Heute ziehst du aus - Kriss Rudolph - E-Book

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Kriss Rudolph

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Beschreibung

Bitte stellen Sie das Wohnen ein Was ist nur los, wieso geht's für Lorentz Drache gerade so dermaßen abwärts? Hat ihn jemand geschubst? Gar nicht so unwahrscheinlich, immerhin hat auf 11 Etagen jeder Hausbewohner Grund genug, verdammt sauer auf den arroganten Boeing-Typen zu sein, denn Lorentz hat es sich im Laufe der Jahre mit allen Nachbarn und einigen –innen irgendwie verscherzt. Und jetzt fliegt der feine Herr Kapitän in Extremzeitlupe an den Wohnungsfenstern vorbei, und statt Hilferufen oder Mitleid hört er im Fallen nur Kommentare wie "Ist der Aufzug kaputt?", "Ach, Sie ziehen aus?" oder "Wo du schon mal auf dem Weg nach unten bist: Sei ein Schatz und nimm den Müll mit, ja?". Und wenn kein Wunder passiert, dann hat Lorentz gleich ein finales Date mit dem Bürgersteig ... "Ist der Aufzug kaputt?" Meine Ex-Freundin hebt nur beiläufig den Kopf, als sie mich am Fenster bemerkt. "Sehr witzig." "Du solltest dir was überziehen." "Wie besorgt du plötzlich um mich bist." "Ist es so kalt da draußen?" Katarina sieht mir ungeniert zwischen die Beine. Bevor ich antworten kann, steht sie auf und schließt mit einer hektischen Bewegung den Vorhang. Sie ist immer noch sauer wegen des fliegenden Büstenhalters. Warum sind alle Frauen so nachtragend?

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Kriss Rudolph

Heute ziehst du aus

Roman

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Sag beim Abschied leise »Servus« Nicht »Lebwohl« und nicht »Adieu« Diese Worte tun nur weh! Doch das kleine Wörterl »Servus« Ist ein lieber letzter Gruß Wenn man Abschied nehmen muss.

(Salomon Tisch & Hans J. Lengsfelder, 1934)

12. Etage

Lorentz Drache

Ich falle, verdammte Scheiße! Ich falle und habe keinen blassen Schimmer, wieso. Eben noch hatte ich die zauberhafte Emma im Arm, und jetzt gebe ich hier den Ikarus. Wenn mich jemand sieht! Ich bin nackt, mein Rücken müsste mal wieder enthaart werden. Der Wind fegt durch meine Beine, und es ist arschkalt. Ich hol mir hier draußen noch den Tod.

Normalerweise gehe ich nie ohne Uniform aus dem Haus. Meine vier goldenen Streifen sind wie eine zweite Haut. Offiziell darf ich nur drei tragen, eine Kleinkariertheit der Airline. Aber in Wahrheit steht mir der Kapitäns-Streifen längst zu, und der ukrainische Schneider, den mir meine frühere Putzfrau empfohlen hat, stellt keine Fragen. Demnächst begeht unsere Abschlussklasse die 20-Jahr-Feier und wie stehe ich dann da, zwischen lauter Kapitänen und Kapiteusen. Mit 41 immer noch in der Uniform des Ersten Offiziers: Das ist hochnotpeinlich und kommt gleich nach Mit-500-Euro-bei-Günther-Jauch-Rausfliegen und Sich-beim-Pinkeln-ins-Waschbecken-Erwischen-Lassen.

Aber wegen eines Streifens mache ich ja nicht gleich Harakiri, ich bin nicht lebensmüde oder so was. Der alte Ziedlow, ja, der saß letztes Jahr beinebaumelnd auf dem Geländer im 6. Stock, aber dann hat sich der Feigling von der Feuerwehr reinquatschen lassen. Später hat er es doch noch geschafft, mit dem Strick, und vergammelte bei 35 Grad in seiner Wohnung, bis man ihn Wochen später fand. Oder vielmehr das, was die Maden von ihm übrig gelassen hatten.

Warum aber sollte jemand wie ich springen? Ich bin ein lebensfroher Kerl, habe viele Freunde, sogar in New York; ich sehe gut aus, und als Pilot verdient man auch nicht schlecht. Ich bin weder schwul, noch habe ich mich bei Wer wird Millionär zum Horst gemacht. Weder habe ich Kinder noch ansteckende Krankheiten. Ich bin kerngesund, abgesehen vielleicht von den gelegentlichen Kopfschmerzen, die ich von den Flügen heimbringe. Mein intakter Purinstoffwechsel beschert mir die niedrigen Harnsäurewerte einer Frau, mein Cholesterinspieglein an der Wand ist der beste im ganzen Land, und von meinem Blutdruck kann sich manch einer noch ein Systölchen abschneiden. Wenn allerdings mein türkischer Nachbar seine scheußliche Musik aufdreht, bin ich ganz fix von Null auf 160 zu 100.

Unterm Strich besteht also überhaupt kein Anlass, mein junges Leben auszuhauchen. Wenn nun aber jemand nachgeholfen hat? Emma ist nicht kräftig genug. Aber es wäre naiv zu glauben, dass einer wie ich keine Neider hätte. Schon wegen der Dachterrasse.

Das Penthouse hier oben, das ist meins. Selbstverständlich ist so eine Wohnung mit großer Terrasse nicht ganz billig, gerade in dieser Gegend, aber der Anstand verbietet es mir, über den Preis zu reden. Denn was zählt, ist doch: Ich kann mir das leisten. Und die Frauen mögen den Blick über die Dächer der Stadt, wenn sie aufwachen – das ist mir 1267 Euro im Monat wert.

Ein Stockwerk mehr, und sie hätten sich einen anderen suchen müssen. Bekennende Triskaidekaphobiker ziehen nicht freiwillig in die Unglücksetage. Die Twin Towers hatten nicht mal einen 13. Stock, aber es hat ihnen bekanntlich nichts genützt. Auch an Bord haben wir keine 13. Sitzreihe. Darüber können unsere italienischen und brasilianischen Fluggäste nur lachen, dafür machen die sich bei der 17 ins Hemd. Und die Chinesen wiederum finden die 13 total super, trotzdem bauen wir ihnen die fehlenden Sitze nicht wieder ein. Keine Extlawülste!

Die Aussicht ist wirklich spektakulär, vor allem wenn die Sonne am Horizont untergeht und der Himmel brennt. Manchmal, im Sommer, sieht es so aus, als ob eine gewaltige Feuersbrunst hinter der mächtigen Skyline wütet. Der Turm der Deutschen Bank ist dann nur noch ein schwarzer Klotz, wie ein gigantisches Stück Kohle, und ich beruhige mich damit, dass meine Aktien in einem feuerfesten Safe liegen. Wenigstens behauptet das mein Anlageberater.

Über dem Viertel liegt eine merkwürdige Stille. Der kleine Park gegenüber, wo sonntags die alten Herren aus dem Viertel Boule spielen, ist ein großer dunkler Fleck. Auf der Straße fahren vereinzelt kleine schwarze Punkte mit roten Rücklichtern. Knapp drei Jahre wohne ich in diesem Haus, verglichen mit meinen Vorgängerwohnungen relativ lange. Immer hatte ich Pech mit den Nachbarn, aber hier wohnt endlich niemand mehr über mir, der um drei Uhr früh in Clogs Tango tanzt oder für die Leichtathletik-WM Kugelstoßen trainiert.

Ich habe die Wohnung zu dem gemacht, was sie ist. Erst ließ ich anständiges Parkett verlegen, Walnuss Schiffsboden Natur, in milder Lauge künstlich gealtert und resistent gegen Zigarettenglut, das hat nicht jeder; dann kamen noch Stuckornamente an die Decken. Besonders stolz bin ich auf die Lüsterrosette im Salon; zusammen mit dem Kronleuchter, der aus ihrer Mitte wächst, verleiht sie dem Raum etwas Herrschaftliches. Esszimmer und Salon werden durch Schiebepaneele aus getöntem Hartglas geteilt. Wenn die Sonne durch das Esszimmerfenster fällt und die Paneele geschlossen sind, wird das Wohnzimmer in ein warmes Blau getaucht – ideales Licht für meine Migräne.

Das Gebäude selber ist keine Schönheit, aber im Umkreis das größte, das ich finden konnte. Meine Wohnung liegt nur fünfzehn Autominuten vom Flughafen entfernt; wenn mal Not am Mann ist, bin ich sofort zur Stelle. Ich hatte immer gehofft, dieser Standortvorteil würde sich eines Tages auszahlen. Denn gegenüber meinen kosmopolitisch korrekten Kollegen, die chic in Barcelona oder auf Mallorca wohnen, habe ich klar die Nase vorn: Wenn es hier brennt, muss ich nicht erst noch meine Uniform über die Badehose ziehen. Lorentz Drache ist jederzeit für alle Eventualitäten gerüstet. Von meiner Dachterrasse aus kann ich die kleinsten Unregelmäßigkeiten im Flugverkehr erkennen. Ich melde mich dann sofort in der Einsatzzentrale; will mir hinterher nicht vorwerfen lassen, ich hätte meine Hilfe nicht angeboten. Ich identifiziere mich mit meinem Job. Ich bin, was ich tue. Leider weiß die Airline das nicht zu würdigen. Stattdessen wirft man mir seit geraumer Zeit Knüppel zwischen die Beine.

 

Das Fliegen hat mich schon als Kind gereizt. Mein Vater war Brandmeister bei der Flughafenfeuerwehr und hat mich und Gunnar manchmal mitgenommen. Mein großer Bruder, der früh wusste, wie man sich bei unseren Eltern einschleimt, wollte natürlich auch eine Zeit lang Feuerwehrmann werden. Bis er, um richtig auf die Kacke zu hauen, beschloss, sich von Berufs wegen auf den Mond schießen zu lassen. Leider verwarf er im Alter von sieben Jahren diese bestechende Idee zugunsten einer Karriere als Tierarzt.

Für mich stand seit meinem ersten Besuch am Flughafen fest: Ein einfaches Leben als Feuerlöscher ist nichts für mich, dazu brennt es auch viel zu selten. Ich strebte nach Höherem, ich wollte fliegen, nicht einfach nur als Erster Offizier zweite Geige spielen, Co-Pilot werden, wie die Ignoranten es nennen: Ich musste Kapitän werden.

Es fing auch alles ganz hoffnungsvoll an. Hin und wieder fuhr die ganze Familie sonntagnachmittags zum Flughafen raus. Während meine Eltern bei Kaffee und Kuchen saßen, beobachtete ich von der Aussichtsplattform begeistert die großen Maschinen beim Starten und Landen. Mein zwei Jahre älterer Bruder Gunnar, der auf mich aufpassen musste, drängelte im Fünf-Minuten-Takt, endlich wieder in den Schoß der Mutter zurückzukehren. Schon damals versuchte er, mir die Fliegerei madig zu machen.

Es war eine aufregende Zeit: Anfang der 70er Jahre zählte man an RheinMain schon über zehn Millionen Fluggäste, und jedes Jahr wurden es mehr. Wir waren bei fast allen Großereignissen dabei; ich erinnere mich sogar noch dunkel an die Landung des ersten Jumbos, obwohl ich da knapp vier war, und auch den ersten Airbus drei Jahre später erlebte ich live mit. Nur die Eröffnung des Terminals Mitte mit der aufregenden Gepäckförder- und -sortieranlage, die größtenteils in Tunnels verlief, verpasste ich, weil ich einen leichten Schnupfen hatte, der so leicht war, dass er mir nicht mal auffiel, aber die gute Mutter hielt es für unverantwortlich, mich aus dem Bett zu entlassen.

Bei unserem vorerst letzten Besuch, da war ich sieben und meine Mutter zum dritten Mal schwanger, lernten wir sogar einen echten Piloten kennen, und eigentlich hätte nun nichts mehr schiefgehen dürfen. Er war braungebrannt, hatte lockiges blondes Haar und trug eine dieser schicken blauen Uniformen, die sich bis heute kaum verändert haben, mit drei goldenen Streifen am Arm. Er versprach, mir und Gunnar beim nächsten Besuch das Cockpit zu zeigen. Ich konnte ihm allerdings ausreden, meinen Bruder in die Maschine mitzunehmen, weil es dem längst nicht so ernst war mit dem Fliegen: Der ehemalige zukünftige Tierarzt, träumte nämlich inzwischen vom Showbusiness und wollte Zauberer werden. Um die Tochter der Nachbarn zu beeindrucken.

Doch dann wurde Frieder geboren, und die Probleme fingen an. Mein kleiner Bruder kam mir in jeder Hinsicht ungelegen, schon die Schwangerschaft war gegen Ende ein einziges Ärgernis. Dabei hatte ich mich richtig auf Frieder gefreut. Als meine Eltern uns eröffnet hatten, dass ein Geschwisterchen unterwegs war, hatte Gunnar sich bloß erkundigt, ob er jetzt wieder rüberdürfte, die Nachbarstochter zersägen. Für mich aber war die Aussicht auf Familienzuwachs ein inneres Pastorenschießen. Endlich würde ich jemandem heimzahlen können, was mein großer Bruder mir alles angetan hatte.

Nun war man in der damaligen Zeit mit über 40 fürs Kinderkriegen schon ein wenig zu alt, und unsere Mutter konnte auf der Zielgeraden kaum mehr das Bett verlassen. Frieder machte also bereits Ärger, da war er noch gar nicht auf der Welt, und als er dann geboren war, drehte sich alles nur noch um ihn. Immer baute er irgendeinen Mist, fraß die Blätter von der Yuccapalme oder pisste aufs Sofa. Die Ärzte sagten, dass er höchstens 25 oder 30 würde, jetzt ist er schon 34, und langsam fühle ich mich verarscht, doch mein Anwalt sagt, da kann man nichts machen.

Meine Mutter ging nirgendwo mehr hin, weil sie es nicht ertrug, dass man sie wegen Frieders komischer Augen und der heraushängenden Zunge anstarrte. Da halfen auch die Beruhigungstabletten nicht, die sie seit seiner Geburt nahm: Die Ausflüge am Sonntagnachmittag waren gestorben.

Adios Airport, bye-bye Pilotenkarriere. Gute Nacht, schöne Uniform.

Dass Frieder behindert auf die Welt kam, war ein ziemlicher Schock, auch für meine Mutter, die immer sehr besorgt um die Gesundheit ihrer Söhne war und alles Menschenmögliche tat, um Gefahren von uns fernzuhalten. Wann immer wir in einem Restaurant zu Mittag aßen, desinfizierte meine Mutter zunächst das Besteck, zog dann einen kleinen Tauchsieder aus ihrer Handtasche, damit wir uns an dem möglicherweise ein halbes Grad zu kalten Apfelsaft nicht den Magen verdarben, und bevor man uns Kindern ein Eis kaufte (wegen akuter Salmonellengefahr ohnehin eine Seltenheit), warf sie einen Blick in unsere Hälse, auf der Suche nach einer verdächtigen Rötung. Irgendwann verzichteten wir ganz aufs Eisessen, und ich schätze, genau das war ihre Absicht. Bis ich sieben wurde, hätte ich das Kinderzimmer untervermieten können, so viel Zeit verbrachten wir in den Praxen irgendwelcher Ärzte, weil meine Mutter sichergehen wollte, dass der kleine Nieser nicht doch der Vorbote für eine Lungenentzündung war.

Bei Frieder kam man mit Tauchsiedern und Eisverzicht natürlich nicht weiter; allein in seinem ersten Lebensjahr wurde der kleine Scheißer zweimal operiert. Das alles nahm unsere Mutter so sehr mit, dass sie wie ein Geist durchs Haus wandelte, weil sie ständig auf Drogen war. Unser Vater spülte eines Tages all ihre Tabletten ins Klo und schlug vor, eine Selbsthilfegruppe zu gründen. Aber das machte es für unsere Mutter nur noch schlimmer. Die Begegnungen mit anderen Eltern nahmen sie so sehr mit, dass sie wieder anfing, Tranquilizer einzuwerfen, um die Treffen überhaupt zu überstehen. Irgendwann hat es unser Vater aufgegeben, sie von den Pillen abzubringen, aber vielleicht hat sich unsere Mutter auch nur bessere Verstecke einfallen lassen. Eines Tages waren die wohl so gut, dass sie die Pillen selbst nicht mehr fand. Jedenfalls ist sie von den Dingern weg, seit ich daheim ausgezogen bin.

Die Geburt von Frieder machte mich und Gunnar zu Kindern zweiter Klasse. Normalsein war plötzlich ein Manko, und zur Strafe mussten wir nun ein Zimmer miteinander teilen. Mit acht riss ich zum ersten Mal aus. Wollte zum Flughafen, dem Ort, der mir wie das Paradies erschien. Ich musste meinen Freund, den netten Piloten mit den Engelslocken wiederfinden. Der sollte mich nach Möglichkeit adoptieren und mir bei der Gelegenheit gleich noch das Fliegen beibringen. Wohnen wollte ich in seinem Flugzeug. Ich wusste, dass es in LKWs Kojen gab, und nahm an, dass etwas Ähnliches auch Flugzeuge hatten – zu Recht, wie ich bald herausfand.

Leider endete mein Ausflug an der Haltestelle. Gunnar, der nach seinen jüngsten Ambitionen als Magier nun eine Karriere als Geheimdetektiv anstrebte, hatte das Fehlen meiner Zahnbürste gemeldet. Der verdammte Bus fuhr damals nur einmal pro Stunde, und so holten mich meine Eltern zurück, bevor ich meinen schönen Plan in die Tat umsetzen konnte. Meine Mutter steckte mich sofort ins Bett, und ich drehte ihr wütend den Rücken zu. Das kam ihr gerade recht, denn so konnte sie mir das Fieberthermometer in den Hintern rammen; ich hätte mir ja sonst was holen können da draußen.

Beim zweiten Fluchtversuch war ich schon fast zehn, und dieses Mal hatte ich den kompletten Busfahrplan auswendig gelernt. Man musste mehrmals auf dem Weg zum Flughafen umsteigen, und ich fuhr sogar ein Stückchen mit der U-Bahn, zum ersten Mal in meinem Leben, was ich toll fand, durch dunkle Tunnel unter der Stadt hindurchpesen. Für einen Moment überlegte ich ernsthaft, ob ich nicht U-Bahn-Fahrer werden sollte. Aber als bei meiner Ankunft der neue Airbus A 300 über mir abhob, fiel mir wieder ein, dass U-Bahnen ja nicht fliegen konnten.

Ich irrte zwischen hektischen Reisenden und ihren Koffern umher, aber nirgends konnte ich meinen Freund, den Piloten, entdecken. Die ständigen Durchsagen machten mich nervös; jedes Mal, wenn die Stimme der Ansagerin ertönte, fürchtete ich, sie würde meinen Namen rufen, weil man bereits nach mir fahndete. Ich fragte eine freundlich wirkende ältere Frau in einem Zeitungskiosk nach dem Mann mit den drei Streifen am Ärmel, aber sie warf mich hinaus. Als ich auf eine Gruppe von perfekt geföhnten Frauen stieß, hatte ich mehr Glück: Alle waren sehr schick in ihren knielangen blauen Röcken und ihren Blazern mit den schräg angebrachten Taschen; dazu trugen sie schlichte blaue Hüte mit schmalem Schirm und um die Hälse geknotete Tücher in Melonengelb.

»Drei Streifen, hm?« Eine der Stewardessen, die stark nach Haarspray roch, nahm meine Hand. Die anderen kicherten nur blöd. »Und du weißt nicht, wie er heißt?«

Ich zuckte mit den Schultern, konnte mich nicht erinnern.

»Wo sind denn deine Eltern, Kleiner?«

Ich erzählte meiner neuen Freundin, dass ich aus dem Waisenhaus weggelaufen war und auf keinen Fall dorthin zurückkonnte, nicht jedenfalls, bevor ich ein Cockpit von innen gesehen hatte. Die nette Frau lächelte und fuhr mir zärtlich durchs Haar. Dann brachte sie mich zu einem Mann in einer ähnlichen Uniform, wie mein Freund mit den blonden Engelslocken sie getragen hatte. Er stellte sich als Herr Schmidt vor. Herr Schmidt war noch viel netter als der andere Pilot, außerdem leuchteten an seinem Ärmel vier Streifen.

Herr Schmidt nahm mich tatsächlich mit in sein Flugzeug. Er zeigte mir den »Bitte Anschnallen«-Schalter und den zur Regulierung der Kabinentemperatur. Ich durfte auf den Knopf drücken, den man benutzt, wenn man eine Ansage für die Passagiere machen wollte, und sogar die Betten, in denen Piloten schlafen durften, wenn sie auf Langstreckenflügen zu dritt waren, bekam ich zu sehen.

Zehn Minuten durfte ich bleiben, und ich versuchte, mir jedes Detail zu merken. Leider ließ sich Herr Schmidt nicht dazu bewegen, mich zu adoptieren, und meine große Freundin erklärte mir auf dem Rückweg zum Gate, ich möge es nicht persönlich nehmen, aber der Mann habe schon für drei uneheliche Kinder zu sorgen. Dann band sie mir zum Abschied ihr gelbes Halstuch um.

Mein Vater erwartete mich schon mit hochrotem Gesicht. Doch weder er noch meine Mutter schimpften mit mir, und zu Hause wurde ich von Frieder mit einem feuchten Kuss empfangen.

»Du mich auch«, sagte ich wie immer und ging zu Bett.

In dieser Nacht hatte ich meinen ersten erotischen Traum: Die Hauptdarstellerin war die nette Stewardess, die nach Haarspray roch, und obwohl sie mir mit ihrem Halstuch die Augen verbunden hatte, wusste ich, dass wir uns in einem der Pilotenbetten hinterm Cockpit befanden.

Dieser Traum war ein Zeichen: Nun bestand für mich überhaupt kein Zweifel mehr daran, dass ich Pilot werden wollte, ja – sollte! Wenigstens aus einem Familienmitglied musste doch etwas Anständiges werden.

Doch wie langsam die Zeit verging. Als ich ein paar Wochen später meinen 10. Geburtstag feierte, kam ich mir ungeheuer klein vor. Schließlich waren es noch acht Jahre, bis ich endlich Pilot werden konnte. Acht Jahre – so weit konnte ich schon im Kopf rechnen – das entsprach 2920 Tagen. Aus Frust begann ich, für jeden Tag, den ich ausharren musste, einen Strich an die Wand zu malen, versteckt, hinter dem Rücken von Bruce Lee, den Gunnar als Starschnitt an die Wand gepinnt hatte – das mit den Strichen hatte ich in einem Film gesehen, in dem ein Gefängnisinsasse auf seiner schmalen Pritsche sitzt und darauf wartet, in die Freiheit entlassen zu werden. Die Sache flog auf, als wir 317 Striche später umzogen. Unsere Wohnung im dritten Stock war wegen des Balkons zu gefährlich für Frieder geworden – so die offizielle Version. In Wirklichkeit flohen wir vor den Nachbarn, weil es unsere Mutter nicht ertrug, dass sie wegen meines halb garen Bruders tuschelten.

Zu jenem Geburtstag bekam ich eine Republic P-47 Thunderbolt von meinem Vater geschenkt. Keine echte natürlich, ein Nachbau des US-Jagdbombers, der im 2. Weltkrieg unter anderem auch bei der brasilianischen und mexikanischen Luftwaffe eingesetzt worden war, naturgetreu im Maßstab 1:20; nur die Napalmbehälter hatte man vergessen. Ich hütete die Thunderbolt wie einen Schatz und gab in der Schule mit ihren 2570 PS und der Höchstgeschwindigkeit von 697 km/h an – wenn man gerade keine Bomben und Raketen mitführte. Leider hatte meine Mutter, die viel Ruhe brauchte, mir verboten, im Haus den 2. Weltkrieg nachzuspielen, aber für militärische Zwecke hatte ich ohnehin wenig Verwendung, und so kapitulierte ich und setzte die Thunderbolt in der zivilen Luftfahrt ein. Ich stellte mir vor, ich säße in einem Cockpit wie dem von Herrn Schmidt und drückte den Knopf für Durchsagen. Ich dachte mir Sachen aus wie: »Damundherrn, hier spricht Ihr Kapitän. Ich begrüße Sie zu unserem Flug nach Koala Lumpur.« Ich hatte damals keine Ahnung, wo dieses Koala Lumpur lag, ich fand nur, dass es toll klang. Inzwischen bin ich dreimal da gewesen, habe den Sri-Mahamariaman-Tempel besichtigt, die Petronas Twin Towers und den Taman-Tasik-Perdana-Park, und das reicht für den Rest meines Lebens.

Gerne sagte ich Sachen wie: »Unsere Reiseflugzeit wird heute 37 Stunden betragen, und zum Mittagessen servieren wir Rotkraut mit Klößen.« Das war mein Leibgericht, und darum gab es das auf jedem Flug, Rotkraut mit Klößen.

Wenn Gunnars Freunde zu Besuch kamen, achtete ich darauf, dass niemand die Thunderbolt berührte, schließlich war ich der Kapitän. Sie und Frieder, um den ich mich hin und wieder kümmern musste, durften Passagiere spielen; in dieser Eigenschaft hatten sie Platz zu nehmen und die Klappe zu halten, während ich vorne Starts und Landungen simulierte oder zur Regulierung der Kabinentemperatur das Fenster öffnete; zwischendurch erheiterte ich mein Publikum mit launigen Ansagen aus dem Cockpit. Gunnar saß immer bloß da und las in einem Buch, dafür lachte Frieder am lautesten, und bei fast jedem Flug pinkelte er sich vor Vergnügen in die Hosen. Die meisten Jungen kamen danach nicht wieder; offensichtlich hatte mein kleiner Bruder sie vergrault.

Mir machte das nichts aus, ich spielte sowieso am liebsten allein mit dem Flugzeug. Schon auf dem Heimweg aus der Schule überlegte ich mir neue Ansagen. Von diesem Training profitiere ich noch heute, auch wenn mein Flottenchef kein Verständnis dafür zeigt. Tatsächlich geben sich viele Kollegen in der Hinsicht wenig Mühe, darum lobt man mich regelmäßig für meine coolen Sprüche; nicht selten sagen Fluggäste bewundernd, an mir sei ein Radiomoderator verlorengegangen.

Eines Tages, ich war schon 13 oder 14, kam ich nach Hause und wollte bloß schnell das Mittagessen hinter mich bringen, damit ich bald auf mein Zimmer gehen konnte. Doch etwas stimmte nicht, das merkte ich. Gunnar grinste mich die ganze Zeit wissend über sein Buch hinweg an, wollte aber nicht raus mit der Sprache, auch nicht, als ich drohte, zu verraten, dass er nachts heimlich in unserem Zimmer rauchte.

Meine Mutter hatte Rotkraut mit Klößen gemacht. Dagegen war im Grunde nichts einzuwenden, auch nicht die Tatsache, dass wir mein Leibgericht schon am Vortag gegessen hatten. Aber was mich wirklich stutzig machte, waren die Rouladen. Es gab sonst nie unter der Woche Fleisch, außer an Geburtstagen oder wenn unser Vater ausnahmsweise zu Hause aß. Etwas Außergewöhnliches musste an diesem Dienstag passiert sein, während ich in der Schule war. So ungeheuerlich, dass meine Mutter gegen Ende der Mahlzeit die Hand auf meinen Arm legte und, nachdem sie ihre Beruhigungstablette heruntergespült hatte, sagte: »Lorentz, dein Bruder möchte dir etwas mitteilen.«

Ich sah instinktiv zu Gunnar, aber der zeigte mit dem Messer auf unseren kleinen Bruder. Frieder, der mit seinen sechs Jahren immer noch einen Latz trug, matschte so wild in seinem Essen herum, dass rund um seinen Teller kaum noch ein sauberes Fleckchen zu sehen war, und der Rotkohl hing ihm in den Haaren. Er machte nicht gerade den Eindruck, als wollte er mit mir plaudern.

»Ich hab leider nicht so viel Zeit«, sagte ich, »ich muss Hausaufgaben machen, und dann will ich noch ein paar Ansagen auf Englisch probieren.«

Meine Mutter gab meinem Bruder einen leichten Knuff gegen die Schulter, der daraufhin die Unterlippe vorschob und begann, auf mich einzureden. Ich verstand nie zusammenhängende Sätze, wenn Frieder sprach. Mein Vater sagte immer, ich müsste ihm nur genau zuhören, dann würde ich automatisch seine Sprache lernen. Aber wozu? Ich wollte mich ja nicht mit ihm unterhalten. Jedenfalls konnte ich mit Frieders Gebrabbel nichts anfangen, aber zwei Worte ließen sich identifizieren wie Leichen, die man aus einer abgestürzten Maschine schweißt: Flugzeug und kaputt.

So schnell konnte niemand gucken, wie ich vom Stuhl gerutscht und die Treppe hinauf in mein Zimmer gelaufen war. Schon im Türrahmen sah ich: Meine Thunderbolt lag auf dem Boden, und die linke Tragfläche war abgebrochen.

Mein Bruder war mir gefolgt, mit Tränen in den Augen.

»Ich hasse dich!«, schrie ich.

Ich sagte es fünfmal hintereinander, aber Frieder verstand mich nicht. Er fiel mir um den Hals und küsste mich, und wenn ich ihn wegstieß, kam er immer wieder und rief: »Du mich auch! Du mich auch!«

Meine Eltern hielten wie immer zu Frieder. Mein Vater klebte die Tragfläche wieder an, als er von der Arbeit nach Hause kam, und meinte, die Sache verhalte sich etwa wie mit meinem kleinen Bruder: Der sei zwar mit einer Behinderung auf die Welt gekommen, aber trotzdem ein liebenswerter Mensch, auch wenn ihm auf den ersten Blick etwas fehlte. Ich hatte jedoch all meine Geduld an Frieder verschwendet; mein Verständnis war endgültig aufgebraucht, während Gunnar der Schleimer seit neuestem verkündete, er wolle später »irgendwas mit Behinderten« machen. Damals gewöhnte ich mir diese Sache an, eine Art stummen Widerstand, um es meiner Mutter heimzuzahlen. Jeder findet seine eigene Form des Protestes. Gandhi hungerte, mein Bruder rauchte heimlich, seit er zwölf war, und ich schloss mich im Badezimmer ein. Was ich dort tat, blieb lange unentdeckt, und als sie dahinterkamen, setzte es eine Tracht Prügel mit dem Teppichklopfer.

 

Inzwischen haben meine Eltern eingesehen, dass sie mich als Kind zu Unrecht unterschätzt und vernachlässigt haben. Wenn ich sie heute besuche, stehen die Nachbarn am Jägerzaun und starren mit glasigen Augen auf meine vier Streifen. »Ihr Fraa Mudder und de Vadder sin zimlisch stolz, net wo’ehr, dass Sie aan Co-Pilot geworde sin.«

Dann gehe ich ins Haus und erkläre ihnen zum siebenmillionsten Mal, dass es keine Co-Piloten gibt. Ich bin ein voll funktions- und einsatzfähiger Pilot; ich darf alles, was der Kapitän auch darf. Nur bei bestimmten Witterungsverhältnissen muss die Landung automatisch durchgeführt werden. Dann schaut der Kapitän aus dem Fenster, ob er die Lampen von der Landebahn erkennt, während mir als Erstem Offizier die immens wichtige Aufgabe zufällt, die Instrumente zu überwachen.

»Wir lieben dich trotzdem, Junge«, sagen sie dann, und Frieder, der mit 34 immer noch bei ihnen wohnt, gibt mir einen besonders feuchten Kuss.

»Du mich auch«, sage ich, und mein Bruder kriegt sich kaum noch ein vor Lachen.

Von wegen Stolz! Wäre es nach meiner Mutter gegangen, wäre ich heute Busfahrer. Oder Lokalpolitiker, wie Gunnar. Bloß weil in den 60ern und 70ern ein paar Lufthansa-Maschinen entführt worden waren und die Ölkrise den Airlines auf die Umsätze schlug, versuchte meine Mutter alles, mich vom Fliegen abzubringen. 1985, ich wollte gerade die Bewerbungsunterlagen zur Post bringen, wurde die »Ludwigshafen« von München nach Athen gehijackt, und meine Mutter schloss mich im Klo ein.

Die Passagiere überlebten die Geiselhaft. Ich auch. Und als ich schließlich zum Eignungstest nach Hamburg eingeladen wurde, fuhr ich heimlich.

 

Zwei Tage lang wurden die Kandidaten durchgesiebt, es war wie Goldwaschen am Klondike. Man wollte keinen Sand ins hochempfindliche Getriebe der Airline lassen. Konnten auch alle bis zehn zählen, wie fit waren wir in englischer Grammatik und wie war es um unser Reaktionsvermögen bestellt? Schließlich mussten wir noch einen kleinen Kurs im Simulator abfliegen.

Ich wunderte mich anfangs noch, dass auch einige wenige Frauen dabei waren und dachte, man suche parallel die künftigen Stewardessen aus. Eine Kandidatin fiel mir sofort auf, mit strengem schwarzem Pony und den modernen Schulterpolstern, die ihr ein breites Kreuz machten. Dazu hatte sie einen durchdringenden Blick, mit dem sie jeden Mitbewerber ganz genau durchleuchtete. Als die Reihe an mir war, schaltete sich sofort mein Autopilot ein: Mein Reaktionsvermögen ließ eben nichts zu wünschen übrig.

»Eins muss man diesem Laden lassen«, raunte ich dem Kandidaten mit der fransigen Limahl-Gedächtnis-Frisur neben mir zu, der vor Aufregung alle fünf Minuten aufs Klo rannte. »Die Stewardessen hier sind erste Klasse.«

Limahl klärte mich auf, dass dies der erste Jahrgang war, in dem sich auch Pilotinnen ausbilden ließen. Mir gefiel die Vorstellung nicht. Wenn Frauen jetzt auf den Pilotensitz strebten, wer würde dann in der Kabine Kaffee und Tee ausschenken? Und wenn sie erst mal im Cockpit angekommen waren, würde ihnen dann etwa auch die Kapitänslaufbahn offenstehen? Was für ein Unsinn: Im Duden stand ja nicht mal ein Wort für weibliche Kapitäne!

Ich behielt die Frau mit dem Pony im Auge, aber wahrscheinlich würde sich die Sache ohnehin erledigen. Es hieß, nach den ersten zwei Tagen müsste man sich von etwa 90 % der Bewerber verabschieden. Die Schlechten kamen ins Kröpfchen, die Guten eine Runde weiter.

Beim zweiten Teil des Eignungstestes traf ich Limahl mit dem nervösen Magen wieder. Auch die Frau mit dem Pony und den durchdringenden Augen hatte sich durchgesetzt. Sie kam direkt auf mich zu und ließ sich auf dem Stuhl neben mir nieder. Ich mochte ihr blumiges Parfum.

»Du hast ganz hübsche Zähne, aber jetzt kannst du den Mund wieder zumachen.«

Ich war zu überrascht, um antworten zu können. Diese Frau hatte es mir angetan. Mein Autopilot übernahm wieder die Kontrolle.

»Ich habe überlegt, was von allen Berufen das Unwahrscheinlichste ist, was man als Frau werden kann«, fuhr sie fort, »und da kam ich aufs Fliegen und auf Herzchirurgie. Aber leider kann ich kein Blut sehen.«

In einem wörtlichen und ganz aktuellen Sinn hatte sie damit völlig recht, denn mir waren sämtliche rote Blutkörperchen in die Lenden geschossen. Ich musste an die frische Luft.

»Ich bin übrigens Gigi«, rief sie mir nach.

Später war Gigi nicht mehr zu sehen, und ich dachte schon, sie sei durchgefallen. Wir wurden in Gruppen eingeteilt, mussten in Streitgesprächen unter Zeitdruck beweisen, wie teamfähig wir waren und wie belastbar. Ich war mit meinen missratenen Brüdern und meiner drogenabhängigen Mutter natürlich bestens vorbereitet, trotzdem war ich aufgeregt, denn man konnte jederzeit rausfliegen, und das wär’s dann gewesen. Limahl, der in Wirklichkeit Heiner hieß, war schweißgebadet, und ich musste mich wegsetzen, doch am Ende klopfte man uns beiden auf die Schultern – wir hatten bestanden!

Der medizinische Test zum Abschluss war dann nur noch Routine. Ich konnte schon immer gut sehen, noch besser hören, mein Lungenvolumen hätte ausgereicht, um sämtliche Rettungsboote der Titanic in einem Rutsch aufzublasen, und auch mit meinem Herzen war alles in bester Ordnung – aber bald sollte es einen schweren Knacks erleiden.

 

Gigi traf ich erst in der Verkehrsfliegerschule in Bremen wieder. Ich freute mich, als sie den Klassenraum betrat, selbst noch, als ich erkannte, dass sie in einem paillettenbesetzten Hosenanzug steckte. Doch sie ging grußlos an mir und Heiner vorbei und setzte sich nach hinten. Ich kam mir ziemlich bescheuert vor – was hatte ich erwartet? Dass sie mir um den Hals fallen würde? Ich beschloss, sie ebenfalls mit Nichtgrüßung zu strafen.

Nach einer Woche stand ich in der Pause am Kaffeeautomaten, als mir jemand auf die Schulter klopfte. Der Duft von frisch gemähter Blumenwiese kam mir bekannt vor.

»Ich heiße gar nicht Gigi«, sagte Gigi.

Wortlos nahm ich meinen Kaffee und wollte vor die Tür gehen, mit Heiner und den anderen Jungs rauchen. Die Frau, die nicht Gigi hieß, folgte mir. Sie beichtete, dass sie in Wirklichkeit Gisela hieß, sich aber für ihren Namen schämte. Ich sollte schwören, es niemandem zu verraten.

»Von mir aus«, sagte ich und beeilte mich, zu Heiner zu kommen, um ihm die Neuigkeit mitzuteilen. Doch Gigi stellte sich mir in den Weg.

»Jetzt bist du dran.«

»Womit?«

»Erzähl mir auch was Peinliches.«

»Warum?«

»Freunde machen das so.«

Ich blieb stehen. Nervös nippte ich an meinem Kaffee.

»Okay, du hast bis heute Abend Zeit«, sagte Gigi.

»Was ist heute Abend?«

»Du lädst mich zum Essen ein.«

Ich sah an ihrem schultergepolsterten Paillettenmonster herab und wieder nach oben und grinste. »Aber nicht in diesem Aufzug.«

 

Beim Italiener erzählte mir Gigi über einem Teller mit fettigen Nudeln von ihren drei Schwestern. Sie hielten sie für verrückt, weil sie unbedingt ans Steuer einer 60 Tonnen schweren Maschine wollte, anstatt Krankenschwester, Friseurin oder Sekretärin zu werden oder sich einfach einen Mann zu suchen, der sie hin und wieder befruchtete.

»Als ob Kinderkriegen weniger verrückt wäre als Fliegen!«

Ich strahlte Gigi an, die immer noch ihren glitzernden Hosenanzug trug. Sie war die erste Frau, die ich kennenlernte, die sich nicht schon mit 20 nach plärrenden Blagen, Schwangerschaftsstreifen und Karren sehnte, die man mitten im Hausflur stehen lassen konnte, um die Nachbarn zu ärgern. Überhaupt war Gigi die erste Frau, die ich kennenlernte.

»Weißt du, warum ich dich beim Eignungstest angesprochen habe?«, wollte sie wissen.

Mir wurde mulmig bei der Frage, und ich zuckte mit den Schultern.

»Ich habe dein Gesicht gesehen und mir gedacht, wenn ich dich nicht überzeugen kann, brauche ich es bei den anderen gar nicht erst zu versuchen.«

»Was stimmt denn mit meinem Gesicht nicht?«

»Dieser Blick, als du erfahren hast, dass wir nicht die neuen Stewardessen sind, sondern selber fliegen wollen.«

»Ich war nur … überrascht.«

»Weil ich Pilot werden will?«

Ich nickte.

»Und warum willst du unbedingt Pilot werden?«

Ich war sprachlos. Über den genauen Grund hatte ich mir nie Gedanken gemacht. Alles, was ich wusste, war, dass ich es unbedingt wollte, und zwar seit ich klein war; ich hätte ihr von den Sonntagnachmittagen am Flughafen erzählen können, von Herrn Schmidt, der mir damals das erste Cockpit gezeigt hatte, wie ich ausgerissen war und von der Thunderbolt, mit der ich noch gespielt habe, als ich 18 war – aber das hätte eventuell albern geklungen.

Gigi begann, hinter vorgehaltener Hand zu gähnen und sich gelangweilt im Restaurant umzugucken; ich müsste irgendeine Antwort geben, also sagte ich: »Die schicke Uniform hat es mir angetan.«

Als Gigi anfing, über meinen Witz zu lachen, wusste ich, dass ich verliebt war. Als sie sich jedoch nach zehn Minuten immer noch Tränen aus den Augen wischte, ahnte ich, es würde wehtun.

Mit 20 war ich noch ohne jeden Schimmer, wie man Frauen klarmacht. Ich hatte noch nie eine nackt gesehen, nicht mal meine eigene Mutter; wenn sie Frieder nur die Brust gab, mussten wir schon das Zimmer verlassen. Heiner traute ich mich nicht zu fragen und mit Gunnar redete ich nicht mehr, seit der Mitglied bei den linken Sandalenträgern war und beschlossen hatte, meine Karriere zu zerstören: Was konnte mein grüner Bruder mir schon anderes beibringen als Sitzblockaden oder wie man sich an Bahngleise kettet?

Gigi war meine erste Freundin, jedenfalls betrachtete ich sie als solche, denn wir verbrachten bald jede freie Minute miteinander. Wir paukten mal auf meinem, mal auf ihrem Zimmer Theorie und hörten dabei Frank Sinatra. Jeden Abend, wenn wir uns verabschiedeten, nahm ich mir theoretisch fest vor, ihre Hand zu nehmen oder sie einfach zu küssen, aber praktisch tat ich es dann doch nicht. So verging Woche um Woche, ohne dass etwas passierte, und der erste Praxisteil in Phoenix rückte näher. Dort würden wir zum ersten Mal am Steuer einer Propellermaschine sitzen. Ich nahm mir vor: Wenn ich es schaffte, den Vogel heil in die Luft und wieder runterzukriegen, dann könnte ich auch bei Gigi landen.

In Phoenix mussten wir Grüppchen bilden, in denen wir für die Dauer der praktischen Ausbildung bleiben sollten, drei Schüler und ein Fluglehrer. Es war selbstverständlich, dass ich und Gigi Heiner in unsere Gruppe aufnahmen; ich konnte ja nicht ahnen, dass er vorhatte, mir die Braut auszuspannen. So schlüpften wir jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe in unsere mausgrauen Arbeitsoveralls, in denen man aussah wie ein Tankwart, und trabten gemeinsam zur Piper Archer, in der wir unsere Flugstunden abzuleisten hatten, und nach dem Theorieunterricht am Nachmittag und der Vorbereitung der Flüge für den nächsten Tag fielen alle todmüde ins Bett. Nur Heiner, dieser Streber, wollte immer noch mit uns Motorenkunde und Navigation büffeln, und Gigi ließ sich von ihm anstacheln – ich hätte Besseres mit ihr zu tun gehabt als Beladepläne zu berechnen.

Unser erster Überlandflug ging nach San Diego, und ich überließ es meinem »Freund« Heiner anzufangen. Er machte seine Sache ganz gut, flog die Archer aber, als hätte er rohe Eier geladen. Die bei der Landung allerdings zu Bruch gegangen wären. »Mach dir nichts draus«, sagte ich beim Mittagessen zu ihm. »Aus so einer Landung muss man ja kein Geheimnis machen. Die Passagiere sollen ruhig wissen, dass sie unten angekommen sind.«

Nach der Mittagspause in San Diego ging es weiter, über den Riesenmoloch Los Angeles, nach Palm Springs zum Kaffeetrinken; Jim, unser Fluglehrer, ein amerikanischer Mittvierziger mit sonnengegerbtem Gesicht, hatte uns die besten Blueberrymuffins im ganzen Südwesten versprochen, und er hatte nicht gelogen. Diese zweite Strecke übernahm Gigi. Ich war sehr stolz auf sie, sie steuerte das Baby, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes gemacht.