Heute fängt das Morgen an - Valerie Blumenthal - E-Book

Heute fängt das Morgen an E-Book

Valerie Blumenthal

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Beschreibung

Verborgen unter der Trauer keimt noch immer die Liebe: Das Familiendrama »Heute fängt das Morgen an« von Valerie Blumenthal als eBook bei dotbooks. Vater, Mutter und zwei Söhne: Die Millers sind eine ganz normale Familie, bis ein tragischer Autounfall ihr Glück für immer zu vernichten scheint. Ben, der ältere Bruder, stirbt – und auch zwei Jahre später leiden seine Eltern so unter dem Verlust, als wäre das Unglück erst gestern geschehen. Denken sie etwa, es hätte besser ihren anderen Sohn getroffen? Der junge Oscar ist verzweifelt. So sehr er sich auch bemüht, ein liebenswerter Sonnenschein zu werden wie Ben es immer war, es will ihm einfach nicht gelingen. Also schmiedet er einen letzten, verzweifelten Plan, um seine Eltern wieder glücklich zu machen – und ahnt nicht, was er damit heraufbeschwört … Ein ebenso schockierender wie einfühlsamer Roman über Trauer und Hoffnung, Schmerz und Zuversicht ... und über einen Jungen, der jedem ans Herz wachsen wird: »Dieser Roman beweist, dass Valerie Blumenthal eine Ausnahmeschriftstellerin ist!« Oxford Times Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der gefühlvolle Roman »Heute fängt das Morgen an« von Valerie Blumenthal. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 391

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Table of Contents

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Lesetipps

Über dieses Buch:

Vater, Mutter und zwei Söhne: Die Millers sind eine ganz normale Familie, bis ein tragischer Autounfall ihr Glück für immer zu vernichten scheint. Ben, der ältere Bruder, stirbt – und auch zwei Jahre später leiden seine Eltern so unter dem Verlust, als wäre das Unglück erst gestern geschehen. Denken sie etwa, es hätte besser ihren anderen Sohn getroffen? Der junge Oscar ist verzweifelt. So sehr er sich auch bemüht, ein liebenswerter Sonnenschein zu werden wie Ben es immer war, es will ihm einfach nicht gelingen. Also schmiedet er einen letzten, verzweifelten Plan, um seine Eltern wieder glücklich zu machen – und ahnt nicht, was er damit heraufbeschwört …

Ein ebenso schockierender wie einfühlsamer Roman über Trauer und Hoffnung, Schmerz und Zuversicht ... und über einen Jungen, der jedem ans Herz wachsen wird: »Dieser Roman beweist, dass Valerie Blumenthal eine Ausnahmeschriftstellerin ist!« Oxford Times

Über die Autorin:

Valerie Blumenthal wurde in der Nähe von London geboren. Bevor sie sich der Schriftstellerei widmete, war sie als Journalistin tätig und unterrichtete unter anderem Creative Writing in einem Hochsicherheitsgefängnis. Heute lebt sie in einem Dorf in der Grafschaft Oxfordshire.

Valerie Blumenthal veröffentlicht bei dotbooks außerdem die Romane »Mit den Augen einer Tochter« und »Die Welt in meinen Armen«.

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eBook-Neuausgabe Dezember 2019

Dieses Buch erschien bereits 2008 unter dem Titel »Mein Bruder Ben« bei RM Buch und Medien Vertrieb GmbH und der angeschlossenen Buchgemeinschaften

Copyright © der englischen Originalausgabe 1993 by Valerie Blumenthal

Die englische Originalausgabe erschien 1993 unter dem Titel »Chasing Eagles« bei Hodder and Stoughton A division of Hodder Headline PLC, Great Britain.

Copyright © der deutschen Ausgabe 2008 RM Buch und Medien Vertrieb GmbH und die angeschlossenen Buchgemeinschaften

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Andrew Mann Ltd.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / MJHT / ian woolcock / Helen Hotson / Pail shuang / Vladimir Arndt

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-96148-695-3

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Valerie Blumenthal

Heute fängt das Morgen an

Roman

Aus dem Englischen von Matthias Jendis

dotbooks.

MEIN DANK GILT:

Jackie Day und Stuart Gillies von der Königlichen Vogelschutzgesellschaft (RSPB) für ihre unschätzbar wertvollen Informationen, Anne Brooks von der St. Edwards School in Oxford, die mir Einblick in eine Jungenschule gewährt hat, Margaret Alice Stewart-Liberty für einen zauberhaften Spaziergang über die Wiesen von Port Meadow und Dr. Robert Graham für seine zahnärztlichen Tipps.

»Weiß der Adler, was in der Grube ist?Oder fragst du den Maulwurf einmal:Geht die Weisheit in einen silbernen Stab?Liebe in einen goldenen Pokal?«

WILLIAM BLAKE (1757-1827): Thel (»Thels Motto«)

Kapitel 1

»Ich glaube, meine Mutter hat eine Affäre«, sagt Wiz zu Frederick, seinem neuen Freund, der gerade ziemlich lustlos Gläser von den Tischen vor dem Trout Inn abräumt. »Deine Mutter?« Frederick – groß gewachsen, picklig, Brillenträger – setzt langsam das Glas ab, das er in der Hand hält. Der rote Lippenstift am Rand des Glases ist auf seinen Zeigefinger gewandert, den er an seinem Pullover abwischt. »Sie sieht nicht so aus, als wäre sie der Typ für so was. Das glaube ich nicht.«

Vor zwei Monaten, an Wiz' vierzehntem Geburtstag, hat er ihn und auch seine Eltern zum ersten Mal getroffen.

»Jeder ist der Typ für so was.« Wiz mit seinem ernsten Blick und den blassen Wangen hebt viel sagend das Kinn und blickt zum Wehr hinüber.

Frederick setzt sich neben ihn. Eine Weile sitzen sie schweigend da und lassen ihre Beine von der Mauer baumeln.

»Und, wie kommst du darauf?«

Wiz nimmt das Fernglas zur Hand, das um seinen Hals hängt (daneben hat er eine Kamera an einem zweiten langen Tragriemen). »Kanadagänse«, murmelt er und stellt gegen das harte Sonnenlicht auf einige weit entfernte Punkte scharf. Erst als ihre Silhouetten klar erkennbar sind, hört er auch ihre Rufe.

»Ich glaube es eben«, sagt er geheimnisvoll mit müder Stimme. »Ich habe Beweise, sie sind praktisch unwiderlegbar. Ich kann nicht darüber sprechen.«

»Okay, meinetwegen.«

Wiz lässt das Fernglas wieder hängen – ein Zeiss, 8 x 20, das er vom Geburtstagsgeld und von Erspartem gebraucht gekauft hat – und wendet sich, auf einmal besorgt, seinem Freund zu: »Du bist doch hoffentlich nicht beleidigt oder so, nein? Es ist nur – es ist eben irgendwie persönlich, nicht dass ich es weiß, sondern wie ich es erfahren habe. Der Teil daran ist irgendwie persönlich, wenn du verstehst, was ich sagen will.«

»Klar, versteh ich.«

»Ich meine, ich hasse es, Leute vor den Kopf zu stoßen, ehrlich.«

Frederick ist so viel älter – vier Jahre – und noch dazu ein neuer Freund, da ist er einfach noch vorsichtig.

»Du hast mich nicht vor den Kopf gestoßen.« Frederick streicht mit der Hand über seine Akne, der anscheinend auch mit noch so viel Salbe nicht beizukommen ist. »Ehrlich gesagt, mir ist da neulich abends was passiert ...«

»He, Frederick!« Der Wirt taucht aus den schattigen Tiefen der Gaststätte auf. »Ich bezahl dich für die Arbeit und nicht fürs Quatschen ... Selbst wenn es einer unserer besseren Gäste ist, mit dem du redest«, fügt er nachsichtiger hinzu, als er Wiz erkennt. »Wie geht's deinen Eltern?«

»Gut. Alles bestens«, murmelt Wiz verschlossen, während er aufsteht und sich über den Hosenboden seiner Jeans fährt.

Aber überhaupt nichts ist gut, oder? Alles ist ein einziger Schlamassel.

»Ich erzähl es dir beim nächsten Mal«, sagt Frederick und fährt mit dem Einsammeln der Gläser fort.

Wiz schlendert zu seinem Rad auf dem Parkplatz. Die Autos sind alle verschwunden, nur der zerbeulte Lada des Kochs und der Jeep des Wirts stehen noch dort. Und Wiz' Rad, das er mit einer Kette an einem Baum angeschlossen hat, der die Blätter hängen lässt. Irgendwo schreit der zahme Pfau. Wiz imitiert ihn, indem er die Hände wie einen Trichter an seinen Mund legt; dann schwingt er sich in den Sattel und fährt los. Er kann gehen, wohin er will, denn seit er vierzehn ist, sind die Beschränkungen von früher aufgehoben. Er darf von Gesetzes wegen allein gelassen werden oder babysitten. Sollten sich seine Eltern scheiden lassen und er lieber bei dem einen statt dem anderen Elternteil leben wollen, würden seine Wünsche stärker respektiert werden.

Er verlässt den Parkplatz. In Wolvercote biegt er in die Wiesen von Port Meadow ein und nimmt den Pfad, der quer hinüber bis nach Osney führt. Hin und wieder hält er an, um durch das Fernglas einen Vogel zu beobachten. Kanal und Eisenbahn durchqueren die weiten Wiesen des Weidelands, die bis zum Fluss reichen; nach den Überschwemmungen des Winters sind sie mittlerweile vollständig abgetrocknet. Ponys grasen selbstvergessen auf den Wiesen, die Bäuche wie Fässer vom saftigen, feucht glänzenden Gras. Hunde tollen zwischen ihnen herum und bellen provozierend. Etwas abseits in einer anderen Herde stehen Kühe und äugen herüber, misstrauischer als die Ponys. In der Ferne glitzert silbern der byzantinische Kirchturm der St.-Barnabas-Kirche mit seiner grünen Spitze ...

Wiz, flachsblond und schmächtig auf seinem Rad, tritt in die Pedale mit der geistesabwesenden Miene von jemandem, der Probleme mit sich herumträgt. Er steigt ab, als er das kleine Tor und den Pfad erreicht, der über die Eisenbahnbrücke führt, dahinter überquert die Aristotle Bridge den Kanal. Links liegen die Schrebergärten, ein alter Mann bückt sich mit einer Schirmmütze über seinen Salat, rechts liegt die kleine Wiese, auf der er früher mit Ben gespielt hat. Eine Ewigkeit scheint das her zu sein.

Er beschließt, sich einen Film aus der Videothek in der Walton Street zu holen. Edward mit den Scherenhänden wird ihn auf andere Gedanken bringen. Außerdem spielt da Winona Ryder mit.

Wiz öffnet die eiserne Pforte, die in den Garten führt. Sie hängt so tief in den Angeln, dass sie mit einem ziemlich unangenehmen Geräusch über die Granitplatten schabt, die von der dauernden Reibung eine rostrote Schleifspur tragen. Die Pforte muss immer geschlossen bleiben, damit der spindeldürre Jagdhund mit dem passenden Namen Lowry nicht nach nebenan läuft. Der früheren Eigentümerin war das egal gewesen; über zwei Generationen hatte sie Tiere und Kinder in ihrem Garten spielen lassen. Der steinerne Luftschutzbunker hatte als Versteck für kleine Banden von Jungs und Mädchen gedient, die ihn mit Teppichresten und Holzklötzen eingerichtet hatten. Wiz war eines dieser Kinder gewesen. Die ältere Frau hatte ihnen auf einem Servierblech, das mit angetrockneten Rändern übersät war, Limonade und Rosinenbrötchen gebracht. Dann war sie gestorben. Die neuen Eigentümer hatten Vorhänge und Rüschengardinen angebracht, und jeder wusste, dass damit die Tage des Spielens im Luftschutzbunker endgültig vorbei waren. Bei den Hunden dauerte es länger, bis sie begriffen hatten.

Er schiebt sein Fahrrad zu dem verfallenen Holzschuppen unter dem Walnussbaum hinüber. Letztes Jahr haben dort Schwalben genistet. Dieses Jahr haben sie den Carport für sich entdeckt, den Alastair, sein Vater, eigens für seinen Austin Healey gebaut hatte. Er will den alten Wagen in seiner freien Zeit wieder aufmöbeln (»Welche freie Zeit denn?«, sagt Liz, die Mutter von Wiz). Wach und knopfäugig hockten die Schwalben auf dem Dachbalken, wenn sie nicht gerade an ihrem trichterförmigen Netz bauten, und ließen Kot und Steinchen auf die graublaue Wagenhaube fallen, bis Alastair sich gezwungen sah, den Wagen auf der Straße zu parken. Dort steht er wie vergessen zusammen mit dem Golf der Familie und dient als Staub- und Fliegendreckfänger. Alastair fährt mit dem Fahrrad zu seiner Praxis in der Beaumont Street. In Oxford fährt jeder überall Rad, nicht nur die Studenten – eine Stadt für Fahrräder, die bald noch autofeindlicher sein wird, wenn die Pläne, Autos aus dem Stadtzentrum zu verbannen, Wirklichkeit werden ... Bens Mountainbike haben sie als Ersatzrad behalten. Es war sein letztes Geburtstagsgeschenk gewesen; er hat es vielleicht ein paar Stunden sein eigen genannt. An jenem Abend hatte er es ausprobieren wollen. Seither hat es noch niemand benutzt. Kastanienbraun glänzend mit stahlblauen Zickzackstreifen steht es da, und es käme gewissermaßen einer Entweihung gleich, damit zu fahren. Liz bietet es gelegentlich Gästen oder Schülern von ihr an, doch noch im selben Atemzug erzählt sie die Geschichte des Rades, und sie lehnen dankend ab.

Ben wäre in zwei Tagen siebzehn geworden. Seine Eltern wappnen sich innerlich für den traurigen doppelten Jahrestag. Niemand sagt etwas, aber Wiz weiß: Es wird schrecklich werden.

Das Leben im Hause Miller lässt sich in ein Davor und ein Danach einteilen. Mit Ben und ohne Ben. Man kann sagen: So war es damals, und so ist es heute. Auf die eine oder andere Weise ist er immer anwesend – die Erinnerungen, Worte, die konkreten und abstrakten Andenken brauchen nur abgerufen zu werden. Und dann der Unfall selbst mit seinen Nachwirkungen: Wie soll dieser Schrecken jemals weichen? Wiz weiß, dass die Dinge nie in Ordnung kommen werden. Vor dem Unfall, nach dem Unfall. So sieht es aus. Und jetzt hat seine Mutter ... Die psychologische Beratung hat nichts geändert. Wie versteinert hat er dort auf dem Sofa gesessen und vor lauter Beklemmung kein Wort herausbekommen. Dieses Eindringen in seine Privatsphäre war ihm zuwider, und letzten Endes konnte alle Beratung der Welt die fotografisch genauen Bilder nicht aus seinem Kopf verbannen, das Schreien in seinem Kopf, das immer wieder von neuem beginnt. Die alte Atmosphäre ließ sich nicht wieder herstellen – die Leichtigkeit, das Lachen, die Liebe, das Leben einer ganz normalen Familie. Und es gab einiges, das Wiz nicht sagen konnte, wie zum Beispiel: Haben meine Eltern sich gewünscht, ich wäre ums Leben gekommen und nicht Ben?

Liz hört das Schaben der Gartenpforte und das Knirschen von Fahrradreifen mit der üblichen Erleichterung. Sie ist so daran gewöhnt, diesen Druck und seine Entladung in ihrem Körper zu spüren, dass sie dieses Gefühl schon für normal hält und die eigene Anspannung erst bemerkt, wenn ihr Kopf wieder klar wird. Erleichterung durchströmt sie, und sie lässt Schultern und Brustkorb sinken. Während früher die Ironie in ihren Augen funkelte, als ob in deren indianisch schwarzer Iris eine Streichholzflamme flackerte, sind sie jetzt sorgenverhangen. Seit einiger Zeit legt sie ihre schmalen Finger an die Mundwinkel, um ein unwillkürliches Zittern, dem Herzschlag eines Zaunkönigs gleich, zu verbergen. Früher schien ihr Mund stets kurz davor, sich zu einem Lächeln zu verziehen, als ließe sich ihre gute Laune nur mit Mühe unterdrücken.

Es ist natürlich, dass sie sich Sorgen macht, ebenso natürlich, dass sie sich nach all dem übertrieben fürsorglich verhält. Alles, was sie empfindet, ist nur natürlich. Doch soll diese Erkenntnis nun wirklich helfen? Anscheinend ist es unter diesen Umständen ebenfalls natürlich, keine Lust auf Sex zu haben. Bei ihrem Mann ist es gerade umgekehrt – er sucht es, sie wendet sich ab. Der Gegensatz ihrer Bedürfnisse hat eine tiefe Kluft zwischen ihnen entstehen lassen.

Ihre ausländischen Schüler helfen ihr unwissentlich: Die Freude, junge Leute um sich zu haben, und zwar ohne die Angst einer Mutter, die ihr bei Wiz die Freude verdirbt. Manchmal kann sie mit ihnen Witze reißen, fast wie es früher ihre Art war, kann sie so scharfzüngig aufziehen und sogar ausschimpfen, wie sie es früher mit ihren eigenen Söhnen getan hat. Heute geht sie mit ihrem einen verbliebenen Sohn zu sanft um, meidet jedes harte Wort. Sie haben zu viel zusammen durchgemacht, um Witze zu machen.

Liz hält sich an der verchromten Herdstange des Rayburn-Ofens fest und benutzt sie wie eine Ballettstange für ein paar Beinaufschwünge. Früher war sie für eine Weile Tänzerin gewesen, bis sie sich mit kaum zwanzig Jahren am Rücken verletzte. Zweimal die Woche unterrichtet sie klassischen Tanz an einer Vorschule. Sie hat den Körper und das Gesicht, ja sogar den Kopf einer Tänzerin – klein, rund und klar geformt mit blassen, eng anliegenden Ohren. Ihr einst hüftlanges Haar trägt sie knabenhaft kurz gestutzt. Nach dem Unfall hat sie es als persönliche Buße abgeschnitten, ein Akt der Härte gegen sich, den sie selbst bestimmen konnte.

Hoch und runter, zur Seite, vor und zurück ... Sie hebt ihr Bein mit den muskulösen Waden und Oberschenkeln bis über Hüfthöhe, hält es dort straff durchgestreckt und senkt es dann langsam wieder ab – zehnmal ein Bein, zehnmal das andere, jeweils mit spitzem Fuß. Die Wohltat von Disziplin und Wiederholung. Als das Klingeln des Telefons in die Stille einbricht, rührt sie sich nicht und schenkt ihm keine Beachtung. Es ist auch gar nicht das Telefon, sondern der Papagei: Erzherzog Ferdinand, abstoßend kahl bis auf den Kopf, den er mit seinem Schnabel nicht erreichen kann, und einem grün schillernden Flügel, der ihn aus irgendeinem Grund nicht interessiert und der noch an seine frühere Pracht erinnert. Ferdinand hockt auf seinem Käfig, neigt den leuchtend bunten Kopf und gibt weiter seine perfekte Imitation des klingelnden Telefons zum Besten.

Fünf Minuten sind vergangen, seit sie ihren Sohn hat zurückkehren hören. Was er wohl macht, fragt sie sich verwundert und tritt an das staubblinde Schiebefenster. Er steht regungslos mit dem Rücken zu ihr da, das Gesicht dem Kanal hinter dem Garten zugewandt. Während sie ihn voller Zärtlichkeit betrachtet, hebt er die Hand und grüßt eine Gruppe von Leuten, die ihm von einem vorüberziehenden, bunt gestrichenen Kahn aus zuwinken. Ach, Wiz. Ach, Ben. Ach Gott. Sie sehnt sich danach, zu ihm zu laufen, hinaus in den Garten (weiß er denn nicht, dass er auf dem armen, halb verkümmerten Estragon steht?), und ihn in die Arme zu schließen, zu rufen: »Wo warst du? Seit einer Stunde warte ich auf dich. Wo warst du nur?«

Der Zug aus London rast vorbei; das Fenster vibriert. Der Junge dreht sich um, und sie duckt sich, als er sich anschickt, ins Haus zu kommen. Die Vordertür schlägt zu, dann quietschen die Sohlen seiner Sportschuhe auf den Kachelfliesen, der Jagdhund kläfft los und der Erzherzog lässt das Geklingel abrupt verstummen, den Kopf mit dem großen Schnabel auf die Seite gelegt.

»Ich bin in der Küche, Liebling«, ruft Liz im normalen Tonfall einer normalen Mutter. Sie ist so vorsichtig – alle sind sie so vorsichtig, um einander nur nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Wenn sie an Samstag denkt, wird ihr angst und bange.

Außer am Mittwoch, wenn er früher mit der Arbeit aufhört und seinem gutmütigen Tennispartner in ihrem Club im Norden von Oxford die Bälle um die Ohren drischt, geht Alastair nach seiner Ankunft gegen sieben immer als Erstes in seine »Höhle«. Ben hat sie so genannt: Dads Höhle. Neuerdings vergräbt er sich dort immer öfter. Zuerst hat er seine Rückzüge mit dem Vorwand begründet, er müsse Papierkram erledigen, aber mittlerweile verzichtet er auf Entschuldigungen. Interessiert es denn irgendjemanden wirklich, wo er ist oder wie lange er verschwindet? Wozu wird er denn gebraucht, außer um den Großteil der Rechnungen zu bezahlen? Er fährt Wiz mit der Hand durch sein lockiges Haar (zum zweiten Mal am Tag), drückt seiner Frau einen beiläufigen Kuss auf die bleiche Wange und geht in sein Zimmer. Jede Unterhaltung muss ungefähr eine Stunde warten, bis zum Abendessen. Die Tür schließt sich mit einem leisen, aber bestimmten (und, wie Liz denkt, abschreckenden) Klick, und das ist alles. Wer weiß schon, was dahinter vorgeht, was dieser große, schlaksige und schüchterne Mann tut oder denkt?

Hier fühlt sich Alastair, als brauche er nichts und niemanden. Er hat alles: den Ausblick über den Kanal, sein kleines Klavier, die Gartenbücher, das Schachprogramm auf dem Computer, seine Zeitung und seinen Schreibtisch mit allem, was dazugehört. Er hat Bens alte Stereoanlage aufgebaut; die andere steht im eigentlichen Wohnzimmer. Manchmal herrscht Stille, ein andermal ertönt Musik, jedoch niemals aufdringlich laut: alles – von Sting oder Eric Clapton bis Britten oder Brahms. Manchmal hört man ihn auch Klavier spielen.

An diesem Donnerstagabend sind es die Klänge von Erik Saties Gymnopédies – nicht von seiner Hand, sondern in einer Aufnahme mit Glenn Gould. Alastair liegt auf der viktorianischen Chaiselongue, aus deren altem, grünem Leder Pferdehaar sprießt. Sehnsucht spricht aus seinem sensiblen Gesicht mit den sinnlichen Lippen und der mächtigen Nase – die Nase eines Kriegers, eines Sarazenen, wie Liz einmal bemerkte, während sie deren kühn geschwungene Konturen mit dem Finger nachzeichnete. Seine Augen, hellgrau wie die seines Sohnes, können im Handumdrehen von Verletzbarkeit auf Strenge schalten. Jetzt blicken sie ins Weite, verlieren sich an ferne Orte. Wieder einmal träumt er davon zu fliehen. Die Fantasien haben als gelegentliche, flüchtige Gedanken begonnen, auf die ihn ein Buch oder eine Fernsehsendung gebracht haben mögen. Er ist ein Gewohnheitsmensch und hat nie das Abenteuer gesucht, wenn es ums Reisen ging. Seit Jahren ist er mit seiner Art zu leben und allem, was dazugehört, fest verwurzelt: Oxfords Norden, seine Sympathien für die Liberaldemokraten und höhere geistige Genüsse. Doch in letzter Zeit hat er nach und nach alles in Frage gestellt, wirklich alles, und sein Drang zu fliehen ist stärker und stärker geworden, hat konkretere Formen angenommen. Bücher und Zeitschriften zum Thema Reisen verbirgt er vor neugierigen Augen: Nepal, die Salomoninseln, Polynesien, die Hebriden, die Pyrenäen ... Ein Jahr weit weg von alldem hier. Einfach wegfliegen. Er würde keiner Menschenseele etwas sagen, einfach nur die Tür seiner Zahnarztpraxis abschließen, in der dann die Hölle los sein würde. Bei dem Gedanken an das Chaos, das entstehen würde, verzieht er den Mund zu einem Lächeln. Es wäre so herrlich verantwortungslos ... Wie er sich danach sehnt, verantwortungslos zu sein. Natürlich würde er ein paar Zeilen für Liz hinterlassen.

Er hört, wie sie das Abendessen vorbereitet. Das Haus ist merkwürdig gebaut: Esszimmer und Küche liegen unten am Fuß einer dunklen Treppe – es ist, als würde man in ein Verließ hinabsteigen. Weil das Haus an einem Abhang liegt, erinnert es an einen Unterstand. Die Küche liegt unter seiner Höhle. Alastair kann riechen, was in der Kasserolle auf dem Herd schmort. Das Klappern der Töpfe, das Geräusch laufenden Wassers, das Gurgeln in den Rohren dringen beruhigend herauf, brechen in Saties melancholisch verschlungene Melodien ein und verwässern Alastairs Tagträume. Von seiner Frau hört er nichts. Liz kann sich lautlos wie eine Katze bewegen und läuft wie immer barfuß. Er lauscht angestrengt auf eine Bewegung, hört aber nichts und spürt einen plötzlichen Stich, ein Sehnen nach ihr, das stärker ist als sein Fernweh. Dass sie ihr Haar abgeschnitten hat, kann er immer noch nicht verwinden. Eines Abends ist er nach Hause gekommen und hat eine androgyne Fremde mit schwarzem, kurz. geschorenem Haar vorgefunden. Doch es hat mehr als einer neuen Frisur bedurft, um sie einander zu entfremden.

Er kann den Erzherzog vor sich hin brabbeln hören. Seltsam, sinniert er, wie jedes Tier zu wissen scheint, zu wem es gehört. Bens Jagdhund, Lowry, ist jetzt sein eigener treuer Begleiter, der Papagei gehört eindeutig zu Liz, und Schrödinger, der Kater, zu Wiz. Vogel und Kater leben in einer merkwürdigen, respektvollen Symbiose.

Eine Welle von Schuld durchströmt ihn, als er die Situation seiner kleinen Kernfamilie überdenkt. Für einen Moment meldet sich der verantwortungsbewusste Mann in ihm zurück. Das lange Feiertagswochenende liegt endlos vor ihm: Er hat versprochen, am Sonntag mit Wiz nach Symonds Yat zu fahren, um Vögel zu beobachten, und am Samstagabend gehen sie zur Eröffnung der ersten Ausstellung seines Schwagers, des Bildhauers. Alle Architekten scheinen nach alternativen Lebensweisen zu streben.

Alastair sieht dem Samstag ohne jede Vorfreude entgegen. Es wäre Bens siebzehnter Geburtstag gewesen – er ist an seinem Geburtstag gestorben.

Ach, ich bin ein verwirrter Mann in mittleren Jahren. Ach, Ben.

Kapitel 2

Die Vögel in der Dachrinne wecken ihn, noch bevor der Wecker klingelt. Stare und Spatzen flattern und kratzen, und aus dem Geäst des Walnussbaums unter seinem Fenster dringt ein fröhliches Gezwitscher zu ihm herauf. An der Lebhaftigkeit des Treibens kann er erkennen, wie der Tag werden wird.

Wiz liegt im Bett, massiert geistesabwesend seine Erektion in der Pyjamahose und kneift die Augen zusammen, die er dann schnell wieder öffnet, sodass sich der Lichtstreifen, der durch den Spalt zwischen den Vorhängen fällt, abwechselnd ausdehnt und zusammenzieht. Wenn er die Lider zu millimeterdünnen Schlitzen schließt, wird der Streifen zu einem rostfleckigen Balken vor braunem Hintergrund – genau die Farben des Eis einer Heidelerche. Wiz kennt so ungefähr alle Arten von Vogeleiern, die es gibt, sogar die selteneren. Sein Gedächtnis für solche Fakten ist erstaunlich. Wenn er dagegen daran denken soll, jemandem etwas auszurichten, oder wenn er chemische Formeln, Daten von Schlachten oder Namen früherer Premierminister auswendig lernen soll, dann vergisst er alles. Mit glasigen Augen sitzt er über Diagrammen der Erdkruste, aber kaum drückt man ihm einen Artikel über die Gewohnheiten des Rotkopfwürgers in die Hand, arbeitet sein Gehirn mit der Effizienz eines Computers. Lanius collurio – er kennt auch alle lateinischen Namen. Allerdings erstreckt sich sein Talent für Latein nur auf die Ornithologie und nicht auf Caesar (Bellum Gallicum, Buch VII). Früher haben ihn die Jungs an seiner Schule damit aufgezogen: Spatzenhirn, stichelten sie, Eierkopf. Später, nach Bens Tod, sind sie respektvoll auf Distanz gegangen. An der Rivers School gibt es eine Arbeitsgemeinschaft für Vogelkunde, die jedoch nur spärlich besucht wird. Wiz' Freund Josh poliert sein Image etwas auf: Er ist groß, sorglos und ein begeisterter Fußballer alles das, was Wiz nicht ist. Aus irgendeinem Grund hat er sich Wiz zum Freund gewählt, als die beiden Jungen neu in der Klasse waren.

In die Leere des Schlafes gehüllt wie in ein Laken, liegt Wiz da und nimmt nach und nach alles in sich auf: Licht und Schatten, die Vögel, ein gurgelndes Geräusch, ein Gewicht auf seinen Beinen. Nach und nach entfaltet sich sein Bewusstsein, wie ein Fries, der Stück für Stück enthüllt wird: Das Gurgeln kommt aus den Leitungsrohren, das Gewicht auf seinen Beinen ist Schrödinger. Und nun dringen Informationsfetzen über den vor ihm liegenden Tag zu seinem Gehirn durch: Es sind Ferien – Mitte des Schulhalbjahrs. Bald muss er aufstehen und die Zeitungen austragen. Heute kommt Klaus zu einer seiner zweiwöchentlichen Unterrichtsstunden. Und Wiz hat sich vorgenommen, dabei zu sein.

Schrödinger hat seinen Namen von Ben bekommen. Wiz hatte ihn im Schuppen gefunden, als er nach einem gerade flügge werdenden Spatzenwaisen sehen wollte, den er dort an Eltern statt aufzog. Der getigerte Kater miaute vor Freude, als er eintrat, und zeigte ein bemerkenswertes und totales Desinteresse an dem Vogel. Er war nicht kastriert und offenbar Opfer eines Unfalls geworden, denn Ober- und Unterkiefer standen völlig schief zueinander, sodass sein unterer linker Eckzahn mitten in seinem Maul wie das Horn eines Einhorns herausragte. Außerdem fehlte die Hälfte seines Schwanzes. Liz ließ ihn zuallererst kastrieren, trotzdem verschwand er weiterhin tagelang, kam aber immer wieder zurück. Das war auch der Grund, nachdem er einen Monat lang auf den Namen »Kater« gehört hatte, warum er von Ben in Schrödinger umbenannt wurde – Schrödingers Katze war nämlich die Hauptfigur in einem Experiment des großen österreichischen Physikers, von der man nie wusste: Lebt sie nun noch oder ist sie schon tot?

»Er ist mein Kater.« Wiz, damals neun Jahre alt, hatte vor Wut gekocht. »Ich habe ihn gefunden und ich will, dass er ›Kater‹ heißt. Wer weiß schon, wer Schrö-Dingsbums war? Ich hasse den Namen. Er ist doof.« Den Tränen nahe, wurde er überstimmt. Seine Mutter enthielt sich, und sein Vater stand auf Bens Seite.

Zu Wiz' Erleichterung bewahrte sich Schrödinger seine seltsame Apathie Vögeln gegenüber, was dem Jungen Loyalitätskonflikte ersparte. Inzwischen enden die Raubzüge des Katers in der Regel am Gartenzaun.

Ben war es auch, der auf den Spitznamen »Wiz« anstelle seines richtigen Namens – Oscar – verfallen war. Er hatte immer ein Faible für Wortspiele gehabt. »Oscar, Os ... Oz«, sagte er, als sie zehn beziehungsweise sieben waren. »Oz ... The Wizard of Oz ... Ha, du bist der Zauberer! Wiz! Wiz und Liz!«

Klug war er, der Ben, seinen Lehrern zufolge beinahe brillant. Altersgenossen und Erwachsene begegneten ihm mit Respekt. Er war groß für sein Alter (Wiz hingegen ist klein) und gut im Sport, besonders im Tennis, und mit dem Skateboard konnte er nach einem fast schulterhohen Sprung eine saubere Landung hinlegen. Wiz dagegen ist hoffnungslos ungeschickt. Er kann nicht Tennis spielen, weil er den Aufschlag nicht beherrscht – es will ihm nicht gelingen, den Ball senkrecht in die Höhe zu werfen. Sein Vater verliert dann die Geduld mit ihm, worauf er noch schlechter wirft.

Wiz stützt sich auf die Ellbogen und zieht Schrödinger zu sich hinauf. Der Kater legt sich um seinen Hals und schnurrt sein Vibrato an der Kehle des Jungen. Der Wecker lässt ein triumphierendes Kikeriki ertönen; Wiz drückt den Springgockel wieder nach unten und schwingt sich aus dem Bett. Er zieht die Einsteckdecke zurecht, und das Bett ist gemacht. Aufstehen bereitet ihm keine Probleme. Für seine Hobbys muss er frühmorgens ebenso bereit sein wie nachts: Vogelbeobachtung, Film, Fotografie – Sonnenaufgang, wenn die Vögel. gerade aktiv werden, Sonnenuntergang, wenn sie sich zur Nacht niederlassen, während die Enten mit anderem Ziel davonfliegen ... Und eine kleine Formation, dunkel gegen den rosaroten Himmel, entpuppt sich als eine Schar Wildenten ... Zudem hat er ein konkretes Ziel vor Augen, wenn er aufsteht, um die Zeitungen auszutragen: Er spart auf einen Camcorder.

Er duscht, zieht sich an, zwingt einen Kamm durch seine dicken Locken und läuft, dicht gefolgt von Schrödinger, die drei Treppen von seinem Dachzimmer hinunter in die Küche.

»Morgen zusammen«, begrüßt ihn sein Vater aus den Tiefen seines Weizenkleie-Müslis und streckt die Hand aus, um Wiz wie jeden Morgen durchs Haar zu fahren, bevor er sich wieder dem Artikel über eine neue Technik für Zahnfüllungen zuwendet.

Wiz öffnet eine Dose mit Thunfischgeschmack für Schrödinger und gibt das Futter mit einem Löffel in die Plastikschüssel.

»Apropos Zähne«, sagt Alastair und wendet sich dabei von der Abbildung im Text seinem Sohn zu. »Du hast wieder geschrubbt. Deine Zahnbürste sieht aus wie ein Igel, der gerade Bekanntschaft mit einem Brummi gemacht hat.«

»Sonst dauert es doch ewig.« Wiz drückt den Deckel auf die Futterdose und gießt sich Orangensaft ein. Die verschütteten Tropfen nimmt er mit dem Finger auf und leckt sie ab. Er frühstückt erst, wenn er zurückkommt. Manchmal bekommt er bei Bert interessante Sachen zu essen.

»Komm dann bloß nicht mit zwanzig angelaufen, weil du eine Zahnfleischresektion von mir willst.« Alastair versucht, es leichthin zu sagen, wie einen Scherz, doch Wiz hat schon die Hände zu Fäusten geballt. Verärgerung schwingt in der Stimme seines Vaters mit, als er hinzufügt: »Wenn du doch nur die elektrische Zahnbürste benutzen würdest ...«

»Ich hab's dir doch schon gesagt: Das fühlt sich so komisch an. Es kitzelt.«

»Herrgott noch mal!«

»Tut es wirklich.«

Sein Sohn. Er ist so exzentrisch. Alastair gibt sich alle Mühe, ihm mit Wohlwollen zu begegnen, aber es ist zu früh am Morgen, und in der Nacht hat Liz – nun, sie hat ...

Wiz stürzt den Orangensaft hinunter und verschwindet mit einem »Tschüss, Dad« in Richtung Schuppen, um sein Fahrrad zu holen. Klappernd schlägt die verglaste Küchentür hinter ihm zu. Sein Fahrrad lehnt an dem Bike von Ben. Für einen Moment spielt er mit dem Gedanken, was wäre, wenn er das Rad seines Bruders nähme. Er starrt es an und lässt seine Finger über den schmalen Sattel gleiten. Erinnert sich, wie sehr sich sein Bruder über das Geschenk gefreut hatte. Bens fünfzehnter Geburtstag. Mit ernster Miene schiebt er sein eigenes Rad aus dem Schuppen. Es ist zehn vor sieben. Ein silberner Dunstschleier hängt über allem, legt sich auf Haar und Haut, liegt über dem süß duftenden Gras, das unter den Gummisohlen seiner Turnschuhe quietscht. Der Schleier verschluckt die ersten Strahlen der fahlen Sonne, bedeckt den dunklen Kanal, hüllt die Kähne ein, die dort, Bug an Heck vermurt, wie verstohlene Liebhaber kauern, und verbirgt die Vögel, die aus den Weiden am einen Kanalufer zu den Obstbäumen der Vorortgärten am anderen Ufer hinüberrufen.

Er geht zum Vogelhäuschen hinüber und schaut hinein: Die Sonnenblumenkerne und die Rosinen sind verschwunden, ebenso die Nüsse. Erstere sind bei den Buchfinken beliebt. Wiz spürt befriedigt, wie ihm ein bisschen warm ums Herz wird. Anfangs musste er sie erst einmal anlocken, und nach wie vor hegen sie ein begründetes Misstrauen gegen die ingwergelbe Katze von nebenan, die im Kräuterbeet kauert und sie mit verführerischem, kehligem Schnurren in die Falle locken will. So leise wie möglich öffnet er die Gartenpforte und schließt sie hinter sich voller Erleichterung, nicht in der Nähe sein zu müssen, wenn sein Vater in solcher Stimmung ist. Er spürt, wie die Anspannung zunimmt, je näher der Samstag heranrückt. Ob sein Vater das mit seiner Mutter weiß? O Gott, wie schrecklich, wenn er es wüsste. Wenn nicht, darf er es nie erfahren.

Bevor er sich in den Sattel schwingt, klettert er auf die Mauer, die das Haus umgibt, trampelt dabei einen überhängenden Zweig des üppig wachsenden Rosmarins nieder und schaut nach, ob das Schwalbennest Fortschritte gemacht hat. Es ist fast fertig: eine ungefähr zehn Zentimeter breite Erhebung aus Schlamm, Steinchen und Speichel. Gerade eben kann er die metallisch glänzende Haube einer Schwalbe auf dem mittleren Dachbalken ausmachen, und noch während er sie beobachtet, schießt ihr Partner, der von seinem Ausflug mit einem lebenden Regenwurm im schmalen, schwarzen Schnabel zum Nest zurückkehrt, dicht über seinen Kopf dahin. Als der Vogel auf dem Balken landet, begrüßt ihn der Partner mit einem aufgeregten »Zwit, Zwit, Zwit«.

Ob sie ihn wohl erkennen? fragt er sich. Ein paar Mal pro Tag sieht er nach ihnen, mittlerweile lassen sie sich nicht mehr von ihm stören. Dann steigt er auf sein Rad und fährt tonlos pfeifend die Kingston Road hinunter, für einen Moment glücklich und selbstvergessen.. Dieser Teil Oxfords, in dem Wiz seit seiner Geburt lebt, ähnelt einem völlig autarken Dorf.. Er kennt alle Läden und ihre Besitzer. Kingston Road ist eine freundliche Straße mit einer ganz eigenen Atmosphäre. Ab dem Laden mit Partybedarf heißt sie dann Walton Street, bleibt aber dieselbe Straße. Das Phoenix-Kino ist einer seiner Lieblingsorte, auch wenn so viele der Filme dort »ab 18« laufen. Dass er als achtzehn durchgeht, ist bei seinem Elfengesicht, der hohen Stimme und einer Größe von unter einssechzig undenkbar. Aber er hat große Füße, und die geben ihm Hoffnung, eines Tages groß zu sein. Zurzeit schlüpft er mit Josh durch, in jüngster Zeit auch mit Frederick, indem er sich mit gesenktem Kopf auf Tuchfühlung hinter ihnen hält.

... Vorbei an der chemischen Reinigung, dem Grog Shop und dem Wettbüro sowie dem Café von Jericho gegenüber, dann kommt das Fahrradgeschäft ... Das Sekretariat seiner Schule hat ihm eine Arbeitserlaubnis beschafft; alles ist ganz legal. Wiz ist noch nicht sechzehn und darf deshalb nicht vor sieben Uhr morgens anfangen. Wenn er dürfte, könnte er das Doppelte verdienen, denn mit einer weiteren Stunde könnte er zwei Straßen mehr beliefern. So hat er ungefähr achtzig Häuser auf seiner Tour, das macht zwei Runden, die er vor dem Schulgottesdienst um halb neun gerade so schafft. Ein langer Tag. Erst gegen halb sechs kommt er von der Schule zurück. Aber er verdient 19 Pfund pro Runde, das macht 38 Pfund pro Woche, jeden Sonntag bar auf die Hand. Die Sonntage bedeuten mehr Arbeit, weil die Sonntagszeitungen so schwer sind, dass er für dieselben zwei Straßen ein paar Mal zusätzlich bei Mr Singh Station machen muss. Unter der Woche rennt er nur so von einem Abonnenten zum nächsten. Die meisten bekommen den Guardian oder den Independent; nur einer bezieht die Sun. Wiz legt auf dem Hof eines ehemaligen Baugeschäfts ein paar Häuser davor immer einen Zwischenstopp ein, um heimlich einen Blick auf die Seite drei zu werfen. Wenn er die lüsternen Gesichter und die ballonartigen Brüste mit den Brustwarzen wie runde Babymündchen betrachtet, prickelt sein Penis und wird hart. So hat er Bert kennen gelernt: Der Mann schläft im Freien auf einem Sandhaufen unter dem Torbogen im Hof, seinen Husky wie einen grauen Bettvorleger über seine Beine drapiert. In letzter Zeit bestehen Wiz' Träume aus einer merkwürdigen Mischung von großen, frei schwebenden Brüsten, künstlichen Gebissen und den Augen seiner Mutter. Dann taucht Ben auf (der sich irgendwann in Bert verwandelt), übernimmt wie ein Filmregisseur das Kommando und weist allen nicht zusammenpassenden Komponenten ihren entsprechenden Platz zu.

Er schließt sein Rad am Laternenpfahl vor Mr Singhs Zeitungsladen an.

»Du kommst früh, junger Wiz«, sagt Mr Singh, groß gewachsen und würdevoll unter seinem makellos weißen Turban. »Was ist passiert? Kein langer Ferienschlaf heute Morgen?«

Klaus ist passiert. Er will sichergehen, nicht eine beweisträchtige Sekunde von dessen Ankunft zu verpassen.

»Bin früh aufgewacht«, sagt er, reibt seinen rechten Fuß an der linken Wade und lächelt sein glückseliges Lächeln.

»Zeit für 'ne Tasse Tee?«

»Tja also ...«

»Ich hab gerade eine Kanne aufgebrüht.«

»Na gut.« Fügt ein »Danke« hinzu und überschlägt: Fünf Minuten länger werden auch nicht schaden. Klaus kommt nicht vor neun.

Mr Singh kennt Wiz und seine Eltern, seit er vor zehn Jahren den Laden übernommen hat. Seine Frau und er sind zu Bens Begräbnis gekommen und haben geweint. Ihr einziges Kind, ein Sohn, war drei Jahre zuvor bei einem Überfall mit rassistischem Hintergrund getötet worden.

Er liebt es, zu reden und seinem Unmut Luft zu machen. Besonders gern zieht er über den Ladenbesitzer eine Tür weiter her, einen Hindu.

»Dem werd's ich's schon zeigen, diesem nichtsnutzigen Halunken. Er hat absolut kein Recht, mir das anzutun. Der macht mir das Leben zur Hölle.« Er stürzt den schwachen Tee hinunter.

»Aber Mr Singh –« Wiz versucht stets, fair zu bleiben, »Sie waren es doch, der damit angefangen hat, Obst und so zu verkaufen.« Er blinzelt und rutscht auf dem Hocker herum, auf dem er hinter der Kasse neben seinem Arbeitgeber sitzt.

Mr Singhs Blick wird wütend, ist aber nicht auf den Jungen gerichtet, sondern in Richtung seines Feindes, der eine Tür weiter einen Obst- und Gemüseladen mit Poststelle betreibt.

»Pah, ein paar lausige Äpfel. Was zählen die denn schon?« Und die Orangen. Und die Tomaten, und die Kartoffeln. »Sie waren ja wohl nicht draußen ausgelegt, oder? Ich hatte sie nur für meine Stammkunden im Angebot und hab sie nicht der ganzen Welt gezeigt. Er hat Zeitungen draußen, in einem Ständer. Er – hat – kein – Recht – dazu.« Mr Singh wird lauter und stößt aus zusammengepressten Lippen ein abschätziges »Ppp« hervor. »Die sind einer wie der andere, seine Leute. Denen ist einfach nicht zu trauen.«

Mr Singh ist ein Sikh. Wiz' Vater hat ihm erklärt, dass der Krieg zwischen beiden Männern seine Entstehung nicht Obst und Zeitungen verdankt, sondern Göttern.

Er sammelt seinen ersten Stapel Zeitungen zusammen, steckt ihn in den dafür vorgesehenen Beutel, hängt ihn sich über die Schulter und radelt los.

Die ersten paar Häuser schlafen noch mit Vorhängen vor viktorianischen Fenstern. In einigen Häusern hört er wildes Hundegebell, in einem Streit, Schreien, durch den offenen Mund des Briefkastens: »Du hast gesagt ...« – »Hab ich nicht!« – »Auf dich kann man sich nie verlassen ...« Und dann wird die Zeitung von der anderen Seite durchgezogen und ihm von unsichtbarer Hand entrissen.

Wird sein Vater seine Mutter anschreien, wenn er es herausfindet?

Wird er sie umbringen? O Gott, er darf gar nicht daran denken, so furchtbar ist das.

Er fischt die Sun heraus und hält sie bereit, doch zuerst kommt er zu dem Haus einer Patientin seines Vaters. Sie ist eine ältere Dame, Archäologin oder etwas in der Art. Jetzt: steht sie in Nachthemd und Gummistiefeln vor dem Haus und gießt die Pflanzen in den Kübeln.

»Guten Morgen, Wiz«, ruft sie.

»Hallo«, erwidert er, geht auf sie zu und gibt ihr die Zeitung.

»Mein Lieber, ich glaube, das ist nicht meine«, sagt sie nachsichtig und gibt ihm die Sun zurück.

»Oh ...« Ganz durcheinander, senkt er den Blick; Tränen. schießen ihm in die Augen, so peinlich ist ihm das. Unter der Sun zieht er den Guardian hervor und reicht ihn ihr. »Ihre Rechnung liegt bei«, murmelt er. Mit feuerroten Ohren fährt er weiter und spürt ihren Blick in seinem Rücken. Nun wird er in die Southmoor Road abbiegen müssen, um die Zeitung zu lesen.

... Er hält am Bordstein: Kein Mensch weit und breit. Ungeduldig blättert er zur Seite drei ... O Gott, sie ist so schön. Großer Gott, er will sie anfassen, sein Gesicht dort vergraben. Seinen ... Wiz stöhnt vor unterdrückter Lust. Vierzehn ist er und der kleinste Junge in der Klasse, mehr als einen Zentimeter kleiner als der nächstgrößere Junge. Und Anzeichen für den Stimmbruch gibt es auch nicht. Doch die Triebe sind alle schon vorhanden. Vom Druck seines Sattels werden sie ein wenig besänftigt werden, als er für den Rest seiner Runde in die Pedale tritt und in Berts Richtung fährt.

Bert – angegrautes Haar, marmoriertes, rot geädertes Gesicht – ist gerade damit beschäftigt, sich ohne Spiegel zu rasieren. Mit dunkel verfärbten Fingern, die wie Zweige aus den abgeschnittenen grauen Wollhandschuhen hervorstechen, zieht er die schlaffen Falten seiner Haut zum Rasieren glatt. Wiz setzt sich neben ihn und wartet respektvoll. Die Rasierklinge hört sich wie Sandpapier an, wenn sie über die weißen Stoppeln kratzt. Wiz kramt in seiner Anoraktasche nach den Schokoladenkeksen: einer für Bert und einer für George, den Husky mit den zwei verschiedenfarbigen Augen.

»Die hab ich dir mitgebracht«, sagt er, als Bert den Rasierer wieder in dem uralten Rucksack verstaut, der seinen ganzen Besitz enthält und zugleich als Kissen dient.

»Danke dir«, sagt Bert, nimmt die Kekse und gibt einen dem Hund.

Vor einem Monat hat er Bert zum ersten Mal getroffen. Wie immer hatte er in dem Hof Halt gemacht, und da war er, zusammengerollt auf dem Boden, und George lag quer über ihm. Überrascht starrten sie sich an.

»Und wer bist du wohl?«, stieß Bert, der sein Terrain verteidigen wollte, grummelnd zwischen schlaftrockenen Lippen hervor und setzte sich auf.

»Wiz. Ich heiße Wiz.

»Komischer Name.«

»Das ist ein entliehener Name. Eine Art Spitzname.«

Bert grunzte und öffnete eine Dose Tabak, um sich eine Zigarette zu rollen.

Wiz fuhr fort: »Aus dem Wizard of Oz.«

»Hä?«

»Aus dem Film. The Wizard of Oz. Sie wissen schon.«

»Keine Ahnung«, sagte Bert. Er leckte das Papier am Rand an, rollte die Zigarette zusammen und zündete ein Streichholz an. Wiz bewunderte seine fachmännische Sicherheit dabei. Alles wirkte so natürlich.

»Ich mag Ihren Hund.«

»Der alte George. Hat man mir geschenkt, wie er noch'n Welpe war.«

»Was für eine Rasse ist er?

»Ein Husky. Selbe Sorte wie die, die die Schlitten ziehen. Hat man mir geschenkt«, wiederholte er.

Wiz streichelte das dichte Nackenfell des Hundes. Das Tier knurrte leise und rückte näher an sein Herrchen heran. Da bemerkte Wiz die Mundharmonika.

»Spielen Sie darauf?«

»Jau.«

»Um Geld zu bekommen?«

»Jau.«

»Viel können Sie damit nicht verdienen. Wenn Sie sonst nichts machen.«

»Ich komm schon klar ... Und du trägst Zeitungen aus?«

»Seit fast drei Wochen schon.«

»Hab dich noch nich' gesehen. Aber ich lag ja auch flach, mit der Lunge und so.«

»Mit der Lunge?«, fragte Wiz.

»Meine Lunge – kriegte keine Luft.« Der alte Mann atmete übertrieben stark ein und aus, wobei er ihm pfeifend seinen übel riechenden Atem ins Gesicht blies.

»Ach so, ich verstehe«, sagte Wiz. »Die Lungen.« Zum Zeichen, dass er verstanden hatte, ahmte er das Atmen nach, und Bert nickte. Er wühlte in seinem Rucksack herum und holte eine Stulle hervor.

»Willste was davon?«

Seitdem ist eine Freundschaft zwischen ihnen entstanden. Bert hat Wiz beigebracht, auf der Mundharmonika zu spielen. Wiz hat ihm dafür seine Vogeldias gezeigt und liest ihm Neuigkeiten aus den Zeitungen vor.

»Bert, was machst du eigentlich im Winter, wenn es richtig kalt wird?«, fragt Wiz ihn jetzt.

»Da gibt's 'n Heim, wo ich hin kann, wenn ich will. Dann is' da noch das Tageszentrum.«

»Wo ist das?«

»Am Bahnhof. Na ja, mal was anderes. Kannste mit wem reden, und 'nen heißen Tee kriegste auch.« Er räuspert sich und spuckt aus. Wiz starrt auf den glitzernden Klecks.

Ihre Unterhaltung geht nie besonders tief, so sehr er sich auch bemüht und versucht, versteckte Anspielungen und philosophische Weisheiten in jede von Berts Äußerungen und Pausen hineinzulesen. Doch er wartet geduldig weiter auf den richtigen Augenblick, weil er überzeugt ist, dass Bert mehr »Tiefgang« besitzt, als es den Anschein hat, und dass hinter seiner einfachen Sprache der Geist eines Weisen steckt. Er hängt an jedem Wort und wartet auf den Moment der Offenbarung. Viermal hat er Zoff in Beverly Hills mit Bette Midler und Richard Dreyfus gesehen, in dem Nick. Nolte den Penner spielt. Gerade vor ein paar Wochen lief Jean Renoirs Boudu – vor dem Ertrinken gerettet im Fernsehen, ein Schwarzweißfilm von 1930 über einen Berber, der ins Wasser geht, weil er sterben will. Und nicht zu vergessen Charlie Chaplins Tramp. Mittlerweile sieht Wiz in Berts wimpernlosen, blutunterlaufenen Augen das Licht der Weisheit glimmen und verleiht jeder längeren Pause zwischen seinen Sätzen das Gewicht philosophischer Kontemplation, indem er dieser stinkenden, armseligen Gestalt den Geist eines Nietzsche zuschreibt.

Er kehrt zurück zu Mr Singh, um sich den zweiten Stapel Zeitungen abzuholen, und fährt mit der neuen Ladung wieder los.

Ben war dieselbe Runde gefahren. Er hatte auf ein Elektronenrastermikroskop gespart ... Wiz auf den Spuren seines Bruders ... Dieselben Gardinen, durch die er blickt, dieselben Hunde, die ihn ankläffen ... Milchflaschen vor diversen Haustüren, die darauf warten, hereingeholt zu werden. Er sieht es, wie sein Bruder es gesehen hat. Mit den Augen seines Bruders.

In Gedanken ist Ben nie weit weg. Ben bringt ihn immer wieder durcheinander, verfolgt ihn wie ein Schatten. Schattenboxen – früher hat er so mit Wiz geboxt, hat ihn gereizt und provoziert und dabei stets gelächelt. Ein unschuldiges, harmloses Spiel, das Wiz in Rage brachte, bis er seine Frustration hinausbrüllte, und in sich eine Wut aufsteigen ließ, wie er sie noch nie gegen irgendjemanden empfunden hatte. Dann warf er sich jedes Mal gegen seinen Bruder und dessen Mauer aus Lachen und guter Laune. Er weiß noch, wie er sechs oder sieben war und ein neues Spielzeuggewehr bekommen hatte: Die wilde Entschlossenheit, mit der Wiz seinen Bruder »erschossen« hatte, war mehr als bloßes Rollenspiel gewesen. Und dann hatte es auf einmal während der letzten drei oder vier Monate Anzeichen für eine stillschweigende Entspannung gegeben. Bens Sticheleien wurden harmloser, und manchmal zeigte er stärkeres Interesse an Wiz' Hobbys. Der Spott war nun eher zärtlich als höhnisch. Wiz, misstrauisch und vorsichtig, reagierte nur langsam darauf.

Erinnerungen bohren in ihm. Immer und überall taucht urplötzlich Ben auf, unbezähmbar wie ein Springteufelchen. Ben Ach-was-bin-ich-schlau. Ben Die-ganze-Welt-hat-mich-lieb. Wiz weiß noch, wie er andauernd versucht hat, seinem Bruder zu gefallen, ihm zu zeigen, dass auch er klug, witzig oder originell sein und herumkaspern konnte, dass auch er gut in Fußball und Kricket war ...

Da standen sie also, vielleicht vier Jahre ist es her, im Wartezimmer der Praxis seines Vaters. Warum waren sie dort? Wiz, der geistesabwesend seine Zeitungen einwirft, kann sich an den Grund nicht erinnern, weiß aber noch, wie er seinen Bruder angestoßen hat: »Los, komm.« Mit einem Mal mutig und voller Adrenalin, weil er ihn zu diesem Spiel angestiftet hatte. Dann stahlen sie sich die Treppe hinunter in das Labor. Verschiedenste starke, miteinander vermischte Gerüche umfingen sie: Da roch es Übelkeit erregend nach Äther, beißend nach dem Abdruckmaterial, stechend nach Methanol. Ein kühler Raum von ungefähr sechs Metern Länge mit einem Linoleumboden, auf dem sich Kisten unterschiedlichster Größen stapelten. Auf der einen Seite eine frei stehende Platte mit den Geräten zur Herstellung der Gussformen: Zentrifuge und Bunsenbrenner. An den Wänden Regalbretter, auf denen Dutzende von Flaschen mit Äther, Chloroform oder Mundwasser aufgereiht waren, dazu versiegelte Schachteln sowie reihenweise Gussformen für Gebissformen aus Gips, künstliche Gebisse und Zahnspangen. Wiz und Ben trugen beide Zahnspangen.

»He, sieh mal!«, rief Wiz und nahm sich zwei künstliche Gebisse, eines für jede Hand. »Wie geht es Ihnen? Mir geht es bestens ... Sie sehen ja uralt aus ... Na, das würden Sie auch, wenn Sie ...«

»Ich glaube, das solltest du nicht tun, Wiz«, warnte Ben, der sonst zu jedem Schabernack bereit war.

»Feigling«, höhnte Wiz schadenfroh, wie es sein Bruder so oft bei ihm getan hatte. »Wer ist jetzt feige? Und nur, weil es meine Idee ist. Du willst nicht mitmachen, weil ich die Idee hatte.«