Hier wohnst du - Sylvie Zander - E-Book

Hier wohnst du E-Book

Sylvie Zander

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Beschreibung

Innerhalb kürzester Zeit wird eine beschauliche Stadt, die nicht von mehr Problemen geplagt wurde als gelegentlich randalierenden Jugendlichen, von einer Abfolge grausamster Verbrechen heimgesucht. Jeder Fall von Neuem gibt den Ermittlern und vor allem Kommissarin Sabine Obermüller Rätsel auf, von Entführungen bis hin zu Morden, alle bis ins kleinste Detail geplant und auf den ersten Blick ohne erkennbare Motive. Die Opfer oftmals unbescholtene und vorbildliche Bürger, bei allen beliebt. Doch je näher Kommissarin Obermüller der Lösung ihrer Fälle kommt, desto tiefer blickt sie in die Abgründe der menschlichen Psyche - von krankhafter Liebe, manischer Rache bis hin zu von Hass zerfressenen Einzelgängern.

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Seitenzahl: 135

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Inhalt

Impressum 2

Hier wohnst du 3

Hass 34

Rache 63

Todesspiel 94

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2021 novum publishing

ISBN Printausgabe:978-3-99010-924-3

ISBN e-book: 978-3-99010-928-1

Lektorat:Luisa Bott

Umschlagfoto:Pop Nukoonrat | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Hier wohnst du

Kathi wohnte mit ihrer Tochter in einem kleinen Häuschen am Stadtrand. Sie war Mitte 30, ihre Tochter vier Jahre alt.

Das Häuschen war alt und klein, aber sie liebte es, dort zu wohnen, es genügte für sie beide, und sie war froh nicht in einem Wohnblock zu hausen. Sie hatte das Häuschen während ihrer Schwangerschaft gefunden, war gleich eingezogen und fühlte sich von Anfang an wohl darin. Unten waren eine kleine Küche, ein Wohnzimmer und das WC. Oben waren zwei Schlafzimmer und das Bad direkt unterm Dach. Sie liebte diese Dachschrägen, das machte alles so gemütlich. Im Keller befanden sich ein Lagerraum und eine Waschküche. Von der Küche aus kam man in den kleinen Garten mit einem schönen alten Apfelbaum. Sie hatte ein Gemüsehochbeet angelegt und um die Wiese viele Blumen und Kräuter gepflanzt. Am Apfelbaum baumelte eine Schaukel und darunter war ein Sandkasten.

Die Nachbarhäuser waren alle ähnlich gestaltet, man verhielt sich freundlich, blieb aber auf Distanz. Rechts wohnte ein älteres Ehepaar, links eine alleinstehende Frau.

Kathi lebte in Miete und hoffte, lange dort bleiben zu können. Sie hatte es nicht weit in den angrenzenden Wald einerseits und andererseits nicht weit zu einem Badeteich, wo sie zu allen Jahreszeiten gerne verweilte.

Seit zwei Jahren arbeitete sie wieder in ihrem alten Bürojob, allerdings nur halbtags. Ihre Tochter Ronja besuchte am Vormittag einen Kindergarten. So konnten sie viel Zeit miteinander verbringen, das war ihr wichtig.

Sie war von Anfang an Alleinerzieherin, der Vater des Kindes hatte sich noch während der Schwangerschaft abgekoppelt. War in eine weit entfernte Stadt gezogen und zeigte keinerlei Interesse an Ronja. Immerhin kamen die Alimente regelmäßig, dies hatte sie sich über die Behörden gegen seinen Willen erkämpft.

Sie hatte es sich einfacher vorgestellt mit einem Kind. Das Hineinwachsen in die Mutterrolle empfand sie als äußerst anstrengend, obwohl sie Ronja über alles liebte.

Aber sie hatte durchgehalten, die Verantwortung alleine übernommen, und seit Ronja im Kindergarten war, war vieles leichter geworden.

Die Arbeit im Büro tat ihr gut, so kam sie ein bisschen raus, und es sicherte ihren Lebensunterhalt. Mit Alimenten und Kinderbeihilfe kam sie gut durch. Ein Auto besaß sie bewusst keines. Sie fuhr mit dem Bus zur Arbeit, der Kindergarten war gleich um die Ecke in einer Nebenstraße.

Sozialkontakte hatte sie nicht viele. Manchmal traf sie die Mütter der anderen Kindergartenkinder und sie hatte eine Freundin in der Stadt, die sie regelmäßig besuchte. Ihre Eltern kamen jeden zweiten Sonntag im Monat zu Besuch. Oft fuhr sie mit Ronja zu ihnen. Sie wohnten in einer Stadt etwa eine halbe Stunde entfernt. Geschwister hatte sie keine.

Männer gab’s, bis auf eine flüchtige Beziehung vor zwei Jahren, im Moment keine in ihrem Leben. Aber sie fühlte sich glücklich so, wie es war.

Eines Tages, sie schaute beim Nachhausekommen immer in den Briefkasten, fiel ihr eine Ansichtskarte auf. Abgebildet war eine Karte ihres Heimatstaates, die Adresse war computergetippt und aufgeklebt und der Text war in einer verschnörkelten Kalligrafieschrift geschrieben. Da stand: „Hier wohnst du.“ „Sicher wieder irgendeine Werbeaktion“, dachte sie sich, fand aber keinen Absender oder Ähnliches. Der Poststempel war aus der Bundeshauptstadt. Kopfschüttelnd warf sie die Karte schließlich in den Papiermüll. Sie würde bei Gelegenheit mal die Nachbarn fragen, ob sie ebenfalls so eine Werbekarte bekommen hätten.

Dies vergaß sie im Alltagstrott der nächsten Tage. Ronja war kränklich, und sie war mit Hausputz beschäftigt, weil die Eltern am Wochenende kommen würden und ihre Mutter sehr viel Wert auf Sauberkeit legte.

So plätscherte eine weitere Woche dahin, die Karte hatte sie längst vergessen.

Bis zu dem Tag, an dem wieder so eine Karte bei der Post war. Diesmal war eine Karte ihres Heimatlandes abgebildet. Die Adresse und die Schrift waren dieselben wie beim letzten Mal. Wieder stand da nur: „Hier wohnst du.“ Abgestempelt war die Karte in einer anderen Großstadt.

Irgendwie empfand sie ein nervöses Kribbeln beim Lesen dieser Zeile. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, was dies sollte. Sofort durchforstete sie das Altpapier und fand die alte Karte. Sie schnappte sich Ronja und machte sich umgehend auf den Weg zu ihren Nachbarn. Weder das ältere Ehepaar noch die alleinstehende Frau hatten solche Karten erhalten. Auch sie fanden das komisch und die Frau schürte noch ihre Angst, indem sie sagte, sie würde das irgendwie bedrohlich finden. Unruhe machte sich in ihr breit. Angst lag im Raum. „Was sollte das?“, fragte sie sich immer wieder.

Der Alltag lenkte sie zwar auch jetzt immer wieder ab, aber das blöde Gefühl beim Öffnen des Postkastens erinnerte sie jedes Mal wieder daran. Die Zeit verging und nichts passierte. Nach einem Monat war sie wieder ruhiger und hoffte nach wie vor, dass es irgendeine Werbeaktion oder ein blöder Scherz war.

Sie besprach das Geschehene auch mit ihrer Freundin, die nichts Bedrohliches darin sah und meinte, es wäre sicher nur ein Scherz gewesen. Das beruhigte sie ebenfalls, sie fragte sich nur, von wem dieser dumme Scherz kommen könnte.

Eine Woche später stockte ihr der Atem beim Öffnen des Briefkastens. Da war wieder eine Karte. Jetzt war ihre Heimatstadt abgebildet. Eine Karte, die es überall in Tourismusbetrieben zu kaufen gab. Wieder dieselbe Machart bei der Adresse und beim Text. Wieder die Botschaft: „Hier wohnst du.“ Abgestempelt in einer anderen Stadt. Sie musste sich setzen, ihre Knie zitterten, sie bekam richtig Angst. Wer trieb da Scherze mit ihr, woher kamen diese Karten? Was sollte sie tun?

Sie rief ihre Freundin an, die das langsam auch komisch fand und ihr riet, damit zur Polizei zu gehen. Doch konnte man das, wegen Ansichtskarten zur Polizei gehen? Machte sie sich da nicht lächerlich? Sie beschloss, noch zu warten.

Am Wochenende würde sie zu ihren Eltern fahren und diese um Rat fragen. Immer mit einer leichten Angst im Hinterkopf mühte sie sich durch den Alltag. Empfand diesen Zustand als zermürbend und freute sich bereits auf das Wochenende.

Mit den Karten im Gepäck fuhr sie los. Zuerst wollte sie nur mit dem Vater reden. Er war der Sachlichere von beiden. So wartete sie, bis ihre Mutter mit Ronja zum Spielplatz ging, täuschte Kopfschmerzen vor, um mit dem Vater alleine zu sein. Sie zeigte ihm die drei Karten, die er kopfschüttelnd betrachtete. Auch er war betroffen und konnte sich keinen Reim darauf machen. Das wiederum schürte ihre Angst und sie beschlossen, der Mutter erstmal nichts davon zu erzählen. Ihr Vater riet ihr, noch abzuwarten, bevor sie zur Polizei ging. Das war alles so vage und stellte sich vielleicht doch bald als übler Scherz heraus.

Völlig verunsichert fuhr sie wieder nach Hause. Der Griff in den Postkasten wurde zur täglichen Mutprobe. Sie hatte dauernd diese lauernde Angst in sich, war immer leicht angespannt und nervös. Sie konnte sich bei der Arbeit nicht gut konzentrieren, alles fiel schwer.

Wieder waren zwei Wochen vergangen, als es wieder passierte. Dieses Mal war es eine Fotokarte mit ihrem Straßenschild vorne drauf. Die Adresse, die Schrift und der Inhalt waren wie immer „Hier wohnst du.“ Abgestempelt war die Karte in einer Stadt in der Nähe.

Zitternd setzte sie sich auf einen Küchenstuhl, ihr stockte der Atem, die Angst kroch in ihr hoch und verkrampfte ihren Magen. Ihr wurde übel, sie bekam keine Luft. Ronja begann zu jammern. „Was ist los, Mama?“, fragte sie ebenfalls verunsichert. So kannte sie ihre Mutter nicht. Sie war unfähig, das Kind zu beruhigen, und schickte es zum Spielen ins Zimmer. Jetzt war es genug, sie musste die Polizei rufen. Das tat sie gleich, erklärte einer Beamtin, sie werde bedroht, und schilderte die Geschichte mit den Karten. Die Polizistin nahm die Personalien auf und versprach, jemanden vorbeizuschicken. Ganz ernst genommen fühlte sie sich nicht nach diesem Gespräch.

Wie sollte sie Ronja den Besuch der Polizei erklären? Sie richtete eine Jause für das Kind und holte sie aus dem Kinderzimmer. Während Ronja aß, erklärte sie ihr, dass bald Polizisten kommen würden, um nachzusehen, ob es ihnen gut gehe. „Das machen Polizisten manchmal“, log sie daher. Damit sie mit den Leuten reden könne, solle Ronja in den Garten gehen und spielen. Schon klingelte es an der Tür und sie gingen öffnen, das Kind stand neugierig daneben. Sie begrüßte die Beamten, es war die Frau vom Telefon und ein Kollege. Sie stellte ihnen Ronja vor und schickte das Kind mit dem Versprechen auf ein Eis in den Garten. Als die Kleine draußen war, zeigte sie der Polizei die Karten. Diese reagierten betroffen, aber ratlos. „Es liegt keine wirkliche Bedrohung vor“, meinte die Beamtin, und bevor nicht etwas Konkretes geschehe, könnten sie nichts unternehmen. Sie fasste es nicht, konnte ihr denn niemand helfen? „Ich fühle mich aber bedroht“, jammerte sie ängstlich. „Wir können nur vermehrt in der Gegend Streife fahren“, schlug die Polizistin vor. „Sie melden sich, wenn es etwas Neues gibt“, meinten die Beamten beim Rausgehen.

Sie setzte sich zu Ronja in den Garten und brachte das versprochene Eis mit. „Alles ist gut Ronja, die Polizisten sind wieder weg“, versuchte sie ihre Tochter und sich selbst zu beruhigen. Am liebsten würde sie sich jetzt ins Bett legen, sich die Decke über den Kopf ziehen und weinen. Aber sie musste sich zusammenreißen wegen Ronja.

Irgendwie plätscherte der Nachmittag dahin. Als das Kind im Bett war, schloss sie überall doppelt ab und machte im Erdgeschoss alle Fensterläden zu.

Sie fühlte sich beobachtet, hatte Angst, völlig paranoid zu werden. Verzweifelt rief sie ihren Vater an und erzählte ihm alles. Der war wütend auf die Polizei und versprach, am Wochenende zu kommen.

Sie schaute nach, ob Ronja schlief, legte sich ins Bett und weinte lange. Sie schlief schon länger schlecht und ihre Nerven waren mürbe. Die halbe Nacht lag sie wach, achtete auf jedes Geräusch im Haus und grübelte.

Untertags fühlte sie sich beobachtet und verfolgt. Nur mühsam gelang es ihr, den Alltag zu bewältigen. Sie war ständig angespannt und hatte weniger Nerven für Ronja. Gleichzeitig war die Kleine ein Grund, weiter zu funktionieren.

Am Wochenende kamen die Eltern und sie zeigte die Karten auch der Mutter. Diese reagierte bestürzt und ängstlich darauf und wollte am liebsten Tochter und Enkelkind mit zu sich nach Hause nehmen. Sie wäre auch gern geflohen, doch das war nicht möglich. Sie musste weiterhin zur Arbeit. Sie versprach der Mutter, gleich die Polizei zu rufen, wenn wieder eine Karte kam, und den Beamten die Handynummer der Eltern zu geben.

Die Tage vergingen, sie fürchtete sich jeden Tag beim Öffnen des Briefkastens. Sie vertraute sich der Nachbarin an und bat sie, ungewöhnliche Beobachtungen zu melden, außerdem gab sie auch ihr die Nummer der Eltern für einen etwaigen Notfall. Diese fand die Karten auch beunruhigend und sonderbar.

Und dann kam der Tag, an dem wieder eine Karte im Postkasten war. Dieses Mal war es eine Fotokarte von ihrem kleinen Häuschen mit Hausnummer, wahrscheinlich von der Straße aus aufgenommen. Wieder derselbe Modus und wieder: „Hier wohnst du.“

Abgestempelt in ihrer Heimatstadt.

Alles kam näher, sie erschrak fürchterlich. Die Angst nahm ihr erneut den Atem, ihr wurde übel. Wieder schickte sie Ronja ins Kinderzimmer und rief die Polizei.

Die Beamtin kam alleine. „Leider können wir weiterhin nur abwarten“, versuchte diese zu beruhigen. Immerhin nahm die Polizistin die Karten mit, um sie auf Spuren oder Abdrücke zu untersuchen. Sie hatte auch ein Gerät dabei und nahm ihre Fingerabdrücke, um diese auszuschließen. Aber sie machte ihr keine großen Hoffnungen, da die Karte auf dem Postweg durch viel zu viele Hände gegangen war. Mit dem Versprechen, bei Streifenfahrten ein Auge auf das Haus zu haben, und mit der Handynummer der Eltern verabschiedete sich die Beamtin.

Sie telefonierte auch gleich mit den Eltern, die sehr besorgt waren und versprachen, wieder vorbeizukommen.

Jetzt war sie wieder alleine mit ihrer Angst, die sie vor der Tochter verstecken musste. Sie fühlte sich auch im Haus nicht mehr sicher und ließ eine Sicherungskette an die Haustüre montieren. Ronja ließ sie nicht aus den Augen, besonders wenn diese im Garten spielte. Die Angst fraß sich in sie hinein. Zum Schlafmangel kam auch Appetitmangel hinzu. Sie musste sich zum Essen zwingen. Der Gedanke an die Karten war ständig in ihr. Beim Arbeiten hatte sie große Mühe, sich zu konzentrieren. Es wurde alles immer schlimmer und mühevoller. Trotzdem versuchte sie, sich am Alltag festzuhalten.

Wie auch sonst unternahm sie mit Ronja Ausflüge an den See oder Spaziergänge im Wald. Aber sie fühlte sich ständig beobachtet und hatte Angst, verrückt zu werden. Irgendwie schaffte sie es, weiter zu funktionieren.

Die Polizistin hatte ihr inzwischen die Karten wiedergebracht. Keine verwertbaren Spuren wurden gefunden. Der Satz „Hier wohnst du.“ war jeweils kalligrafisch mit Tinte von Hand geschrieben, aber das brachte sie auch nicht weiter.

Sie fühlte sich völlig alleingelassen und hilflos. Ihr Magen schmerzte jetzt oft, sie konnte nur schlecht schlafen und wurde von Alpträumen geplagt. Von ihrer Ärztin ließ sie sich ein pflanzliches Schlafmittel verschreiben. Auch die Ärztin zeigte sich besorgt wegen ihrer Nerven. Sie hatte Angst, völlig paranoid zu werden. Aber da war Ronja und die forderte Normalität. Das Kind sollte nichts spüren von ihrer Angst, tat es aber dennoch. Das Kind jammerte zurzeit häufiger, wollte am Abend nicht einschlafen und verhielt sich laut Kindergartenpädagogin auffällig. Ronja verkroch sich öfter in einer Ecke, wollte immer häufiger nicht mitspielen. Sie erzählte der Pädagogin von den Karten und ihrer Angst. Niemand außer ihr oder der Nachbarin dürfe das Mädchen abholen. Sie hinterließ auch hier die Handynummer der Eltern für den Notfall.

Eines Nachmittags im Supermarkt stieß sie fast mit einem Mann zusammen. Sie stammelte eine Entschuldigung und er sprach sie mit den Worten „Kathi, bist du das?“ an. Sie erschrak kurz, erkannte ihn aber gleich. Das war doch der krumme Michl aus der Handelsschule, den alle immer ausgelacht hatten wegen seiner Größe und seiner gebeugt schwabbligen Figur. Ihr hatte er damals Leid getan. „Michael aus der Handelsschule“, antwortete sie endlich. „Was machst denn du da?“ „Ich wohne hier in der Nähe“, war die Antwort. Sie erzählte ihm, auch in der Nähe zu wohnen. Sie gingen gemeinsam Richtung Kasse. Sie hatte viel eingekauft und packte alles in drei Taschen. Er bot ihr seine Hilfe an und trug ihr zwei Taschen zum Fahrradanhänger, Ronja klemmte sich dazwischen. Wieder bot er an, beim Transport zu helfen. Sie willigte ein und so lud er eine Tasche auf sein Fahrrad. So radelten sie Smalltalk plappernd in Richtung Häuschen. Dort trug er ihre Taschen bis zur Haustür und sie lud ihn zum Kaffee ein. Er war freundlich und höflich und spielte mit Ronja, während sie Kaffee kochte und die Einkäufe verräumte. Während des Kaffees erinnerten sie sich an alte Schulgeschichten und er erzählte, wie schwierig es damals für ihn war. Er habe sie immer gemocht, weil sie nicht mit den anderen mitgelacht hatte. Sie plauderten über ihr Leben, wie es nach der Schule lief, wie sie jetzt lebten. Die Zeit verging wie im Flug. Kurz überlegte sie noch die Geschichte mit den Karten zu erwähnen, aber etwas hielt sie zurück, sie kannte ihn ja kaum. Sie tauschten noch die Handynummern aus, dann ging er wieder.

Das hatte ihr gut getan. Die Angst war für kurze Zeit weg gewesen, sie hatte sich gut unterhalten. Er war zwar immer noch groß und schlaksig, aber sehr höflich und nett. Vielleicht würde sie ja wirklich mal was mit ihm unternehmen.

Die Tage plätscherten dahin wie üblich. Es war schon lange keine Karte mehr gekommen, vielleicht war ja der Spuk jetzt einfach vorbei. Sie hatte sich ein bisschen beruhigt, schaute nicht mehr ständig zurück oder aus dem Fenster. Die Eltern waren am Wochenende da, sie grillten im Garten und hofften alle, dass wieder alles normal war.