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Aus einem Kleinstadtmuseum wird "Die Leopardin" gestohlen. Das Gemälde, eine hoch versicherte Leihgabe, taucht bald darauf wieder auf. Schnell steht auch fest, wer die Kunstdiebe und die Drahtzieher des Coups waren. Das Lösegeld bleibt jedoch verschwunden. Zwei Ehepaare, die zeitgleich, aber aus völlig unterschiedlichen Motiven eine große Amerikareise antreten, geraten den Fokus der Ermittler von Polizei und Versicherungsdetektiv. Eine dramatische Verfolgungsjagd über die Highways Nordamerikas beginnt.
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Seitenzahl: 289
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Hildegard Grünthaler
Impressum
Text:
© Copyright by Hildegard Grünthaler
Covergestaltung und Foto:
© Copyright by Hildegard Grünthaler
Hildegard Grünthaler
Kolpingstraße 19
90542 Eckental
https://www.wohnmobil-weltreise.de/
https://www.schmoekerseite.de/
Highway ins Verderben
Das Buch:
Über die Autorin:
Prolog
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Epilog
Nachwort
1. Leseprobe »Die Beschwörungsformel«
KALATUR, DER GEIST DES RAUCHES
DER BANN
EIN SOUVENIR AUS MARRAKESCH
2. Leseprobe aus dem Jugendroman »Römer, Ritter, Fußballhelden
Tante Calpurnias Abschiedsgeschenk
Von Rittern, Raubrittern und falschen Helden
Aus einem Kleinstadtmuseum wird »Die Leopardin« gestohlen. Das Gemälde, eine hoch versicherte Leihgabe, taucht bald darauf wieder auf. Schnell steht auch fest, wer die Artnapper und die Drahtzieher des Coups waren. Das Lösegeld bleibt jedoch verschwunden.
Zwei Ehepaare, durch Zufall zeitgleich auf großer Amerikareise, geraten ins Visier der Ermittler von Polizei und Versicherung. Eine dramatische Jagd über die Highways Nordamerikas beginnt.
Die Personen und die Handlung des Romans sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Die Autorin
Bis zu dem Zeitpunkt, als Hildegard Grünthaler begann, Hausrat und Möbel zu verscherbeln, das Haus vermietete und zusammen mit Ehemann Peter das auf den allerletzten Drücker gekaufte Wohnmobil über den Großen Teich nach Baltimore verschiffte, verlief ihr Leben ohne größere Ereignisse.
Nach drei Jahren Wohnmobilreise durch Nordamerika, Neuseeland und Australien war zwar das größte Fernweh gestillt, die Sehnsucht nach der Weite Nordamerikas kam aber bald zurück. Für ein weiteres Jahr verschiffte das Ehepaar ein Wohnmobil nach Halifax an Kanadas Ostküste. Über diese Reisen hat die Autorin zwei Bücher verfasst, die vielen Travellern ein Begriff sind.
Nach Jahren im Wohnmobil ist die Autorin wieder sesshaft und Großmutter von zwei Enkelkindern.
»Anmeldename«, murmelte Jürgen Brombacher. Er tippte »womodriver« in die Eingabemaske. »Passwort, wie hieß das doch gleich? ›highway19‹? ›traveller17‹?«
Er lupfte den Laptop, holte die Liste mit den Zugangsdaten hervor, fuhr mit dem Zeigefinger die Zeilen entlang und tippte schließlich »18amerika#« in die Maske. Auf seine Anfrage waren sieben Zuschriften eingegangen. Ein gewisser mobilspezialist hatte geschrieben:
»Amerika kannst du vergessen, viel zu gefährlich! Lauter Gangster dort! Bleib lieber in Deutschland, da weißt du, was du hast!«
»So ein Depp!«, entrüstete sich Helga, die ihm von hinten über die Schulter sah. Jürgen scrollte weiter. mark12 empfahl ihm ein Buch. Jürgen kopierte den Titel, bevor er die nächste Antwort anklickte. Solarpaneele mit 400 Watt und Gelbatterien mit 800 Ampere wären das mindeste, was ein Wohnmobil für eine derartige Reise bräuchte, hatte ihm freak mitgeteilt. Ein Typ mit dem Pseudonym asterix99 hatte bereits seinen Senf zu der Antwort gegeben:
»Blödsinn, braucht man nicht, auch in Amerika kommt der Strom aus der Steckdose!« Jürgen stöhnte und klickte weiter: mäuserich hatte ihm kundgetan:
»Weiß ich nicht. War noch nie in Amerika«.
»Spar dir doch die Mühe und die Zeit mit diesen blöden Foren«, forderte ihn Helga auf. »Dort sind doch nur Klugscheißer unterwegs!«
Jürgen antwortete nicht, er hätte ihr sonst recht geben müssen. Stattdessen klickte er die Antwort von rumkugel an.
»Verkauf deine windige Karre! Die bricht Dir auf der ersten Schotterstraße zusammen. Leg Dir ein anständiges Expeditionsmobil zu! Wie willst Du ohne Allradantrieb durch Alaska kommen? Bei minus 50°, bei Eis und Schnee und in totaler Finsternis? Dort gibt es kaum Straßen!«
Jürgen widerstand dem ersten Impuls, der Rumkugel eine Erwiderung auf den hirnrissigen Stuss zu tippen. Stattdessen klickte er sich ziemlich ernüchtert durch den Rest der sinnentleerten Zuschriften.
»So ein richtig schickes Mobil wär aber schon was«, schwärmte Helga, »mit allem Schnickschnack und allem Pipapo ...«
»Da müsstest du vorher das vermietete Häuschen meiner Eltern verkaufen oder aber im Lotto gewinnen. Das Häuschen wird nicht verkauft, ein Lottogewinn ist nicht planbar, und unsere Konten und Reserven wollen wir doch nicht angreifen. Deshalb werden wir die Reise mit unserem guten, alten, zuverlässigen Wohnmobil machen. Ohne Schnickschnack und ohne Pipapo. Eine Solaranlage werden wir aber wirklich brauchen!«, entschied Jürgen. Er loggte sich aus und startete die Googlesuche.
Bevor sich Johannes Werning der Krawatte entledigte, musterte er sich noch einmal prüfend im Spiegel. Der gut geschnittene Anzug ließ ihn schlanker erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Er kaschierte auch die Kugel, die sich unter dem Sakko zu wölben begann. Das Grau, das Wernings dunkles Haar langsam aber stetig immer stärker dominierte, hatte er mit einer Tönung überdeckt. Dass die Stirn sichtbar höher wurde, ließ sich leider nicht so leicht vertuschen. Trotzdem fand er, dass er mit seinen 57 Jahren durchaus passabel aussah.
Werning hängte den Anzug über den Herrendiener, warf das Oberhemd aufs Bett und begutachtete sich noch einmal im Spiegel.
»Jo, du kriegst einen Bauch!«, hatte Nina letzte Woche so ganz beiläufig bemerkt. Seinen Protest hatte sie mit der gnadenlosen Bemerkung abgeschmettert:
»Einen Rettungsring auch!«
Reflexartig zog er den Bauch ein, hielt die Luft an. Doch mit dem Ausatmen wölbte sich die verflixte Kugel schlagartig wieder nach vorne. Er gestand sich ein, dass er unübersehbar schlaff wurde.
Werning wusste genau, Nina hatte ihn mit ihrem beiläufigen Hinweis auf den Bauch nicht nur necken wollen. Den Nadelstich hatte sie gezielt gesetzt. Schließlich hatte sie auf ein schickes Penthaus gehofft. Jetzt war sie enttäuscht, dass das Liebesnest nur eine kleine Zweizimmerwohnung in einem schon etwas heruntergekommenen, aber billigen und vor allem anonymen Hochhaus geworden war.
Was dachte sie denn, welche Reichtümer der Direktor eines Kleinstadtmuseums verdient? Es war schon schwierig genug, die Miete für die kleine Wohnung unauffällig abzuzweigen. Ganz zu schweigen von dem vielen Geld, das die teuren Klamotten kosteten, die Nina bevorzugte. Von den paar Kröten, die ihr Studentenjob einbrachte, konnte sie sich die edle Garderobe schwerlich leisten.
Werning seufzte. Es war verdammt anstrengend, sich eine 23-jährige Geliebte zu leisten. Noch anstrengender war es, sie vor der Ehefrau geheim zu halten. Das Geld für die Miete und ihre vielen Wünsche gab er Nina in bar. Keinesfalls wollte er irgendwelche nachvollziehbaren Spuren auf seinen Kontoauszügen hinterlassen. Zum Glück ging Sabine völlig in ihrem Beruf als Studienrätin auf. Abends war sie meist mit Unterrichtsvorbereitungen beschäftigt, saß über Korrekturen und zusätzlich leitete sie die Theatergruppe der Schule.
Werning kramte die neuen Fitnessklamotten aus der Kommode und schlüpfte in einen Trainingsanzug. Er konnte Nina kein Penthaus mieten, geschweige denn kaufen, also musste er wohl oder übel etwas gegen den Bauch tun. Kurz darauf verließ er die Wohnung. Seine Frau saß noch immer in ihrem Arbeitszimmer am Schreibtisch.
»Tschüs!«, rief er im Vorbeigehen. »Ich gehe ins Fitnessstudio. Du weißt ja, dass mir der Arzt das dringend angeraten hat!« Das war nicht mal gelogen.
Sein Kopf färbte sich vor Anstrengung tiefrot. Mit gepresstem Atem und brennenden Oberschenkeln drückte er gegen die Platte der Beinpresse. Vergeblich! Er schaffte es nicht, das verflixte Ding nach vorne zu drücken. Noch keine halbe Stunde hatte er trainiert und schon jetzt war er fix und fertig. Voll Neid beobachtete er den Typen am Gerät nebenan. Scheinbar spielerisch bewegte der die Butterfly-Maschine. Der tätowierte Bizeps schwoll sichtbar unter dem engen Muskelshirt.
Du musst dich noch mehr anstrengen, befahl Werning sich selbst, und drückte noch einmal mit aller Kraft gegen die Presse.
Der Muskeltyp verließ den Butterfly. Schnell wechselte Werning selbst zu dem Gerät. Dem ersten Impuls, die Gewichte zu reduzieren, widerstand er. Was der konnte, musste er doch auch schaffen.
»Es ist anfangs besser, ein paar Gewichte weniger aufzupacken«, mahnte der Typ, der sich als Harry vorstellte, lächelnd. »Überanstrengung hilft Ihnen nicht weiter.«
»Ja, das leuchtet mir ein. Ich bin nur etwas ungeduldig. Ich möchte mir so schnell wie möglich starke Muskeln und einen harten Waschbrettbauch antrainieren«, gestand Werning.
Harry nickte mitfühlend. »Verstehe! Die ersten Male können extrem frustrierend sein.«
»Wie lange dauert es, bis man den Erfolg der Schinderei sieht?«
Harry witterte seine Chance. Lässig wischte er sich die feuchten schwarzen Locken aus der Stirn, ließ seine vom Schweiß glänzenden Muskeln spielen. Er fand, dass es an der Zeit wäre, zu einem vertraulichen Du überzugehen.
»Wenn du so trainierst, wie man es dir in der Einführung gezeigt hat, dauert es ewig.«
»Das heißt, du kennst eine Methode, mit der es schneller geht?« So schnell zu duzen war Werning zwar fremd, doch er wollte nicht spießig erscheinen.
»Aber hundertpro! Trainieren musst du dabei zwar auch, aber es gibt da gewisse Mittel ...«, Harry legte eine Kunstpause ein, lauerte darauf, dass sein Gegenüber anbiss.
»Jaaa?«
»... gewisse Pülverchen und Pillen, die nicht nur die Muskelbildung, sondern auch die Fitness enorm beschleunigen.«
Zufrieden stellte Harry fest, dass es in den Gehirnwindungen seines Gegenübers sichtbar zu rattern begann. Bevor der Typ weiter nachfragen konnte, dozierte er mit ernsthafter Miene:
»Wie du sicher schon gehört hast, verbrennen starke Muskeln wesentlich mehr Fett als schlaffe. Deshalb ist es nicht nur für die Optik, sondern auch für die Gesundheit besser, für starke Muskeln zu sorgen. Aber wer hat schon Zeit, täglich Stunden im Fitnessstudio zu verbringen.«
Weil Werning nicht gleich reagierte, schob Harry augenzwinkernd nach:
»Na, und Frauen stehen sowieso auf Muskeln. Garantiert!« Dabei ballte er lässig die Faust und ließ seinen Bizeps hervortreten.
»Diese Pillen - kriege ich in der Apotheke?«
»Nein, die kriegst du von mir!«
»Das heißt auf Deutsch: Die Pillen sind illegal?«
Harry hatte mit diesem Einwand gerechnet:
»Was heiß illegal - es geht doch niemanden was an, wie wir unsere Muskeln aufpeppen. Der Staat sollte froh sein, wenn wir was für die Gesundheit tun und nicht der Krankenkasse zur Last fallen«. Mit gesenkter Stimme fügte er hinzu: »Du bekommst die Pillen natürlich zu einem Sonderpreis!«
Werning nickte: »Ich werde die Pillen mal ausprobieren!«
Na endlich hat der Schlaffi angebissen, dachte Harry.
»Sie sind nicht die Höchstbietende«, erschien auf dem Display. Verena zögerte nur kurz, bevor sie ihr Gebot auf 95 Euro erhöhte. 12 Euro war das Mindestgebot gewesen - ein Hammerschnäppchen für diese Designerhandtasche. Regulär kostete die im Laden um die 300. Mindestens. Es gab Leute, die konnten sich das leisten. Einfach so. Mal hier ein Täschchen für 300 Euro, mal da ein paar High Heels für 400 oder ein Kleid für einen schlappen Tausender.
»Sie sind nicht die Höchstbietende!«, reklamierte die Versteigerungsplattform. Verena dachte kurz an ihr überzogenes Konto bevor sie auf € 98,55 erhöhte. Immer noch ein Schnäppchen!
»Herzlichen Glückwunsch, Sie sind derzeit die Höchstbietende!«
Na also! Noch fünf Minuten, dann gehörte die Tasche ihr. Vor Aufregung wurden ihre Hände feucht. Sie wischte sie an der Jeans ab, die sie letzte Woche für 130 Euro ersteigert hatte. Ein Schnäppchen hatte sie gedacht - obwohl, mehr kostete die im regulären Handel auch nicht. Aber das hatte sie erst hinterher festgestellt. Verena griff wieder nach der Maus und aktualisierte.
»Sie sind nicht mehr die Höchstbietende«.
Sie zog nach. Noch vier Minuten. Verdammt - warum musste sie jetzt im Endspurt ständig überboten werden? Verena erhöhte, der unsichtbare Mitbieter auch, Verena erhöhte wieder ...
»Herzlichen Glückwunsch! Der angebotene Artikel gehört Ihnen. Bitte überweisen Sie € 175,90 an ...« Der Rest verschwamm vor ihren Augen. Weil ihr just in diesem Moment die Mahnung einfiel, die auf dem Tisch lag. Es war die Dritte, und sie wusste, dass sie nicht bezahlen konnte. Sie hatte die Lederjacke aus einem Impuls heraus bestellt und gedacht: Nur mal reinschlüpfen, einen Tag damit ausgehen und dann postwendend zurückschicken ...
Die kurze Jacke passte so toll zur neuen Jeans, die ihre schlanke Figur so gut zur Geltung brachte. Dazu hatte sie Ihr schulterlanges, dunkles Haar zu einem modischen Dutt geschlungen und die Nägel verschiedenfarbig lackiert. Dummerweise hatte sie an diesem einen Tag heißen Kaffee über den Ärmel der Jacke geschüttet. Coffee to go - so was blödes. Durch den Styroporbecher hatte sie nicht gespürt, wie kochend heiß die Brühe war und unvorsichtig einen zu großen Schluck durch den Strohhalm genommen. Sie hatte vor Schreck den Becher fallen lassen und dabei nicht nur die Lederjacke ruiniert, sondern auch die erst kürzlich ersteigerten Schuhe. So ein Desaster! Sie konnte sich die Handtasche gar nicht leisten - nicht von ihrem mickerigen Gehalt als Sachbearbeiterin. Im Grunde brauchte sie die Tasche gar nicht, weil bereits fünf ähnlich teure »Schnäppchen« im Schrank lagen. Warum kam sie nicht gegen die Versuchung an, sich ständig in der E-Vote-Plattform oder bei den Internetshops anzumelden. Längst stand ihr das Wasser bis zum Hals - nicht nur wegen der Mahnung auf dem Tisch.
Geldeintreiben war wirklich nicht sein Ding. Aber besondere Vorkommnisse erforderten besondere Maßnahmen - notfalls auch den kurzzeitigen Job bei einem berüchtigten Kredithai. Er war nicht zimperlich. Aber das Bürschchen, das sich mit der Abzahlung des um drei Nummern zu dicken Sportwagens übernommen hatte, mit dem Gesicht in die Kloschüssel zu tauchen, hatte ihm keinen Spaß gemacht. Dem kleinen, vor Angst zitternden Mädchen die Zöpfchen abzuschneiden, damit der Vater an seine fälligen Raten erinnert wurde, war im Grunde auch nicht sein Stil. Jetzt stand Gott sei Dank nur noch ein Auftrag an. Dieser Auftrag war der einzige Grund, warum er den unangenehmen Job überhaupt angenommen hatte. Er würde ihn zwar 400 Euro kosten, so hoch war die Forderung des Kredithais, aber besondere Vorkommnisse erforderten besondere Maßnahmen.
Sebastian Wilke musterte sich im Spiegel. Das, was er dort sah, gefiel ihm nicht, war nicht sein Stil. Er bevorzugte perfekt geschnittene Anzüge oder lässig elegante Freizeitkleidung, nicht diese primitiven Rockerklamotten. Sollte er das aufgemalte Tattoo abwaschen? Die Nietenhosen und das schwarze Shirt ausziehen? Er hatte sich ursprünglich den Brutalo für den Notfall aufsparen wollen. Aber die Zeit drängte. Wenn er mit der sanften Tour käme, müsste er mehrere vergebliche Versuche einplanen. Wahrscheinlich würde schon seine martialische Aufmachung reichen, um diese Verena weichzukochen.
Sie zappte sich unkonzentriert durchs Abendprogramm. Die anstehende Ratenzahlung für diesen verflixten Kredit, den sie bei einem windigen Unternehmen abgeschlossen hatte, schob sich immer wieder in ihr Bewusstsein. Als es an der Tür läutete, zuckte sie zusammen.
»Beim nächsten Verzug hetzen wir dir einen brutalen Geldeintreiber an den Hals!«, hatte man ihr gedroht.
Sollte sie das Klingeln einfach ignorieren? Oder besser doch nachsehen? Mit angehaltenem Atem schlich sie auf Zehenspitzen zur Tür und spähte durch den Spion. Der Typ, der da draußen stand, sah nicht gerade vertrauenerweckend aus. Wie ein Rocker und Schläger! Was sollte sie tun? Sie hatte weder Geld, noch wusste sie, wo sie es beschaffen sollte. Sie konnte niemanden mehr anpumpen. Nicht mal ihre Mutter war bereit, ihr nochmals Geld zu leihen.
Ich mach einfach nicht auf! Ich bin nicht zuhause! Wenn ich mich ruhig verhalte, haut der Kerl vielleicht wieder ab. Aber im nächsten Moment drückte der Typ noch einmal auf die Klingel.
»Frau Schäfer, ich weiß, dass Sie hier sind. Ich komme wegen Ihrer fälligen Ratenzahlung. Das müssen wir aber nicht zum Amüsement der ganzen Nachbarschaft im Treppenhaus besprechen. Wollen Sie, dass hier jedermann von Ihren Schulden erfährt? Ich will Ihnen nur einen fairen Deal vorschlagen!«
Verena sah, dass die Tür von der Wohnung gegenüber aufging. Die neugierige Alte, die dort wohnte, bereits in Nachthemd und Morgenrock, streckte ihren Kopf heraus. Der Rockertyp drehte sich um und sagte freundlich zu der Alten:
»Es ist alles in Ordnung, Sie können getrost wieder ins Bett gehen.«
Verena wartete kein drittes Läuten ab, sondern öffnete die Tür.
»Den Chef des Bankhauses müssen wir auf jeden Fall einladen«, erklärte Dagmar Pohl. »Und natürlich Frau Brombacher. Sie hat ja letztendlich die ganze Finanzierung des Umbaus und der Sicherheitssysteme gemanagt.«
»Ja, ja, Sie machen das schon«, murmelte Johannes Werning ohne aufzublicken. Er konnte kaum noch gerade auf seinem Stuhl sitzen, weil es am ganzen Körper keinen Muskel gab, der nicht höllisch wehtat.
Sie legte ihm eine Liste auf den Schreibtisch.
»Ihren Mann ebenfalls. Ich denke, das gehört sich so.«
»Ihren Mann? Wieso das?«
»Wäre Frau Brombacher ein Mann, würden wir ganz selbstverständlich die Ehefrau einladen, also gehört es sich genauso selbstverständlich, dass ihr Ehemann mit eingeladen wird!«
Werning blickte irritiert auf. Es war ungewöhnlich, dass Frau Pohl so bestimmt auftrat. Frau Pohl, die graue Maus - aber irgendwie sah sie heute anders aus. Nicht mehr ganz so grau. Hatte sie etwa Lippenstift aufgetragen? Tatsächlich! Er hatte die Pohl vorher noch nie mit Lippenstift gesehen! Nicht nur das, sie musste auch beim Friseur gewesen sein. Ihr normalerweise formlos angeklatschtes Haar wellte sich jetzt zu einer überraschend modischen Frisur.
»Machen Sie das, wie Sie denken!«, erwiderte er und war froh, dass er sich nicht selbst um den ganzen Kram kümmern musste.
Als Dagmar Pohl zu ihrem eigenen Schreibtisch zurückging, dachte er bei sich: Die wird doch mit ihren knapp 40 Jahren nicht plötzlich einen Verehrer haben? Frau Pohl, die personifizierte alte Jungfer? Aber warum auch nicht. Wie heißt es doch so schön: ›Zu jedem Topf passt ein Deckel‹. Warum sollte sich nicht ein einsamer älterer Herr für sie erwärmt haben.
»Die alten Urkunden sind übrigens alle digitalisiert. Ich gebe Ihnen die Links, dann können Sie alle Texte und Gemälde jederzeit abrufen!«
Das war eindeutig Frau Pohls Stimme, aber sie klang anders als sonst. Nicht so gehemmt und verklemmt.
»Oh, Frau Pohl, das ist ja ganz reizend von Ihnen!«
»Wenn ich Ihnen bei Ihrer Arbeit behilflich sein kann, ist das doch selbstverständlich!«, flötete jetzt die graue Maus in einer völlig ungewohnten Tonlage.
»Trotzdem, die Zusammenhänge kannte ich bisher nicht. Wie gut, dass ich Sie gefragt habe«.
Von plötzlicher Neugier gepackt, ignorierte Werning den brennenden Schmerz in Bauch und Oberschenkeln. Er hievte sich vom Stuhl in die Höhe und folgte dem Klang der Stimmen. Unbemerkt blieb er im Blickbereich zum Saal 3 stehen.
Das ist doch ... Ja, das ist dieser Historiker, der sich schon seit ein paar Tagen im Museum herumtreibt. Die Historiker, die er bisher kennengelernt hatte, wirkten ja meist wie ein wenig aus der Zeit gefallen. Als wenn sich der Staub der Jahrhunderte auf ihnen abgesetzt hätte. Wohingegen dieser Typ eher aussah wie ein Filmstar. Wie ein halber George Clooney - oder auch ein wenig wie die Gangsterbosse aus den alten Filmen über die Chicagoer Prohibition. Der Typ war gut und gerne eins-neunzig groß und muskulös, das sah man selbst unter dem teuren Anzug. Und nun stand dieses Prachtexemplar von einem Mann vor den Kästen mit den Urkunden und flirtete auf Teufel komm raus mit der Pohl.
Na, ich weiß nicht so recht, dachte Werning, ob da wirklich der Topf zum Deckel passt? Am Ende ist der Kerl gar ein Heiratsschwindler? Er beschloss, ihn im Auge zu behalten.
Obwohl - im Grunde konnte esihm egal sein. Bei der Pohl gab es unter Garantie nichts zu holen. Sie hatte auf ein Studium verzichten müssen und sich stattdessen um ihren kranken und bedürftigen Vater gekümmert. Außerdem verdiente die Pohl nicht viel - ohne Titel und ohne akademische Abschlüsse zählten weder ihre Tüchtigkeit, noch das umfangreiche Wissen, das sie sich angeeignet hatte.
Werning war froh, dass er Dagmar Pohl hatte, eine Frau, die alles wusste und sich um alles kümmerte. Außerhalb des Museums schien sie kein eigenes Leben zu haben. Sonst hätte sie sich längst eine andere Wohnung gesucht, anstatt noch immer in dem finsteren Hinterhofloch zu hausen. Dort hatte sie schon mit ihren Eltern und später alleine mit ihrem kranken Vater gelebt. Nicht einmal die altmodischen, abgenutzten Möbel und das durchgesessene Sofa hatte sie erneuert.
Es war vor einem halben Jahr gewesen. Die Pohl war ausnahmsweise mal krankgeschrieben, weshalb er ihr einen Stapel Unterlagen zum Durcharbeiten vorbeigebracht hatte. Er erinnerte sich noch gut daran, wie sehr ihn die schäbige, deprimierende Wohnung entsetzt hatte.
Gönn ihr ein wenig Vergnügen, befahl er sich selbst. Außerdem fand er, dass es an der Zeit war, sich selbst auch ein wenig Vergnügen zu gönnen. Er hatte jetzt keine Lust mehr, bis zum Ende der Öffnungszeit auszuharren. Nina wartete auf ihn. Vielleicht konnte die anspruchsvolle Nina ausnahmsweise einmal ihn verwöhnen und seine schmerzenden Muskeln massieren. Bei Frau Pohl war das Museum in guten Händen.
»Oh, Verena!« Frau Schäfers Erstaunen, dass ihre Tochter plötzlich vor der Tür stand, war nicht zu übersehen. »Das ist aber schön, dass du uns mal wieder besuchen kommst.«
Daneben war auch das Misstrauen in der Stimme der Mutter nicht zu überhören. Sie hatte sich bei ihren Eltern schon lange nicht mehr blicken lassen. Noch dazu hatte sie beim letzten Mal vergeblich versucht, ihre Mutter anzupumpen.
»Dein Vater hat mir strikt verboten, dir noch einmal Geld zu leihen«, hatte die Mutter ihr damals erklärt. »Außerdem sind wir beide der Meinung, dass du endlich lernen musst, mit deinem Geld auszukommen.«
Verena versuchte, ihre Verlegenheit und Nervosität zu überspielen, und meinte leichthin:
»Ich habe ein paar schöne Chöre entdeckt und auf CD gebrannt, die wollte ich Euch gerne vorbeibringen«.
»Das ist nett. Aber dein Vater muss in ein paar Minuten weg. Du weißt doch, die Chorprobe!«
Natürlich wusste sie, dass ihr Vater donnerstags Chorprobe hatte. Aus keinem anderen Grund hatte sie sich diesen Abend ausgesucht.
»Das hatte ich total vergessen. Irgendwie war ich gedanklich noch bei Dienstag. Das war doch bisher so, oder nicht?«
»Stimmt. Aber vor sechs Monaten wurde der Chorabend auf Donnerstag verschoben.«
»Oh, Verena!« Ihr Vater kam aus dem Schlafzimmer, zog die Krawatte fest und schlüpfte in sein Sakko.
»Hallo Papa! Ich hab ein paar Chor-Anregungen auf CD dabei. Ist immer noch der ›Blue Moon of Kentucky‹ euer Eröffnungssong?« Sie wollte alle Moralpredigten im Vorfeld abschmettern und unverfänglich gleich auf den Punkt kommen.
»Nein, wir proben jetzt den Swanee River!«, und mit weit ausholender Geste begann er zu schmettern: »Waaay down upon the swaneeeee riveeeer, faaar, far awaaay ...«
Mist, wie schreibt man das?,schoss es Verena durch den Kopf und dann sagte sie so unverfänglich wie möglich:
»Oh, toll! Ich erinnere mich, dass wir das in der Schule auch gesungen haben.«
»Ja, ich weiß. Ich weiß auch, dass du eine gute Stimme hattest und immer noch hast. Du wärst eine Bereicherung für unseren Chor. Dann kämst du auch auf andere Gedanken und könntest vielleicht endlich deine unselige Kaufsucht kurieren!«
Natürlich, sie hatte gewusst, dass der Besuch nicht ohne Moralpredigt ablaufen würde.
»Keine Sorge, ich arbeite an mir. Ich hab schon lang nichts mehr gekauft!«, log sie und war froh, dass sich ihr Vater gleich darauf verabschiedete.
»Sag mal ehrlich«, begann Verenas Mutter, als ihr Mann die Tür hinter sich geschlossen hatte, »geht es dir nicht gut? Du siehst krank aus. Und deine Haare - was hast du mit deinen Haaren gemacht?«
»Abgeschnitten«, erklärte Verena kurz. »Das ständige Föhnen war mir morgens zu zeitraubend.«
»Na ja,«, meinte ihre Mutter, »ich bin ja modisch nicht so ganz auf der Höhe, - aber deine Frisur sieht aus, als wenn du da selbst dran rumgeschnippelt hättest!«
Verena schluckte. Am liebsten hätte sie losgeheult. Natürlich hatte sie selbst daran herumgeschnippelt. Aber erst, nachdem dieser schreckliche Typ brutal die eine Hälfte ihres hinten mit einer Spange zusammengefassten Haares abgeschnitten hatte. »Zur Warnung«, hatte er gesagt. Ihr war keine Zeit geblieben, zum Friseur zu gehen, und leisten konnte sie sich den ja ohnehin nicht.
»Weißt du, ich hab heute Nacht ganz einfach schlecht geschlafen. Da ist mein Haar meistens frisierunwillig.«
»Macht ja nichts. Ich freu mich jedenfalls, dass du endlich mal wieder den Weg zu uns gefunden hast«, erklärte Irma Schäfer. »Ich muss nur noch schnell die Küche fertigmachen und das Geschirr in die Maschine räumen. Wir haben heute sehr spät gegessen. Aber dann können wir uns ins Wohnzimmer setzen und ein wenig quatschen«.
Verena atmete innerlich auf. Sie hatte darauf gehofft, dass ihre pingelige Mutter noch in der Küche zu tun hatte. Bei den Schäfers wurde erst am Abend warm gegessen und ihre Mutter kochte prinzipiell sehr aufwendig.
»Oh das macht nichts. Ich müsste ohnehin noch ein paar Kleinigkeiten tippen. Mein Laptop hat den Geist aufgegeben. Diesen Monat kann ich mir aber leider keinen neuen mehr kaufen.«
»Das ist sehr vernünftig von dir, dass du jetzt mit Anschaffungen wartest, bis du wieder Geld auf dem Konto hast. Geh nur rüber ins Arbeitszimmer. Ich beeile mich einstweilen mit der Küche!«
Lass dir nur Zeit, dachte Verena, als sie den Laptop ihres Vaters hochfuhr. Der Computer war nach wie vor nicht passwortgeschützt, schließlich tippte auch ihre Mutter Mails und Briefe damit. Ihr Vater verschlüsselte nur die sensiblen Firmendateien. Ihre Finger zitterten, als sie durch den Explorer scrollte. Konnte sie die richtige Datei überhaupt finden? Was, wenn sie nur mit kryptischen Zahlen oder ähnlich unverständlichen Buchstabenfolgen benannt war? Sie fand jedoch recht schnell, was sie suchte. Ihr Vater hatte die Dateien mit einem verständlichen Text benannt. Nur, wie in drei Teufels Namen schreibt man Swanee River? Mit Ypsilon? Mit E-Ypsilon? Oder nur mit einem E? Und benützte er überhaupt noch den Eröffnungssong als Passwort? Vielleicht hatte er sich daran erinnert, dass er an seinem letzten Geburtstag schon etwas weinselig und angesäuselt, lang und breit sein Passwortsystem erklärt hatte. Nämlich, dass er immer das aktuelle Lied, das gerade geprobt und bei Veranstaltungen zur Eröffnung gesungen wurde, als Passwort verwendete. So konnte er es ständig wechseln, hatte aber keine Probleme, es sich zu merken. Außer seiner ältlichen Cousine und deren neunmalklugem Mann waren die meisten Gäste an diesem Abend schon gegangen. Trotzdem konnte es sein, dass er sich an diesen Lapsus erinnert und sein Passwortsystem geändert hatte. Sie musste es riskieren, aber wenn sie sich drei Fehlversuche leistete, war es aus und vorbei. Das Internet! Sie tippte Swany River in die Suche und atmete auf, als zahlreiche Links auf das gesuchte Lied hinwiesen: Swanee mit zwei e!
Verenas Finger zitterten so stark, dass sie erst nach zwei Fehlversuchen schaffte, den USB-Stick einzustecken. Sie tippte »swaneeriver« ein und hoffte, dass ihr Vater nicht noch zusätzliche Zeichen eingebaut hatte. Nein! Die Datei öffnete sich! Unwillkürlich hielt Verena den Atem an, als die Übertragung begann. Der grüne Balken bewegte sich in nervenaufreibendem Schneckentempo vorwärts. Aus den Geräuschen, die aus der Küche kamen, konnte sie schließen, dass ihre Mutter gleich mit der Arbeit fertig war. Sie hatte das Spülprogramm bereits gestartet. Endlich! Jetzt nur keinen Fehler machen! Sie schloss die Datei und das Programm, zog den Stick ab und fuhr den Laptop herunter. Gerade in dem Moment als ihre Mutter aus der Küche rief:
»Verena, möchtest du ein Glas Wein oder lieber eine Saftschorle?«
Einen doppelten Cognac für meine Nerven!
»Bitte nur Saftschorle!«, antwortete sie und hoffte, dass ihre Stimme nicht genauso zitterte wie ihre Hände.
Frau Pohl drehte sich unschlüssig vor dem Spiegel.
»Glauben Sie nicht, dass ich für das Kleid schon etwas zu alt bin?«
»Aber nein, der Schnitt ist doch wie für Sie gemacht. Er macht schlank und bringt Ihre gute Figur zur Geltung. Und das Rot steht Ihnen ausgezeichnet! Sie können das wirklich tragen!«, schmeichelte die Verkäuferin.
Eine volle Stunde lang hatte Dagmar Pohl frustriert vor ihrem Kleiderschrank verbracht. Bis sie schließlich zu der Überzeugung gelangt war, dass sie unmöglich in ihren altbackenen Klamotten mit Herrn Wilke ausgehen könne.
Heute Morgen hatte er schon vor dem Museum auf sie gewartet. Er hatte sie mit einem Handkuss begrüßt, - wie ein echter Gentleman der alten Schule! Er war so charmant und sah obendrein umwerfend aus, beinahe wie der tolle Schauspieler, den sie letzte Woche im Fernsehen gesehen hatte. Sie hatte ja bisher gedacht, dass er sie wegen ihres Wissens um die Urkunden und die Geschichte der Stadt umwarb. Schließlich arbeitete er ja an einem Buch über dieses Thema. Aber dass er sie für morgen Abend zum Essen eingeladen hatte - in ein angesagtes Sternerestaurant, ging mit Sicherheit über berufliches Interesse hinaus.
Mindestens 10 Jahre war es her, dass sie zum letzten Mal mit einem Mann ausgegangen war. Mit einem widerlichen aufdringlichen Typen. Eine ehemalige Schulfreundin hatte sie damals mit dem verkuppeln wollen. Dieser Herr Wilke hatte da schon ein anderes Format. Jetzt war Schluss mit der sitzengebliebenen alten Jungfer, Schluss mit der grauen Maus:
»Ich nehme das Kleid!«, sagte sie entschlossen.
Während das Kleid an der Kasse eingepackt wurde, ging ihr durch den Kopf, dass sie zum neuen Outfit auch passende Schuhe kaufen musste. Außerdem gehörte zu einem richtigen Make-up mehr als nur ein Lippenstift.
Die High Heels, die sie sich von einer modisch durchgestylten Verkäuferin hatte aufschwatzen lassen, drückten höllisch. Außerdem war das Gehen mit den hohen, spitzen Dingern ein regelrechter Eiertanz. Gestern hatte sie damit den ganzen Abend lang in ihrer Wohnung geübt. Weshalb sie den Weg vom Parkplatz bis zum Restaurant an Herrn Wilkes Arm auch ohne Pannen, ohne Stolpern und ohne Umknicken geschafft hatte. Nur ihre Zehen protestierten noch immer gegen die Folter. Sollte sie die grässlichen Schuhe unter dem Tisch einfach ausziehen? Lieber nicht. Wer weiß, ob sie es hinterher schaffen würde, ohne Zuhilfenahme eines Schuhlöffels in die Dinger wieder hineinzuschlüpfen.
Und außerdem, was war schon ein bisschen Zehendrücken gegen das Leid, das Herr Wilke hatte durchmachen müssen. Die Ehefrau durch einen tragischen Unfall mitten aus dem Leben gerissen, flüchtete er sich in seine Arbeit. Er konnte es nicht ertragen, einsam und alleine in der leeren Wohnung zu sitzen. Verstohlen hatte er sich eine Träne aus dem Augenwinkel gewischt, aber sie hatte es trotzdem bemerkt.
Der Kellner brachte das Dessert. Zwischen zwei Löffeln Tiramisu gestand ihr Herr Wilke:
»Seit ich Sie getroffen habe, liebe Frau Pohl, ist für mich das Leben wieder lebenswert!«
Dagmar Pohl vergaß ihre eingequetschten Zehen, ihr tristes Leben, ihre schäbige, armselige Wohnung. Gerührt ergriff sie seine Hand. Später, beim Cappuccino, erzählte er, dass er seine Münchner Wohnung verkaufen wolle. Er sei in Kleinaltheim auf der Suche nach einem hübschen Häuschen mit Garten. Dass er dieses Häuschen mit ihr teilen wollte, sprach er nicht direkt aus, aber Dagmar verstand es auch so.
Die Möbel stammten vermutlich noch von ihren Eltern. Die Wohnung wirkte altmodisch und spartanisch, ohne jeden Anflug von Gemütlichkeit. Bis vor einigen Jahren hatte sie hier mit ihrem kranken Vater zusammengelebt und man hatte den Eindruck, als wäre der alte Mann noch immer präsent. Es war nicht zu übersehen, dass Dagmar Pohl es bisher nicht geschafft hatte, die Fesseln der Vergangenheit abzustreifen. Dass die einsame alte Jungfer Wachs in seinen Händen sein würde, hatte er schon vorher gewusst. Sie herumzukriegen war ein Kinderspiel für ihn gewesen. Wie ein überreifer Apfel, der darauf gewartet hatte, gepflückt zu werden.
Noch ein paar Nächte, hoffte er, und sie wäre da, wo er sie haben wollte. Natürlich konnte er nicht hundertprozentig sicher sein, ob sie wirklich auf sein Ansinnen einsteigen würde. Er musste besonnen vorgehen. Um ihre Reaktion auszuloten, würde er den ungeheuerlichen Vorschlag erst einmal ganz beiläufig und scherzhaft anbringen. Dann konnte er über das weitere Vorgehen entscheiden. Aber alle seine Coups waren nicht zuletzt deshalb so erfolgreich gewesen, weil er stets einen Plan B in der Hinterhand hatte. Unnötig Zeit zu vergeuden, war auch nie sein Ding gewesen. Notfalls musste er im Stande sein, die Sache ohne ihre Hilfe durchzuführen.
Vorsichtig setzte er sich auf und lauschte. Ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig. Sie war endlich eingeschlafen. Er stand auf und schlich barfuß in den Flur. Im Finstern tastete er nach ihrer Handtasche, die sie neben dem Schuhschrank abgestellt hatte. Schnell hatte er das Gesuchte erfühlt. Das, was er noch für den Plan B benötigte, steckte griffbereit in seinem Sakko. Gestern Abend hatte sie das Jackett vor lauter Nervosität zweimal fallen lassen, bevor sie es gemeinsam auf einen Bügel hatten hängen können. Er grinste, als er daran dachte. Wenige Sekunden später hatte er Dagmars Handtasche wieder verschlossen und der erste Schritt zu Plan B steckte in der Sakkotasche. Bevor er zurück ins Schlafzimmer ging, machte er sicherheitshalber einen Umweg über das Bad und drückte demonstrativ die Klospülung.
Dagmar Pohl war noch immer ein wenig nervös und auch verlegen, als sie ihm beim Frühstück gegenüber saß. Sie war nicht daran gewöhnt, mit einem Mann zu frühstücken, und schon gar nicht, neben einem im Bett aufzuwachen. Schnell war sie im Bad verschwunden, hatte geduscht und sich zurechtgemacht. Sie wollte nicht, dass er sie verstrubbelt und vom Schlaf verquollen sah.
»Tut mir leid, dass ich ausgerechnet heute so früh aus dem Haus muss«, entschuldigte sie sich, »aber Herr Schäfer von der Sicherheitsfirma will heute die Alarmanlage fertig installieren.«
»Da hat dieser Werning ja unverschämtes Glück, dass ihm eine gewisse Frau Dagmar Pohl für einen kärglichen Hungerlohn alle Arbeit abnimmt!«, neckte er scherzhaft. Insgeheim aber hoffte er, dass der kleine Stich seine Wirkung nicht verfehlte.
»Ich weiß, dass er mich ausnützt«, gab sie zu. »Ich werde schon mein ganzes Leben lang ausgenützt.«
»Mir ist schon aufgefallen, dass er sich sehr oft abseilt. Hat er eine Freundin?«, fragte er scheinheilig.
Natürlich wusste er von Nina Steiner. Aber Wernings Affäre mit der Studentin hatte zu wenig Potenzial, um damit ausreichend Druck aufzubauen. Der Typ würde die Geschichte im Notfall eher reumütig seiner Frau beichten.
»Gut möglich, ich habe einige Male eine sehr junge, sehr teuer zurechtgemachte Frau gesehen, die vor dem Museum auf ihn wartete. Dabei hat er doch so eine nette Frau!«
»Manche Männer fliegen eben auf junge Frauen - aber beileibe nicht alle!«, beruhigte er sie.
Dagmar stand auf und stellte das gute, mit Blümchen verzierte Kaffeegeschirr ihrer Mutter, das seit Jahren unbenützt im Schrank verstaubt war, in die Spüle. Die Tassen, die sie sonst benützte, waren samt und sonders angeschlagen.
»Ich muss jetzt leider los.«
»Mach dir keine Gedanken, meine Liebe, ich bin mit dem Verleger verabredet«, tröstete er. »Wir werden noch oft genug Gelegenheit haben, mit mehr Muße gemeinsam zu frühstücken!«
Sie verließen zusammen die Wohnung. Dagmar Pohl eilte zum Bus, um im Museum auf Herrn Schäfer zu treffen. Auch Sebastian Wilke hatte es eilig. Nicht, um einen nicht existierenden Verleger zu treffen. Er wollte Karsten Schäfers kaufsüchtige Tochter abpassen, bevor sie das Haus verließ. Er konnte nicht sicher sein, ob sie auf seinen Deal eingegangen war und seinen Auftrag ausgeführt hatte. Womöglich musste er seinen Forderungen ein wenig Nachdruck verleihen.
Der Bürgermeister rühmte mit schönen und vor allem langen Worten den berühmten Maler und großen Sohn der Stadt. Museumsdirektor Johannes Werning pries nicht weniger ausufernd die Großzügigkeit der Stadt Kleinaltheim und würdigte den Kunstsinn und das finanzielle Entgegenkommen des Bankhauses Wiebke und Söhne. Geladene Gäste und Sponsoren gaben vor, mit Interesse dem Geschwafel zu lauschen. Sie heuchelten vor der wertvollen Leihgabe Kunstverstand und schielten ungeduldig nach dem bereitgestellten Champagner und den Kaviarhäppchen. Der Fotograf des Kleinaltheimer Tageblatts lichtete die selbstverliebten Redner und aufgebrezelte, Champagner schlürfende Ehrengäste ab. Angesichts der Verlockungen des reichhaltigen Buffets hätte er um ein Haar vergessen, auch von der »Leopardin«, dem wertvollen Gemälde, um das sich das ganze Tamtam drehte, ein Foto zu schießen.
Der Redakteur des Blättchens saß derweil in seinem Büro vor dem Laptop und hatte Wikipedia aufgerufen. Munter kopierte er alles heraus, was er über den berühmten, in Kleinaltheim geborenen Künstler Friedrich Slanitzky finden konnte.