Hidden Spirits - Nina Linz - E-Book

Hidden Spirits E-Book

Nina Linz

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Beschreibung

Auf der Flucht vor seiner Vergangenheit findet Ayden einen neuen Job als Barkeeper in einem kleinen Nachtclub am Stadtrand. Zu diesem Zeitpunkt weiß er allerdings noch nicht, dass der beste Freund der Barbesitzerin, Nathan, der vom ersten Moment an ein Auge auf Ayden geworfen hat, sein Geheimnis teilt. Aber Nathan weiß weitaus mehr über Ayden und seine mystische Gestalt, als es zunächst den Anschein macht. Mehr als Ayden sich je hätte vorstellen können. Nathan schleicht sich so schnell und mit beinahe ansteckender Lebensfreude in Aydens Leben, dass Ayden sich die eine Frage stellen muss, deren Antwort seine Zukunft nachhaltig beeinflussen wird: Will er sein abgeschottetes Herz für Nathan öffnen oder sein Leben als einsamer Reisender fortsetzen? Ein Fantasy-Liebesroman.

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Kapitel 1

Sein Blick wanderte achtsam durch den nebelverhangenen Raum, als wäre er auf der Suche nach etwas. Nach jemandem. Als Nathans Blick schließlich den des anderen kreuzte, konnte er dessen Unsicherheit regelrecht in seinen eigenen Knochen spüren, zusammen mit einem Gefühl, das er zuerst nicht zuordnen konnte, welches ihm später aber einen Schrecken durch den ganzen Körper jagen würde.

Die Bar, in welcher Nathan in diesem Moment saß, befand sich an einem Waldrand, in der Nähe einer kleinen Vorstadt. Obwohl durch die Lage nur wenige neue Gäste ihren Weg in die Kneipe fanden, war sie stets gut besucht. Die Besitzerin der Bar, Shadow, war Nathans beste Freundin und die Bar zentraler Angelpunkt ihres gemeinsamen Freundeskreises.

Die meisten Gesichter kannte man aus den umliegenden Orten, wodurch neue darunter umso mehr auffielen. Und so war es an sich keine Überraschung, dass der Junge mit den silbrig weißen Haaren Nathan sofort ins Auge sprang. Shadow hatte zwar erwähnt, dass sie nach Verstärkung in der Bar suchen würde, aber nicht, dass sie scheinbar sofort jemanden gefunden hatte. Und vor allem nicht, wen sie gefunden hatte.

Der Neue sprach in diesem Moment, während er ein Glas abtrocknend hinter dem Tresen stand, mit Shadow. Dabei wirkte der Unbekannte weder besonders gesprächig, noch hatte Nathan das Gefühl, dass ihm die Unterhaltung unangenehm war. Stattdessen antwortete er knapp aber freundlich, fast schon so, als würde er absichtlich unscheinbar wirken wollen. Aber genau das erweckte Nathans Aufmerksamkeit.

Es war Nathan schlicht unmöglich seinen Blick abzuwenden, während er leicht nach vorne gelehnt auf dem grauen Ledersofa im Dunkeln saß, seine Ellenbogen auf seinen Knien abgestützt. Mit zur Seite gekipptem Kopf betrachtete er die Szene, die sich vor ihm abspielte. Obwohl die Geräuschkulisse in der Bar beinahe ohrenbetäubend laut war und sich immer wieder das tanzende und torkelnde Partyvolk vor sein Blickfeld schob, gelang es ihm, das Gespräch zwischen dem Unbekannten und Shadow mitzuverfolgen.

»Du arbeitest wirklich schnell und ordentlich dafür, dass es erst dein zweiter Tag hier ist! Wirklich gute Arbeit!«, lobte Shadow ihren neuen Mann im Team mit einem energischen Tätscheln auf die Schulter.

»Vielen Dank, ich werd auf jeden Fall weiterhin mein Bestes geben«, entgegnete der Neue mit leicht geröteten Wangen, scheinbar peinlich berührt von den lobenden Worten.

»Echt ein glücklicher Zufall, dass du gerade dann aufgetaucht bist, als ich darüber nachgedacht habe, einen Barkeeper einzustellen!«, bekräftigte sie lachend. Sie trocknete sich die vom Abwaschen nassen Hände an einem Spültuch ab und stützte sich mit dem Unterarm auf den Tresen.

»Da hab ich wohl Glück gehabt. Hat mir auch erspart, mich noch länger nach einem Job umsehen zu müssen«, bemerkte der Grauhaarige mit einem kaum merklichen Lächeln auf den Lippen, während er behutsam ein Glas mit einem roten Geschirrtuch abtrocknete, als könnte es jede Sekunde in seinen Händen zerbrechen.

»Das nenn ich dann mal eine Win-Win-Situation!«, rief Shadow fröhlich, bevor sie sich abwandte, um ihre Aufmerksamkeit einem Gast zu widmen, der sich gerade auf einem Barhocker niederließ. Nathan legte sein Hauptaugenmerk daraufhin wieder auf den Fremden. Im selben Moment trafen sich ihre Blicke erneut, was Nathan dazu veranlasste, aufzustehen und den Bartresen anzusteuern.

Auf seinem Weg zum Tresen, obwohl dieser nur ein paar Meter betrug, konnte er die steigende Verunsicherung in seinem Gegenüber wahrnehmen, als wäre sie greifbar. Die Musik dröhnte durch die Boxen an den restaurierten, steinernen Wänden von allen Seiten auf ihn zu. Die verschiedenfarbigen Lichter, welche durch den sonst finsteren Raum tanzten, erhellten hin und wieder das dunkle Parkett. Körper schmiegten sich aneinander, bewegten sich ausgelassen in der Menge, mehr oder weniger zum Rhythmus der Musik.

Die paar Schritte zum Tresen zogen sich wie Kaugummi. Die Person dahinter schien immer unruhiger zu werden, während sie verzweifelt versuchte, Nathans durchbohrenden Blick nicht zu erwidern.

»Hey, du musst der Neue sein, richtig? Ich bin Nathan, aber du kannst mich gerne Nate nennen! Freut mich, dich kennenzulernen!«, stellte sich der nun am Tresen Angekommene mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht vor. »Magst du mir ein alkoholfreies Bier reichen?«, fragte Nathan den neuen Barkeeper, während er sich zu ihm vorlehnte, der Blick weiterhin auf ihm ruhend. Es kam Nathan so vor, als würde sich sein Gegenüber regelrecht unter seinem Blick winden, während er wortlos nickte und in die Hocke ging, um das Bier aus dem Kühlschrank unterhalb des Tresens hervorzuholen.

Nathan stand an der Bar, den Ellenbogen auf dem Tresen abgestützt, während sein Kinn auf seiner Faust ruhte. Er wippte mit dem Bein zur Musik, als er die nun wieder ruhigen und bedachten Bewegungen seines Gegenübers verfolgte und ihn dabei gründlich musterte. In diesen Sekunden, die sich anfühlten wie eine Ewigkeit, schenkte Nathan ihm seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Seine weißgrau gesträhnten Haare, welche das faszinierende Farbenspiel der Stroboskoplichter fast schon hypnotisierend reflektierten, gingen ihm etwas über die Schultern, der Scheitel weiter rechts als mittig, die obere Partie der Haare zu einem kleinen Zopf am Hinterkopf zusammengebunden. Ein paar Haare, die zu kurz waren, um im Haargummi Halt zu finden, fielen heraus und umrahmten sein Gesicht wie ein Gemälde. Obwohl er versuchte, sie sich aus dem Gesicht zu pusten, fielen sie ihm prompt wieder über die Stirn. Seine Haut war blass und makellos wie seine Lippen, die Nase kurz und spitz. Die gräulichen Augenbrauen schmal und filigran geschwungen, seine Wimpern hingegen tiefschwarz, lang und voll. Gerade als Nathan drohte, in einen tranceartigen Zustand zu verfallen, riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken, die überraschend tief, aber dennoch wahnsinnig sanft und zart klang.

»Hier, bitteschön«, hörte Nathan den Barkeeper sagen, während dieser ihm das Bier mit einer Hand reichte, ohne ihn dabei anzusehen.

»Danke!«, entgegnete Nathan und streckte seine Hand nach dem Bier aus.

»Darf es sonst noch-«, setzte der Grauhaarige gerade zur Frage an, als Nathan ihn mit einem Ausruf unterbrach.

»Woah! Du bist ja eiskalt!«, lachte er laut, nachdem sich ihre Finger beim Annehmen des Bieres für eine Millisekunde leicht gestreift hatten. In diesem Moment erwiderte der hinter der Bar Stehende endlich seinen Blick, was Nathan allerdings fast zum Taumeln brachte. Ein stechendes, eisblaues Augenpaar starrte Nathan schockiert an, die Pupillen geweitet und die Augen so weit aufgerissen, als würde er seinem schlimmsten Albtraum geradewegs in die Augen blicken.

Nathan durchfuhr es wie ein Feuerstoß. Nun wusste er, woher er diese eisblauen Augen kannte. Das weißgraue Haar, die blasse Haut, die Kälte, die von dem bisher unbekannt Geglaubten abstrahlte.

Eine Welle aus unerträglicher Hitze durchschoss Nathans Körper. Seine Venen fühlten sich an, als würden sie jeden Augenblick unter dem steigenden Druck zerbersten und seine Fingerspitzen kribbelten unaufhörlich. Die Glasflasche in seiner Hand erwärmte sich schlagartig und ehe er sich versah, warf er das Geld dafür hastig auf den Tresen vor sich, bedankte sich nochmals und schlängelte sich blitzartig durch die ausgelassen tanzende Menge dem Ausgang entgegen, ohne sich noch einmal umzusehen.

Auch nach Stunden, in denen Nathan im Hinterhof der Bar an sein mattschwarz foliertes Motorrad gelehnt stand, der Kopf in den Nacken gelegt, konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Die Hitze in seinem Körper schien sich nicht zu regulieren und die Bierflasche, welche er die ganze Zeit über nervös zwischen seinen Händen drehte, war im Augenblick das Einzige, an das er sich klammern konnte, um sich irgendwie im Zaum zu halten und seinen Verstand nicht zu verlieren.

Es fühlte sich an, als würde sein dunkles T-Shirt auf seiner Haut verbrennen und jeden Moment zu Asche zerfallen. Die olivfarbene Lederjacke, die er darüber trug, machte die Hitze, die sich darunter aufstaute, unerträglich. Erneut fuhr Nathan sich mit den Fingern durch seine orangefarbenen, zerzausten Haare, die ihm sofort wieder zurück ins Gesicht fielen. Er seufzte und schüttelte seinen Kopf, wodurch seine Haare nun seine rechte Gesichtshälfte verdeckten.

Nathan hatte schon im Alter von zwölf Jahren aufgegeben, seine Haare irgendwie zu bändigen, was aber allem Anschein nach auch niemanden störte. Von anderen erntete er immer wieder Komplimente für seine Frisur, und die Fragen, wie er diesen ›gewollt wilden Look‹ hinbekam, konnte er nicht beantworten, weil er es nicht einmal versuchte. Beschreiben könnte man seine Frisur als irgendetwas zwischen ›gerade aufgestanden‹ und ›eine Stunde versucht, die Haare voluminös in alle möglichen Richtungen zu verteilen und mit Haarspray zu betonieren, um danach allen zu sagen, dass man direkt nach dem Aufstehen immer so aussähe‹. Nur traf das bei Nathan auch wirklich zu. Wenigstens verdeckten ein paar Haarsträhnen gerade so seine Augen, dass niemand auf dem Hinterhof das Flackern sehen konnte, das in ihnen aufleuchtete. Während er auf das Etikett auf der Flasche in seinen Händen starrte, schwirrten die Gedankenfetzen weiter durch seinen Kopf.

Konnte es denn wirklich sein, dass er gerade hier auf ihn traf? Gab es derartige Zufälle überhaupt? Was tat er hier? Wie lange war er schon hier? Und die weitaus wichtigere Frage, die Nathan sich seit Stunden stellte, war: Hatte er ihn erkannt?

Dass der blasse junge Mann mit den geradezu cyanfarbenen Augen sich in Nathans Gegenwart nicht wohlzufühlen schien, hatte Nathan zweifellos bemerkt. Die Frage, ob er Nathan erkannt hatte, konnte damit aber nicht eindeutig beantwortet werden. Denn wenn er Nathan wirklich als die Person, die er war, wahrgenommen hätte, wäre er keinesfalls so ruhig geblieben. Auch wenn der Neue Nathan wohl oder übel nicht wiedererkannt hatte, war ihm die Spannung zwischen ihnen sicher nicht entgangen.

Nathan schlenderte nun in Richtung der Mülltonnen, um seine Bierflasche darin zu entsorgen. Erst jetzt realisierte er, dass sich der Parkplatz im Hinterhof langsam aber sicher leerte. Aus den sich lauthals verabschiedenden Menschenmengen, welche nun vermehrt auf den Hinterhof strömten, konnte er schließen, dass die Barbesitzerin Shadow den Feierabend eingeläutet hatte. Die Grüppchen auf dem Parkplatz lösten sich Stück für Stück auf und folgten ihren jeweiligen Mitfahrgelegenheiten zu deren Autos, ehe sie den Hinterhof verließen.

Die letzten Motorengeräusche verstummten langsam in der Ferne und Nathan sah gerade wieder zum klaren Sternenhimmel hinauf, als das schwache Licht im Gebäude hinter ihm gelöscht wurde. Inzwischen wieder an sein Motorrad, welches direkt an der Hauswand stand, gelehnt, die Hände in den Hosentaschen vergraben, wartete er auf nur eine Person.

Ihm war durchaus bewusst, wie das für Außenstehende aussehen musste und das Letzte, was er wollte, war es, dem anderen Angst einzuflößen. Aber Nathan musste um jeden Preis herausfinden, ob der Neue ihn erkannte, ohne ihm zu offenbaren, wer er wirklich war.

Plötzlich tauchte in seinem rechtem Augenwinkel eine Gestalt auf, welche so leise am Zaun entlang huschte, als würde sie schleichen. Der Zaun, welcher aus senkrechten Gittern bestand, reichte vom Eingang der Bar zum Tor des Hinterhofs und war mit Büschen und Ranken bepflanzt, welche sich an den Stäben empor kämpften. Der Hinterhof war nur verschwindend gering ausgeleuchtet, weshalb dem die Mülltonnen Ansteuernden nicht auffiel, dass Nathan in unmittelbarer Umgebung zu den Tonnen stand. Die nächstgelegene Laterne befand sich an der Hauswand, da Nathan aber nicht mehr in ihrem Lichtkegel stand, war es unmöglich, ihn zu bemerken. Deshalb wunderte es Nathan noch mehr, dass sein Gegenüber keine ihm ersichtliche Reaktion zeigte, als er aus dem Dunkel heraus in den hellen Schein der Laterne trat wie ins Rampenlicht und ihn ansprach.

»Du bist der Letzte, nicht wahr?«, fragte Nathan und konnte nicht glauben, dass er diese Frage wirklich gestellt hatte.

Der nun merklich kleinere Mann neben ihm drehte den Kopf in Nathans Richtung, im selben Moment wohl erst seine Größe realisierend. Nathans Gegenüber hob den Kopf und sah ihm mit hochgezogener Augenbraue misstrauisch in die Augen.

»Der letzte was? Um abzuschließen? Ja, scheint so«, entgegnete er mit einem leicht gereizten Unterton und war schon dabei, sich von Nathan abzuwenden.

»Das ist nicht das, worauf ich hinauswill.« Nathans Stimmlage änderte sich schlagartig. Er klang bestimmt, fast schon streng, als er einen Schritt auf seinen Gesprächspartner zumachte.

Sein Gegenüber seufzte und sah ihm über die Schulter hinweg nun wieder in die Augen. Diesmal hielt er Nathans Blick stand, als er sprach: »Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst, aber würde es dir was ausmachen, den Parkplatz zügig zu verlassen? Ich muss das Tor schließen.«

Nathan sah sich auf dem Parkplatz um, wodurch ihm jetzt erst auffiel, dass sein Motorrad der letzte verbleibende fahrbare Untersatz war. Kein anderes Motorrad, Fahrrad oder Auto war in Sichtweite.

Womit fuhr er nach Hause? Wo wohnte er? Würde er gleich abgeholt werden? Ein Taxi vielleicht?

Bevor sich die Rätsel in Nathans Kopf häufen konnten, kam ihm seine nächste Frage genauso schnell über die Lippen wie jene, mit der er das Gespräch begonnen hatte.

»Soll ich dich dann vielleicht nach Hause fahren?«

Die eisblauen Augen, welche im Begriff waren, sich von seinen zu lösen, weiteten sich und das prägnante Stirnrunzeln hinterließ einen fragenden, fast schon besorgten Ausdruck auf dem Gesicht des anderen.

»Kein Bedarf, ich wohn eh um die Ecke!«, erwiderte der neue Barkeeper hastig aber bestimmt, und wedelte ablehnend mit den Händen.

»Um die Ecke? Wir sind hier doch mitten im Nirgendwo?«, antwortete Nathan, während er sich ahnungslos umsah. »Das nächste Dorf ist doch mindestens 'ne halbe Stunde Fußweg entfernt.« Als Nathan seinen Blick daraufhin wieder auf dem blassen Gesicht des jungen Mannes ruhen ließ, stand dieser mit verschränkten Armen vor ihm, während er sich unruhig umschaute, als wäre er tatsächlich auf der Flucht.

»Ach egal, vergiss es. Ich komm klar, danke.«

Nathan konnte ein verschmitztes Grinsen nicht unterdrücken. Da er sich nun beinahe sicher war, dass der Grauhaarige ihn nicht wiedererkannte, sondern sich nur aufgrund seiner Direktheit so unwohl fühlte, wollte er es dabei belassen und wählte seine letzten Worte vor der Abfahrt mit Bedacht.

»Alles klar, dann sei vorsichtig auf dem Weg nach Hause. Es ist immerhin Jagdsaison, es wär also besser, wenn du nicht zu lange alleine draußen unterwegs bist. Nicht, dass dich noch jemand mit einem Wildtier verwechselt. Also, bis dann!« Noch während Nathan sich winkend umdrehte, um auf sein Motorrad zu steigen, konnte er die Person neben sich nahezu versteinern sehen. Die kurze Zeit über, in der er sich seinen Helm aufzog, sich auf sein Motorrad schwang und zur Abfahrt ansetzte, beobachtete er den anderen aus dem Augenwinkel genau. Er bewegte sich keinen Zentimeter, sondern starrte Nathan mit leeren Augen an. Der Mund leicht geöffnet und die Augen aufgerissen, bohrten sich die Finger des jungen Mannes in den jeweils gegenüberliegenden Oberarm der vor seiner Brust verschränkten Arme, als wäre ihm gerade seine verbleibende Lebenszeit offenbart worden.

Wusste er es nun doch? Hatten sich seine Erinnerungen zurück in sein Bewusstsein gekämpft? Hatte Nathan all das aufgewühlt, was bisher unberührt tief in ihm verborgen gelegen war? Oder war er einfach grundsätzlich so ängstlich und misstrauisch?

Nathan war bewusst, dass er sich mehr hätte zurückhalten können. Andererseits hatte ihn der Anblick des neuen Barkeepers wahrhaftig kalt erwischt. Niemals hätte er gedacht, ihn anzutreffen.

Ihn hier anzutreffen.

Ausgerechnet hier.

In ihrem Revier.

Kapitel 2

Noch immer stand er auf dem Parkplatz im Hinterhof, die Arme um sich geschlungen, der Blick wie gelähmt auf den Asphalt der Straße gerichtet, auf der vor wenigen Minuten der Rothaarige auf seinem Motorrad ins Dunkel der Nacht verschwunden war. Das Knattern des Motorrads dröhnte noch immer in seinen Ohren.

Was war das? Was war hier noch vor wenigen Minuten passiert?

Nachdem er sich langsam aus seiner eigenen Umklammerung gelöst hatte, trat er den Heimweg an.

Heimweg. Bei dem Gedanken an das Wort verzog er das Gesicht. Ein Heimweg würde ein Zuhause implizieren und das war ein Wort, das in ihm so viele ungewollte Gefühle auslöste wie kein zweites. Bevor er jedoch tiefer in diese Gedanken eintauchen konnte, schob sich das Bild eines rothaarigen jungen Mannes vor sein inneres Auge. Wie dieser dort vor ihm auf dem Tresen gelehnt und ihn nahezu unerträglich intensiv angesehen hatte.

Ihm war zu diesem Zeitpunkt sofort der Cut in seiner linken, im Kontrast zu den orangefarbenen Haaren stehenden, schwarzen Augenbraue aufgefallen, sowie die Piercings am linken Ohr. Ein schwarzer, breiter Ring an der oberen Außenseite seines Ohres und zwei schwarze, platte, kreisförmige Ohrringe. Ein größerer, direkt mittig am Ohrläppchen, und ein zweiter kleinerer etwas weiter darüber.

Nathan. Er konnte sich nicht erklären weshalb, aber ihn überkam sofort ein mulmiges Gefühl, als er an diesem Abend das erste Mal in seine haselnussbraunen Augen geblickt hatte.

Er hatte sich nicht unwohl gefühlt, aber dieser Blick war anders gewesen als alle, die er bisher mit anderen Menschen ausgetauscht hatte. Nathans Blicke waren einschüchternd, aber nicht bedrohlich. Eindringlich, aber nicht unheimlich. Seine Blicke waren tief, vielsagend, lebendig. Wer ihn näher kannte, konnte wohl aus seinen Blicken lesen, so viel schienen sie sagen zu wollen.

Noch wurde er nicht schlau aus diesen Blicken, noch weniger aber aus Nathans Worten. Hatten sich die letzten Worte ihres Gesprächs gerade eben bewusst angehört wie eine Drohung? Oder kümmerte Nathan sich wirklich darum, dass er heil nach Hause kam?

An sich konnte es ihm egal sein. Er brauchte niemanden, der sich um ihn sorgte. Seit Jahren war er auf sich alleine gestellt. Und daran hatte er sich gewöhnt. Nicht, dass er je eine andere Wahl gehabt hätte. Niemand durfte Zeuge dessen werden, was er in seinem Inneren mit sich herumtrug.

Während er sich gekonnt durch die Büsche am Rande des Waldes schlängelte, sah er sich ein letztes Mal um. Er musste sichergehen, dass ihn niemand verfolgte und ihm auch die nächsten Monate keiner auf die Schliche kommen würde.

-

„Ayden, mein Liebling. Lauf!

Lauf, so schnell und so weit wie du nur kannst!

Schau nicht zurück. Ich werde immer bei dir sein.

Auch wenn ich nicht mehr neben dir sein kann,

bin ich trotzdem bei dir.

Das verspreche ich dir.

Und jetzt lauf, bitte!

Irgendwann wird es jemanden geben,

dem du dein wahres Ich zeigen kannst.

Du wirst spüren, wer und auch wann es soweit ist.

Aber bis dahin, bleib bitte sicher, auch wenn das bedeutet,

dass du nicht lange Zeit am selben Ort bleiben kannst.

Egal wo du bist, ich wache über dich.

Ich liebe dich, mein Engel.

Und jetzt renn!“

-

Die Worte seiner Mutter schnellten ihm durch den Kopf, so schlagartig und schmerzhaft wie Pistolenschüsse. Sie erwischten ihn völlig unvermittelt.

Warum jetzt? Warum hörten diese quälenden Erinnerungen und Albträume nicht endlich auf, ihn zu verfolgen? Warum konnte er nicht endlich das finden, was seine Mutter ihm vor Jahren prophezeit hatte? Warum irrte er immer noch planlos umher, warum war er immer noch so rastlos, nach all den Jahren?

Und dann setzte auch schon ein, was er vor allen Menschen verstecken musste. Der Grund, weshalb er niemanden in seinem Leben hatte und niemanden dauerhaft in sein Leben lassen konnte. Die Luft um ihn herum wurde eiskalt und färbte sich in lebhaftes Cyanblau. Ein so helles und kühles Blau wie das seiner Augen. Die zahllosen, winzig kleinen eisblauen Luftpartikel hüllten den Wald um ihn herum in ein beinahe mystisches Lichtspiel. Die Rinden und Blätter der umliegenden Bäume absorbierten das Blau und erschufen damit verschiedenste Farbnuancen, von tiefem Ultramarin bis hin zu grellem Türkis. Er spürte, wie seine Pupillen sich zu senkrecht stehenden Schlitzen verformten, seine Augen nun umrahmt von tiefschwarzen, geschwungenen Lidern. Seine Ohren verlängerten sich, zum oberen Ende hin angespitzt. Er betrachtete seine Arme, die sich wellenartig mit blauem Fell überzogen und seine Hände, welche sich in Pfoten verwandelten, eingehüllt von grauem, weichem Fell.

Ehe er sich versah, fiel er lautlos auf seine vier Pfoten und versuchte, sich schnell an die neue Höhe zu gewöhnen, die nun nur noch etwas über einen halben Meter betrug. Er konnte im Dunkeln gut sehen, was aber in diesem Augenblick nur von geringer Bedeutung war, denn durch die Verwandlung war seine Umgebung wie durch Sternenstaub in hellem Blau erleuchtet. Abseits der guten Sehkraft in der Dunkelheit war seine Sehschärfe jetzt weitaus schlechter als bei Tageslicht.

Auf seine Ohren und seine Nase war nun absolut Verlass. Obwohl er in seiner animalischen Form bedeutend besser hören und riechen konnte, hatte er auch als Mensch ein immer noch weitaus feineres Hör- und Riechorgan als andere Menschen, wenn er sich darauf konzentrierte.

Sein Erscheinungsbild war nicht das eines gewöhnlichen Fuchses, was nicht zuletzt an seiner Farbe zu erkennen war. Seine Pfoten waren mit grauem Fell überzogen, welches etwas darüber in ein Ozeanblau überging. Die Spitze seines buschigen Schwanzes war weiß, genau wie das Fell auf und unterhalb seiner Schnauze, welches über seine Brust reichte und zwischen seinen Vorderbeinen wieder zu einem Blau überging. Seine Ohren umgab dasselbe eisblaue, geschmeidige Fell wie das, welches von seinem Rücken bis zum Ansatz seines Fuchsschwanzes reichte.

Als er schließlich seine temporäre Unterkunft, genauer gesagt ›seine‹ Höhle, schließlich erreichte, genügte ihm ein kurzer Blick ins Innere, um sich zu vergewissern, dass sich der Rucksack mit all seinen Besitztümern noch an Ort und Stelle befand. Seine derzeitige Bleibe war eine dunkle, feuchte und modrig riechende Höhle in einem teilweise bemoosten Felsen, verhangen von Ranken aus Efeu, wodurch der Eingang versteckt im Schatten der Pflanzen lag. Das Loch reichte ein paar Meter tief in den Felsen hinein, bevor der Höhlenverlauf eine Kurve nach rechts einschlug.

Dort, am Ende der Höhle, komplett im Dunkeln, bewahrte er einen Rucksack auf. Er war gerade so groß, dass er ihn als Fuchs mit sich tragen konnte. Geformt wie zwei Taschen, die man normalerweise an den Seiten des Gepäckträgers eines Fahrrads befestigte. Damit war es ihm möglich, sich den Rucksack über den Rücken zu schnallen, während die Taschen an seinen Seiten herunterbaumeln würden, nur verbunden durch ein flaches Stück Stoff auf seinem Rücken. Er konnte die Taschen aber auch so auseinander- und wieder zusammenbauen, dass sie sich übereinandergestapelt in seiner Menschengestalt wie ein zweiteiliger Rucksack tragen ließen.

In diesem befanden sich seine Papiere, die nötigsten Kleidungsstücke – der Länge nach aufgerollt, um sie platzsparend zu verstauen –, eine Notfallration an Dosen mit dazugehörigem Besteck und die gängigen Hygieneartikel, falls es ihm auf seinen Reisen über einen längeren Zeitraum nicht möglich war, sich zu verwandeln. Oder auch einfach, um sich unter Menschen begeben zu können, die ihm nicht sofort ansehen sollten, dass er in den Wäldern in Höhlen lebte wie ein Neandertaler.

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sein Hab und Gut noch sicher war, schlich er zum Eingang seiner Höhle, drehte sich ein paar Mal um die eigene Achse und ließ seinen Fuchskörper daraufhin sanft auf die dünne Blätterdecke unter sich sacken. Er kringelte sich zu einer Kugel zusammen, alle vier Beine nah an sich herangezogen und den schneeweißen, buschigen Schwanz schützend um sich gelegt. Er schloss die Augen und merkte erst jetzt, dass er am ganzen Körper zitterte, zusammengekauert auf dem kalten Waldboden.

Zu lange war er schon auf diese Weise unterwegs. Ohne Konstante in seinem Leben, ohne dauerhafte Bleibe. Auch wenn er all seinen Bedürfnissen in seiner Fuchsgestalt nachkommen konnte und daher nicht zwingend eine Wohnung oder ein Haus brauchte, fehlte ihm ab und zu das wohlige Gefühl eines richtigen Heims. Eines Ortes, an den er zurückkehren und sich einfach fallen lassen konnte. Stattdessen blieb er immer nur wenige Monate in derselben Stadt, um kurz darauf wieder das Weite zu suchen, wenn er drohte aufzufallen oder zu enge Bekanntschaften zu knüpfen.

Es war nicht so, als würde er keine Freunde finden wollen. Er wollte nichts lieber als ein paar vereinzelte Menschen um sich herum, mit denen er eine schöne Zeit haben konnte. Aber es gab immer diesen einen Punkt, an dem es für ihn nicht weiterging. Der Punkt, an dem genau diese Menschen misstrauisch wurden. Wissen wollten, wo er wohnte, wie er wohnte, woher er kam. Er konnte es diesen Menschen nie verübeln, wissen zu wollen, mit wem sie es eigentlich zu tun hatten. Vielmehr hatte er jedes Mal das Verlangen, ihnen alles zu erzählen. Endlich jemandem sein Herz auszuschütten. Aber dann erinnerte er sich an seine Mutter. Daran, dass er niemandem sein wahres Ich zeigen sollte, außer dieser einen Person. Und das waren die Momente, in denen er sich schweren Herzens seinen Rucksack umschnallte und sich auf den Weg in die nächste Stadt machte, bevor ihn das Gefühl, endlich irgendwo dazugehören zu wollen, drohte von innen heraus aufzufressen.

Weshalb er sich nicht einfach einen festen Job suchte und eine vernünftige Wohnung bezahlte? Würde das nicht all seine Probleme lösen? Versucht hatte er es. Und wie sehr er es auch wollte, es funktionierte nicht. Jedes Mal hatte er Probleme mit seinen Kräften. Seine Verwandlungen konnte er einigermaßen kontrollieren, aber seine geringe Körpertemperatur und die Kraft, das Element Eis als Hilfe oder gar Waffe einzusetzen, hatte ihn schon öfter in ausweglose Situationen gebracht. Ein kleiner Nebenjob wie der in einer Bar, war für ihn weitaus einfacher und länger händelbar als ein Vollzeitjob. Er hatte schlichtweg nicht genug Einfluss auf seinen eigenen Körper, um seine Kräfte über Stunden so gut im Zaum zu halten, dass niemand misstrauisch werden würde. Da er dadurch aber natürlich auch weniger verdiente, gerade so viel, dass es für seine Bedürfnisse reichte, war eine Wohnung absolut undenkbar.

Die einzige Hoffnung, an die er sich klammerte, waren die Worte seiner Mutter. Mit einem leisen Grummeln, das mehr einem Seufzer glich, kauerte er sich noch weiter zusammen und versuchte das Zittern, das seinen ganzen Körper bis auf die Knochen bedrohlich vibrieren ließ, weitestgehend zu ignorieren. Sein letzter Gedanke, bevor ihn der Schlaf endgültig überkam, ging an den spitzbübisch lächelnden Rothaarigen, welcher ihn am Parkplatz vor der Jagdsaison gewarnt hatte, ehe er ins Dunkel der Nacht verschwunden war.

Das Zwitschern der zahlreichen Vögel um ihn herum weckte Ayden aus seinem Schlaf. Er spürte die ersten schwachen Sonnenstrahlen auf sich, die sich ihren Weg durch die Baumkronen kämpften und damit allmählich sein dichtes Fell erwärmten. Seine dritte Nacht in der neuen Umgebung hatte er überstanden. An neue Gegenden gewöhnte er sich schnell, eine andere Wahl blieb ihm auch nicht. Alles, was wichtig war, war eine Wasserquelle in der Nähe, um zu trinken und sich und seine Kleidung waschen zu können.

Seine Kleidung. Augenblicklich wurde ihm bewusst, dass er seine Schuhe, die Hose, das weiße Hemd und die schwarze, taillierte Weste, welche er immer in der Bar trug, nach seiner Verwandlung am Waldrand liegengelassen hatte. Aydens Fuchsgestalt schnellte in die Höhe. Noch nicht ganz wach, kniff er die Augen zusammen, sah sich um und schnupperte gleichzeitig in die Luft.

Gefolgt war ihm auch in dieser Nacht niemand. Es mischte sich kein fremder Geruch unter die vertrauten Aromen des Waldes. Es roch nach Harz, nasser Erde und Moos. Durch Letzteres versuchten sich die zahlreichen Blumen ihren Weg an die Oberfläche zu erkämpfen, um ein paar Sonnenstrahlen zu ergattern. Er atmete tief durch seine schwarze, leicht feuchte Nase ein, streckte seine Vorderbeine vor sich aus, krallte sich in den Boden und senkte seinen Kopf zwischen seinen Beinen ab. Unter seinen Pfoten raschelten die Blätter, auf denen er die Nacht über geschlafen hatte. Die eingeatmete Luft stieß er nun mit einem tiefen Seufzen aus, was eher einem Winseln gleichkam, während er seine Hinterbeine und damit seinen Hintern nach oben und den Rücken tief nach unten durchstreckte. Er zog seine Lefzen gen Himmel und versuchte gar nicht erst, sein Gähnen zu unterdrücken, während er das Gewicht wieder auf seine Vorderbeine verlagerte und seine Schnauze in die Höhe ragen ließ.

Nachdem er sich einmal ausgiebig geschüttelt und sein Fell von den Blättern befreit hatte, machte er sich auf den Weg zu seinen zurückgelassenen Kleidungsstücken. Mit leisen, aber eiligen Schritten huschte er durch das Dickicht des Waldes. Vorbei an kleinen, verwilderten Tümpeln, hinweg über umgefallene, bemooste Baumstämme.

Die morgendlichen Sonnenstrahlen verbreiteten eine einzigartige und friedvolle Stimmung im Wald. Ayden begegnete keinen wilden Tieren, egal wo er war. Er selbst wurde nicht als Wildtier von ihnen wahrgenommen. Er war weder Tier noch Mensch, das war sowohl ihm, als auch den Tieren um ihn herum bewusst. Mit domestizierten Haustieren konnte er dafür recht gut kommunizieren, denn diese waren an den Menschen gewöhnt und freuten sich noch mehr darüber, dass er ihre tierischen Bedürfnisse so gut wahrnehmen und verstehen konnte. Das machte sein Leben allerdings noch einsamer, als es sowieso schon war. Ein Haustier konnte er nicht in der freien Wildbahn halten und die wilden Tiere hielten Abstand zu ihm.

Mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern schnellte er durch den dichten Wald, sprang so mühelos über Zweige und Baumstümpfe, als würde er fliegen, nur um alle paar Meter zu pausieren und sich geduckt nach Spaziergängern oder Pilzsammlern umzusehen. Er konnte diese unangenehmen Zwischenfälle zwar zum Glück an einer Hand abzählen, aber auch das war schon zu viel. Je mehr Menschen einen so farblich auffälligen und ein – verglichen mit normalen Füchsen – ungewöhnlich großes Exemplar mit sehr langen spitzen Ohren und eisblauen Augen in den Wäldern erblickten, desto größer wurde die Bedrohung für ihn. Schließlich ging es hier immer noch um Menschen. Wenn etwas existierte, was für Menschen in kein Muster oder eine Schublade passte, wurde es weder in Ruhe gelassen noch geschützt. Stattdessen würde versucht werden, dieses Etwas zu jagen, einzusperren, auszubeuten und zu vermehren, bis auch der Letzte von ihnen seinen Profit daraus gezogen hatte, nur um es letztlich zu töten, wenn sein Soll erfüllt war.

Nach einem kurzen Sprint durch den Wald hatte er sein Ziel erreicht. Seine Kleidung lag noch an derselben Stelle auf dem feuchten Waldboden, an welcher er sich letzte Nacht verwandelt hatte. Er öffnete seine Schnauze und nahm die Stoffe und Schnürsenkel seiner Schuhe behutsam zwischen seine Kiefer. Ein letztes Mal sah er sich um und drehte sich zwischenzeitlich lautlos um seine eigene Achse, bevor er das Tempo wieder aufnahm und sich mit schnellen Schritten rasch zurück zu seiner Höhle navigierte.

Dort angekommen verwandelte er sich in seine menschliche Form, zog sich eine schwarze, eng anliegende Jeans an, warf sich einen petrolfarbenen Pullover über und machte sich auf den Weg zur nahegelegenen Quelle. Er wusch seine Arbeitskleidung gründlich im kristallklaren Wasser, wrang sie aus und nahm sie wieder mit zurück zu seiner Höhle, in der er sie an hervorstehenden Felskanten zum Trocknen aufhängte. Daraufhin teilte er seine Haardecke von den darunter liegenden ab und band sie zu einem kleinen Zopf zusammen. Gerade als er den Haargummi das letzte Mal drehte und über die Haare stülpte, fing sein Magen an besorgniserregend laut zu knurren. Mit der linken Hand fasste er sich reflexartig an den Bauch, während er sich mit seiner rechten an der kalten Höhlenwand abstützte.

Seine letzte richtige Mahlzeit war schon viel zu lange her. An sich konnte er in seiner Fuchsform gut jagen und der Erfolg war dabei geradezu garantiert, allerdings offenbarten sich auch hier Probleme. Neben der Tatsache, dass er durch den rauschartigen Zustand, den er bei der Jagd verspürte, seine Umgebung vernachlässigte und dadurch eine Begegnung mit Menschen zu spät bemerkte, machte ihm die Jagd keinen Spaß. Im Gegenteil. Er verabscheute das Gefühl, einem anderen Tier Todesangst einzujagen, es zu verfolgen und in die Enge zu treiben, bis es unter seinem eisernen Biss aufhörte, sich zu wehren. Er hasste die Emotionen, die ihn überkamen, sobald er aus seiner Trance erwachte und feststellte, dass all das Leben in dem Tier zwischen seinen Fangzähnen, das vor einigen Sekunden noch quietschlebendig durch den Wald gesprungen war, plötzlich nicht mehr existierte.

Allein aus diesem Grund brauchte er Geld, um sich Nahrung zu kaufen, die ihn sättigte. Der ernährungstechnische Vorteil an seinem Hybrid-Dasein war jedoch, dass er nicht so oft essen musste. Er kam länger ohne Verpflegung aus als ein gewöhnlicher Mensch. Aber heute war es wieder soweit. Er zog sich seine alten, braunen Stiefel an, die jeden Moment drohten in ihre Einzelteile zu zerfallen, streckte sich ein letztes Mal mit den Handflächen seiner verflochtenen Finger gen Himmel und trat seinen Weg in den nächsten Ort an.

Kapitel 3

Es war ein friedlicher Mittwochmorgen, an welchem die Sonne vom strahlend blauen Himmel auf den schwarzen Asphalt hinab schien. Die Temperaturen waren über die Morgenstunden schon angenehm angestiegen, weshalb Nathan sich umso mehr wunderte, als er eine gewisse Person mit hängenden Schultern in einem dicken Pullover über den Parkplatz des Supermarktes schlurfen sah.

Nathan trat gerade durch die sich öffnenden, gläsernen Schiebetüren des Ausgangs, da sprang er ihm ins Auge. Interessiert beobachtete er Ayden weiter, der mit gesenktem Kopf und zum Boden gerichteten Blick in seine Richtung wankte. Seit ihrer Begegnung war keine Minute verstrichen, in der Nathan den vergangenen Abend nicht pausenlos in seinem Kopf hatte Revue passieren lassen.

Hatte er Ayden bei seiner Verabschiedung endgültig und vollständig verschreckt? Würde er ihn jemals wiedersehen? Die Chance bekommen, sich zu erklären? War es besser, Ayden niemals erfahren zu lassen, weshalb der gestrige Abend so verlaufen war?

All diese Fragen waren jedoch in dem Moment verflogen, in dem Nathan die knapp über 160 cm große Person auf sich zusteuern sah.

Nicht sicher, wie er Ayden ansprechen sollte, blieb Nathan ein paar Meter vor dem Eingang stehen, die Hände in die Hosentaschen seiner dunkelblauen Jeans gesteckt.

Das Einzige, was er an dem auf ihn Zukommenden wahrnehmen konnte – wenn das durch den Pony, der durch den gesenkten Kopf fast Aydens ganze linke Gesichtshälfte verhüllte, überhaupt möglich war –, war der düstere Ausdruck, der sich über sein Gesicht erstreckte.

Ayden blieb abrupt stehen, als plötzlich zwei schwarze Sneaker mit dicker, weißer Sohle am oberen Rand seines Blickfelds erschienen. Verwundert schoss sein Kopf in die Höhe. Ayden blickte direkt in die dunkelbraunen Augen seines Gegenübers, welcher ihn, leicht in die Hocke gegangen, von etwas weiter unten herauf ansah. Nathan strich Ayden mit den Fingern behutsam die von den Sonnenstrahlen silbrig leuchtenden Strähnen aus dem Gesicht, die jenen daran hinderten, Ayden in die Augen zu sehen.

»Na, jemand zu Hause?«, fragte ihn der Rothaarige, was Ayden sich aber nur durch das Ablesen seiner Lippenbewegungen zusammenreimen konnte. Es war, als würden die Worte nicht bis zu ihm durchdringen. Als würde er sie nur dumpf in der Ferne wahrnehmen. Stattdessen rauschte das Blut in rasendem Tempo durch Aydens Adern und ließ ihn, hypnotisiert von den Klängen in seinen Ohren, die brechendenden Wellen glichen, versteinert zurück.

»Hey, guten Morgen! Alles gut bei dir?«, versuchte Nathan nochmals mit einem breiten Lächeln Aydens Aufmerksamkeit zu gewinnen.

»M-Morgen. Ich mein, also ... ja, alles in Ordnung!«, stammelte Ayden, endlich wieder im Begriff, Herr seiner Sinne zu werden.

Wo kam Nathan plötzlich her? Verfolgte er ihn? Und warum zum Geier stotterte er selbst auf einmal?

»Ein so dicker Pullover um die Jahreszeit? Ist dir vielleicht kalt, fühlst du dich krank?« Nathan kratzte sich mit einer Hand verlegen am Hinterkopf und sah betreten zu Boden, als er fortsetzte: »Ich hab mir gestern schon ein bisschen Sorgen gemacht, als ich dich da ganz alleine zurückgelassen hab. Bist du sicher nach Hause gekommen?«

Die Flut an Wörtern versetzte Ayden fast wieder in einen paralysierten Zustand, die steigende Verärgerung in ihm ließ es aber nicht soweit kommen. »Was soll diese ganze Fragerei eigentlich?«, raunte er Nathan an und blickte starr in die schwarzen Pupillen der schokoladenbraunen Augen vor sich, die sich, erschrocken von der heftigen Reaktion seines Gegenübers, explosionsartig weiteten.

»Tut mir leid, ich wollte echt nicht-«

»Es hat dich nicht zu interessieren, wie es mir geht, was ich anhabe oder wie ich nach Hause komme. Wir sind Fremde. Bitte, für meinen und deinen eigenen Frieden, misch dich nicht in Sachen ein, die dich nichts angehen!«, sprudelte es nur so aus Ayden heraus. Ayden war selbst überrascht von der Länge und der Strenge seines Monologes, denn Gespräche mied er größtenteils. Das Einzige, was er aus langen Unterhaltungen zog, war emotionale Involviertheit. Und genau das konnte er nicht gebrauchen.

Sich mit jemandem auszutauschen und am Ende vielleicht noch anzufreunden, nur um selbst urplötzlich wieder von der Bildfläche zu verschwinden? Zu oft war er schon in diese Situationen geraten und hatte letztendlich vor ein paar Jahren den Entschluss gefasst, dass es den Schmerz nicht wert war. Lieber war er dauerhaft alleine, anstatt nach der tiefen Verbundenheit einer Freundschaft immer wieder aufs Neue diese unendliche, quälende Leere in seinem Herzen fühlen und ewig ertragen zu müssen, wenn er seine Zelte abermals abbrach.

Erneut gefangen in seinen Gedanken, nicht im Stande sich zu bewegen, erblickte Ayden die zwei Tattoos auf Nathans Körper. Ein circa fünf Zentimeter breiter, pechschwarzer Streifen, der sich auf Höhe des Bizeps um Nathans linken Oberarm schlang wie ein Ring. Dasselbe Motiv, nur etwas schmäler, zierte zudem noch Nathans rechtes Handgelenk.

Nathans komplette Ausstrahlung hatte eine nicht zu leugnende Wirkung auf Ayden. Es war nicht sein Äußeres, das Ayden fast dazu verleitete, sein Gegenüber anzustarren. Seine ganze Aura war unvergleichlich. Von Nathan strahlte eine so anziehende Wärme ab, dass Ayden sich nicht nur einmal darüber vergewissern musste, dass vor ihm wirklich ein Mensch stand.

Die Worte, die er Nathan gerade noch entgegengeworfen hatte, waren zwar nicht in der Fülle, aber bewusst in der Härte gewählt gewesen. Auch wenn er dadurch absolut unfreundlich oder durchaus aggressiv erscheinen mochte, war das genau seine Intention. Ayden kannte sich selbst schließlich gut genug. Er wusste, dass der Rothaarige, der ihm immer noch etwas verdutzt dreinblickend gegenüberstand, ansonsten ein guter Gesprächspartner werden könnte. Und so gerne er genau das wollte, umso mehr Gründe hatte er, es nicht zuzulassen.

»Verdammt noch mal, steh doch nicht im Weg rum!«, schimpfte eine unbekannte Stimme hinter Ayden lautstark und rammte ihm keine Sekunde später den Ellenbogen seitlich in die Rippen, woraufhin Ayden den Halt verlor und nach vorne taumelte. Er stolperte geradewegs in Nathans ausgebreitete Arme, Nathan so stramm und alarmiert vor ihm stehend wie ein Grizzlybär im Blutrausch. Nathans Körpergröße, die wohl knapp an die 190 cm betragen musste, wirkte nun tatsächlich einschüchternd, obwohl er die ganze Zeit zuvor eine alles andere als bedrohliche Atmosphäre verbreitet hatte.

»Hab dich!«, murmelte Nathan ihm von oben versichernd ins Haar, während er sich Ayden mit dem Arm um die Schultern fest an seine beinahe stählerne Brust drückte.

»Hey Mann, könntest du dich vielleicht für das Anrempeln gerade entschuldigen?«, rief Nathan dem Unbekannten in energischem Tonfall und weitaus tieferer Tonlage als noch gerade eben hinterher. Was zwar als Frage formuliert war, kam eher einer Anordnung gleich, die dem anderen keinen Ausweg bieten sollte.

Der Mann, dessen Ellenbogen schon lange nicht mehr in Aydens Seite verweilte, aber sich anfühlte, als würde er ihn immer noch gnadenlos zwischen Aydens Rippen drücken, drehte nur seinen Kopf in Nathans Richtung und spottete, während er ungehindert weiterlief: »Als ob, nehmt euch doch 'n Zimmer. Ist ja ekelhaft!«

Ayden, das Gesicht im schwarzen, dünnen Stoff von Nathans T-Shirt auf Höhe seiner Brust vergraben, spürte, wie sich der Körper des anderen verkrampfte, kurz davor, die Fassung vollständig zu verlieren. Er konnte fühlen, wie sich jeder einzelne Muskel in Nathans Körper anspannte, allzeit bereit, die Fäuste für sich sprechen zu lassen. Ayden wurde durch die starke Hand, die sich noch immer an seinem Oberarm befand, noch enger an den breiten Körper vor sich gedrückt. Die von Nathan ausgehende Hitze war so intensiv, dass sie Ayden benommen machte. Um nicht völlig in sich zusammenzusacken, krallte er sich mit den Fingern auf Höhe von Nathans Hüfte in den Stoff an dessen Körper. Seine Fingerspitzen kribbelten dabei so stark, als hätte er gerade auf eine heiße Herdplatte gefasst.

Als Ayden tief einatmete, um sich zu beruhigen, traf ihn Nathans markanter Körpergeruch wie eine Faust mitten ins Gesicht. Durch seine Nasenlöcher hindurch füllte sich sein ganzer Kopf mit angenehmem, rauem Raucharoma. Nathan roch nach einem Lagerfeuer, in das man gerade einen Stoß frisches Zirbenholz geworfen hatte. Es war ihm, als könnte er das Knacken von Holz in einem lodernden Feuer tatsächlich hören. Der vertraute Geruch von Lagerfeuer, verbunden mit der damit einhergehenden, wohligen Wärme, nahm seine Sinne restlos ein. Dieser eine Atemzug entspannte schlagartig all die Muskeln, die sich in der Zwischenzeit auch in Aydens Körper verkrampft hatten. Wie benebelt stand er da, die Knochen in seinen Beinen schlaff wie Pudding, fest an Nathans Shirt geklammert und der Kopf vergraben in seiner muskulösen Brust.

Bisher hatte Ayden sich nur ein Mal in seinem Leben so schwach gefühlt wie im jetzigen Augenblick in Nathans Armen. Den Gedanken an das damalige Ereignis verbannte er aber so schnell wie er kam aus seinem Kopf. Jetzt gerade musste es ihm um jeden Preis gelingen, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Und dafür war es von Nöten, Nathan davon abzubringen, wie ein wildgewordenes Tier auf den Fremden loszugehen.

»Verdammte Scheiße, was hast du da gerade gesagt?« Nathans Augenbrauen schoben sich zur Mitte zusammen, während er die Augen zusammenkniff. Er konnte fühlen, wie das Feuer in seiner Iris aufloderte. Was normalerweise sprichwörtlich zu verstehen gewesen wäre, war in Nathans Fall ein mörderischer Reflex, den es galt, zu unterdrücken. Die Wut köchelte jedoch aus seiner Magengegend in ihm hoch und drohte, ihm jede Sekunde, begleitet von einem ohrenbetäubenden Grollen, flammenartig aus dem Rachen zu schießen.

Die Augen immer noch auf den mittlerweile durch die Schiebetüren des Supermarktes passierenden Unbekannten fixiert, drang erst jetzt eine energische, beinahe fauchende Stimme zu ihm durch.

»Hey!« Nathan blinzelte, die Sicht wie von dichtem Nebel verschleiert.

»Ich rede mit dir!« Ayden versuchte – bisher vergeblich – Nathans Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Auch der leichte Schlag mit seiner geballten Faust auf die immer noch angespannte Brust seines Gegenübers rief keine Reaktion hervor. Doch Nathan hörte ihn. Als würde Ayden in einem anderen Raum gegen eine Tür hämmern, aber sie nicht durchbrechen.

»NATHAN!«, rief Ayden nun, so leise wie möglich, um keine anderen Passanten zu alarmieren, aber so laut wie nötig, um Nathans Bewusstsein zu erreichen. Der Ausruf seines Namens brachte endlich den gewünschten Erfolg.

Nathans Kopf schnellte in die Richtung, aus der er soeben leise seinen Namen vernommen hatte. Erst jetzt realisierte er, dass er Ayden die ganze Zeit über in einer festen Umklammerung gehalten und etwas vom Boden angehoben haben musste. Ihre Hüften und Oberkörper noch immer dicht aneinandergepresst, blickte Nathan auf Ayden hinunter, ihre Gesichter lediglich eine Nasenspitze voneinander entfernt. Die Eiseskälte, die von dem in seiner Umarmung Gefangenen ausging, kühlte seinen überhitzten Körper schlagartig auf Normaltemperatur herunter. Trotzdem konnte er ein warmes Gefühl wahrnehmen, das sich langsam seine Wangen emporschlich. Augenblicklich entspannte Nathan seine Hand, mit der er bisher immer noch Aydens Oberarm festgehalten hatte, und löste jenen somit aus seiner Umklammerung.

Ayden würde ihn umbringen. Er würde ihn hundertprozentig umbringen. So abgeneigt, wie Ayden sich ihm gegenüber gezeigt hatte, war eine Umarmung womöglich das Allerletzte, was er jetzt ertragen konnte, dachte Nathan sich besorgt.

Mit aufgerissenen Augen musterte Nathan den besorgten Ausdruck auf Aydens Gesicht – ein Anblick, den Nathan nun öfter an Ayden gesehen hatte als ein entspanntes Gesicht. Schließlich lockerten sich aber auch Aydens Gesichtsmuskeln, als er einen Schritt zurücktrat, um wieder eine gesunde Distanz zwischen ihnen aufzubauen.

»Könntest du mir einen Gefallen tun und keine Szene machen? Du wolltest eh gerade gehen, oder nicht?« Überrascht von Aydens fast flehenden Worten blieb nur noch ein kleiner Teil der Wut zurück, die in Nathans Magengegend flackerte.

»Wir können ihn damit aber doch nicht einfach davonkommen lassen? Du wolltest einkaufen, richtig? Was ist, wenn er plötzlich-«

»Okay, stopp!«, unterbrach Ayden ihn und hielt sich die flachen Hände defensiv vor die eigene Brust. Aydens Augenlider fächerten auf und ließen den Blick auf dem Augenpaar des Rothaarigen verweilen. »Ist sowieso nicht dringend. Ich besorg es einfach ein anderes Mal. Zufrieden?« Mit hochgezogenen Augenbrauen und fragendem Blick, aber auf keine Antwort wartend, war Ayden gerade dabei, auf dem Absatz kehrtzumachen.

»Erlaubst du es mir dann diesmal wenigstens, dich nach Hause zu fahren?« Er fuhr sich mit der Hand durch sein verstrubbeltes Haar, um es daraufhin mit einer gekonnten Kopfbewegung wieder zurück über sein rechtes Auge fallen zu lassen. Sein verstohlener Blick handelte ihm allerdings nur eine voller Irritation angehobene Augenbraue ein.

»Sag mal, was an dem Begriff ›Fremde‹ hast du nicht richtig verstanden? Wir kennen uns nicht!«, fuhr Ayden ihn forsch an.

»Was, wenn ich genau das ändern möchte?«, entgegnete Nathan, inzwischen wieder vollkommen in sich ruhend.

»Was?!«, fragte Ayden fassungslos.

»Den Teil mit den ›Fremden‹.«

»Wofür? Hast du mir eigentlich zugehört?«, erwiderte Ayden patzig. »Ich bin mir sicher, es gibt genug andere Leute, die dir Gesellschaft leisten wollen.«

Überrascht vom unterschwellig trotzigen Ton seines Gegenübers konnte Nathan sich ein zaghaftes Lachen nicht verkneifen.

»Das kann gut sein, aber ich möchte dich kennenlernen«, wendete er ein, die Betonung bewusst auf dem vorletzten Wort, während er sich, die Hände wieder in den Hosentaschen verschwunden, mit dem Oberkörper leicht in Aydens Richtung vorlehnte. In dieser Position sah er Ayden mit großen Augen und schmollenden Lippen an. Er war wirklich nicht eingebildet oder gar eitel, jedoch wusste er um seinen Charme und die Wirkung, die er auf andere hatte. Weil er mittlerweile aber alle Register erfolglos gezogen hatte, rechnete er mit einer knallharten Abfuhr.

Zu seiner eigenen Verwunderung entwich Ayden ein tiefer Seufzer, bevor er sprach: »Du lässt mich ja sonst wahrscheinlich eh nicht in Ruhe, oder?«

Als Ayden den vor sich stehenden Mann eilig mit dem Kopf schütteln sah, wodurch er trotz seiner eindrucksvollen Erscheinung mehr aussah wie ein kleiner Junge, musste Ayden ein Grinsen unterdrücken. Irgendetwas in ihm wusste, dass Nathan bei einem klaren ›Nein‹ von der Idee abgelassen hätte. Aber aus einem ihm unerfindlichen Grund konnte Ayden ihn nicht so vehement abweisen, wie er es eigentlich vorgehabt hatte. Trotzdem war eine Fahrt zu ihm nach Hause unmöglich, weil es dieses Zuhause nicht gab.

Ayden verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie auch immer, ich werd dir nicht zeigen, wo ich wohne.« Bevor er sich überhaupt eine Ausrede einfallen lassen konnte, weshalb das nicht im Rahmen des Möglichen lag, öffnete sein Gegenüber schon mit einem breiten Grinsen den Mund.

»Du wolltest etwas zu essen kaufen, nicht wahr? Was hältst du davon, wenn ich uns was koche?« Der euphorische Ausdruck auf Nathans Gesicht ging mit den nächsten Worten in einen eher fürsorglichen, leicht besorgten über. »Ich will nicht unhöflich rüberkommen, aber du siehst echt ziemlich erschöpft aus. Lass mich einfach nur sichergehen, dass du was gegessen hast, dann lass ich dich auch in Ruhe, versprochen! Ich setz dich danach auch wieder hier ab, wenn dir das lieber ist.«

Keine zwei Sekunden später durchbrach Nathan die kurzweilige Stille mit einem enthusiastischen »Ich werte das dann einfach mal als ›Ja‹!«. Mit einer nickenden Kopfbewegung in Richtung seines Motorrads deutete er Ayden, mitzukommen.

Als Ayden nach einem belustigten Kopfschütteln gerade zur Antwort ansetzen wollte, streckte ihm der schon auf dem Motorrad Sitzende seinen mattschwarzen Helm entgegen.

»Na los! Steig auf!«

Nathans durchaus sympathisches Lachen ließ Ayden keine andere Wahl, als den Helm zu greifen, ihn sich überzuziehen und hinter Nathan auf dem Motorrad Platz zu nehmen.

Kapitel 4

Und jetzt halt dich gut fest!«, forderte Nathan seinen Hintermann auf. »Wir wollen schließlich beide nicht, dass du runterfällst!«

»Bist du wirklich so eingebildet oder klingst du nur so?«, entgegnete Ayden kess, wofür er ein herzhaftes Lachen von seinem Vordermann erntete, während er selbst noch ungeduldig versuchte, den Verschluss des Helms zu schließen.

Nathan drehte sich mit seinem Oberkörper zu Ayden um, um ihm mit dem Helm helfen zu können. Er sah Ayden mit hochgezogener Augenbraue – die mit der kleinen, haarlosen Lücke – belustigt an, während Ayden weiter angestrengt versuchte, den Verschluss selbst zu übermannen. Kurz darauf gab Ayden sich jedoch mit einem theatralischen Seufzer endgültig geschlagen, untermalt von einem genervten Augenrollen.

»Nun hilf mir schon!«, raunte er den noch immer vergnügten Rotschopf an, sah dabei aber peinlich berührt zur Seite.

»Aber nur, weil du so lieb darum bittest«, neckte Nathan ihn mit einem schiefen Lächeln. Ayden sah Nathan durch das Visier dabei zu, wie dieser an der Unterseite seines Helms herum friemelte. Der konzentrierte Gesichtsausdruck ließ Nathan dabei gleich viel ernster wirken.

Aydens Blick flog über Nathans gebräuntes Gesicht, auf dem ihm die zarten Sommersprossen auf Nase und Wangen erst jetzt auffielen. Gerade, als ein leises ›Klick‹ signalisierte, dass die Schnalle eingerastet sein musste, stoppte Aydens Blick auf Nathans Lippen.

Diese verformten sich im selben Moment zu breiten Linien, die zwei weiße Zahnreihen enthüllten, welche Nathans Grinsen noch mehr erstrahlen ließen.

»So, ich würde sagen wir sind startklar!«, verkündete Nathan, drehte sich nach vorne und startete den Motor. Als er sich vergewissert hatte, dass Ayden sich auch wirklich an ihm festhielt, betätigte er den Drehgriff fürs Gas und zusammen verließen sie den Parkplatz auf seinem Motorrad.

Nathan konnte auf der Fahrt nicht annähernd verarbeiten, was die letzten Minuten passiert war. Ihm war, als wäre er der Hauptcharakter eines schlechten Films. Alles ging Schlag auf Schlag, ohne einen kurzen Moment für sich, um das Geschehene zu verarbeiten. Obwohl er in den letzten zwei Tagen nur ein paar Worte mit Ayden gewechselt hatte, kam dieser ihm so unfassbar vertraut vor. Ihn selbst überraschte das nicht, er konnte sich ja auch noch an Ayden erinnern. Auch wenn es über 7 Jahre her war, als er ihn das letzte Mal gesehen hatte, war ihm dieser Tag in Erinnerung geblieben. Wie könnte er auch nicht.

Es gab keinen Zweifel daran, dass das, was Nathan hier gerade tat, nicht richtig war. Besonders deshalb, weil der junge Mann mit den silberfarbenen Haaren nicht wusste, auf wessen Motorrad er gerade saß. Nathan hatte in keiner Weise vor, Ayden irgendwie zu schaden und wollte auch nicht, dass dieser sich in seiner Gegenwart unwohl fühlte. Im Gegenteil. Er wollte Aydens Mauern einreißen und ihm zeigen, dass er sich auf ihn verlassen konnte.

Bei diesem Gedanken kroch in ihm ein abscheuliches Gefühl empor. Er fühlte sich erbärmlich, um nicht zu sagen, heuchlerisch. Nathan versuchte mit aller Kraft zu verhindern, dass sich die Bilder von damals wieder in sein Bewusstsein zurückkämpften. Es schnürte ihm die Kehle zu, seine Atmung wurde unregelmäßig und seine Augen überzog kaum merklich ein dünner Tränenfilm.

Um sich selbst abzulenken und die schlagartige Änderung seiner Gefühlslage zu verbergen, spielte er bei der nächsten roten Ampel etwas mehr mit dem Gashebel, als Ayden es wohl erwartet hatte.

Die Ampelanzeige sprang von Rot auf Orange und im selben Moment spürte Nathan, wie es Aydens Körper völlig unvorbereitet nach hinten katapultierte, als würde ihn jemand hinter sich mit aller Kraft vom Motorrad ziehen.

»Huch, festhalten hab ich gesagt!«, rief er Ayden über seine Schulter zu. Da Nathan seine Leber darauf verwettet hätte, dass dieser Schachzug seinen Hintermann kalt erwischen würde, hatte er Ayden schon in weiser Voraussicht mit einer Hand am Handgelenk gepackt und zog ihn mit einem beherzten Ruck wieder aufs Motorrad zurück, bevor er sich auf den Asphalt verabschieden konnte. Zu seiner Überraschung klammerte Ayden sich, ohne sich wie vermutet lautstark zu beschweren, an ihm fest wie ein Affenbaby an seiner Mutter. Aydens kleine Hände krallten sich auf Höhe von Nathans Bauchnabel in sein T-Shirt und machten keine Anstalten, diese Position bis zum Ende ihrer Fahrt zu verlassen.

Aydens Herz hüpfte ihm bis zum Hals. Den vehementen Protest, den er Nathan eigentlich entgegenbringen wollte, schluckte er in dem Moment hinunter, in dem er sich daran erinnerte, dass er Nathan vor Beginn der Fahrt selbst noch angestachelt hatte. Er lehnte sich mit der Vorderseite seines Helms an Nathans Rücken und schloss die Augen, den kräftigen Körper des Vorderen immer noch fest umklammert.

Die immer wieder aufheulenden Motorengeräusche hallten trotz Helm in seinen Ohren wider und sein Körper vibrierte durch die Maschine unter sich. Seine Augen wieder geöffnet und den Kopf zur Seite gedreht, betrachtete er die Bäume, die am Straßenrand nur so an ihnen vorbeiflogen.

Jegliches Zeitgefühl verloren, wusste Ayden nur, dass sie schon länger unterwegs sein mussten, weil die letzten Häuser, die er auf ihrer Fahrt gesehen hatte, schon Meilen hinter ihnen lagen. Wäre er sich nicht seiner eigenen Kräfte bewusst, hätte er Nathans Einladung nie im Leben angenommen. Obwohl er in seiner Fuchsgestalt auf Männer wie Nathan sicher nicht wirkte wie ein ernstzunehmender Gegner, hatte ihm sein Leben schon zu oft bewiesen, dass er sich im Notfall bestens verteidigen konnte.

Aber nicht nur als Fuchs war er in der Lage, jemanden anzugreifen. Auch in seiner menschlichen Form verfügte er über eine nicht zu unterschätzende Stärke. Diese entfaltete sich aber nur in Notsituationen und auch einzig in Verbindung mit einer partiellen körperlichen Verwandlung. Würde er als Mensch das Element Eis als Waffe nutzen wollen, musste ihm klar sein, dass sich seine Augenlider mit schwarzen Streifen umziehen und seine Pupillen zu Schlitzen verformen würden, die er nicht verbergen konnte. Die Kontrolle über die Verwandlung aller anderen Körperteile hatte er mit kontinuierlichem Training über die Jahre perfektioniert, aber die Einwirkung auf seine Augen lag, wenn er nicht vollkommen entspannt war, nicht in seiner Macht. Genauso hatte er keinen Einfluss auf seine Körpertemperatur, die immer gleichbleibend niedrig war. Bloß eine erhöhte Herzfrequenz, hauptsächlich ausgelöst durch Stresssituationen, kühlte ihn noch weiter herunter.

Ayden blickte gerade auf Nathans Hinterkopf, als das Motorrad nach einer kunstvollen halben Drehung um die Vorderachse unter ihnen zum Stehen kam und der Motor verstummte. Ehe er sich versah, löste Nathan sich aus Aydens Umklammerung, sprang zur Seite hin ab, stellte das Motorrad auf den Ständer und schlenderte fröhlich pfeifend einen schmalen Trampelpfad entlang, einem kleinen Haus entgegen.

Ayden, der währenddessen noch etwas perplex auf dem Motorrad gesessen war, schwang nun sein Bein über die Maschine und stand endlich wieder mit seinen etwas wackeligen Beinen auf der Erde. Hastig friemelte Ayden am Verschluss des Helmes herum, der sich zum Glück beim ersten Versuch öffnete, und zog ihn sich vom Kopf. Während er seine zerzausten Haare bändigte, sah er sich so unauffällig wie möglich um.

Sie befanden sich auf der Spitze eines Hügels mit nahezu unbegrenztem Blick über das Tal. Die Bäume standen nicht zu eng zusammen, sodass das Licht ungehindert auf den Boden durchdringen konnte. Das Gras unter seinen Füßen leuchtete in sattem Grün und war so raspelkurz, als hätte sich gerade noch eine Herde Schafe darüber hergemacht. In einer Entfernung von ungefähr zwanzig Metern, hinter ein paar Bäumen versteckt, ragte ein kleines Gebäude empor, das auf Stützen an den Hang gebaut in der Luft zu schweben schien.

Bei genauerer Betrachtung konnte Ayden erkennen, dass es sich um einen umgebauten Container handelte. Die Fassade war mit hellgrau lasiertem Holz verkleidet. Die vier sich überkreuzenden Stahlträger, auf denen der Container stand, waren schwarz lackiert und wirkten durchaus massiv. Aus Aydens Blickwinkel sah man geradewegs auf die kurze Seite des Containers. Links davon führte eine Holztreppe auf eine ebenso hölzerne Veranda, breit genug für zwei bis drei nebeneinanderstehende Menschen. Die Veranda begrenzte die komplette lange Seite des Containers und bog am Ende rechts um die Ecke. Umgeben war sie von einem simplen, schwarzen Geländer, ohne Glas oder zusätzliche Sicherung.

Dass er das Gebäude nun doch schon länger als gewollt betrachtet hatte, realisierte er erst, als Nathan ihm von der Eingangstür aus zurief.

»Bist du da drüben festgewachsen? Komm gerne rein!«, lachte Nathan, gefolgt von einer einladenden Geste zur geöffneten Tür, an die er mit der Schulter gelehnt stand. »Ich beiß auch wirklich nicht, versprochen!« Das damit einhergehende Zwinkern machte Nathans Aussage allerdings nicht gerade glaubwürdiger.

Ayden ging gemächlich den schmalen Trampelpfad entlang, hüpfte am Fuße der Treppen angekommen die Stufen zur Veranda hinauf und betrat vor Nathan den Wohncontainer.

»Mach's dir gemütlich und fühl dich wie zu Hause! Stört's dich, wenn ich mir schnell etwas anderes anziehe?«, fragte Nathan in seine Richtung, worauf Ayden kaum merklich mit dem Kopf schüttelte.

Nathan verschwand hinter einer schmalen Schiebetür in einen Raum, welcher aufgrund der daraus hervorblitzenden dunkelgrauen Fliesen wohl das Badezimmer sein musste. Ayden sah sich in dem Häuschen nun etwas genauer um.

Der umgebaute Frachtcontainer war schätzungsweise keine fünfzehn Meter lang, dafür aber fast doppelt so hoch wie Ayden selbst. Trotzdem musste er bei dem Gedanken an den großen Mann in diesem kleinen Container leise in sich hineinlachen.

Die langen Wände des Containers waren in einem zarten Beige gestrichen und auf dem Boden erstreckte sich helles Birkenholzparkett, welches perfekt mit der Wandfarbe harmonierte. Wenn man den Container durch die Eingangstür betrat, befand sich auf der rechten Seite nach ein paar Metern eine eingezogene Wand mit der Schiebetür zum Badezimmer.

An der Wand fand links neben der Tür eine sehr kurze Küchenzeile mit den wirklich nötigsten Geräten und Utensilien ihren Platz. Die Arbeitsfläche der Küche war perlschwarz und die Schrank- und Schubladentüren grau mit verchromten, länglichen Griffen.

Direkt gegenüber der Haustür befand sich ein Holztisch mit zwei schwarzen Essstühlen. Im linken Teil des Raums stand auf einem rechteckigen, grauen Teppich eine hellbeige Zweisitzercouch an der Wand. Das Highlight des Hauses war aber die vollkommen verglaste Front des Containers, mit Blick über das Tal und darüber hinaus.

Ayden zog es intuitiv in Richtung der verglasten Schiebetür, die auf die Veranda führte, welche bündig mit der Ecke der kurzen Seite des Containers ihr Ende fand. Kurz vor der Tür blieb Ayden allerdings stehen, so fühlte er sich doch etwas unwohl bei dem Gedanken, etwas ohne Nathans Einwilligung anzufassen.

»Der Ausblick ist echt atemberaubend …«, murmelte er leise vor sich hin, während er die Sicht auf die Weite des Waldes genoss.

»Ja, oder?«, hörte Ayden plötzlich eine tiefe Stimme neben sich sagen. »Ich kann nie genug davon kriegen«, setzte Nathan leise fort, seine Tonfarbe erstaunlich warm.

Ayden riskierte einen Blick auf den großen, jungen Mann neben sich, den er nun im Profil musterte. Nathan trug jetzt ein weißes, weites T-Shirt und schwarze Shorts, die kurz über seinem Knie endeten.

Ayden schenkte Nathans Statur in diesem Augenblick tatsächlich zum ersten Mal mehr Beachtung. Seine Gesichtszüge waren markant, die Nasenspitze mehr rund als spitz, der Bart glattrasiert. Er war groß und aufgrund der Umarmung am Supermarkt war Ayden sich relativ sicher, dass sich unter seiner Kleidung ein gut trainierter Körper verbarg. Allerdings schien Nathan trotzdem mehr der athletische Typ zu sein, von der Masse eines Bodybuilders weit entfernt. Als Ayden sich selbst dabei erwischte, so genau über Nathans Körper nachzudenken, senkte er beschämt den Kopf und hoffte inständig, dass er aufgrund seiner erhöhten Herzfrequenz keine verdächtige Kälte abstrahlte.

Nathan sah Ayden nicht an, stattdessen hielt er den Blick starr nach draußen gerichtet, als er Luft holte: »Soll ich ehrlich sein? Manchmal wird's schon ziemlich einsam hier oben.«

Zum ersten Mal seit ihrer ersten Begegnung entkam Ayden ein herzhaftes Lachen, woraufhin Nathan ihn verwundert ansah. Ayden hielt sich mittlerweile den Bauch vor Lachen, beim Versuch, sich zu beruhigen.

»Pff, ich wusste nicht, dass ein so sorglos wirkender Kerl wie du so deprimiert klingen kann!«

Auch Nathan entkam ein Prusten beim Anblick des vor Lachen fast weinenden Ayden neben sich.

»Okay, so düster sollte es jetzt auch nicht klingen. Aber freut mich, dass du anscheinend auch lachen kannst!« Etwas leiser und wohl mehr für sich selbst, fügte Nathan ein »Das beruhigt mich …« hinzu, das Ayden jedoch glasklar hören konnte. »So, genug gelacht. Mach's dir bequem, ich kümmere mich ums Essen!«, verkündete Nathan mit einem motivierten Klatschen in die Hände und machte sich auf den zugegebenermaßen sehr kurzen Weg in die Küche.

Während Nathan beim Schneiden der Zutaten in der Küche vor sich hin summte, stand Ayden weiterhin wie hypnotisiert am Fenster und blickte auf die durch den Wind wogenden Baumkronen unter sich hinab.

»Du kannst also kochen, ja?«, durchbrach Ayden die Stille. Es war keine unangenehme Stille, im Gegenteil. Gerade weil es sich zu gut anfühlte, wollte er diesen Frieden bewusst stören.

»Um ehrlich zu sein … nicht wirklich, nein. Aber dann ist jetzt wohl der beste Zeitpunkt, um es zu lernen, findest du nicht?«, erwiderte Nathan fast schon teuflisch kichernd.

Der Vorteil an Aydens blasser Haut war, dass eigentlich niemand wahrnehmen konnte, wenn ihn seine Gesichtsfarbe verließ, wie in diesem Moment.

Der scherzte doch, oder? Weshalb hatte Nathan ihn dann überhaupt eingeladen, wenn er nicht mal kochen konnte?

Ayden sah sich schon wieder im Supermarkt vor dem Regal mit den Dosen stehen, als Nathan sich zu ihm umdrehte und ihm mit einem triumphierenden Lächeln und einem Teller in jeder Hand eröffnete, dass das Essen fertig sei.

Das, was Nathan allem Anschein nach unter Kochen verstand, waren letztendlich ein paar belegte und getoastete Sandwiches. Auch wenn Aydens Auffassung von ›Kochen‹ eine etwas andere war, war er sehr dankbar für die frische und vor allem warme Mahlzeit. Gefüllt waren die Sandwiches mit gebratenem Gemüse und Falafeln, getoppt mit etwas Hummus und schließlich erwärmt in einem Miniaturkontaktgrill. Ayden musste gestehen, dass es auf den ersten Blick nach weniger Arbeit aussah, als es am Ende vermutlich gewesen war.

Nathan nahm auf dem Stuhl mit Blickrichtung zur Glasfront Platz. Er stützte seinen Ellenbogen auf dem Tisch ab, das Kinn auf seiner Handinnenseite ruhend, der Blick auf Aydens Gesicht gerichtet, in freudiger Erwartung seiner Reaktion.