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Jörg Brandmüller, millionenschwerer Inhaber der Firma BraMüTec, fällt tot vom Stuhl. Vergiftet, wie sich bald herausstellt. Die Witwe und Erbin des Vermögens und ein in Australien untergetauchter betrügerischer Prokurist, geraten in den Focus der deutschen und der australischen Polizei. Im Wohnmobil unterwegs in Australien sind auch Helga und Jürgen Brombacher, die nicht nur den Gesuchten immer wieder in die Quere kommen, denn längst sind auch andere Mitwisser hinter den Millionen her.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
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Impressum
Hildegard Grünthaler
Kolpingstraße 19
90542 Eckental
E-Mail: [email protected]
Webseiten:
https://www.schmoekerseite.de
https://www.wohnmobil-weltreise.de
© Hildegard Grünthaler
Autorin:
Hildegard Grünthaler
Foto und Covergestaltung:
Hildegard Grünthaler
Dieses Buch ist ein Roman. Handlung und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig.
»Kann ich Ihnen noch etwas bringen?« Die Bedienung sah ihm tief in die Augen, beugte sich über den Tisch, um das Kaffeegeschirr abzutragen, und gewährte ihm dabei einen großzügigen Einblick in ihr offenherziges Dekolleté. Ihr Lächeln war vielversprechend, genau wie das, was ihr knapper kurzer Rock mehr ent- als verhüllte.
Er lehnte dankend ab und sie verstand, dass damit nicht nur Kuchen oder Getränke gemeint waren. Normalerweise wäre er auf den Flirtversuch sofort angesprungen, aber er konnte jetzt keine Komplikationen gebrauchen.
Lieber den Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach, hatte seine Mutter immer gesagt. Der Spatz, den er bereits in der Hand hielt, war zwar ein recht dicker Spatz, aber mit dem Vögelchen wollte er sich nicht begnügen. Er hatte vor, geduldig darauf zu warten, dass die Taube vom Dach geflogen kam; war es doch eine ausnehmend fette Taube, die er auszunehmen und zu rupfen beabsichtigte.
Hätte er nicht heute Morgen eine beunruhigende SMS erhalten, könnte er wesentlich gelassener warten. Stattdessen war es jetzt erforderlich, äußerste Vorsicht walten zu lassen.
Er begnügte sich damit, die Nachmittagssonne auf der Hotelterrasse zu genießen, ließ noch einmal den Blick über den Hafen und das Opernhaus schweifen. Sydney gefiel ihm, aber er sollte besser weiterziehen. Vielleicht nach Brisbane oder noch weiter nach Cairns. Außerdem fand er es sicherer, zukünftig die Hotels zu meiden. Anmelden mit dem Reisepass schien ihm ab jetzt gefährlich und die falschen Papiere wollte er lieber sparsam einsetzen. Es war Zeit, sich nach einem bequemen Wohnmobil umzusehen. Er hatte vor, unauffällig zu bleiben und keine Aufmerksamkeit zu erregen. Mehr war im Augenblick nicht machbar. Alles lag jetzt an ihr, - dass sie die Nerven behielt, keine Fehler beging und genauestens seine Anweisungen befolgte.
Kapitel 1
Schlecht sah Jörg Brandmüller aus. Kreidebleich. Feine Schweißtropfen glänzten auf seiner Stirn. Helga Brombacher musterte den Chef und Gründer der Firma BraMüTec mit zunehmender Besorgnis. Im Grunde war es ja nicht verwunderlich, dass er gesundheitlich angeschlagen wirkte. Zu hoch waren die Summen, die plötzlich nacheinander im Nirwana verschwunden waren.
Helgas Mann Jürgen saß am PC, scrollte hin- und her, überprüfte, rechnete und entdeckte immer neue Luftbuchungen und Tricksereien. Vor zwei Tagen hatte Robert Sachmann, Jürgens ehemaliger Chef bei der Firma Baumer und Sachmann angerufen und gefragt:
»Herr Brombacher, haben Sie nicht mal wieder Lust, Ihre Nase ganz tief in Zahlen, Bilanzen und Buchungen zu stecken?«
Jürgen hatte gelacht und erwidert: »Sie werden es nicht glauben, aber mein Rentnerleben gefällt mir ausnehmend gut. Langweilig ist mir auch nicht. Unser altgedientes Wohnmobil haben wir verkauft und sind jetzt Besitzer eines neuen Reisemobils. Damit geht es demnächst ein Jahr lang rund um Australien.«
»Herr Brombacher, wenn ich Sie so höre, denke ich auch ans Aufhören. Aber ganz im Ernst: Es geht um meinen alten Freund Brandmüller. Er hegt den Verdacht, dass Hanno Jachnik, sein Prokurist, heimlich Firmengelder abzieht und ins Ausland verschiebt.«
»Dann sollte Herr Brandmüller schnellsten einen vereidigten Buchprüfer beauftragen«, hatte Jürgen vorgeschlagen. Aber Herr Sachmann hatte erklärt, dass Jörg Brandmüller keinen Wirbel und keine Unruhe wolle. Außerdem wäre Jachnik sowieso in Australien, wo er angeblich neue Kunden gewinnen und evtl. die Möglichkeit einer Dependance überprüfen wolle. Schließlich hatte sich Jürgen bereiterklärt, die Bücher zu überprüfen und leider sehr schnell festgestellt, dass Brandmüllers Verdacht berechtigt war.
Helga konnte sich noch gut an Hanno Jachnik erinnern. Er war die rechte Hand Jörg Brandmüllers, Geschäftsführer, Prokurist und heimlicher Chef der Firma BraMüTec. Ein äußerst charmanter und gut aussehender Mann. Mit seinem Grübchen am Kinn hatte er sie immer ein wenig an Carry Grant erinnert. Sämtliche Frauen in der Bank, egal ob jung oder alt, hatten für ihn geschwärmt. Aber ihr war der aalglatte Kerl nie sympathisch gewesen.
»Er war wie der Sohn für mich, den ich nie hatte«, seufzte jetzt der alte Firmenchef erschüttert. »Mit meiner ersten Frau, die bei einem Unfall ums Leben kam, hatte ich keine Kinder. Meine zweite Frau ist zwar noch jung, aber auch bei ihr hat sich bis jetzt noch kein Nachwuchs eingestellt. Ich hatte gehofft, dass Hanno später einmal die Firma weiterführt. Er ist überaus geschäftstüchtig und ideenreich.«
»Ideenreich, das kann man wohl sagen!«, pflichtete ihm Jürgen Brombacher hinter dem Monitor bei. »Er hat seine Raubzüge überaus geschickt hinter Luftbuchungen versteckt. Ein Glück, dass Sie noch rechtzeitig misstrauisch geworden sind, sonst stünde Ihre Firma bald vor dem Aus.«
»Auf welchen Konten er das Geld versteckt hat, kann ich von hier aus leider nicht feststellen«, mischte sich jetzt Helga ein. »Da müssten wir zusammen auf der Bank nachforschen. Ich fürchte, er hat es längst x-fach hin-und hergeschoben und unerreichbar auf dubiosen Offshore-Konten geparkt.«
An Frau Brombacher konnte sich Jörg Brandmüller noch gut erinnern. Es musste an die zwei Jahre her sein, dass sie in Rente gegangen war. Damals hatte sie beim Bankhaus Wiebke und Söhne die großen Firmenkunden betreut. Immer freundlich und kompetent, hatte sie stets dezent-elegante Business-Kostüme getragen, hatte perfekt frisiert, das blonde Haar meist zu einem Knoten geschlungen. Jetzt kam sie ihm wie eine andere Frau vor. Jugendlicher, obwohl sich sichtbar graue Strähnen durch ihr zu einem schlichten Pferdeschwanz gebundenem Haar mischten. Und lockerer, was sicher an ihrem sportlichen Outfit lag. In Jeans und Shirt hatte er sie vorher noch nie gesehen.
Jürgen Brombacher hatte er bisher nicht persönlich kennengelernt. Verkniffenen, blass, kurzsichtig und mit dicker Brille, weil er stets die Nase in Bilanzen, in Zahlen und Buchungen stecken hatte -, so hatte er ihn sich vorgestellt. Das Gegenteil war der Fall. Dieser Brombacher war zwar längst in Rente, ging langsam auf die Siebzig zu und das graue Haar lichtete sich zusehends, trotzdem wirkte er fit und sportlich, war braun gebrannt und trug modische Outdoorklamotten.
Die Brombachers wollten ihr neues Wohnmobil für ein Jahr nach Australien verschiffen, hatte ihm Robert erzählt. Vor knapp zwei Jahren, als auch Frau Brombacher in Rente gegangen war, waren sie mit ihrem alten Wohnmobil ein Jahr lang in Nordamerika herumgereist. Man könnte glatt neidisch werden, dachte Jörg Brandmüller. Die genießen ihr Leben. Und was ist mein Leben? Die Arbeit. Was hindert mich, mein Leben radikal zu ändern? Ich könnte die Firma verkaufen, anstatt mich zu sorgen, ob ich betrogen werde; reisen, statt das Geld auf der Bank zu horten. Und Nadine? Die kann sich zum Teufel scheren. Irene hat mir zugetragen, dass sie angeblich einen Liebhaber hat.
Gut, Irene konnte Nadine noch nie leiden. Vermutlich war sie der Meinung, wenn Nadine nicht auf der Bildfläche erschienen wäre, dann hätte ich sie geheiratet. Oh, nein - Irene als Ehefrau – das würde ich meinem schlimmsten Feind nicht wünschen.
Brandmüller wischte sich den Schweiß von der Stirn und wünschte, damit ließen sich auch die trüben Gedanken verscheuchen. Er fühlte sich heute nicht wohl. Schon seit dem Frühstück plagten ihn Übelkeit und Schwindelgefühle. Kein Wunder bei den Aufregungen. Dieser Brombacher scrollte auf dem Bildschirm hin und her, rechnete, schüttelte den Kopf, murmelte leise vor sich hin und förderte ständig neue Beweise dafür ans Tageslicht, dass seine Befürchtungen nicht aus der Luft gegriffen waren.
»Dann war mein Verdacht doch begründet. Wie konnte ich mich nur so in ihm täuschen?«, klagte er.
»Manchmal will man einfach nicht sehen, was doch offensichtlich ist«, tröstete Helga, »weil einfach nicht sein kann, was nicht sein darf.«
»Ja, Sie haben recht. Wenn ich ganz ehrlich sein will, habe ich tief im Unterbewusstsein schon länger gespürt, dass mit ihm nicht alles koscher ist. Ich habe die Zügel schleifen lassen und war froh, dass ich mich nicht mehr um alles kümmern musste.«
»Ja, aber jetzt sollten Sie handeln. Sie müssen umgehend die Konten sperren lassen, bevor Jachnik noch mehr abräumt!«, mahnte Helga.
»Und die Polizei einschalten!«, fügte Jürgen hinzu.
»Der Kerl ist in Australien. Das war ja seine Idee. Dort kann er jetzt unbemerkt untertauchen. Mir tut ja seine Frau leid. Nicole hat bestimmt keine Ahnung, was ihr sauberer Ehemann so alles treibt!« Brandmüllers kreidebleiche Gesichtsfarbe war inzwischen dunkler Zornesröte gewichen.
»Es ist zwar ein schwacher Trost«, versuchte Jürgen ihn ein wenig aufzumuntern, »aber auch in Australien gibt es Polizei!«
»Ich weiß gar nicht, über wen ich mich mehr ärgere: über diesen Betrug oder über meine eigene Dummheit und Vertrauensseligkeit. Ich fürchte, Nadine, meine Frau, wird mich einen alten Trottel nennen.«
Nein, aussprechen wird sie’s vermutlich nicht, aber denken ganz bestimmt. »Ich kenne doch Ihre Frau noch aus meiner Zeit bei der Bank. Das wird sie ganz sicher nicht sagen. Jeder kann sich irren«, versuchte Helga zu trösten.
Brandmüller atmete ein paarmal tief durch. »Die Aufregung ist mir zwar auf den Magen geschlagen, trotzdem meldet sich jetzt der Hunger. Ich lasse uns Kaffee und Kuchen bringen, damit wir frisch gestärkt die nächsten Schritte in dieser unerfreulichen Geschichte unternehmen können.«
»Herr Brandmüller, vergessen Sie Ihre Pillen nicht«, mahnte Simone Kreuzer. Sie brachte eine Kaffeekanne, eine Platte mit diversen Kuchenstücken und stellte außerdem eine große Wasserflasche mit drei Gläsern auf den Tisch. »Ihre Frau hat mir aufgetragen, Sie zuverlässig daran zu erinnern.«
Sie war das Stereotyp der Chefsekretärin: Eine schlanke, modisch gepflegte Erscheinung in Businesskostüm und High Heels, mit goldblond, perfekt frisiertem Haar und manikürten, lackierten Nägeln. Verbindlich lächelnd strahlte sie Kompetenz und Diskretion aus.
»Danke, Frau Kreuzer, das hätte ich fast vergessen«, gestand Brandmüller. Er fischte eine längliche, mehrfach unterteilte Pillenbox aus der Sakkotasche. »Freitag« war an der Längsseite aufgedruckt. Er schob sie bis zur Markierung »Mittags« auf, kippte die Kapseln in die Hand und schluckte sie auf einen Sitz hinunter. »Das Herz, wissen Sie, und der Blutdruck, das Cholesterin, die Leber, - und ständig hab ich das ganze Tablettenzeug durcheinandergebracht«, bekannte er, nachdem er Wasser nachgetrunken hatte. »Mein Arzt hat deshalb zu diesem Pillenorganizer geraten und mir einen genauen Medikationsplan erstellt. Jetzt brauche ich das nur noch einmal wöchentlich zu sortieren und einzufüllen. Von Montag bis Sonntag ist da alles drin, was ich schlucken muss. Zuhause erinnert mich meine Frau an die Pillen. Sie ist allerdings am Dienstag für eine Woche zu ihrer Mutter geflogen. Die lebt, seit sie verwitwet ist, in Südspanien. Aber jetzt wurde sie krank und Nadine wollte sich ein paar Tage um sie kümmern.«
»Ein Glück, dass Sie von fürsorglichen Frauen umgeben sind«, tröstete Brombacher, während er Sahne in seinen Kaffee rührte.
Von jungen sexy Frauen, dachte Helga.
»Ja, diese Frau Kreuzer ist ein Engel. Meine vorherige Sekretärin ist seit letztem Jahr in Rente. Die war zwar supertüchtig, aber ganz ehrlich - auch ein echter Drachen - und längst nicht so jung und attraktiv wie Frau Kreuzer«, fügte Brandmüller nach einer kurzen Pause hinzu.
Die Entdeckung des offensichtlichen Betrugs hatte ihn nicht nur ziemlich geschockt, sondern war ihm auch auf den Magen geschlagen. Obwohl er vorher Hunger verspürt hatte, schaffte er nur ein halbes Stück Kuchen, trank aber drei Tassen Kaffee dazu.
»Ich soll ja weniger essen, vor allem nicht so viel Süßes und nichts Schweres, hat mein Arzt gesagt. Aber normalerweise schmeckt’s mir halt so gut. Die Arbeit soll ich auch langsamer angehen lassen, hat der gute Doktor verordnet. Drum hab ich den Hanno machen lassen. Das hab ich jetzt davon, dass ich auf den Arzt gehört habe«, seufzte er.
Er griff zum Telefon. Seine Hände zitterten, als er mit schwacher Stimme Anweisungen gab, die Firmenkonten zu sperren. Jürgen nahm sich wieder die Bücher vor ...
»Der Kerl hat Sie ganz schön abgezockt«, murmelte er, nachdem er weitere Luftbuchungen entdeckt hatte. »Sie sollten das unbedingt einem Wirtschaftsprüfer übergeben, sonst sind Sie auch noch wegen Steuerhinterziehung dran.«
Jörg Brandmüller gab keine Antwort. War er vorhin noch rot vor Zorn gewesen, zeigte seine Gesichtsfarbe jetzt ein unnatürliches Weiß. Er stöhnte, krümmte sich vor Schmerz, schnappte nach Luft und kippte vom Stuhl.
Bevor Helga und Jürgen reagieren konnten, kam Frau Kreuzer aus dem Vorzimmer ins Chefbüro gestürmt. »Herr Brandmüller, was haben Sie? Geht es Ihnen nicht gut? Ich rufe Dr. Kinzel!«
»Sollten wir nicht besser den Notarzt ...«, wollte Helga vorschlagen, aber die Sekretärin hatte bereits die Kurzwahltaste gedrückt:
»Herr Doktor, schnell! Herr Brandmüller - ich glaube, es ist das Herz! Ja, wir sind im Büro! Bitte beeilen Sie sich!«Sie legte auf und fügte erklärend hinzu: »Die Praxis ist nur zwei Straßen weiter. Er wird gleich hier sein.«
Dr. Kinzel, der alte Hausarzt und ehemalige Schulfreund Jörg Brandmüllers hatte nicht mehr so viele Patienten. Die Spatzen pfiffen von den Dächern, dass der gute Doktor sich mit reichlich Cognac über den frühen Tod seiner Frau hinwegtröstete und mitunter schon etwas angesäuselt in seiner Praxis erschien. Aber er war schnell. Keine fünf Minuten später traf er mit seinem Notfallkoffer ein. Er schob Helga, die versucht hatte, Brandmüller mit einer Herzdruckmassage wiederzubeleben, beiseite, schüttelte aber kurz darauf den Kopf. Ihm blieb nur noch, den Totenschein auszufüllen.
Kapitel 2
Wie ein schwarzer, nicht endenwollender Lindwurm schlängelte sich der Trauerzug über den Friedhof, folgte hinter Nadine Brandmüller dem blumengeschmückten Mahagonisarg zum ausgehobenen Grab. Der Bürgermeister, die Stadträte und Honoratioren Kleinaltheims, Kunden, Geschäftspartner, die Nachbarn, die gesamte Belegschaft von BraMüTec, - alle waren sie hier, um Jörg Brandmüller die letzte Ehre zu erweisen. Mit salbungsvollem Pathos hatte der Pfarrer das Lebenswerk des mit 63 Jahren viel zu früh verstorbenen Firmenchefs gewürdigt. Ein Leben nach dem Tod versprochen und all das gepredigt, was Pfarrer bei Beerdigungen an Weisheiten und tröstenden Worten so ganz allgemein von sich geben.
Langsam wurde der Sarg in die Grube hinabgelassen, der Pfarrer sprach mit getragener Stimme seine liturgischen Formeln von Erde, Asche und Staub und spritzte mit Weihwasser. Jürgen und Helga standen zusammen mit Robert Sachmann etwas abseits, sahen zu, wie die junge, atraktive Witwe im schwarzen Designerkostüm vortrat. Sie trug eine große, dunkle Sonnenbrille und einen schwarzen Hut, mit dem sie selbst am englischen Hof Aufsehen erregt hätte. Den schwarzen Schleier, der am Hut befestigt war, hatte sie übers Gesicht gezogen. Sie ließ eine Schaufel voll Erde auf den Sarg hinunterrieseln und warf mit einer großen Geste einen Strauß dunkelroter Rosen hinterher.
»Ob sie die Brille und den Schleier trägt, um die rot geweinten Augen zu verdecken - oder die Freudentränen, dass sie den Alten los ist?«, raunte Sachmann seinem ehemaligen Chefbuchhalter zu.
»Dass Ihr Männer so gehässig sein müsst«, tadelte Helga, fügte dann aber, als Simone Kreuzer ihre Blumen in die Grube fallen ließ, hinzu: »Eines muss man dem verstorbenen Brandmüller lassen: Er hatte einen exquisiten Frauengeschmack.«
»Ja, die Kreuzer sieht seiner Frau sehr ähnlich, wenn man davon absieht, dass sie noch mal gute zehn Jahre jünger ist. Nadine geht ja inzwischen schwer auf die Vierzig zu, auch wenn man es ihr nicht ansieht.«
»Da ist sie ja noch eine junge Witwe«, stellte Helga fest. »Ist sie auch eine reiche Witwe? Oder hat dieser Jachnik sich auch am Privatvermögen bedient?«
»Nein, da kam er ganz sicher nicht ran«, erklärte Robert Sachmann zufrieden. »Aber weil wir grad von Hanno Jachnik sprechen: Nachdem Sie bestätigt hatten, dass sich der Kerl am Firmenvermögen vergriffen hat, habe ich die Polizei verständigt. Die werden Sie demnächst als Zeugen befragen und wenn die Witwe und Firmenerbin offiziell Anzeige erstattet, den Jachnik vermutlich zur Fahndung ausschreiben.«
»Zeugenbefragung - na, damit kennen wir uns zur Genüge aus«, gab Jürgen sarkastisch zur Antwort.
»Ich weiß, ich weiß - aber solche Typen wie den Jachnik darf man nicht einfach ungeschoren davonkommen lassen.«
»Wer ist die ältere Frau, die hinter Frau Brandmüller steht und so herzergreifend schluchzt?«, fragte Helga.
»Das ist Irene Föhr, eine entfernte Cousine Brandmüllers. Sie spekuliert vermutlich darauf, dass er sie großzügig im Testament bedacht hat. Als Jörgs erste Frau starb, hoffte Irene, die nächste Frau Brandmüller zu werden. Sie hat sich furchtbar aufgeregt, als er Nadine geheiratet hat. Die war nämlich damals seine Sekretärin.«
»Sie kennen die Familienverhältnisse wohl sehr gut?«, fragte Helga.
»Aber ja, Jörg und ich gingen schon zusammen zur Schule. Seither sind wir befreundet.«
»Sehen Sie mal, ist das nicht Frau Jachnik? Die Frau in der schwarzen Hose und dem grauen Blazer«, Helga wies auf eine unauffällige Frau mit dunkler, glatter Kurzhaarfrisur, die jetzt Blumen und die übliche Schaufel voll Erde in die Grube warf. »Sie hatte damals auch ein Konto bei der Bank Wiebke & Söhne. Ich hab sie zwar schon lang nicht mehr gesehen, aber ich glaube, sie ist es. Soweit ich mich erinnere, ist sie eine sehr zurückhaltende Frau. Damals war sie IT Spezialistin bei einer großen Versicherungsgesellschaft.«
»Ja, das könnte sie sein. Ich halb sie allerdings nur ein- oder zweimal gesehen.«
»Na, ob die wohl Bescheid weiß, welche krummen Sachen ihr Mann gedreht hat?«, überlegte Jürgen. »Oder steckt sie mit drin und verteilt schön brav das ergaunerte Geld auf diverse Konten?«
»Wer weiß«, sinnierte Helga, »obwohl ich es ihr eigentlich nicht zutraue.«
Irene musterte kritisch ihr Spiegelbild. Ihr zur Gänze ergrautes Haar hatte sie gefärbt. »Mahagoni« hatte auf der Packung gestanden, blöderweise war die Farbe viel zu grell ausgefallen. Mit dem Kurzhaarschnitt war sie auch nicht zufrieden. Nun, bald könnte sie sich einen besseren Friseur als diesen einfallslosen Provinz-Figaro leisten, dazu den Aufenthalt auf einer Schönheitsfarm oder sogar ein Facelifting. Im Augenblick sah man ihr jedes ihrer 54 Jahre an. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihre Falten und die großporige, teigige Haut kräftig mit Make-up zu überdecken.
Hätte Jörg sie damals, als seine erste Frau gestorben war, geheiratet, sähe sie heute unter Garantie jünger und besser aus. Sie hätte sich gepflegt und teure Garderobe geleistet. Was hatte sie nicht alles für ihn getan. Sie hatte ihn bekocht, ihm seine Lieblingskuchen gebacken, dafür gesorgt, dass die Putzfrau sein Haus in Ordnung hielt. Und was war der Dank? Er hatte seine Sekretärin geheiratet. Dieses junge Flittchen, das nur hinter seinem Geld her war. Dabei hatte sie selbst vor zehn Jahren auch noch besser ausgesehen.
Sie schlüpfte in ihre Kostümjacke und zupfte die Bluse zurecht. Schwarz musste sein, auch wenn ihr diese Farbe nicht zu Gesicht stand. Selbst auf die Gefahr hin, dass sich Nadine zu einer gehässigen Bemerkung würde hinreißen lassen, wenn sie in demselben Kostüm erschien, das sie schon zur Beerdigung getragen hatte. Aber in ihre schwarze Hose passte sie beim besten Willen nicht mehr hinein; und in dem altmodischen schwarzen Kleid, das im Schrank hing, durfte sie keinesfalls aufkreuzen. Außerdem konnte sie sich wegen ihres überzogenen Kontos im Moment nichts Neues leisten. Nun, ihre finanzielle Situation würde sich jetzt bessern. Jörg hatte Wort gehalten und sie im Testament bedacht, sonst wäre sie ja vom Nachlassgericht nicht zur Testamentseröffnung geladen worden.
Sie schnappte vor Entrüstung nach Luft, vergaß vor schierer Wut das Ausatmen. Dunkle Zornesröte übertönte das zu dick aufgetragene Make-up. Mit einem empörten Aufschrei stieß sie schließlich die angehaltene Luft wieder aus.
»Oooh! Du Schlampe, du Biest! Das hab ich dir zu verdanken, dass ich mit einem Almosen abgespeist werde!«, keifte Irene Föhr außer sich vor Zorn.
Schade, dass ich ihn nicht überreden konnte, dich ganz aus dem Testament zu streichen. »Nennst du 100 000 Euro ein Almosen?«, erwiderte die Angegriffene kühl. »Die hast du nämlich wirklich mir zu verdanken. Jörg hatte damals beim Notar gesagt, dass seine zänkische, nur um fünf Ecken mit ihm verwandte Cousine, keinen Cent bekommen soll. Rechtlich hast du nämlich keinerlei Anspruch. Das wird dir der Richter sicher bestätigen!«
Der Richter, peinlich berührt von der Szene, nickte.
»Er wollte sein Testament ändern! Er wollte sich nämlich scheiden lassen! Das hat er mir selbst erzählt! Stattdessen wollte er mich großzügig bedenken. Deshalb hast du gieriges Luder ihn vorher umgebracht!« Irene Föhr war aufgesprungen, hielt ihre Handtasche hoch wie einen mittelalterlichen Morgenstern, bereit, sie der Gegnerin ins Gesicht zu schleudern.
»Mein Gott, du bist ja noch viel schlimmer, als Jörg mir erzählt hat!«, entgegnete Nadine Brandmüller ungerührt.
Heftig atmend versuchte Irene Föhr den plötzlichen Schwindelanfall zu unterdrücken. Der Raum um sie drehte sich, der Richter verschwamm vor ihren Augen. Wie durch einen Nebel sah sie, dass er weiter aus dem Testament vorlas, aber ihre Ohren rauschten so stark, dass sie die nächsten Sätze, die das Testament abschlossen, gar nicht mehr wahrnahm. Wie in Trance verließ sie den Raum und wankte zur Haltestelle, um mit dem Bus nach Hause zu fahren.
Ihre Kontrahentin blieb bis zum Abschluss der Testamentseröffnung und stieg dann in ihren Sportwagen. Sie hatte einen Termin bei der Bank ausgemacht und am nächsten Tag wollte ein Immobilienmakler die Villa besichtigen.
»Ermordet, sagen Sie?«, Hauptkommissar Jan Warnecke bat die aufgebracht wirkende Besucherin, erst einmal Platz zu nehmen.
»Genau! Kaltblütig ermordet!« Die grell geschminkte Frau mit den roten Haaren zog ein Taschentuch aus der Handtasche und betupfte ihre Augen.
»Und wer wurde ermordet?«
»Jörg. Jörg Brandmüller, Inhaber der Fa. BraMüTec.«
Warnecke schaltete das Aufnahmegerät ein und legte Notizblock und Kugelschreiber zurecht.
»Gut, dann fangen wir doch am besten von vorne an: Fürs Protokoll benötige ich Ihren Namen und Ihre Anschrift.«
Sie reichte ihm ihren Personalausweis.
»Sie sind Frau Irene Föhr?«
»Genau. Jörg war mein Cousin.«
»Also der Sohn einer Tante oder eines Onkels«
»Nein, nicht so direkt. Meine Großmutter war eine Cousine seines Großonkels.«
»Also eine sehr entfernte Cousine«, stellte Warnecke fest. »Und wann geschah dieses Tötungsdelikt?«
»Am 15. Februar«, schluchzte die Besucherin.
»Am 15. Februar? Das ist ja fast vier Wochen her. Der angeblich Ermordete wurde demnach inzwischen beerdigt?«
»Ja, am 19. Februar. Angeblich hatte er einen Herzinfarkt.«
»Es wurde demnach eine natürliche Todesart festgestellt.«
»Vermutlich. Sonst hätte man ihn wohl nicht so einfach begraben.«
Hauptkommissar Jan Warnecke kratzte sich am stoppeligen Dreitagebart. Was sollte er von der seltsamen Besucherin halten? Er argwöhnte, dass sie im Testament des vermeintlich ermordeten Firmeninhabers übergangen worden war und nun auf Rache sann. Trotzdem durfte er diese Anzeige nicht einfach unter den Tisch fallen lassen, sondern musste der Sache auf den Grund gehen. Es war durchaus möglich, dass hier wirklich ein Verbrechen vorlag.
»Und wer hat Ihrer Meinung nach den Mord begangen?«
»Seine Frau natürlich! Die ist jetzt seine Witwe und erbt.« Sie schluchzte jetzt nicht mehr, vielmehr bebte ihre Stimme vor schlecht verhohlenem Zorn. Dieser Kerl, dieser Kommissar, der nahm sie ganz offensichtlich nicht ernst. Sie hatte die Blicke gesehen, die er seinem Kollegen zugeworfen hatte. Auch am Klang seiner Stimme konnte sie es hören, als er jetzt fragte:
»Und deshalb hat sie ihn umgebracht?«
»Er wollte sich nämlich scheiden lassen und sein Testament ändern. Deshalb musste sie ihn vorher umbringen.« Das reichte dem Kerl hoffentlich, um endlich aktiv zu werden.
»Und wie hat die Frau Brandmüller ihren Mann getötet?«, fragte der stattdessen.
»Das herauszufinden ist schließlich Ihr Job. Lassen Sie die Leiche exhumieren, dann werden Sie schon sehen, dass ich recht habe!«
»Nun, ganz so einfach ist das nicht. Da muss schon ein berechtigter Verdacht vorliegen. Wir werden der Sache nachgehen, Zeugen befragen, eventuelle Beweise sicherstellen. Erst danach, wenn sich der Verdacht erhärtet hat, können wir eine Exhumierung beantragen.«
»Tun Sie das! Sie hatte nämlich einen Liebhaber!«
»Das ist vor dem Gesetz nicht strafbar!«
»Aber ein Mordmotiv!«, fauchte Irene Föhr.
Warnecke atmete auf, als die Frau auf ihren viel zu hohen Absätzen endlich zur Tür hinausgestöckelt war.
Frank Becker, Hauptkommissar Warneckes Partner, war dabei, in einem anderen Fall zu recherchieren. Er hatte anfangs nur mit einem Ohr zugehört, was die rothaarige Frau an Anschuldigungen so alles vorgebracht hatte. Aber als zum wiederholten Male der Name Brandmüller gefallen war, war er hellhörig geworden.
»Es muss ja nichts heißen«, meinte er nachdenklich, als die Besucherin das Büro verlassen hatte, »aber neulich war ich zufällig wegen einer anderen Sache bei den Kollegen vom Betrugsdezernat. Dort habe ich Robert Sachmann, den Mitinhaber der Fa. Baumer & Sachmann getroffen. Ich kenne den von einem alten Fall. Er war dort, um die Kollegen von einer Veruntreuung von Firmengeldern bei der Fa. BraMüTec zu unterrichten. Der Prokurist hatte im großen Stil Firmengelder abgezogen. Die Kollegen meinten, die Witwe des Firmeninhabers müsste offiziell Anzeige erstatten. Ich weiß nicht, ob das schon geschehen ist.«
»Aha, das ist interessant!« Jan Warnecke stand von seinem Stuhl auf. »Was hältst du davon, wenn wir uns mal mit den Kollegen unterhalten?«
Kapitel 3
Das Städtchen hatte sich verändert, war größer geworden, moderner. Die liebevoll renovierten Fachwerkhäuser in der Innenstadt gaben dem Ort einen eigenen Charme. Amerikanische Touristen, gewöhnt an gesichtslose Städte, fuhren darauf besonders ab und fotografierten wie wild. Selbst die alten Bruchbuden in der Bahnhofstraße, wo er als Kind zusammen mit seiner Mutter gewohnt hatte, waren ein wenig aufgehübscht worden.
Er lenkte seine Schritte stadtauswärts. Je weiter er sich der alten Hofstetter-Villa näherte, umso mehr fühlte er sich in seine Kindheit zurückversetzt. Damals, als seine Mutter für einen Hungerlohn für die Familie Hofstetter geschuftet hatte. Sie hatte geputzt, gewaschen, gebügelt. Manchmal hatte er draußen vor dem großen Garten auf sie gewartet, denn der Bub der Putzfrau hatte das Grundstück nicht betreten dürfen. Einmal, als die Familie in den Urlaub gefahren war, hatte ihn seine Mutter, die in der Abwesenheit der Besitzer die Blumen gießen musste, mit in die Villa genommen. Noch heute hörte er das gebohnerte Parkett unter seinen Füßen knarzen, sah er die kostbaren Teppiche, die Gemälde, die hohen Stuckdecken. Damals hatte er sich geschworen, dass er einmal selbst solch eine feudale Villa besitzen würde.
In der alten Hofstetter-Villa war inzwischen die Stadtbibliothek untergebracht; der große Garten, in dem früher nur die Kinder der Familie spielen durften, war in einen öffentlichen Spielplatz umgewandelt worden. Der alte Hofstetter, der stets von einem Chauffeur herumkutschiert worden war, hatte die Zeichen der Zeit nicht erkannt und seine Schreibmaschinenfabrik mit Pauken und Trompeten in den Bankrott geführt. Es hieß, er habe den Ruin nicht verkraftet und mit einer Kugel in den Kopf seinem Leben ein Ende gesetzt.
Die Fabrik war längst abgerissen worden. Auf dem Gelände hatte die Stadt eine neue Wohnsiedlung mit modernen Eigentumswohnungen errichtet. Heute besaß seine Mutter dort eine gemütliche Wohnung. Sie hatte nicht zu ihm nach Kalifornien ziehen wollen.
Er zückte sein Smartphone und scrollte sich durch die örtlichen Immobilienmakler. Bis auf einen hatte er schon alle abgeklappert. Er musste zurück in die Innenstadt. Als er am Kino vorbeikam, machte dort ein Hochglanzposter für seinen neuesten Film Reklame. Selbstverständlich kannte man Jason West in Kleinaltheim, aber man erkannte ihn nicht. Ungeschminkt und ohne das lästige Toupet, unter dem er vor der Kamera und bei offiziellen Anlässen sein langsam immer lichter werdendes, ergrauendes Haar und die beginnende Stirnglatze überdeckte, sah er wesentlich älter aus, aber das hielt die lästigen Paparazzi fern. Außerdem hatte er sich nicht im Hotel, sondern bei seiner Mutter einquartiert und benützte seinen Künstlernamen nicht. Hier war er ganz schlicht Dieter Rödel.
Das Schaufenster des ehemaligen Schuhgeschäfts war mit Hochglanzfotos und Exposés zugeklebt. Schicke Einfamilienhäuser, alte Siedlerhäuschen, praktische Reihenhäuser, renovierte Mehrfamilienhäuser, Mietwohnungen, Eigentumswohnungen, Gewerbeobjekte, Bürohäuser - Simon Wolf makelte mit allem, was der Kleinaltheimer Immobilienmarkt hergab. Geschickt verstand er es, die Vorzüge seiner Objekte ins rechte Licht zu setzen. Er genierte sich auch nicht, die letzte baufällige Bruchbude mit blumigen Worten anzupreisen.
Mit schnellem Blick taxierte er seine Kunden. Waren sie zahlungskräftig genug für die Objekte, die sie besichtigen wollten, oder verschwendete er nur seine Zeit? Jahrelange Erfahrung hatte ihn gelehrt, die einen von den anderen zu unterscheiden. Er täuschte sich selten. Und jetzt stand da dieser Typ in seinem Laden. Simon rückte seine etwas zu bunte Krawatte zurecht, knöpfte das zu eng gewordene Jackett zu und setzte sein in langen Jahren antrainiertes Maklerlächeln auf:
»Eine Fabrikantenvilla suchen Sie?« Simon musterte seinen Besucher. Der war gut und gerne eins neunzig groß, trug Bluejeans, Sneakers und ein graues Sakko über dem T-Shirt. Wie alt mochte der sein? 50? 55 oder älter? Simon registrierte zufrieden, dass das dunkle Haar des Kunden grau meliert und zu einer Stirnglatze zurückgewichen war. Das erleichterte ihm, seine eigenen Mängel des Älterwerdens zu ertragen.
»Ja, eine geräumige Villa, so wie sie in früheren Zeiten die Fabrikbesitzer hier im Ort hatten. Große Räume mit hohen Wänden, Stuck an der Decke und gebohnerte Parkettböden.«
Der Kunde, er hatte sich als Dieter Rödel vorgestellt, kam ihm irgendwie bekannt vor, sprach mit einem leichten amerikanischen Akzent.
»Allerdings sollte sie renoviert und technisch auf dem neuesten Stand sein. Kein Badezimmer von anno dazumal.«
Eine große alte Villa! Wenn der Kerl kein Hochstapler war, sondern der reiche Ami, der er zu sein schien, war dieser Typ ein echter Glücksfall - aber das konnte er sich ja nicht gleich anmerken lassen. Er kratzte sich erst einmal überlegend am Kopf und blätterte demonstrativ in seinen Unterlagen. Längst wusste er, welches Haus er ihm anbieten würde. Die Villa, die er wegen der Größe und der Preisvorstellung der Besitzerin für schwer verkäuflich gehalten hatte. Die wollte das Anwesen zwar auf schnellstem Weg loswerden, selbstredend aber auch so teuer wie möglich. Nun, jetzt würde er hoffentlich die fette Provision einstreichen. Er blätterte, murmelte »Nein, das ist zu klein«, blätterte weiter, murmelte »Das auch nicht, es muss erst aufwendig renoviert werden«, blätterte weiter: »Aber das! Das müsste passen!«, rief er aus. »Ich glaube, ich kann Ihnen ein hochinteressantes Objekt anbieten. Die Eigentümerin ist frisch verwitwet und will so schnell wie möglich für immer zu ihrer Mutter nach Südspanien ziehen.«
Simon Wolf hatte die Gelegenheit beim Schopf gepackt und sofort für den nächsten Tag einen Besichtigungstermin vereinbart. Auch auf die Gefahr hin, dass sein Kunde ein Angeber war, der lediglich vorhatte, mal eine schicke Hütte zu besichtigen, um sich für kurze Zeit reich zu fühlen. Aber an wen erinnerte er ihn? Nachdem er sich eine Zeit lang ergebnislos das Hirn zermartert hatte, fuhr er seinen PC hoch und startete die Googlesuche.
Kostbare Perserteppiche lagen auf gebohnertem Parkett, Stuckornamente schmückten die hohen Decken, funkelnde Kronleuchter spendeten warmes Licht. Dieter Rödel fühlte sich in seinen Kindheitstraum zurückversetzt. Alles an und in diesem Haus war edel, gediegen, teuer. Die Villa umgab eine Aura von altem Geld und Macht, zeugte vom erlesenen Geschmack der Besitzer, nicht zu vergleichen mit dem glamourösen Tinnef neureicher Hollywoodsternchen. Nein, auch sein Haus im sonnigen Kalifornien konnte gegen dieses alte, stilvoll renovierte Anwesen nicht bestehen.
»Beachten Sie bitte die hochwertigen, dreifach verglasten Fenster, eine Spezialanfertigung!« Der Makler wuselte mit ehrerbietigen Gesten durch die Räume, pries die teuren Vollholztüren, die frisch renovierten Badezimmer, die hochmoderne Küche, die sparsame Heizung. Jason West, alias Dieter Rödel, oskargekrönter Hollywoodstar und bewunderter Actionheld beabsichtigte, in diesem Kleinstadtkaff eine Villa zu kaufen. Wenn er diese Sache zu einem erfolgreichen Abschluss brächte, fiele mit Sicherheit auch ein bisschen Glanz für ihn und sein Maklerbüro ab. Er musste dem Filmfritzen dieses Haus verticken. »Alles edel und geschmackvoll«, schwärmte er weiter, »aber Frau Brandmüller möchte nicht alleine in dem großen Haus leben.«
Die nickte zustimmend. Mach deine Dollars flüssig, damit ich endlich abhauen kann. »Die ständige Erinnerung an die glücklichen Jahre, die ich hier in diesem Haus mit meinem Mann verbracht habe, ist so schmerzlich, dass ich es so schnell wie möglich verkaufen will.« Nadine betupfte mit einem Taschentuch ihre Augen, vorsichtig darauf bedacht, ihr Make-up nicht zu verwischen. Sie folgte dem Interessenten und dem Makler durch die stilvoll möblierten Räume. Auch wenn sie einst als schlichte »Tippse« bei BraMüTec angefangen hatte, die große Dame hatte sie längst drauf. »Jedes Möbelstück birgt so viele Erinnerungen - ich kann nichts davon behalten.« Ich hasse dieses dunkle alte Gerümpel, aber Jörg hatte behauptet, dass moderne Möbel in diesem Haus ein Stilbruch wären. »Ich werde die Möbel an einen Antiquitätenhändler verkaufen, es sei denn, der Käufer möchte das Haus möbliert erwerben.« Sie wandte sich wieder ab, um diskret, aber trotzdem so, dass es bemerkt wurde, die Augen abzutupfen und die Nase zu putzen.
Mit der Trauernde-Witwe-Nummer im schwarzen Seidenkleid wärst du die ideale Seifenopernbesetzung, dachte der Hollywood-Experte und sagte dann laut: »Ich kann sehr gut verstehen, dass die vielen Erinnerungen für Sie sehr schmerzhaft sind.«