ihren Mann irritierte.

Ohne ihr Vorhaben in irgendeiner Weise anzukündigen, hatten Hilde und Wally den Kreisbrandrat mitgebracht – und das verhieß garantiert nichts Gutes.

»Rote Feder ist verschwunden«, sagte Ali mit bebender Stimme. Er stützte sich mit der Hand am Türrahmen ab, als fürchte er, die Beine könnten ihm einknicken. Seine Augen waren geweitet, sein Blick wirkte gehetzt, verstört, entgeistert.

In Theklas Kopf blitzten mehrere Szenarien auf, die ihn in einen derartig beängstigenden Zustand versetzt haben konnten: ein Sturz von der Feuerwehrleiter, ein traumatischer Rettungseinsatz, ein Großbrand, dem nicht beizukommen war …

Oder war Ali einfach verrückt geworden?

Thekla sah Hilde fragend an, was mit einem ungeduldigen Hochziehen der Augenbrauen beantwortet wurde. Als sie den Blick zu Wally weitergleiten ließ, fand er Tränen.

»Kommt erst mal rein«, sagte sie seufzend.

Sie führte die drei in den L-förmigen Raum im Erdgeschoss, in dem Küche, Essecke und Wohnzimmer untergebracht waren und dessen Südseite fast nur aus Glas bestand. Breite Fenstertüren öffneten sich zur Terrasse und zum Garten hin.

Hilde, Wally und Ali trotteten geistesabwesend hinter ihr her, und Thekla seufzte erneut.

Dass sie zu dritt hier auftauchten, mit Gesichtern wie aus »Armageddon« – wie kam sie jetzt bloß auf den längst verblassten Kinohit? –, ließ definitiv Unheil ahnen.

Ging es um Ali? War er tatsächlich von Sinnen oder stand unter Schock? Aber warum brachten Hilde und Wally ihn dann hierher? Gehörte er nicht eher in ärztliche Behandlung?

Heinrich rückte für die Gäste drei Stühle am Esstisch zurecht. »Kaffee? Tee? Wasser?«, fragte er beflissen.

Hilde wedelte gereizt mit der Hand. »Stell eine Flasche Wasser auf den Tisch und dann setz dich her. Wir haben was Ernstes zu besprechen. Dringend.«

Heinrich machte eine knappe Verbeugung, wie ein Butler in einem alten englischen Film, dann wandte er sich dem Küchenblock zu, um Gläser aus einem Hängeschrank zu holen. Als er an Thekla vorbeiging, berührte er ihren Arm und rollte die Augen.

Sie folgte ihm und brachte die Gläser an den Tisch, während Heinrich in den kleinen Raum neben der Haustür eilte, wo sich ein Getränkekühlschrank befand.

Als schließlich jeder ein gefülltes Glas vor sich stehen hatte, sagte Hilde in dem Kommandoton, den Thekla so an ihr hasste: »Setz dich endlich, Heinrich, damit wir mal zur Sache kommen können.«

Er gehorchte eilig.

Wenn Hilde in die Kasernenhof-Rolle schlüpfte, tat man gut daran, ihr zu Willen zu sein, bis wieder vernünftig mit ihr zu reden war. Damit konnte man normalerweise rechnen, sobald höflichen Umgangsformen Genüge getan war.

Kaum hatte Heinrich Platz genommen, schenkte Hilde ihm keine Beachtung mehr. Stattdessen fixierte sie Ali. »Erzähl es ihnen, los.«

Ali holte Luft, versuchte zu sprechen, brachte jedoch nur ein Krächzen heraus. Er griff nach seinem Wasserglas.

Theklas Befürchtungen erklommen neue Höhen. Der sonst so besonnene Alois Schraufstetter war zum Spielball rätselhafter Emotionen geworden. Seit sie ihn kannte, hatte sie ihn – auch in noch so brenzligen Situationen – nie anders als abgeklärt erlebt.

Als früherer Feuerwehrkommandant und jetziger Kreisbrandrat hatte er sich in jeder Lage letzten Endes so unerschütterlich zu zeigen wie ein sibirischer Leitwolf. Überlegenheit, Haltung, Selbstkontrolle. Diese Befähigungen sollte man wohl von ihm erwarten können.

Und jetzt das.

»Ich hätte die Sache nicht hinausschieben dürfen.« Ali hatte seine Stimme wiedergefunden. »Es war ihm wichtig, das ist mir schon klar gewesen. Aber ich hatte gerade keine Zeit. Ich bin schuld, wenn …« Er ließ offen, woran er sich schuldig glaubte.

»Ali fühlt sich persönlich dafür verantwortlich, dass Rote Feder verschwunden ist«, sagte Hilde in einem Tonfall, als wäre damit alles erklärt.

»Ach, Ali«, begann Wally zu schluchzen. »Du darfst dich nicht so damit quälen, dass Rote Feder nicht aufzufinden ist. Hilde und Thekla und Heinrich und ich, wir werden –«

In diesem Moment platzte Thekla der Kragen. »Kann mir einer von euch dreien endlich mal erklären, worum es eigentlich geht? Sitzt ihr hier und führt eine Tragödie auf, weil Ali eine rote Feder verloren hat? Seid ihr plemplem, oder gibt es einen vernünftigen Grund, eine Katastrophe daraus zu machen?«

»Rote Feder heißt mit richtigem Namen Manuel Kramer, ist neunundzwanzig Jahre alt und seit seiner Jugend Feuerwehrmann«, antwortete Hilde schnell.

»Seit vier Tagen hat ihn niemand mehr gesehen«, fügte Wally tränenreich hinzu.

Heller Ärger ließ die Haut in Theklas Nacken kribbeln. Rote Feder war ein Mensch und hieß Manuel Kramer. Was sollte die Charade? »Hättet ihr doch gleich sagen können, dass es um einen jungen Mann geht. Was quatscht ihr dauernd von Rote Feder?« Sie gab ihren Gästen keine Gelegenheit, die Frage zu beantworten. »Dieser Kramer ist also seit vier Tagen von niemandem gesehen worden. Woher wisst ihr das denn so genau? Wen habt ihr denn nach ihm gefragt? Habt ihr alle seine Bekannten abgeklopft? Unmöglich. Wie denn? Woher solltet ihr die alle kennen?« Sie verstummte, weil sich ein Gedanke meldete, der eine Erklärung für das alles vorbrachte: Wenn sich Manuel Kramer »Rote Feder« nennt, kann er nicht ganz dicht sein.

Natürlich. Der Kerl war aus der Psychiatrie entlaufen.

Aber hatte Hilde nicht soeben gesagt, er sei Feuerwehrmann?

Es wurde wirklich Zeit, dass Ali Tacheles redete.

Thekla warf ihm einen scharfen Blick zu, und endlich gewann er seine Haltung zurück.

»Manuel stellt in seiner Freizeit den Prärie-Indianer ›Rote Feder‹ vom Stamm der Pawnee dar, den es tatsächlich gegeben haben soll.« Alis Stimme nahm einen dozierenden Ton an. »Der Vater von Rote Feder war Häuptling ›Einsamer Wolf‹, der um 1790 mit den Comanchen einen legendären Frieden schloss und eine Comanchin zur Frau nahm. Sie hieß ›Weiße Blume‹ und wurde die Mutter von Rote Feder. Ihr Tipi stand am Smoky Hill River. Rote Feder galt als tapferer Krieger und als gewandter Büffeljäger.«

Thekla blinzelte, als hätte ihr eine Bö Sand in die Augen geblasen. Dann sah sie hilfesuchend zu Heinrich hinüber.

Ali hat tatsächlich den Verstand verloren, sagte ihr Blick. Was sollen wir bloß tun? Und wieso sitzen Hilde und Wally mit einer Miene da, als merkten sie nicht, was für einen Schwachsinn er quatscht?

Sie blinzelte erneut, als sie Heinrich verständnisinnig lächeln sah.

Großer Gott. Heinrich …

Er nickte ihr schmunzelnd zu. »Wir sind doch neulich erst dort gewesen.«

»Am Smoky Hill River?« Aus Theklas Stimme war tiefes Entsetzen zu hören.

Heinrich gluckste. »In der Westernstadt, in Pullman City.«

Thekla brauchte eine Weile, bis ihr der Zusammenhang klar wurde.

Die Westernstadt. Ja, Heinrich und sie waren neulich dort gewesen. Sie erinnerte sich an die Werbebroschüre aus der Touristeninformation, die sie hingeführt hatte. »Pullman City, Home of Country and Cowboys« hatte der Aufdruck auf dem Deckblatt gelautet. Dem weiteren Text konnte man entnehmen, dass Pullman City sich mitnichten nur als Wildwestkulisse sah, sondern als »Lebende Stadt«. Unter anderem bot sie Hobbyisten eine Plattform, sich als Siedler oder Trapper darzustellen, als Marshal oder Deputy, als Viehzüchter oder eben als Indianer.

Diese »lebende Wildweststadt« lag ungefähr fünfunddreißig Gehminuten von ihrem neuen Heim entfernt, und vor etwa zwei Wochen hatten Thekla und Heinrich den ganzen Samstagnachmittag und sogar den Abend dort verbracht. Sie hatten sich die American History Show angesehen, waren über die Mainstreet spaziert und hatten einen Blick in die St. Josephs Church geworfen, wo der Friedensrichter soeben ein Paar traute, das »Vom Winde verweht« entsprungen schien. Die Braut trug ein Krinolinenkleid in Weiß mit rosa Bordüren, der Bräutigam eine Art Gehrock mit Weste und dazu schmale Hosen. Es ging sehr festlich zu. Der Friedensrichter hielt eine lange Ansprache, Lady Jill sang »Forever and Ever«, zwei Marshals bewachten das Kirchenportal.

Thekla fand die Feier schön und sagte sich, dass es schließlich egal sei, ob man sich von einem selbst ernannten Friedensrichter in einer künstlich geschaffenen Westernstadt oder vom Pfarrer in der Dorfkirche trauen ließ, Hauptsache, man meinte es ernst und ehrlich miteinander.

Bevor sie den Tag mit einem Abendessen bei Country-Musik im »Black Bison Saloon« beschlossen, waren Heinrich und sie noch durch den Authentikbereich geschlendert und hatten sich die Behausungen der Hobbyisten angesehen.

»Rote Feder hat sich am Rand der Westernstadt ein Erdhaus gebaut«, sagte Heinrich gerade in so überzeugtem Ton, als wäre er zu Feuerwasser und Pemmikan dort eingeladen gewesen.

Thekla fragte sich, woher Heinrich von diesem Erdhaus wusste. Hatte in der Broschüre etwas darüber gestanden? Hatte ihm jemand davon erzählt? Vage erinnerte sie sich, dass er irgendwann erwähnt hatte, er habe sich einige Zeit mit einem der Hobbyisten unterhalten, während sie auf der Suche nach den Toiletten gewesen war.

Ali nickte. »Und er hat es erstklassig hingekriegt.«

Wallys Mund formte ein »Aber«, doch Ali kam ihr zuvor. »Die Prärie-Indianer haben nicht nur Tipis benutzt. Einige Stämme wohnten – besonders in der kalten Jahreszeit – in Wigwams, andere in Erdhütten. Rote Feder hat sich für ein Erdhaus entschieden, weil Erde und Grassoden gut isolieren und für kalte, schneereiche Winter wohl am besten geeignet sind …« Seine Stimme versandete, ein träumerischer Ausdruck trat in seine Augen.

Wünschte er sich ab und zu in ein Erdhaus weit draußen in der Prärie?

Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: »Ihr solltet mal sehen, wie gemütlich das Erdhaus von Rote Feder ist. Silberquell hat es innen wunderschön ausgestattet.«

»Silberquell«, wiederholte Thekla resigniert und unterdrückte einen weiteren Seufzer, den sie gern ausgestoßen hätte. Was würde als Nächstes kommen?

»Silberquell ist die Partnerin von Rote Feder«, sagte Wally neunmalklug.

Theklas Brauen zogen sich bedrohlich zusammen, was Ali veranlasste, schleunigst zu erklären: »Silberquell heißt mit wirklichem Namen Ina West und arbeitet in der Westernstadt für den Pullman Kids Club.« Er warf ihr einen fast erschrockenen Blick zu. »Der Name ›West‹ ist original echt. Einer dieser seltsamen Zufälle halt.« Er räusperte sich. »Sie und Rote Feder haben sich voriges Jahr am Tag der Hochzeit von Marshal Sam Goodwater und einer Südstaatenschönheit namens Harriet Rutherford verlobt.«

»Herrgott noch mal«, stieß Thekla aus. Ein bisschen Maskerade war ja gut und schön. Aber tatsächlich eine Parallelwelt zu kreieren …

Wally ließ einen leisen Schmerzlaut hören, als hätte man sie in den Magen geknufft, aber Thekla achtete nicht auf sie. Wenn das so weiterging, würde sie Hilde mit gotteslästerlichen Flüchen sogar noch übertreffen, mochte Wally darüber klagen, so viel sie wollte. Für den Augenblick begnügte sie sich mit: »Das ist doch alles komplett überstiegen.«

»Es ist ein Rollenspiel wie ›Elvenar‹ oder ›Legends of Honor‹. Millionen Menschen identifizieren sich mit Figuren aus solchen Rollen- und Strategiespielen«, belehrte Ali sie.

Virtuell, dachte Thekla. Sie tauchen in eine virtuelle Welt ein. Aber sobald der Computer ausgeschaltet ist, steigen sie in einem gekachelten Badezimmer unter die Dusche und kriechen dann in einem gemauerten Zimmer in ihr Bett. Computerspieler quartieren sich nicht in einem Erdhaus ein, einem Wigwam, einem Iglu oder sonst was.

Sie verzichtete jedoch auf eine Entgegnung, weil sie einsah, dass es keinen Sinn hatte, eine Diskussion darüber anzufangen. Und überdies wäre sowieso keine Zeit dafür gewesen.

Ein junger Feuerwehrmann, Manuel Kramer – alias Rote Feder, Herrgott noch mal –, war also verschwunden, und Ali befürchtete … Ja was befürchtete er eigentlich? Sie fragte ihn danach.

»Dass was Schlimmes mit ihm passiert sein könnte«, antwortete Ali gepresst.

Mord? Das war Alis Spezialität. Er roch Tötungsdelikte wie Grizzlybären Honig.

Deshalb war er heute mitgekommen: um sie, Hilde und Wally dazu zu überreden, in Sachen Mord an Rote Feder zu ermitteln. Aus welchem anderen Grund hätte er an diesem Wochentag ohne Ankündigung hier auftauchen sollen?

Sie zog hastig Bilanz. Vieles war nun geklärt, vieles beantwortet. Aber längst nicht alles. Vor allem nicht das Wichtigste.

»Gibt es denn irgendwelche Hinweise auf ein Verbrechen?«, fragte sie. »Wenn ein junger Mann von der Bildfläche verschwindet, kann es doch alle möglichen Gründe dafür geben. Schlimmstenfalls hat er einen Unfall gehabt und liegt in einem Krankenhaus; bestenfalls ist er mit einer neuen Freundin auf die Bahamas geflogen.«

Bevor Ali darauf antworten konnte, brauste Hilde auf. »Hältst du uns für bescheuert? Natürlich haben wir einen Unfall in Betracht gezogen. Ali hat alle Hebel in Bewegung gesetzt und wäre informiert worden, wenn –«

»Manuels weißer Golf steht seit vier Tagen auf dem Parkplatz von Pullman City«, warf Ali mit dumpfer Stimme ein.

»Er könnte mit jemandem –«, begann Thekla.

Aber Hilde ließ sie nicht ausreden. »Er könnte auch entführt worden sein.«

»Rote Feder muss entführt worden sein«, ließ Wally sich hören. »Ali kennt den jungen Mann so gut, dass er es beschwören kann: Rote Feder würde Silberquell nicht ohne ein Wort zurücklassen.«

Das konnte Ali beschwören? Seit wann beeidete ein Kreisbrandrat Mutmaßungen?

Wie auch immer, offenbar war er sich sicher, dass der junge Mann nicht einfach abgetaucht war. Und offenbar hatte sich das Pärchen in der Westernstadt aufgehalten, als er verschwand.

Thekla wandte sich an Ali. »Was sagt denn Silberquell zu der ganzen Geschichte?«

»Sie macht sich wahnsinnige Sorgen«, antwortete er. »Natürlich hat sie Rote Feder als vermisst gemeldet. Aber was tut die Polizei schon groß in so einem Fall außer ein paar Routineanfragen hinausschicken?«

Vernünftigerweise abwarten, dachte Thekla.

»Gestern ist Ina zu mir gekommen«, fuhr Ali fort.

Warum ausgerechnet zum Kreisbrandrat?, fragte sich Thekla, als Ali schon erklärend hinzufügte: »Sie ist Feuerwehrfrau.«

Na und?, wollte Thekla sagen. Macht sie das zu deinem Mündel? Aber Ali sprach bereits weiter: »Ich kenne Ina und Manuel schon sehr lange. Seit sie in die Jugendfeuerwehr eingetreten sind, genau gesagt. Beide waren damals recht schüchtern. Ich habe sie unter meine Fittiche genommen, und mit der Zeit bin ich wohl so etwas wie eine Vaterfigur für sie geworden.«

Dass Ali das Mädchen »Ina« und den jungen Mann »Manuel« genannt hatte, besänftigte Thekla in gewisser Weise, denn es verschaffte dem Ganzen einen realen Anstrich.

Sie schrak auf, als Hilde ihr Glas, das sie gerade ausgetrunken hatte, mit einem Knall zurück auf den Tisch stellte. »Genug palavert. Höchste Zeit, etwas zu tun.«

»Nämlich?«, fragte Thekla trocken.

»Aber Thekla«, mischte sich Wally ein, »wir müssen doch Rote Feder schnellstens finden.« Eine Träne rollte über ihre Wange. »Vielleicht hat man ihn in eine Höhle gesperrt. Ohne Wasser. Ohne Essen. In Dunkelheit und Kälte.«

Diesmal unterdrückte Thekla den Seufzer nicht. Musste Wally unbedingt so theatralisch … Das Wort gab ihr einen Gedanken ein, der Aufmerksamkeit verlangte. Sie wendete ihn ein paarmal hin und her, dann entschloss sie sich, den Vorstoß zu wagen. »Könnte es sich nicht einfach um eine Inszenierung handeln?«

Drei Augenpaare sahen sie verständnislos an.

Sie richtete den Blick auf Heinrich und erkannte, dass er begriffen hatte. Sein melancholisches Lächeln zeigte ihr jedoch, was er von der Idee hielt.

»Erklärst du uns, was das heißen soll?«, fragte Hilde scharf.

Thekla überlegte, wie sie ihre Überlegung am anschaulichsten formulieren könnte. Schließlich sagte sie: »Ist Pullman City nicht eine riesige Bühne inmitten von täuschend echten Kulissen? Geht es nicht um Schauspielerei, um Spektakel?«

Ali schüttelte unwillig den Kopf. »Ina und Manuel würden mich niemals so zum Narren halten. Auf keinen Fall. Sie sind grundanständig und zuverlässig und –«

Bevor er weitere Attribute aufführen konnte, sagte Hilde barsch: »Du hast überhaupt nichts kapiert, Thekla.«

Selbst Wally klang brüsk. »Wie kannst du bloß denken, Rote Feder würde sich absichtlich verstecken und uns nach ihm suchen lassen? Das ist gemein von dir, Thekla.« Sie schaute hilfesuchend zu Heinrich, als erwarte sie, dass er Thekla den Kopf zurechtsetzte.

Heinrich wirkte nachdenklich. Ein unangenehmes Schweigen entstand, in das er schließlich sagte: »Es lässt sich wohl nicht abstreiten, dass wir es bei dieser ›lebenden Westernstadt‹ mit einer Inszenierung zu tun haben. Einem groß angelegten Rollenspiel, das aber nicht ohne ständigen Bezug zur Realität auskommt. Da könnte schon mal was aus dem Ruder laufen.«

Daraufhin war es lange Zeit still.

Ali griff nach seinem Glas, ließ den Rest des Wassers darin kreisen und starrte hinein, als erwarte er, Bilder daraus auftauchen zu sehen.

Wally schnäuzte sich in ihr Taschentuch, tupfte sich die Augen und machte ein betretenes Krötengesicht.

Hilde hatte zwei steile Falten auf der Stirn. Sie schaute durch Thekla hindurch auf einen Punkt, der gar nicht existierte.

Thekla straffte sich. Sie wusste, was als Nächstes kommen würde, und schon kam es.

Hildes Blick war von seiner Reise nach Nirgendwo zurückgekehrt und bohrte sich in Theklas Augen. »Genau deswegen sind wir hier. Wir müssen herausfinden, was tatsächlich geschehen ist. Und der Schlüssel dazu liegt in der Westernstadt.«

Damit war jedem weiteren Widerspruch der Krieg erklärt. Hilde würde keinen Einwand mehr gelten lassen. An die Gewehre, Marsch.

Sie machte bereits Anstalten, aufzustehen, aber Thekla hielt sie zurück. »Warte. Ich finde, Ali sollte uns erst einmal mit Informationen über Manuel Kramer und Ina West versorgen, bevor wir loslegen.«

»Hat er doch schon«, gab Hilde zurück.

»Was möchtest du noch wissen?«, fragte Ali.

»Wo wohnt der junge Mann, wenn er nicht Indianer spielt?«, begann Thekla. »Was macht er beruflich, wenn er nicht mit der Feuerwehr ausrücken muss? Hat er auch Freunde, die …«, sie schluckte »normal sind« hinunter und sagte stattdessen, »… nichts mit Rollenspielen am Hut haben? Was ist mit seinen Eltern? Wohnt er bei ihnen? Wie alt, hast du gesagt, ist er?«

Ali hielt beide Hände vor die Brust, als müsse er sich vor einem Pfeilhagel schützen. »So viele Fragen auf einmal. Wie soll ich denn die alle –«

»Am besten der Reihe nach«, unterbrach ihn Thekla.

Ali zuckte kurz zusammen, dann konzentrierte er sich und gab sich sichtlich Mühe, die gewünschten Antworten vorbildlich zu liefern. »Manuel ist Mechatroniker für Elektromaschinenbau und Automatisierung. Das macht ihn für die Feuerwehr besonders wertvoll. Er versteht eine Menge von Steuersystemen – elektrischen, pneumatischen, hydraulischen …« Ein Schnauben aus Hildes Richtung ließ ihn wieder zu Theklas Fragenkatalog zurückkehren. »Er arbeitet in einem großen Betrieb in Plattling, wo er eine Wohnung gemietet hat. Seine Eltern sind vor ein paar Jahren in die Nähe von Freiburg gezogen, weil das Klima da milder ist als bei uns in Niederbayern.«

Heinrich meldete sich per Handzeichen zu Wort.

Ali nickte, als hätte Heinrich seine Frage bereits ausgesprochen. »Ja, Ina hat sie angerufen. Sie haben nichts von ihm gehört.« Er machte eine kurze Pause. »Dabei hatte Manuel für vorigen Sonntag einen Besuch bei ihnen angekündigt.«

»Das wäre vor drei Tagen gewesen«, konkretisierte Hilde.

Damit brachte sie Ali aus dem Konzept. Er rieb sich mit den Fingerspitzen über die Stirn, wie um sich auf Weiteres zu besinnen. »Manuel ist neunundzwanzig«, sagte er dann lahm und verstummte wieder.

»Freunde«, half ihm Thekla auf die Sprünge.

Ali zögerte kurz. »Bei seinen Kameraden von der Feuerwehr ist Manuel durchweg beliebt. Aber mir kam es nicht so vor, als ob er besonders enge Freundschaften geschlossen hätte. Allerdings habe ich zur Mannschaft jetzt viel weniger Kontakt als früher.«

So gut wie keinen wohl, dachte Thekla. Als Kreisbrandrat hatte Ali sicherlich andere Aufgaben, als sich um die Truppe zu kümmern.

»Aber ich habe natürlich herumgefragt«, fuhr er fort. »Am Montag ist Manuel nicht zum Kameradschaftsabend gekommen. Zwei oder drei Leute haben versucht, ihn anzurufen, aber sein Handy war abgeschaltet.«

Thekla konnte geradezu hören, was er dachte, jedoch nicht aussprach: abgeschaltet oder zerstört.

»Am Dienstag in der Früh«, berichtete Ali weiter, »hat die Einsatzleitung versucht, Manuel aufzutreiben, weil die Hydraulik am Spritzwagen nicht funktioniert hat. Gegen Mittag haben sie es aufgegeben und einen Spezialisten aus Straubing kommen lassen. Und gestern …« Er brach ab. »Spielt ja eigentlich keine Rolle.«

»Was war denn gestern?«, fragte Heinrich sanft.

»Daniel und Helmut haben seinen Spind aufgebrochen.« Die Antwort war Ali sichtlich peinlich. »Sie wollten schauen, ob der Inhalt irgendeine Information hergibt. Fehlanzeige.«

»Arbeitsstelle?«, fragte Thekla knapp.

»Dasselbe«, antwortete Ali. »Ich habe selbst noch mal nachgefragt. Manuel ist seit Montag nicht mehr erschienen und nicht zu erreichen gewesen.«

Erneut herrschte Schweigen, bis Hilde kategorisch verkündete: »Das reicht jetzt. Mehr kann uns Ali nicht sagen. Wir werden uns schon selbst bemühen müssen.«

Thekla hätte ihn noch gern über Ina West ausgefragt, aber Hilde war bereits auf dem Weg zur Tür. »Auf was warten wir noch? Wenn wir Rote Feder finden wollen, haben wir keine Zeit zu verlieren.«

Ali hatte sich ebenfalls erhoben, aber eine Frage wollte ihm Thekla doch noch stellen. »Wieso kommst du darauf, der junge Mann könnte entführt worden sein?«

Über Alis Miene legte sich wieder der Weltuntergangsschatten. »Weil er mich so dringend sprechen wollte. Er muss irgendetwas befürchtet haben.«

Thekla wandte sich resigniert ab. Es konnte tausend Gründe dafür geben, dass Manuel Kramer das Gespräch mit dem Kreisbrandrat gesucht hatte. Technische Probleme, die er allein nicht lösen konnte, Unregelmäßigkeiten auf der Feuerwache, die ihm aufgefallen waren – ein Diebstahl vielleicht …

Ali schaute auf seine Armbanduhr. »Silberquell erwartet euch in einer halben Stunde im ›Black Bison Saloon‹. Sie kann euch mehr Antworten liefern als ich.«

Eine würde bereits reichen, dachte Thekla sarkastisch, nämlich die auf die Frage: Wohin hat der Präriewind Rote Feder geweht?

2

Am späten Nachmittag desselben Tages in der Westernstadt

Thekla kannte den »Black Bison Saloon« bereits von ihrem ersten Besuch in Pullman City. Das Restaurant lag am oberen Ende der Mainstreet und besaß eine L-förmige Veranda im Westernstil, die sich, obwohl Werktag war, als voll besetzt erwies.

Ferienzeit, dachte Thekla und fragte sich angesichts der vielen Kinder, die herumwuselten, wie viele Zentner Pommes, Ketchup und Eiscreme an einem Tag wie diesem in Pullman City wohl verzehrt wurden.

Hilde schien ähnliche Überlegungen angestellt zu haben. Mit einem grimmigen Blick auf die Bedienung, die einen riesigen Hamburger, in dem ein Zahnstocher mit dem Sternenbanner steckte, vor einen kleinen, deutlich übergewichtigen Jungen hinstellte, sagte sie: »Wie kann sie das bloß tun?«

»Sie macht halt ihren Job«, entgegnete Heinrich darauf trocken.

Hilde bedachte die Eltern des Jungen mit einem missbilligenden Blick, überquerte die Veranda und steuerte auf den Eingang zum Saloon zu, weil Ali ihnen aufgetragen hatte, sich an den Tisch unterm Büffelkopf zu setzen. Silberquell, hatte er angekündigt, würde sich gegen vierzehn Uhr bei ihnen einfinden.

Thekla merkte, dass Wally ein Stück zurückgeblieben war, und schaute sich nach ihr um.

Als sie Wallys glänzende Augen sah, musste sie wider Willen lachen. Sie hätte es sich denken können.

»Wie in meinen Lieblingsfilmen«, flüsterte Wally verträumt. »›Der Schatz im Silbersee‹, ›Weites Land‹. Aber nicht bloß auf der Leinwand, sondern wirklich und wahrhaftig – und ich mittendrin.«

Thekla verstand, was Wally damit sagen wollte, und stimmte ihr zu. Die Mainstreet, die durchaus authentisch wirkenden Gebäude, die sie säumten, die beiden Typen, die gerade aus dem Marshal Office kamen, ja, alles wirkte so, als wäre ein Westernklassiker Wirklichkeit geworden.

Sie nahm Wallys Arm und zog sie zum Saloon. »Auf John Wayne, Gregory Peck oder einen andern der großen Kinohelden wirst du allerdings vergeblich warten.«

Es war offensichtlich, dass Wally Theklas Bemerkung gar nicht mitbekam. Sie schien wie betäubt.

Am Eingang blieb sie wieder staunend stehen, sodass Thekla sie vorwärtsschieben musste, um Platz für nachdrängende Gäste zu schaffen. Behutsam bugsierte sie Wally zu dem Tisch, den Ali bezeichnet hatte. Der Stützbalken, der dahinter aufragte, trug einen riesigen Büffelkopf.

Wally stieß einen spitzen Schrei aus und weigerte sich, darunter Platz zu nehmen. »Das Ding erschlägt mich, wenn es runterfällt.«

»Würde dir recht geschehen, weil du dich so kindisch anstellst«, sagte Hilde grob und schob sie auf die andere Seite des Tisches.

Als Wally daraufhin noch immer keine Anstalten machte, sich niederzulassen, und stattdessen in die Betrachtung der Kronleuchter versank, legte ihr Hilde beide Hände auf die Schultern und drückte sie auf einen Stuhl.

»Krieg dich mal wieder ein, Wally. Lass dich nicht von diesem Larifari ablenken. Wir haben zu tun. Verdammt und zugenäht, das ist doch alles bloß Kulisse.«

Hildes Worte, selbst der Fluch prallten von Wally ab, als befände sie sich unter einer Glasglocke.

»Wie hübsch sie angezogen sind«, rief sie begeistert und meinte die Mädchen, die im Saloon servierten.

Der Ausruf brachte ihr von Hilde sofort erneut einen Rüffel ein.

Thekla seufzte wieder einmal, warf Heinrich einen entnervten Blick zu, den er mit einem Achselzucken und einem Augenverdrehen beantwortete.

Sie erriet, was er ihr damit sagen wollte: Du weißt doch, wie die beiden sind. Feuer und Wasser, Himmel und Hölle. Ist es nicht rätselhaft, wie sie sich je anfreunden konnten? Und noch rätselhafter ist, wie diese Freundschaft ein halbes Jahrhundert überdauern konnte.

»Da kommt Silberquell«, sagte Hilde in nüchternem Ton. »Jedenfalls gehe ich davon aus, dass sie es ist.«

Thekla hörte, wie Wally ein überwältigtes »Ooooh« ausstieß, und hätte es ihr beinahe gleichgetan.

Silberquell sah wunderschön aus. Schlank und geschmeidig, mit klaren, ebenmäßigen Gesichtszügen, rehbraunen Augen und glänzenden schwarzen Haaren, die sie zu zwei dicken Zöpfen geflochten trug. Um die Stirn hatte sie ein Perlenband gewunden. Ihre Bekleidung bestand aus einem kurzen beigen Gewand, dessen Oberteil auf der Vorderseite einen hellblauen Besatz hatte und in Weiß, Rot und Blau üppig bestickt war. Über die bloßen Arme spielten breite Fransen.

»Nscho-tschi«, hauchte Wally beseligt.

Erneut fand sie damit Theklas Zustimmung.

Thekla erinnerte sich gut genug an den ersten Winnetou-Streifen, der in den Sechzigern in die Kinos kam, um Marie Versini in der Rolle von Winnetous Schwester Nscho-tschi vor sich zu sehen. Die Ähnlichkeit war frappierend. Ein Blick auf Heinrich zeigte ihr, dass auch er verblüfft und fast gerührt war.

Nur Hilde zeigte sich völlig unbeeindruckt.

Sie streckte Silberquell die Hand entgegen. »Westhöll. Das sind Frau Maibier, Frau Stein und Herr Held.«

Silberquell ergriff Hildes Rechte mit beiden Händen. »Danke. Ich danke Ihnen sehr, dass Sie hergekommen sind und mir bei der Suche nach Rote Feder helfen wollen.«

Hilde schüttelte sie ab. »Quatsch keine Opern, Mädel. Setz dich her und sag, was Sache ist.«

Silberquell wirkte einen Moment lang erschrocken, dann lächelte sie verstehend und glitt auf den letzten freien Stuhl am Tisch.

Ali muss sie vorgewarnt haben, ging es Thekla durch den Sinn.

»Mit was soll ich denn anfangen?«, fragte Silberquell.

Der niederbayrische Dialekt irritierte Thekla einige Augenblicke lang, bis ihr zu Bewusstsein kam, dass sie nicht wirklich einer Indianerin gegenübersaß. Erschreckend, wie schnell man sich in so einer Scheinwelt verlor.

Was hast du eigentlich erwartet?, fragte sie sich. Dass Silberquell sagt: Bleichgesichter kennen Hauptsache bereits, mögen ihre Fragen dazu stellen.

»Wann haben Sie Rote Feder zum letzten Mal gesehen?«, fragte Hilde im Verhörton.

Bevor Silberquell darauf antworten konnte, trat eine attraktive Blondine an ihren Tisch und fragte nach ihren Wünschen.

Thekla und Heinrich bestellten Bitter Lemon, Hilde und Silberquell wollten Tee.

Wally sagte: »Wunderschön.«

»Was bitte?«

»Ihr Kleid ist so wunderschön«, erklärte Wally.

Thekla hatte bereits bei ihrem ersten Besuch die Garderobe der Mädchen im Service gebührend bewundert, sodass sie schon vertraut damit war.

Die durchweg sehr schlanken jungen Damen trugen schwarze Korsagen mit am Rücken gekreuzten Bändern. Üppige rote Rüschen liefen von einer Schulter schräg über die Brust und auf der Vorderseite des schmalen schwarzen Rockes gerade hinunter bis zum Saum, der sich etwa auf Wadenhöhe befand.

»Aber bestimmt nichts für dich«, kam es kalt von Hilde. »Und jetzt sag endlich, was du bestellen willst.«

Thekla fragte sich, warum Hilde sich heute so besonders garstig verhielt, und kam nach kurzem Überlegen zu dem Schluss, dass sie ausnehmend ungeduldig sein musste.

Offenbar fieberte sie darauf, sich Hals über Kopf in Ermittlungen zu stürzen, die Westernstadt samt ihren Bewohnern auf den Kopf zu stellen, nichts und niemanden ungeschoren davonkommen zu lassen. Hilde verabscheute alles, was ihr dabei in die Quere zu kommen drohte – selbst wenn es sich bloß um eine Bemerkung oder eine Geste handelte –, und reagierte auf Ablenkungen wie eine in die Enge getriebene Wildkatze.

Kaum hatte Wally ihre Bestellung aufgegeben (»Kaffee. Nein, lieber Tee. Oder doch Kaffee …« – »Wally, Kruzitürken!« Der Anschnauzer kam natürlich von Hilde, woraufhin Wally ein strenges Krötengesicht machte und trotzig sagte: »Ich glaube, ich nehme einen Whisky on the Rocks«), wandte sich Hilde wieder an Silberquell.

»Also wann?«

Silberquells Mundwinkel hatten sich belustigt gehoben, nun senkten sie sich schmerzlich. »Am vergangenen Samstag um siebzehn Uhr.« Als sie daraufhin in vier verdatterte Gesichter sah, beeilte sie sich zu erklären: »Rote Feder und ich haben uns um halb vier in der Mainstreet getroffen, um bei der American History Show mitzumachen. Das ist Pflicht für alle, die hier angestellt sind, aber auch für diejenigen, die im Authentikbereich eine Parzelle besitzen. Ich bin direkt aus dem Big Tipi gekommen, wo ich seit Mittag für den Pullman Kids Club beschäftigt war. Was Rote Feder vor der Show gemacht hat, weiß ich leider nicht. Ist das wichtig für Sie? Vielleicht schon«, gab sie sich selbst zur Antwort.

Daraufhin überlegte sie kurz und runzelte dabei die Stirn. »Ich erinnere mich, dass er ein bisschen gereizt wirkte, als wäre ihm gerade was über die Leber gelaufen. Aber schon bei der Lewis-und-Clark-Expedition …« Sie unterbrach sich und erklärte dann: »Meriwether Lewis und William Clark sind 1804 von Präsident Jefferson beauftragt worden, das Land bis zur Westküste zu erkunden. Die Expedition ist von Indianern geführt worden. So stellen wir sie in der Show auch dar. Rote Feder war bei seinem Auftritt wieder ganz normal, hat sogar rumgealbert.«

Silberquell tippte mit der Fingerspitze auf das Zifferblatt ihrer Armbanduhr, die nicht recht zu ihrer Kostümierung passen wollte. »Um fünf war die Szene dran, die der berühmten Schlacht am Little Bighorn gedenkt. Rote Feder schlüpft dabei in die Rolle von Crazy Horse, ich spiele einen jungen Krieger. Nach dieser Szene muss ich mich ganz schnell umziehen, weil ich in der Schlussparade wieder als Frau auftrete. Ich bin deshalb in eins der Zimmer gelaufen, die uns dafür zur Verfügung stehen. Als ich zum Sammelplatz gekommen bin, waren die Reiter schon zur Mainstreet unterwegs. Nach der Parade bin ich gleich zu den Ställen gegangen. Da hätte Rote Feder nämlich sein müssen, um das Pferd zu versorgen.« Sie wischte sich die Augen.

»Musste er sich nicht auch umziehen?«, fragte Wally einfühlsam.

Silberquell schüttelte den Kopf. »Er reitet bei der Schlussparade einfach als Crazy Horse mit.«

»Und hat er das auch am Samstag getan?« Wally hatte Silberquells Hand genommen und drückte sie sanft.

»Ich nehme es an«, antwortete Silberquell. »Aber beschwören könnte ich es nicht. Die Reiter sind den Frauen ja weit voraus.«

»Mal abgesehen davon, ob Rote Feder bei der Schlussparade noch dabei war oder nicht, wo könnte er denn nach der Little-Bighorn-Szene hingegangen sein?«, fragte Hilde, wobei sie versuchte, Wallys warmherzigen Ton nachzuahmen, was ihr gründlich misslang.

In Silberquells Miene zeichnete sich Furcht ab. »Das ist es doch. Er konnte nicht einfach irgendwohin gegangen sein. Die Reiter müssen sich ja die ganze Zeit um ihre Pferde kümmern.«

Rote Feder war also nicht nur beim Finale zu Pferd. Offenbar zog Crazy Horse in der American History Show beritten zum Little Bighorn.

Thekla fragte sich, wie sich die Schlacht damals wirklich abgespielt hatte. Soweit sie wusste, waren im amerikanischen Westen keine Schlachten geschlagen, sondern Massaker an halb verhungerten Indianern angerichtet worden. Nicht einmal Frauen und Kinder hatte man verschont. Zuvor hatte man den Präriestämmen die Lebensgrundlage entzogen, indem man gnadenlos die Büffel abschoss und letztendlich ausrottete. Little Bighorn war zwar als Ort eines großen Sieges der Indianer in die Geschichte eingegangen, was allerdings mehr als akademische Beschreibung eines verzweifelten Aufstandes betrachtet werden musste.

»Und wo werden die Pferde zwischen ihren Auftritten in der Show hingebracht?«, fragte Hilde soeben.

»Das kommt darauf an, wie viel Zeit bleibt«, antwortete Silberquell. »In etwas längeren Pausen stehen sie in der Nähe der Ställe.«

»Müsste Rote Feder sein Pferd nach der Wir-ziehen-in-die-Schlacht-am-Little-Bighorn-Szene dorthin gebracht haben?«, hakte Hilde nach.

Silberquell schien sich darüber bereits Gedanken gemacht zu haben. »Eigentlich schon.«

»Dann werden wir mit den Darstellern reden, die ebenfalls bei den Ställen gewesen sein müssten«, verkündete Hilde. »Wer käme da in Frage?«

»Ich habe in den vergangenen Tagen alle Hobbyisten und alle Angestellten in der Westernstadt nach Rote Feder gefragt«, sagte Silberquell. »Nach der Little-Bighorn-Szene hat ihn keiner mehr bewusst wahrgenommen.«

Hilde schnaubte ärgerlich.

»Aber«, fuhr Silberquell fort, »das bedeutet doch auch, dass er bei der Schlussparade noch mitgeritten sein muss.«

Thekla begriff, was sie damit sagen wollte. Ein gewohntes Bild beachtete man nicht weiter. Erst wenn es sich veränderte, rückte es in den Fokus.

Sie kniff die Augen zu und stellte sich vor, wie Crazy Horse alias Rote Feder (alias Manuel Kramer) in einer Gruppe von Indianern durch die Mainstreet ritt, die links und rechts dicht von Zuschauern gesäumt war.

Wäre er zu Fuß gewesen, hätte er sich – freiwillig oder unfreiwillig – unter die Zuschauer mischen und untertauchen können. Aber er saß zu Pferd. Ein reiterloses Tier wäre aufgefallen. Demnach musste Rote Feder auf alle Fälle bis zum Ende der Mainstreet geritten sein. Und dann?

Hildes Gedankengang schien ähnlich verlaufen zu sein, denn sie fragte: »Wo war sein Pferd?«

»In der Box«, antwortete Silberquell matt. »Abgehalftert.«

»Von wem?«

Silberquell kämpfte mit den Tränen. »Ich weiß es nicht.«

Thekla sandte einen flehentlichen Blick an Wally. Greif ein, bitte, wollte sie ihr damit sagen. Wenn Hilde so weitermacht, ist Silberquell bald in Tränen aufgelöst, und das hilft uns ganz gewiss nicht weiter.

Wally hatte ohnehin schon damit angefangen, Silberquell beruhigend über den Rücken zu streichen. »Wer kümmert sich denn um das Pferd von Rote Feder, wenn er nicht in der Westernstadt ist? Das muss doch ziemlich oft der Fall sein. Er hat ja schließlich einen Beruf.«

»Ausschließlich Schlauer Biber oder Marshall Otis«, gab ihr Silberquell Auskunft.

»Warum nur die beiden?«, wollte Hilde wissen.

Silberquell lächelte unter Tränen. »Ebana ist ein bisschen störrisch. Sie ist eine wunderschöne rassige Stute, aber einer ihrer Vorbesitzer hat sie schlecht behandelt. Sie galt als verkorkst, als sie zum Verkauf stand. Für Rote Feder war das allerdings ein Vorteil, weil Ebanas schlechter Ruf den Preis für sie derartig in den Keller getrieben hat, dass er sie sich leisten konnte.«

Sie musste sich die Nase putzen und die Tränen trocknen, bevor sie weitersprechen konnte. »Natürlich ist es ein Wagnis gewesen, das Tier zu übernehmen, aber Rote Feder hat ein gutes Händchen für Pferde, und er hat Erfolg gehabt mit Ebana. Inzwischen hat sie das Schlimmste überwunden.«

Erneut erschien ein kleines Lächeln auf ihrem Gesicht. »Marshal Otis sagt, sie macht sich so gut, dass sie in ein paar Jahren das Zehnfache von dem wert sein könnte, was Rote Feder für sie bezahlt hat.« Sie verstummte, doch dann schien ihr Hildes Frage wieder einzufallen, und sie fügte hinzu: »Aber man muss immer noch recht vorsichtig mit ihr umgehen. Ein Gespür für sie haben. Schlauer Biber und Marshall Otis sind außer Rote Feder die Einzigen, zu denen sie echtes Zutrauen hat.«

»Ich will mit den beiden reden«, verkündete Hilde entschieden und stand auf.

Silberquell nickte. »Natürlich habe ich Otis und Schlauer Biber längst gefragt, ob einer von ihnen Ebana am Samstag nach der Show versorgt hat. Aber sie waren beide nicht mal in der Nähe der Ställe.«

»Trotzdem will ich mit ihnen reden«, insistierte Hilde.

Silberquell stand auf. »Otis finden Sie höchstwahrscheinlich im Marshal Office, besser gesagt auf dem Plätzchen davor. Er sitzt da oft in seinem Schaukelstuhl. Ich kann Sie leider nicht begleiten, weil ich wieder zurück an die Arbeit muss.«

»Zu den Kindern«, spezifizierte Wally.

Silberquell bejahte. »Heute steht Indianerschmuck basteln auf dem Programm.« Sie sah in die Runde, ihr Blick trübte sich vor Traurigkeit. »Ich danke Ihnen noch einmal sehr für Ihre Unterstützung. Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich tun soll.« Sie straffte sich. »Bis achtzehn Uhr bin ich im Big Tipi, falls sich noch Fragen ergeben. Ab zwanzig Uhr wäre ich dann bei meinen Eltern in Eging-Sommerau zu erreichen und selbstverständlich laufend über Handy.« Sie händigte Hilde ein Kärtchen aus. »Hier stehen die beiden Telefonnummern und die Adresse meiner Eltern drauf.« Daraufhin winkte sie kurz und eilte auf den Ausgang zu, blieb allerdings wenige Schritte davor wieder stehen, weil eine hochgewachsene blonde Frau ihren Weg kreuzte.

Die beiden wechselten ein paar Worte, dann führte Silberquell die Blonde zurück an den Tisch. »Ich möchte Sie noch mit Lady Sue bekannt machen. Sie ist die Eventmanagerin hier. Lady Sue wird sich Zeit nehmen, Sie ein bisschen herumzuführen und Ihnen einen Überblick über die Stadt zu verschaffen. Damit ersparen Sie sich, einen Ortsplan studieren zu müssen.«

Thekla spürte, wie Wally die Luft anhielt. Ihr selbst hatte kurz der Atem gestockt, und nun musste sie sich zwingen, Lady Sue nicht allzu aufdringlich anzustarren. Sogar von Heinrich kam ein Ton, der sich wie ein Nach-Luft-Schnappen anhörte.

Nur Hilde gab sich wieder gänzlich ungerührt. Statt sich von Lady Sues Erscheinung beeindruckt zu zeigen, fragte sie mit hörbar spöttischem Unterton, welche Rolle sie sich denn auf den Leib geschneidert hätte.

Thekla fand Hildes Frage so unpassend wie überflüssig. Die Fernsehserie »Fackeln im Sturm« drängte sich bei ihrem Anblick geradezu auf.

Lady Sues gewiss schlanke Beine wurden von einem langen Rock aus bräunlichem Tweedstoff umschmeichelt, der – schmal um die Hüften – unten glockig fiel. Dazu trug sie eine champagnerfarbene Bluse mit Spitzeneinsatz und Dutzenden von Biesen. Bauschige Ärmel erhöhten die Eleganz des Kleidungsstücks.

Die schweren silberblonden Haare hatte Lady Sue am Hinterkopf zu einem Knoten gewunden und hochgesteckt. Ihr Gesicht zeigte sich klar und faltenlos. Mund und Augen waren dezent geschminkt.

Wäre Thekla dazu aufgefordert worden, ihr Alter zu schätzen, dann hätte sie auf Mitte bis Ende dreißig getippt.

Lady Sue lächelte gewinnend. »Ich bin als Tochter eines Arztes in den amerikanischen Südstaaten aufgewachsen und habe im Jahre 1861 – mit siebzehn – einen Advokaten geheiratet.« Sie erweckte dabei den Eindruck, als redete sie von Tatsachen.

»Wollen Sie etwa sagen, dass Sie an so was wie Wiedergeburt glauben?«, fragte Hilde.

Lady Sues Miene ließ keine Verstimmung erkennen. »In gewisser Weise.«

Heinrich hatte sich erhoben und Silberquells frei gewordenen Stuhl zurechtgerückt. »Nehmen Sie doch Platz, Lady Sue.«

Thekla musste grinsen, was ihr schnell verging, als ihr Blick zu Hilde schweifte.

Hilde wirkte zornig und gleichzeitig wie vor den Kopf geschlagen. Offensichtlich tat sie sich von ihnen allen am schwersten damit, sich in dieser Scheinwelt zurechtzufinden. Mit der blanken Realität hatte sie immer gut umgehen können, aber mit einer Verflechtung von Illusion und Wirklichkeit schien sie restlos überfordert.

Wally dagegen sah aus, als wäre sie da angekommen, wo sie immer hinwollte.

Und Thekla selbst?

Noch bis vor wenigen Minuten hätte sie die ganze Sache am liebsten ad acta gelegt. Aber Silberquells traurige Augen ließen sie nicht los. Das Mädchen zählte auf ihre Hilfe und hatte ihnen bereits gezeigt, welcher Schritt als Erstes zu tun war. Sobald feststand, wer Rote Feders Stute in den Stall geführt hatte, würde man weitersehen.

Und weitermachen, dachte sie einsichtig. Wann hätten wir je einen Fall aufgegeben, nur weil er vertrackt zu sein schien und uns im Grunde gar nichts anging?

Diese Ermittlung könnte sich als extrem kompliziert erweisen, überlegte sie weiter. Ohne vernünftige Strategie werden wir uns nicht zurechtfinden. Wir brauchen einen Leitfaden, an den wir uns halten können.

Als guter Start schien ihr, jeden einzelnen der Hobbyisten, mit denen sie es hier zu tun hatten und noch zu tun bekommen würden, so aufzuspalten, wie er es wohl selbst musste: in zwei verschiedene Personen. Manuel Kramer/Rote Feder, Silberquell/Ina West und so weiter und so fort.

Jeder von ihnen besitzt eine doppelte Identität, dachte Thekla und merkte nicht, dass sie es laut ausgesprochen hatte.

»Das haben Sie sehr treffend ausgedrückt«, sagte Lady Sue, die Heinrich gedankt und sich anmutig niedergelassen hatte.

»Das fehlt uns noch«, stöhnte Hilde und wandte sich dem Ausgang zu, »dass wir einem Gestaltwandler hinterherjagen müssen.«

3

Wenig später bei den Pferdeställen

Hilde steckte ihre Nase in den Pferdestall, blickte die Boxen hinauf und hinunter, schnupperte, schnitt eine Grimasse und zog sich wieder zurück.

Pferdeärsche, Pferdeköpfe. Scharren. Stampfen. Schnaufen.

Sie fragte sich, weshalb sie überhaupt hergekommen war.

Selbst wenn sie unter all diesen Gäulen Ebana ausfindig machen könnte, was würde ihr das nützen? Das Pferd konnte ihr ja nicht mitteilen, wer es vergangenen Samstag abgehalftert und in die Box geführt hatte.

Falls sie gehofft hatte, einen der anderen Pferdebesitzer anzutreffen oder wenigstens einen Stalljungen, dem sie diesbezügliche Fragen stellen konnte, war sie enttäuscht worden.

Hilde warf die Stalltür mit einem Knall zu, der, als hätte er ein Echo, ein leises Wiehern auslöste.

Eigentlich war ihr von vornherein klar gewesen, dass eine Inspektion der Ställe zu nichts führen würde. Aber in diesem »Black Bison Saloon« mit seiner Wildwestkulisse und all den verkleideten Menschen hatte sie es einfach nicht mehr ausgehalten. Was dachten sich diese Leute eigentlich dabei, die Zeit um hundertfünfzig Jahre zurückzudrehen, Charleston und Denver ins Dreiburgenland zu verlegen?

Sie lehnte sich an das Geländer, das entlang der Stallungen verlief und, wie sie vermutete, zum Anbinden der Pferde diente. Müßig grollte sie dort eine Weile vor sich hin.

Schließlich riss sie sich zusammen.

Wenn du dich nicht schleunigst mit den gegebenen Verhältnissen abfindest, sagte sie sich streng, kannst du die gesamte Ermittlung vergessen.

Nichts hätte sie mehr geschmerzt.

Seit sie gemeinsam mit Thekla und Wally den Holzer-Blasen-Fall gelöst und dabei einen Mörder überführt hatte, war sie süchtig nach Kriminalfällen.

Um diesen Fall zu lösen, musste sie lernen zu akzeptieren, dass ein junger Feuerwehrmann tat, als wäre er ein Prärie-Indianer; dass eine hübsche, ganz bestimmt nicht dumme junge Frau aus dem Nachbardorf der Westernstadt seine Partnerin verkörperte; und dass eine umwerfende (hatte nicht sogar Theklas sonst so beherrschtem Heinrich der Atem gestockt?) Mittdreißigerin von wer weiß woher allen Ernstes behauptete, sie hätte mal als Südstaaten-Lady gelebt.

Mach mit oder lass es, resümierte Hilde.

Es zu lassen bedeutete, nach Granzbach zurückzukehren und bei ihrem Neffen zu Kreuze zu kriechen. Denn dann wäre sie wieder darauf angewiesen, dass er sie im Bestattungsinstitut aushelfen ließ, damit ihr in ihrer Wohnung die Decke nicht auf den Kopf fiel.

Bloß nicht. Lieber die Leute hier so nehmen, wie sie waren.

Missmutig fragte sie sich, ob sie das konnte.

»Fühlen Sie sich nicht wohl?«