Das Beste von heute - Kriss Rudolph - E-Book

Das Beste von heute E-Book

Kriss Rudolph

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Beschreibung

»Wortlos streckte er mir seine Hand entgegen, während er in meinen Augen die Erklärung für mein plötzliches Auftauchen suchte. Mit seinem Geruch kam die Erinnerung an seinen Kuss, und ich spürte, wie ich rot wurde. Rot! Ich, the artist formerly known as Lilly, die ihr Geld damit verdient hatte, kurze Sätze um männliche Körperteile herum zu stricken, für die andere Frauen nicht mal eine Vokabel hatten, wechselte die Gesichtsfarbe, nur weil ich an einen harmlosen Kuss dachte.« Lass dich nie auf einen Live-Flirt im Radio mit einem Unbekannten ein – zumindest nicht, wenn du dein Studium mit Telefonsex finanziert hast! (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 311

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Kriss Rudolph

Das Beste von heute

FISCHER E-Books

Inhalt

Hinweis: [...]»Jeder Radiosender klang gleich, [...]PROLOGZehn Jahre späterKAPITEL 1KAPITEL 2KAPITEL 3KAPITEL 4KAPITEL 5KAPITEL 6KAPITEL 7KAPITEL 8KAPITEL 9KAPITEL 10KAPITEL 11KAPITEL 12KAPITEL 13KAPITEL 14KAPITEL 15EPILOGDANKE

Hinweis:

Die Handlung von Das Beste von heute entspringt der Phantasie des Autors und ist damit rein fiktiv. Ähnlichkeiten der hier dargestellten Figuren mit lebenden Personen sind rein zufällig. Wer meint, sich in einer der weniger schmeichelhaften Figuren wieder erkennen zu müssen, ist selber schuld.

»Jeder Radiosender klang gleich, und das heißt: beschissen. […] Britney Spears oder Christina Aguilera […] es gibt keinen verdammten Unterschied, Leute, es ist alles das Gleiche, das Gleiche, das Gleiche …«

Michael Moore, Stupid White Men (2001)

 

»There goes the last DJ

Who plays what he wants to play«

Tom Petty and the Heartbreakers, The last DJ (2002)

 

»Nutten, die nannte man doch früher anders …

Plattenpromoterinnen!«

Harald Schmidt, Die Harald Schmidt Show (2003)

 

»What’s your definition of dirty, baby

What do you call pornography«

George Michael, I want your sex (1987)

PROLOG

Was mich damals an Telefonsex gereizt hat, war der Minimalismus des Arbeitsgerätes. Stellen Sie sich für einen Moment vor, Sie seien Erster Kapitän eines Flugzeugträgers im Persischen Golf, und Sie werden mir schnell beipflichten. Neben einem Telefon benötigt man lediglich eine Flasche Wasser und eine Nierenschale, denn nicht jedes Geräusch lässt sich authentisch mit dem Mund oder mit Schlägen auf den Unterarm nachahmen. Ansonsten braucht es nur ein paar Worte, und schon steht man am Swimming-Pool, im Fahrstuhl, in der Umkleidekabine bei Karstadt; mal klingelte man aus Versehen an der falschen Haustür, mal wartet man nackt unter der Dusche. Man ist an einem Tag zugleich Postbotin, Dessousverkäuferin, Klempnerin und die Nachbarin, die immer nackt ihre Fenster putzt.

Die Tatsache, dass ich binnen fünf Semestern vier verschiedene Fachrichtungen kennen gelernt hatte, ohne jemals eine abzuschließen, erlaubte es mir, meine Arbeit nüchtern zu betrachten. So verstand ich mich in diesem karg eingerichteten Zimmer, in dem ich jeden Abend ein paar Stunden verbrachte, in erster Linie als fernmündliche Geschichtenerzählerin, die uralte vor-schriftliche – um nicht zu sagen: orale – Traditionen wieder aufleben ließ.Zwar zählten zu meinem Publikum keine kleinen Kinder, die nicht einschlafen konnten, sondern ausschließlich erwachsene Männer, die zu viel Tinte im Füller hatten. Aber besaßen sie deshalb keinen Anspruch auf Geschichten?

Anders ausgedrückt: Die Aneignung und Nutzbarmachung der Natur beziehungsweise Umwelt als Geschichtenerzählerin ist Selbstverwirklichung im besten marxistischen Sinn. Insofern werden sowohl ihre eigenen Bedürfnisse befriedigt als auch die Bedürfnisse anderer, wenngleich diese mit jenen nicht deckungsgleich sind. Denn unter sexuellen Gesichtspunkten ist das Geschichtenerzählen am Telefon meist wesentlich unbefriedigender als beispielsweise der Aufenthalt in einer überfüllten U-Bahn an einem regnerischen Tag. Trotzdem unterschied ich mich von der Fabrikarbeiterin, die an einer bestimmten Stelle eines Prozesses eine entmenschlichte Mutter auf eine anonyme Schraube dreht und damit vom Produkt ihrer Arbeit sowie von ihren Mitmenschen entfremdet ist – ich hatte von Anfang bis Ende alles in der Hand. Glücklicherweise nur im übertragenen Sinn.

Schuld war diese Annonce. Nette Studentinnen für Telefonmarketing gesucht. Ich vermutete nichts Böses, was sollte mir schon passieren? Nett konnte ich sein, wenn es darauf ankam, Studentin war ich sowieso, und schon im stolzen Alter von zehn Monaten habe ich zum ersten Mal einen Telefonhörer in der Hand gehalten, dafür gibt es fotografische Beweise. Ja, das Bild zeigt mich nackt auf einem Schaukelpferd, aber das hat nichts zu bedeuten. Oder glauben Sie an Vorbestimmung?

 

Die Anzeige lag vor mir auf dem versifften Tisch der Cafeteria der Philosophischen Fakultät. Neben der Kasse hing ein handgeschriebenes Schild mit der Aufschrift Bitte lächeln. Die Kassiererinnen hier lächelten niemals. Man konnte es ihnen nicht verübeln, sie arbeiteten in der dreckigsten Ecke der ganzen Universität. Auf dem Boden lagen halb leere Kakaobecher sowie Snickers- und Mars-Verpackungen, und die Tische brüsteten sich mit historischen Kaffeeflecken. Tom, der Chemie studierte und die Mittagspause seiner Freundin Farina zuliebe bei uns Philosophen verbrachte, behauptete, wenn man die Flecken analysieren würde, ließen sie sich anhand der im Wasser enthaltenen Schwermetalle exakt auf ein Jahr zurückdatieren. Vermutlich späte 60er, meinte Farina, während sie ihm den Nacken kraulte.

»Du musst kleich los, oder?«, fragte Heike. Meine Mitbewohnerin kam aus einem kleinen Kaff bei Karlsruhe und war abgesehen davon, dass sie ihre Konsonanten nicht im Kriff hatte, sehr in Ordnung. Sie studierte Deutsch und Biologie auf Lehramt, nicht selten in Kostüm oder Rock, und verbrachte ihre Mittagspausen normalerweise in der Cafeteria der Mediziner, wo sie hoffte, einen heiratsfähigen zukünftigen Kroßverdiener kennen zu lernen. Außerdem gab es in der Mediziner-Cafeteria keine Kaffeeflecken von prähistorischer Bedeutung, und man blieb nicht am siffigen igen Boden kleben, wenn man sich nicht ein wenig beeilte mit dem Studium.

Ich warf einen Blick auf meine Uhr und seufzte. Das Wintersemester 92/93 lief aus, und es war Zeit, zum ersten Vorstellungsgespräch meines Lebens aufzubrechen. Meine Eltern hatten erst vor kurzem enttäuscht ihre großzügigen Unterhaltszahlungen heruntergefahren, nachdem ich zum dritten Mal meine Fächer gewechselt hatte. Nach zwei Semestern Ethnologie und Geschichte wollte ich erst BWL studieren, dann Psychologie und war schließlich bei Anglistik und angewandten Sprachwissenschaften gelandet.

»Viel lieber würde ich jetzt ein Sonett von Chaucer interpretieren«, sagte ich, denn ich hatte überhaupt keine Lust, mich irgendwo vorzustellen.

»Ich glaube, der hat gar keine geschrieben«, sagte Farina.

»Eben«, erwiderte ich düster und steckte die Anzeige wieder ein.

»Telefonmarketing ist doch gar nicht so schlimm«, versuchte mich Farina zu trösten, die Chemiker-Freundin, die jedes Wochenende für ein kleines Berliner Radio Flyer in Clubs und angesagten Cafés verteilte.

»Frag mal, ob sie noch Leute geprauchen können«, sagte meine Mitbewohnerin und versprach, mir fest die Daumen zu trücken. »Ich klaube, ich könnte etwas Abwechslung verdragen.«

Die Arme musste zweimal pro Woche Essen in der Kantine der AOK austeilen, und das war nichts gegen den Job, den sie davor hatte. Für ein Fast-Fish-Restaurant musste sie in einem Kostüm über den Ku’damm laufen, in dem sie wirkte wie eine Mischung aus Meerjungfrau und schwangerem Mops (das war, bevor wir zusammenzogen). ’S Läbe is koi Schlotza, wie Heike über ihr hartes Los zu sagen pflegte.

Ich brach auf, nicht ohne das Gefühl einer gewissen Dankbarkeit, dass mir das Schicksal wenigstens einen Job im Trockenen bescheren wollte. Das Büro lag im schicken, seinerzeit noch angesagten Charlottenburg, ich brauchte eine halbe Stunde dorthin. Pünktlich um fünf Minuten vor drei stieg ich aus dem Aufzug und drückte auf die Klingel. Hinter der verglasten Tür lag eine weiße Theke, ähnlich wie in einer Arztpraxis, auf der eine leere Vase stand. Kein Mensch weit und breit.

Ich klingelte erneut, und eine Frau in einem dunklen Hosenanzug mit Nadelstreifen öffnete mir endlich die Tür. Sie schien außer Atem, wirkte aber besonders gut gelaunt. Unter ihren blondierten Haaren leuchteten die Wangen rot wie nach einem ausgedehnten Spaziergang an einem kalten Herbsttag im Charlottenburger Schlosspark. Die Haare trug sie kurz und stoppelig, sie schien den gleichen Friseur wie Marie, die Sängerin von Roxette, zu besuchen. »Kommen Sie rein, Sie werden schon erwartet«, begrüßte sie mich mit einer hellen, freundlichen Stimme und einem Grinsen.

Ich blickte in einen engen neonbeleuchteten Gang, zu beiden Seiten befanden sich mehrere Türen, die allesamt verschlossen waren. Am Ende des Ganges lag eine Rolle weißes Kabel neben einem Stapel kleinerer Kartons. Die Wände waren nackt, wahrscheinlich war die Firma vor kurzem erst hier eingezogen. Von der Decke hingen kleine Lautsprecher, aus denen klassische Musik herabrieselte.

Die Frau im Hosenanzug schob mich durch eine Tür, die sich hinter der Theke befand, und verschwand eilig wieder. Immer noch grinsend.

»Näher kommen«, sagte eine sanfte männliche Stimme.

Eine Hand winkte mich heran. Sie gehörte einem Mann mit leicht gelblichem Gesicht. Er saß hinter einem massiven schwarz lackierten Schreibtisch und wirkte irgendwie amüsiert. Sein Lächeln war dem der blondierten Frau nicht unähnlich. Offenbar war ich bei einer Art Sekte gelandet, oder die Menschen hier nahmen einfach nur die richtigen Drogen.

Das Winken des Mannes wurde hektischer und ließ erst nach, als ich saß.Die Hand, die ich ihm gut erzogen entgegenstreckte, ignorierte er. Seine Hand sank nieder auf die Stuhllehne, sprang dann über zu einem Gehstock, der an den Stuhl gelehnt war.

»Sagen Sie etwas«, forderte er mich leise auf und schloss die Augen. Auf seiner gelben Stirn glänzten kleine Schweißperlen.

»Aber was …«, sagte ich und rutschte auf meinem Stuhl hin und her. Dabei inspizierte ich das Büro. Die Wände waren nackt, wie im Flur. Neben dem Schreibtisch stand ein leerer Blumenübertopf.

»Reden Sie. Egal was«, wiederholte Gelbgesicht ungeduldig und wischte sich mit einem Tuch über die Stirn. Wieder winkte seine Hand, mit vier Fingern nur; der Daumen hielt den Gehstock. Er wirkte wie ein Dirigent, der mit einem müden Orchester kämpfte.

Ich zögerte kurz, dann versuchte ich die Bedeutung von Boccaccios Decamerone für die Weltliteratur zu erklären, indem ich ausführte, dass Lessing die Novelle von den drei Ringen, die Philomena am zweiten Tag auf dem Schloss erzählt, seinem Nathan zu Grunde gelegt hatte – das Thema eines Referates, an dem ich gerade arbeitete. Langsam wurde ich entspannter.

Am Ende nickte der Mann mit dem Gehstock zufrieden und empfahl mir, meinen Vortrag zur Erheiterung mit dem Hinweis einzuleiten, dass der Decamerone damals auf dem Index gelandet war, weil Boccaccio die gesamte Geistlichkeit des 14. Jahrhunderts mit Spott überzogen hatte, indem er sie zu Helden diverser Sex-Geschichten machte.

Ich schwieg beeindruckt.

»Irgendwelche Erfahrungen?«, fragte er und zog eine Feile aus einer Schublade, mit der er seine Nägel bearbeitete.

»Nein, aber ich bin lernfähig«, sagte ich und versah mein gelbes Gegenüber in Gedanken mit dem Stempel schwul. Es gab mir Sicherheit, das anzunehmen.

»Freut mich zu hören«, sagte er, ohne die Augen von seinen Nägeln zu nehmen. »Dann also zum Praktischen: Wer hier arbeitet, hat zwei einfache Regeln einzuhalten. Kein Wort zu anderen darüber, was in diesen Räumen passiert. Und Regel Nummer zwei: Keine privaten Kontakte mit Kunden, keine Treffen. Unter keinen Umständen. Glauben Sie, dass Sie das schaffen?«

Ich nickte zuversichtlich.

»Aus firmenpolitischen Gründen erlaube ich mir, die Gespräche meiner Mitarbeiterinnen abzuhören. Wenn Sie damit ein Problem haben, sagen Sie es lieber gleich.«

Ich dachte kurz nach. »Kein Problem, aber …«

»Haben Sie einen festen Freund?«, fiel er mir ins Wort.

Nein, und Sie?, dachte ich und erhob die Augenbrauen zu einem Fragezeichen.

»Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte er. »Mir persönlich ist es vollkommen egal, was Sie in Ihrer Freizeit tun, solange Sie nicht gegen die Regeln verstoßen. Aber Sie würden sich wundern, was man mit den Freunden respektive den Männern von Mitarbeiterinnen alles erlebt.«

»Keine Sorge, Herr …«

Kommentarlos drückte er die Lautsprechertaste seines Telefons und eine kurze Zahlenkombination. Dann lehnte er sich zurück und feilte weiter an seinen Nägeln.

Ein Mann war zu hören, im Gespräch mit einer Frau. Ich erkannte in ihrer Stimme die Roxette-Doppelgängerin, die mir die Tür geöffnet hatte. Sie war mitten in einem Kundengespräch. Ich wunderte mich, wie vertraulich die beiden miteinander sprachen. Er nannte sie Sheila. Ein Name, der nicht zum Hosenanzug, wohl aber zu ihrem Grinsen passte.

Warum er noch nicht bezahlt habe, wollte Sheila wissen.

Er behauptete, der Scheck sei in der Post.

Sheila sagte, man habe etwas anderes abgemacht.

Gelbgesicht drückte auf einen Knopf. »Schmeißen Sie diesen Wichser aus der Leitung, der kommt direkt in die Mahnung«, sagte er. Dann brach das Gespräch ab. Der Mann, dessen Namen ich noch immer nicht wusste, drückte ein paar Tasten. Ich starrte auf das Telefon. Offenbar lag hier ein Missverständnis vor. Was für eine Art Marketing betrieb diese Firma?

»… du geile Sau. Los, besorg’s mir. Jah! Jah! Oh, Ghoootth! Schaffst du es noch thhhhiefer?«

Es war die Stimme einer anderen Frau, sie klang sehr jung.

»Ja, so ist es ghuuuut. Oohh, ich wusste, auf dich ist Vherlaaass. Komm, Süßer, ich will …«

Mit einem Tastendruck wurde auch dieses Gespräch beendet. Der Mann mit den frisch manikürten Nägeln lächelte mich entschuldigend an. »Sie ist noch nicht so lange bei uns. Es gibt allerdings Männer, die das mögen«, erklärte er und prüfte seine frisch geschliffenen Nägel, indem er mit ihnen seine gelben Wangen liebkoste. Zufrieden legte er die Feile in eine Schublade und fragte: »Was denken Sie?«

Wo ist die Tür?, war der einzige Gedanke, zu dem ich fähig war. Offenbar saß ich in den frisch gefeilten Fängen eines Telefonsexzuhälters! So viel hatte ich naives junges Huhn begriffen, auch wenn damals die minutenlangen Ruf!Mich!An!- und Besorg’s!Mir!-Arien in den nächtlichen Werbepausen der privaten Fernsehprogramme noch Zukunftsmusik waren und der erste Kinofilm über Telefonsex, Girl 6 von Spike Lee, noch drei Jahre auf sich warten ließ.

Und so hatte ich das Gefühl, nachdem ich mich freundlich von meinem Gastgeber verabschiedet hatte (»Danke, ich finde alleine raus!«), dass ich die Vorzüge eines Promotionjobs an frischer Luft bislang unterschätzt hatte. Meerjungfrau hin, Mops her.

 

Der Kampf dauerte bis zum Abend. Im Ring standen sich meine Mutter und die Frau mit der Roxette-Gedächtnisfrisur gegenüber. Mama, die von Anfang an eine solide Ausbildung zur Bankerin mit anschließender Ehelichung des Filialleiters befürwortet hatte, trat als Vertreterin und Verfechterin meiner guten Erziehung an. Sheila verkörperte alles, was verboten war und Spaß machte.

»Wer lieber in spießigen Kantinen als Königsberger Klops verkleidet Suppenkellen schwingen will, soll das gerne tun«, sagte Sheila.

»Sie hatte erst einen festen Freund, damals mit 18. Wie soll sie wissen, was Männer wollen?«, platzierte meine Mutter einen unfairen Schlag unter die Gürtellinie.

»Man lernt mehr über das Leben und die Menschen als in einem Proseminar über Boccaccios Decamerone«, gab Sheila schwach zurück.

»Sie hat von Tuten und Blasen doch keine Ahnung!«, setzte meine Mutter ihre Taktik fort.

»Tuten haben wir eh nicht im Programm«, wich Sheila elegant aus.

»Ein normaler Mensch macht so was nicht …«, holte meine Mutter zu einem rechten Haken aus.

»Wie kann man etwas ablehnen, ohne es probiert zu haben?«, duckte sich Sheila.

»… weder auf der einen noch auf der anderen Seite des Telefons.« Meine Mutter verfehlte ihre Gegnerin um einen guten Zentimeter.

Der Kampf wurde unfair, als sich am Abend der Schiedsrichter auf die Seite meiner Mutter schlug: mein Bruder Sven.

»Ich würde die sofort anzeigen. Das ist doch illegal«, sagte Sven, der telefonisch zugeschaltet war.

»Meinst du?«, sagte ich blöd und goss mir Wein nach. Auf dem Küchentisch lag die Anzeige aus der Zeitung. Nette Studentinnen für Telefonmarketing gesucht. Wie hätte ich beim ersten Lesen ahnen können, dass man sich selber am Telefon zu vermarkten hatte.

»Wer weiß, was die noch von dir verlangen. Erst musst du nur telefonieren, als Nächstes sollst du strippen. Und dann kommen die Kerle zu dir, und du kannst nicht mehr einfach auflegen. Vielleicht schaffst du es gerade noch, ihnen den Hörer über den Schädel zu ziehen und wegzulaufen. Daran schon mal gedacht?«

Ich fragte mich, ob mein Bruder an seinem Postschalter heimlich die Briefe von Kunden las. Anders konnte ich mir seinen plötzlichen Ausbruch von lebhafter Phantasie nicht erklären.

»Sei nicht so dramatisch. Ich habe ja nicht gesagt, dass ich den Job machen will«, sagte ich, als meine Mitbewohnerin die Küche betrat. Heike trug ein Bügelbrett und einen Korb Wäsche unter dem Arm. Ich legte die Hand auf die Sprechmuschel und zischte: »Ich hätte wissen müssen, dass es eine Scheiß-Idee ist, ihn anzurufen.«

Heike kicherte.

»Mama und Papa hätten dich nicht nach Berlin gehen lassen sollen, ich wusste es! Ich kenne doch meine kleine Schwester und ihr Faible für dumme Ideen. Bringe ich das durcheinander, oder bist du damals nicht mit deinem komischen Freund, diesem Nadine, im Sommer …«

»Sein Name war Nadime, mit einem m. Und er war nicht komisch.«

»… über den Zaun des Freibads gestiegen, um im Mondschein schwimmen zu gehen? Und wer musste nachher stundenlang mit der Polizei reden, weil unsere Eltern in Österreich im Urlaub waren, und versprechen, dass du diesen Halbkriminellen nie wieder sehen würdest?«

Sven, der mit seinem Freund Rüdiger gerne superspannende Wandertouren im Harz unternahm, würde natürlich nie über Zäune klettern. Er könnte sich dabei die frisch gebügelte Hose schmutzig machen. Oder mit der Schnalle seiner Sandale hängen bleiben.

»Und was soll mir diese Geschichte jetzt sagen, Sven?«, fragte ich und trank hastig etwas Wein. Heike kicherte wieder und zog einen Schlüpfer über das Ende des Bügelbretts.

»Du glaubst doch nicht, dass Mama und Papa deine Wohnung weiter bezahlen, wenn sie das rauskriegen!«, sagte er.

»Von mir erfahren sie es nicht, und du bist viel zu feige, um mit ihnen über Sex zu sprechen«, sagte ich zu meinem Bruder. Sex war für unsere Eltern ohnehin kein Thema. Sie hatten uns Kindern früher erzählt, dass man nur »ganz dicht nebeneinander« sitzen müsse, wenn man sich »ganz doll lieb« habe. Dagegen mutete die Geschichte vom Storch wahrhaft avantgardistisch an.

»Betrinkst du dich schon wieder?«, fragte Sven.

Ich seufzte. Mein vier Jahre älterer Bruder war der Sohn unserer Mutter, die über die Nachbarn schimpfte, die »nie ihre Wäsche abnahmen«, wenn sie sie einmal über Nacht vergessen hatten. Man trank ein kleines Schlückchen Wein und wurde direkt in der Betty-Ford-Klinik zum Entzug angemeldet. Was wusste Sven schon: Wenn er und Rüdiger »Partys« feierten, wurde man bereits um 18.30 Uhr einbestellt. Nach 23 Uhr fingen die Gastgeber an zu gähnen und öffneten demonstrativ keinen Sekt oder Wein mehr; außerdem legten sie keine neue CD nach, was nicht schlimm war, denn man hatte inzwischen auch alle drei gehört.

»Ja«, sagte ich. »Heike hat ein paar scharfe Kommilitonen eingeladen, wir feiern eine kleine Orgie. Wie jeden Abend eigentlich. Mama und Papa wissen Bescheid. Finden’s toll. Sie wären auch gekommen, wenn heute nicht der Musikantenstadl im Fernsehen laufen würde.«

Heike breitete einen Kopfkissenbezug vor ihrer Brust aus und rief: »Mann, der ist ja richtig kroß!« und fing an zu stöhnen, als würde ein Auto über ihren Fuß rollen. Wie sich bald herausstellen sollte, gab es dafür sehr dankbare Abnehmer.

Jetzt war mein Bruder an der Reihe zu seufzen. »Ich mache dir ein Angebot, Franzi«, sagte er.

Ich hasste es, wenn er mich Franzi nannte, und ließ noch einmal mein Glas erklingen, indem ich einen Löffel dagegen schlug.

»Du brauchst einen Job, ich helfe dir. Ich frage gleich morgen nach, ob du in den Semesterferien im Sortierdienst arbeiten kannst. Da triffst du viele nette Studenten. Außerdem ist das eine anständige Arbeit.«

Schlagartig war mir klar, dass ich am nächsten Tag wieder bei dem gelben Mann mit den wohl gefeilten Nägeln sitzen würde, und ich dankte Sven für seine Hilfe.

 

»Es gibt nichts, was du nicht tust«, sagte Gelbgesicht, während er mich an der Hand durch die so genannten »Vögelzimmer« führte. In einem dieser Vier-Quadratmeter-Käfige saß Sheila und stöhnte sehr überzeugend. Ihre Wangen waren wie stets gerötet; sie hielt in beiden Händen je einen Telefonhörer, um zwei Kunden parallel zu bespaßen. Als sie uns bemerkte, klemmte sie sich einen Hörer zwischen Ohr und Schulter und winkte uns grinsend zu.

»Stoßzeit«, flüsterte mein neuer Chef, der auf einmal viel zutraulicher war. Er hatte sich mittlerweile als Müller-Dörtzenbach vorgestellt, mit einem ironischen Unterton, der einem nahe legte, sich nicht nach seinem richtigen Namen zu erkundigen.

Was hatte ich für ein Schlampenfieber vor meinem »ersten Mal«! Schließlich war ich zu meinem neuen Job gekommen wie einst die dröge Jungfrau Jobatay zu »Verstehen Sie Spaß?«, obwohl er selber schrecklich wenig von Spaß verstand. Aber Müller-Dörtzenbach nahm mir meine Angst. Seine Augen drangen so tief in mich ein, dass er mir nun gar nicht mehr schwul vorkam.

»Frag die Wichser vorher, was ihnen gefällt«, empfahl er mir. »Gut zuhören ist das Wichtigste. Und sobald du weißt, was sie scharf macht, erzählst du es ihnen einfach wieder. Alles, was du tun musst, ist: laut und deutlich atmen. Und nimm sie irgendwohin mit, gib deiner Geschichte eine Farbe. Du bestimmst den Hintergrund.«

Auf der Suche nach einem hübschen Pseudonym schlug Sheila in ihrer Funktion als Hauptvöglerin den Namen Lilly vor. Franziska fand sie orgasmusfeindlich, weil es nach Kastration klingt: »zis« als onomatopoetische Umschreibung für den Akt des Abhackens, während die Silbe »ka« den dumpfen Aufprall des Penis auf dem Boden lautlich wiedergibt.

Lilly hingegen, ähnlich wie Sheila, klingt sanft und sauber (schließlich kommt auch kaum ein großer Markenname für Waschmittel oder Weichspüler ohne ein »l« aus). Vor allem aber, weil dieser Name beim Aussprechen mehr als jeder andere die Zunge in Wallung bringt, wurde ich zu Lilly. Sheila ließ mich um 15 Jahre altern, da das besser zu meiner Stimme passte, wie sie fand. Meine Haare wurden blondiert und wuchsen auf ihre doppelte Länge, die Körbchengröße um immerhin einen Buchstaben. Meine Herkunft war Schwedisch, meine Spezialität Französisch.

Zwar dauerte mein erster Probeeinsatz als Innenausstatterin fremder Phantasien mit über neun Minuten etwas länger als üblich, und da die Kunden pro Geschichte zahlten, wurde ich angehalten, »mehr Gas« zu geben, doch Müller-Dörtzenbach war begeistert. Während der Nachbesprechung legte er mir seine Hand auf die Schulter und lobte meine leicht dominante Gesprächsführung und meine Phantasie.

»Fürs erste Mal stellst du dich gar nicht so dumm an«, sagte er und wollte seine Hand gar nicht mehr von meiner Schulter nehmen. Nur Sheila, die das Gespräch mit ihm zusammen abgehört hatte, mäkelte, ich hätte den Kunden sicher ebenso zufrieden gestellt, wenn ich die Ausführungen über Farbe und Muster meines Bikinis etwas abgekürzt hätte; auch die Information, dass ich ihn im Schlussverkauf bei H & M gegen eine schwindsüchtige Konkurrentin verteidigt hatte, der das Oberteil sowieso zu weit gewesen wäre, hielt sie für verzichtbar.

»Sie hat viel Phantasie!«, befand Müller-Dörtzenbach und führte mich noch am selben Abend zum Essen aus, um mir anschließend in seiner beeindruckenden Wohnung zu beweisen, dass er nicht schwul war. Als nach meinem ersten Arbeitstag in meinem ersten Nebenjob die Eingangstür hinter uns zufiel, stellte ich fest, dass die Telefonmarketing-Firma, bei der ich mich ursprünglich hätte vorstellen sollen, auf dem gleichen Gang gegenüber lag. Zur rechten Seite des Fahrstuhls.

 

Meinen Freunden und Kommilitonen erzählte ich damals, dass ich für den Quelle-Versand telefonische Bestellungen entgegennähme. Außer meiner Mitbewohnerin Heike erfuhr nur Sven, was ich wirklich tat. Als Dankeschön für meinen Vertrauensbeweis versuchte er, mich zu erpressen. Mein Bruder drohte damit, unsere Eltern zu informieren, wenn ich mir nicht einen konventionelleren Job suchte. Doch ich erpresste erfolgreich zurück, dass ich sie im Gegenzug darüber aufklären würde, warum ich früher bei Besuchen von Tante Gesche, Onkel Hans und ihrem Sohn Sören nie in Svens Zimmer kommen durfte. Einmal nämlich hatte ich durch das Fenster beobachtet (das Schlüsselloch war von meinem cleveren Bruder zugehängt worden), wie die zärtlichen Cousins mit hochroten Gesichtern über den Unterwäscheseiten des Quelle-Katalogs lagen und sich gegenseitig ihre Neckermänner lang zogen. Verständlicherweise zuckte Sven darum immer zusammen, wenn ich unseren Eltern in seinem Beisein erfundene Geschichten aus der Quelle-Auftragsannahme erzählte, weil er immer fürchtete, ich könnte zu einem »A propos …« ausholen.

Sven verlangte, dass ich ihm den Namen und die Adresse der Firma verrate, für die ich arbeitete. Nur zu meiner eigenen Sicherheit, wie er versprach. Da ich Familienbesuche in der Firma unbedingt vermeiden wollte, sagte ich ihm stattdessen zu, die gewünschten Informationen in meinem Schreibtisch zu deponieren. Für den Fall …

Die brüderliche Inquisition nahm kein Ende. Was ich den »Schweinen« am Telefon alles erzählen würde (alles, was sie wollen). Ob sie wüssten, wo ich wohne (spinnst du?) und ob ich deren Adresse hätte (ja, aber ich verrate sie dir nicht). Wie viele von ihnen verheiratet seien (mir doch egal). Und riefen auch manchmal Frauen an? (Sheila hatte mal eine Kundin, aber die beiden haben nur über das aktuelle Kinoprogramm geredet. Die Frau hat pünktlich gezahlt.)

Für jemanden, der mit Telefonsex nichts zu tun haben wollte und mich als »krank« und »pervers« bezeichnete, stellte mein Bruder ziemlich viele Fragen. Die Antworten gab ich Heike, die immer häufiger drängelte, ich möge sie mal mitnehmen, wenn niemand sonst in der Firma sei. Ich hoffte, sie abschrecken zu können, indem ich ihr von meinen extremsten Kunden erzählte. Denn nebenbei war es gar nicht so einfach, abends einzuschlafen, nachdem man fremde Leute ausgepeitscht, als dreckige Sklaven beschimpft und ihnen zur Krönung noch einen Haufen auf den Küchentisch gemacht hatte. Doch eines Sonntagabends im April begleitete sie mich ins Büro, damals war ein wahrer Kundensturm über uns hereingebrochen. Ich hatte sie kurzerhand in ein Nebenzimmer gesetzt, wo ich sie telefonieren und auf ihre beängstigende Art, aber nicht ohne Erfolg stöhnen ließ. »April« war geboren, denn wenn Franziska schon orgasmusfeindlich klang, musste der Name Heike nicht erst recht zu Erektionsverweigerung führen?

 

Kurz vor Ablauf des Sommersemesters erfuhr ich von einer vakanten Praktikantenstelle bei dem Radio, für das Farina Flyer verteilte. Sie selber hätte dieses Praktikum machen sollen, doch sie war kurzfristig bei einem Austauschprogramm mit unserer Partneruniversität in Rom nachgerückt und musste das Praktikum darum absagen.

»Es würde mir leichter fallen, wenn ich der Redaktion gleich einen Ersatz anbieten könnte«, erzählte sie in der Mensa über einem Teller farbloser Pasta.

Ich nickte, denn plötzlich wusste ich, dass dank der wertvollen Erfahrungen beim Telefonsex mein weiterer Berufsweg schon vorgezeichnet war: als Radiomoderatorin. War ich nicht durch eine gute Schule gegangen? MD, wie ich Müller-Dörtzenbach der Einfachheit halber nannte, hatte mir beigebracht, meinen Gesprächspartnern aufmerksam zuzuhören und auf sie einzugehen. Ich war gewöhnt daran, mich in Zeitkorsetts zu bewegen (die bei Radio-Interviews sehr viel enger sind). Und letztendlich war man als Moderatorin auch nichts anderes als ein Unterhaltungssklave, der sein Publikum zu bespaßen hatte.

Zehn Jahre später

KAPITEL 1

»Guten Morgen in Berlin und Brandenburg! Es ist elf Minuten nach sieben.«

»Du siehst müde aus, Robert.«

»Kein Wunder! Das war ein totaler Wahlkrimi, letzte Nacht. Fast hatte die CDU schon gewonnen, und dann hat die SPD doch noch aufgeholt.«

»Also, ich habe ausgeschaltet, nachdem Edmund Stoiber angekündigt hat, er wolle schon mal ein ›Glas Champagner‹ öffnen.«

»Das war eben ein Fehler, nicht nur sprachlich.«

»Hat Stoiber nicht auch während des Wahlkampfs zum Thema Bildungspolitik gesagt: ›Wir müssen den Kindern mehr Deutsch lernen?‹«

»Stimmt. Und er ist der beste Beweis dafür.«

Aus Edmund und mir wurde nichts. Das war am Morgen des 23. September 2002 eine ziemliche Enttäuschung. Hatte mir doch das Horoskop zu Beginn des Jahres einen Mann mit »kleinem Schönheitsfehler« versprochen, der »antreten« würde, um eine »beherrschende Rolle« in meinem Leben einzunehmen.

Bevor wir uns falsch verstehen: Ich halte nicht viel von Horoskopen. Außerdem habe ich mich nie über die politischen Grenzen hinaus für den Mann aus Bayern interessiert (und das auch nur, um ihn noch überzeugter nicht zu wählen). Doch nachdem das Jahr 2002 bereits zu drei Vierteln abgelaufen war und sich keine Spur von einem neuen Mann am Horizont abzeichnete, hatte ich beschlossen, mein Jahreshoroskop großzügig im Sinne eines Regierungswechsels umzuinterpretieren, damit ich nicht mehr auf der Lauer liegen musste und endlich meine Ruhe hatte. Ja, für diesen Frieden war ich sogar bereit, meine politische Überzeugung zu opfern.

Doch auf Frieden musste ich noch eine Weile warten. Mit einem neuen Kanzler war ich schlafen gegangen und wachte mit dem alten wieder auf. Über Nacht hatten sich bei der Auszählung der letzten Stimmen die Mehrheitsverhältnisse immer weiter zugunsten des Regierungslagers verschoben, und der bajuwarische Herausforderer stand mit seiner voreiligen Ankündigung, er werde schon mal ein Glas Champagner öffnen, doppelt dumm da.

Es war ein trüber Montagmorgen. Dichte Wolken standen am Himmel, und die Sonne zögerte noch. Sollte sie dem neuen alten Kanzler und seinen Leuten den Tag versüßen? Oder würde man ihr unterstellen, dem Unterlegenen, dem Kandidaten parteiisch Trost spenden zu wollen, wenn sie sich zu weit hervorwagte?

Mein Schreibtisch war an jenem Montag reich gedeckt. Vor allem mit Post, die sich während meines Urlaubs angesammelt hatte; des Weiteren mit drei prall gefüllten Fototaschen, die ich auf dem Weg in den Sender abgeholt hatte, sowie mit einem kleinen Gläschen Wiedergutmachungs-Kaviar für meine Jungs. Sie hassen mich, wenn ich sie länger als eine Nacht allein lasse, und man muss sich immer wieder mühsam einschleimen, vor allem bei Sodom.

Marius Müller-Westernhagen lächelte wie immer zynisch von der gegenüberliegenden Wand meines Büros auf mich herab. Sein Gesicht war böse zerstochen, wie nach einem Angriff aggressiver Killerbienen, die ein erstaunlich ausgeprägtes Gespür für schlechte deutsche Rockmusik besaßen. Lustlos warf ich ein paar Pfeile auf das alte Plakat, das ich auf zwei Pinnwänden befestigt und zur Dartscheibe umfunktioniert hatte, als Diane mein Büro betrat.

»Hola, Süße! Que tal?«

›Süße‹, das bin ich. Die Frau mit den süßen dunklen Locken und den süßen kleinen Titten, die man im Radio nicht sieht. Was selbstverständlich nichts mit ihrer Größe zu tun hat. Am Mikrophon heiße ich Franka Mumme, was zu exakt 80 % meinem Taufnamen entspricht. Meine Eltern missbilligen diese kleine Amputation, aber sie hören meine Sendungen sowieso nicht.

Diane küsste mich auf die Wange und nahm hinter dem Schreibtisch des Kollegen Prilop Platz, wo sie sich eine Zigarette anzündete. Dann löste sie ihr Haargummi, und ihre rotblonde Mähne fiel üppig über ihre Brüste, die in ihrem großzügig geschnittenen Marilyn-Manson-T-Shirt etwas untergingen. Es waren schöne Brüste, auf die ich manchmal eifersüchtig war. Sie hatten die vollen Rundungen von frischen Hefeklößen, wie meine Mutter sie machte. Wenn ich mich nackt im Badezimmerspiegel betrachte, muss ich auch oft an Hefeklöße denken – nachdem die Luft herausgelassen ist.

»Wie geht’s deinen zwei Machos?«, erkundigte sie sich nach meinen Jungs.

»Sie haben’s überlebt. Aber Sodom schaut mich mit dem Arsch nicht an.« Und Gomorra hatte in der einwöchigen Obhut meiner Nachbarin stark abgenommen. Sein orangefarbenes Fell hing wie ein zu großer Mantel von seinem Bauch.

Diane und ich hatten eine Woche auf Ibiza verbracht, obwohl man es ihr kaum anmerkte: Dianes helle Haut wurde in der Sonne bestenfalls rot. Nicht dass wir besonders dick befreundet gewesen wären, aber manchmal kommen Kolleginnen auf so merkwürdige Ideen. Es hätte ein schöner Urlaub werden können, wenn Diane nicht pausenlos versucht hätte, mir ihre abgelegten Männer anzudrehen.

»Verkrampf dich nicht so, Süße«, hatte sie gepredigt. »Hier kannst du dich endlich mal austoben. Außerdem könntest du deinem Horoskop ein bisschen entgegenkommen!«

Ich wusste, Diane meinte es gut. Aber es reichte schon, dass meine Mutter regelmäßig Heiratskandidaten in meiner niedersächsischen Heimat rekrutierte, die sie mir ans einsame Herz legte. Warum nahmen alle an, dass eine 34jährige Frau nichts mehr brauchte und dringender suchte als eben einen Kerl? Abgesehen davon durfte ich, so fand ich, wohl einen deutlichen Hinweis auf den Kandidaten erwarten, wenn mein Jahreshoroskop schon jemanden für mich abgestellt hatte!

»Dann lass mal sehen, Süße!«, sagte Diane und streckte ihre Hand aus, die deutlich weniger sonnengebräunt war als jene Hand, die ihr die Urlaubsbilder reichte. Die Motive hießen vorwiegend Dieter, Herbert oder Günter. Mit ihnen hatte ich Diane am Pool unseres Hotels fotografieren müssen, so dass sie ihren Ex-Freund Marco eifersüchtig machen konnte. Sobald sie mit Dieter, Herbert oder Günter nach ein paar Tagen fertig war, hatte sie sie mir nacheinander auf den Single-Hals gehetzt. Im Grunde eine konsequente Fortführung unserer Arbeitsteilung im Sender: Ich moderierte die Abendsendung für jene Hörer, die Diane nach der Morningshow für mich übrig gelassen hatte.

»Also, ich habe mich wirklich prächtig erholt, Süße. Das machen wir mal wieder«, sagte Diane und warf ihre Kippe in eine leere Wasserflasche, die auf dem Schreibtisch stand.

»Sieh an: der Morgen und der Abend!« Die Stimme gehörte Waldemar, unserem Chef vom Dienst. Das Hemd mit den sehr kleinen Karos und die braunen billigen Slipper trug er im Grunde jeden Tag. Natürlich hätte er sich von seinem Gehalt vernünftige Schuhe leisten können, aber er kannte den Unterschied zwischen einem Paar für 24,90 und wirklich schönen Schuhen nicht. Und er hatte es versäumt, jemanden zu heiraten, der es ihm erklärte. Im Schlepptau folgte ihm eine junge Frau, die er als Sandra Barnbrock vorstellte.

»Diane kennst du ja schon. Sie moderiert mit Robert Dieterle die Morningshow«, sagte er, worauf Diane sich erhob und mit den Fotos unter dem Arm davonzog. »Wie schon gesagt, Kleine: Wenn du etwas brauchst – komm ruhig zu mir!«

»Und die Frau, die aussieht wie Roberto Blanco«, fuhr Waldemar fort und hielt kurz inne, als sein Blick auf den gebeutelten Westernhagen fiel, »das ist die Kollegin Franka Mumme.«

»Ibiza«, erklärte ich schulterzuckend und reichte der neuen Kollegin meine Hand.

»Wenn sie nicht gerade verdiente Rockmusiker massakriert, moderiert sie die Abendsendung. Quasi unser spätes Mädchen«, fügte Waldemar in seiner umwerfend charmanten Art hinzu und räusperte sich, während er mit der Hand umständlich vor seinem Gesicht herumwedelte. Diane hatte ihre Zigarette nicht richtig ausgedrückt, jetzt fiel es mir auch auf. Die Wasserflasche auf Prilops Schreibtisch, in die sie ihre Kippe geworfen hatte, war voller Qualm. Waldemar verzog das Gesicht und trug die Flasche mit spitzen Fingern zum Waschbecken.

»Ich freue mich schon sehr darauf, endlich mal richtiges Radio zu machen, hier bei euch«, sagte Sandra, die Neue, und senkte ihre Stimme. »Ich kann Marius auch nicht ausstehen, und BAP noch viel weniger.« Sie hatte große runde braune Augen und etwas zu viel Make-up im Gesicht, mit dem sie die zahlreichen kleinen Pickel zu verdecken suchte.

»Beeil dich, bevor deine neuen Kolleginnen das Haus abfackeln«, rief Waldemar vom Waschbecken, wo er Wasser in die Flasche laufen ließ.

Sandra kicherte. »Wenn ich irgendwas tun kann, bitte immer Bescheid sagen. Ich will auf keinen Fall herumsitzen müssen«, sagt sie.

»Keine Sorge, irgendeinen Brand gibt es hier immer zu löschen«, nickte ich.

Waldemar kommt als Chef vom Dienst in der Hierarchie unserer kleinen Welt direkt nach dem Bundespräsidenten. Laut Vertrag ist er nicht dazu verpflichtet, Schwelbrände in 0,5-Liter-Flaschen zu löschen. Heldenhaft tat er es trotzdem.

»Wo ist eigentlich Prilop schon wieder?«, fragte er beim Händeabtrocknen.

»Im Archiv«, antwortete ich, obwohl ich wie immer keinen Schimmer hatte, wo mein Kollege steckte.

»Dann kümmerst du dich vielleicht ein bisschen um die neue Kollegin«, schlug Waldemar vor und verließ das Büro, ohne mich oder Sandra eines weiteren Blickes zu würdigen. Auch zum Augenkontakt ist er laut Vertrag nicht verpflichtet. Bedauerlicherweise werden in dieser Richtung keine Fortbildungen angeboten.

 

Natürlich wusste hier niemand etwas von meiner Vergangenheit als Sextelefonistin. Sie blieb der hidden track auf der CD meines Lebenslaufes. Nicht, dass ich mich geschämt hätte. Aber ich arbeitete in einem Sender, in dem die Herren Redakteure um Gabby, unseren Redaktionshomo, herumschlichen wie die Katze um den warmen Brei. In diesem Klima bestätigte sich fast täglich meine Vorahnung, dass man eine ehemalige Telefonsexistin niemals on air geduldet hätte. Nicht mal zum Vorlesen der Verkehrsmeldungen.

Nehmen wir den Kollegen Jörn Stechert, ein ehemaliger Stadionsprecher bei Alba Berlin. Jedes Mal, wenn er die t.A.T. u.-Mädels mit »All the Things She Said« spielte, erwähnte er gerne zum 137 Mal, dass es sich bei dem Russen-Duo um zwei (wenn auch angebliche) Lesben handelte, die im dazugehörigen Video auf dem Gefängnishof herumknutschen. Dazu bemerkte er in seiner superlustigen Stadionsprecher-Art, er habe sich unlängst in Russland für eine Umschulung zum Gefängniswärter angemeldet. Hahaha!

Jörn Stechert, Mr. Einschaltzote, war nicht besonders groß, auch nicht atemberaubend attraktiv. Sein Gesicht wirkte in der Mundgegend irgendwie unfertig, als hätte seinen Schöpfer kurz vor der Vollendung die Lust auf eine Zigarette ereilt – und vom Automaten kam er dann nicht wieder zurück. Jörns Beine erinnerten an einen wohlgeformten Eisenbahntunnel. Allerdings gewann er, wenn er neben Kollegen wie Waldemar stand. Garantiert wusste ich nur von einer Frau in der Redaktion, die ihm bislang widerstehen konnte und dies auch weiter fest vorhatte: ich, Franka Mumme.

»Mann, bist du braun geworden! Nahtlos?«, rief er an jenem Montagabend, als er ins Studio kam, um mich nach meiner Sendung abzulösen.

»Ich kenne jemanden, der das nie erfahren wird«, antwortete ich.

»Was sagt die Uhr, Puppe?« Damit warf er seine Jeansjacke – die Ärmel zu lang, sie waren am Ende einmal umgekrempelt – auf einen Stuhl neben dem Mischpult und verschwand wieder schlurfend aus dem Studio, als die Nachrichtensprecherin gerade hinter der Glasscheibe sagte: »Es ist 22 Uhr.«

»Die Uhr kann gar nicht sprechen«, rief ich Jörn in meiner lustigen Moderatorinnen-Art hinterher. Denn wenn mich etwas noch mehr ärgerte, als von ihm Puppe genannt zu werden, wo er doch mit der Sekretärin vom Chef zusammen war (eine echte Puppe), dann war es die Tatsache, dass Jörn jeden Abend zu spät kam.

Denn der Satz Es ist 22. Uhr ist gleichbedeutend mit: »Auf Wiedersehen, liebe Franka. Schönen Feierabend!« Denn die liebe Franka hatte sich bereits artig bei ihren Hörern verabschiedet, war offiziell also nicht mehr da.

Es ist 22. Uhr bedeutet ferner, dass Jörn, dessen Sendung um 22 Uhr und spätestens drei Minuten begann (je nach Nachrichtenlage), auf seinem nicht vorhandenen Arsch im Studio zu sitzen hat.

Was der Satz – er ist auch in den Variationen Es ist ein Uhr, zwei Uhr, drei, vier, fünf Uhr etc. erhältlich – auf keinen Fall bedeutet, ist, dass der Moderator noch mal aus dem Studio schlurft, um sich Kaffee, Zigaretten oder eine Milchschnitte zu ziehen.

Nach der vierten Meldung quäkte es aus der Gegensprechanlage: »Nur noch zwei Kurze und der Sport. Kommt dieser Gottschalk für Arme heute noch zurück?«

Die Nachrichtenredakteurin machte ein Gesicht, als hätte ich Jörn des Studios verwiesen. Sie hasste mich, seit ich sie, mehr aus Langeweile, eines Abends auf die bei Nachrichtenleuten sehr beliebte Formulierung der breiten Mehrheit angesprochen hatte. Denn was suggerierte die Schlagzeile »Breite Mehrheit stimmt im Bundestag für das zweite Anti-Terror-Paket von Bundesinnenminister Schily« anderes, als dass dort mehrheitlich betrunkene Parlamentarier über die Fragen der inneren Sicherheit entschieden hatten? Ich hatte mein Argument nicht ganz ernst gemeint, doch sie legte mir dringend ans Herz, ich sollte mich um meinen eigenen Scheiß kümmern. Nachrichtenredakteure sind stolze Menschen.