Hinter Sibirien - Katerina Poladjan - E-Book

Hinter Sibirien E-Book

Katerina Poladjan

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die unbekannte Welt hinter dem Ural: Wo Russland ganz anders ist. Wenn man von Moskau aus acht Stunden in Richtung Osten fliegt, ist man immer noch in Russland. Hier, in Wladiwostok, wo Berlin eine halbe Erdumrundung entfernt ist, beginnen Katerina Poladjan und Henning Fritsch eine Abenteuerreise, die sie bis zur chinesischen Grenze führt, ins große unbekannte Land zwischen Baikalsee und Pazifik. Sie erleben das extreme Klima, lassen sich überwältigen von der Endlosigkeit der verschneiten Steppe vor den Zugfenstern der Transsibirischen Eisenbahn, tauchen ein in eine wundersame Welt hinter dem Ural, seit Jahrhunderten ein Ort der Verbannung und der Sehnsucht. «Hinter Sibirien» ist ein ungewöhnliches Reisebuch und ein ebenso persönliches: Die gebürtige Russin Katerina Poladjan entdeckt mit ihrem deutschen Ehemann Henning Fritsch Russisch-Fernost, begegnet einer redseligen Mammutwärterin, schweigsamen Fellmützenträgern und imposanten Etagendamen, feiert den Tag der Frau mit blauem Bier und russischer Karaoke und erfüllt sich am Ende einen Traum: einmal auf dem Eis des gefrorenen Baikalsees stehen, unter sich das tiefste Binnengewässer der Erde. – Von ihren Erlebnissen im fernen und fremden Sibirien erzählen Katerina Poladjan und Henning Fritsch mit Humor und Feingefühl.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 257

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Katerina Poladjan • Henning Fritsch

Hinter Sibirien

Eine Reise nach Russisch-Fernost

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Die unbekannte Welt hinter dem Ural: Wo Russland ganz anders ist.

 

Wenn man von Moskau aus acht Stunden in Richtung Osten fliegt, ist man immer noch in Russland. Hier, in Wladiwostok, wo Berlin eine halbe Erdumrundung entfernt ist, beginnen Katerina Poladjan und Henning Fritsch eine Abenteuerreise, die sie bis zur chinesischen Grenze führt, ins große unbekannte Land zwischen Baikalsee und Pazifik. Sie erleben das extreme Klima, lassen sich überwältigen von der Endlosigkeit der verschneiten Steppe vor den Zugfenstern der Transsibirischen Eisenbahn, tauchen ein in eine wundersame Welt hinter dem Ural, seit Jahrhunderten ein Ort der Verbannung und der Sehnsucht.

Über Katerina Poladjan • Henning Fritsch

Katerina Poladjan, 1971 in Moskau geboren, kam als Kind nach Deutschland und lebt heute in Berlin. 2011 erschien ihr vielgelobter Debütroman «In einer Nacht, woanders». Mit «Vielleicht Marseille» war sie für den Alfred-Döblin-Preis nominiert, ebenfalls 2015 wurde sie zum Ingeborg-Bachmann-Preis nach Klagenfurt eingeladen.

 

Henning Fritsch

Für Ljudmila

Ich sah vor mir ein Haus, und das Haus war zweihundertundzwei Meter von mir entfernt. Da ging ich näher und das Haus stand einhundertneunundfünfzig Meter von mir entfernt. Als ich noch näher heranging, kam aus dem Haus ein Mensch, kniete nieder und brach in Tränen aus. – Warum kniest du da und weinst, – fragte ich. – Ich knie hier und weine, – antwortete er, – damit ich den Augenblick nie vergesse, als du dich mir zugewandt hast, und damit du mich nie vergisst.

Daniil Charms

 

Man kann ja schließlich auf die Meinung eines Menschen nichts geben, der noch nicht dazu gekommen ist, sich den Kopf klar zu trinken.

Wenedikt Jerofejew

 

Боже мой![*]

Pjotr Iwanowitsch

Wladiwostok

In einer Nacht woanders

An einem trüben Mittwochmorgen des Jahres 1852 wurde Wladiwostok entdeckt. Der Kapitän der Louise, eines französischen Walfängers, lehnte an der Reling und starrte missmutig auf das unruhige Japanische Meer. Kein Wal in Sicht. Der Kapitän schob die Fellmütze tiefer in die Stirn und wollte eben den beschwerlichen Weg über die schwankenden Planken zur Steuerbordseite antreten, als sein Sehnerv von etwas gereizt wurde, das grauer war als das Grau in Grau von Meer und Himmel: Am Ufer tauchten einige Hütten auf. Die mandschurischen Fischer, die dort wohnten, nannten den Ort Hai-shan-wei, was man angeblich mit Seegurkenbucht übersetzt. Ihren heutigen Namen erhielt die Siedlung erst acht Jahre später bei der Umwidmung der Fischerhütten zu einem russischen Marinevorposten. Wladiwostok heißt übersetzt «Beherrsche den Osten!» – ein stolzer Name für die damals vierundvierzig Holzhäuser am Pazifikstrand. Hier, acht Flugstunden oder neuntausendzweihundertachtundachtzig Eisenbahnkilometer von Moskau entfernt, ist man an Kasachstan und der Mongolei längst vorbei, aber immer noch in Russland.

 

Ich komme aus Russland. Als ich ein Kind in Moskau war, gab mir meine Großmutter Birkensaft zu trinken, wahrscheinlich hat sie den als Kind auch schon bekommen, hier in Wladiwostok. Es ist nicht kalt, um null Grad, aber es schneit heftig, und wir können nur wenige Schritte weit sehen.

Vor sechsunddreißig Stunden saßen wir auf gepackten Koffern in Berlin, ich hatte den Solschenizyn wieder ausgepackt, dafür Moskau–Petuschki von Wenedikt Jerofejew eingepackt, alle Schlüssel übergeben, die Nachbarn informiert, eine Flasche Rotwein geöffnet, meinen Vater angerufen. Er sagte: «Das ist deine Heimat. Irgendwie.» Dann rief ich meine Mutter an, und sie sagte: «Du solltest die Reise absagen.»

Vor vierundzwanzig Stunden waren wir in Moskau, hatten einige Stunden Aufenthalt am Flughafen Domodedovo, aßen eine warme Suppe bei Mu-Mu, einer russischen Imbisskette, und tranken einen sehr teuren Cappuccino. Uns gegenüber saß eine bärtige junge Dame mit weißblondem Haar und im glänzend blauen Trainingsanzug. Quer über die Brust war in Blau, Weiß und Rot Rossija aufgestickt, der Schriftzug war von goldenen Flammen umlodert. Henning vermisste ins Schachspiel vertiefte Dreijährige unter den Wartenden, die hätten seiner Vorstellung von Russland mehr entsprochen. Am späten Abend stellten wir uns zum Einsteigen in ein Flugzeug mit der Aufschrift Transaero an. «Durch die Luft», übersetzte Henning, meine Flugangst machte ihm offenbar gute Laune. Die verflog allerdings, als er sich in der Schlange zum Einsteigen angestarrt fühlte. Er ist groß, hat einen schwarzen Bart und sehr lange Arme und Beine. Kurz darauf, eingeklemmt in die engen Sitze unseres Durchdieluft, beugte er sich zu mir und flüsterte: «Die Stewardess hasst mich!»

«Du hättest statt der Hühnerfrikadelle mit Nudeln das Rindfleisch mit Buchweizen wählen müssen», klärte ich ihn auf. Warum? Aus Prinzip. Die Stewardess reichte uns die Schachteln und bemühte sich, Henning beim Arrangement von Frikadelle, Schachtel und Getränken auf dem knieschiefen Klapptischchen zu helfen. «Sie hasst mich», beharrte Henning. «Es ist ein leichter und zugewandter Hass», bemerkte ich.

Nach dem Essen wurde das Kabinenlicht gelöscht. Es war Nacht, und es musste Ruhe herrschen, es war wie in meinem sowjetischen Kindergarten. Wie damals konnte ich auch jetzt nicht schlafen. Schräg vor uns stieg ein kleiner Junge auf den Sitz und knipste das Leselicht an, dann ließ er sich wieder zwischen seine Eltern plumpsen. Der Sohn wollte spielen. Auch er hatte ein Tischchen in Reichweite, zunächst klappte er es einige Male hoch und runter, dann steckte er die Zeitung des Vaters dazwischen und versuchte, sie dort einzuklemmen. Zwischen Tischchen, Zeitung und Sitz waren auch seine Finger. Der Junge brüllte, die Eltern schreckten hoch und machten Zischlaute, die ihn dazu bewegen sollten, leise zu sein. Aus den anderen Reihen waren entrüstete Seufzer zu hören. «Schlaf jetzt», befahl die Mutter, aber der Junge hatte Durst, musste zur Toilette und hatte seinen Ninja Turtle zu Hause vergessen; man müsse, brüllte er, zum Piloten gehen und ihn zur Umkehr zwingen, sein Ninja Turtle fürchte sich allein zu Haus. Der Vater bekreuzigte sich, schaute sich um, als suche er einen anderen Sitzplatz oder ein anderes Leben. Die kecken Löckchen der Mutter bebten, als sie seinen Arm ergriff und zischte: «Du bleibst schön hier! Lies ihm vor! Wir fliegen zu deiner Mutter. Also musst du dich um deinen Sohn kümmern!» Damit lehnte sie sich zurück und schloss bedeutungsvoll die Augen. Ich könnte dem Jungen vorlesen, dachte ich, ich kann sowieso nicht schlafen, aber ich sagte nichts. Ich bin nie in Russland zur Schule gegangen, bestimmt konnte der Junge besser lesen als ich.

Ich wendete mich ab, betrachtete das dunkle Rechteck des Fensters, von dem ich wusste, dass dahinter der Himmel vorüberflog, und versuchte, die Uhrzeit auszurechnen: Der Flug sollte ungefähr acht Stunden dauern, die Zeitverschiebung zwischen Moskau und Wladiwostok beträgt sieben Stunden. Das würde eine lange Nacht werden, durch die Luft, nicht ins Morgenland, aber der Sonne entgegen. Natürlich kann der Mensch fliegen.

Ich schloss die Augen und malte mir Wladiwostok aus, wie ich es aus den Erzählungen meiner Großmutter kannte: Eine lange Treppe führt durch ein ganzes Viertel viele Stufen den Hang hinab, hinunter zum Meer, zum Strand, zum Pazifik. Frauen mit Sonnenschirmchen flanieren an der Promenade. Kinder sitzen auf den Schultern ihrer Väter und messen sich mit den Möwen im Kreischen.

Als ich die Augen öffne, serviert die Stewardess Kaffee und Tee. Dann landen wir. Beim Aussteigen ist die Luft vollgepackt mit dicken Schneeflocken, die mal von links, dann wieder von rechts, meistens aber von beiden Seiten kommen. Wir haben festen Boden unter den Füßen, der muss zum Flughafen von Wladiwostok gehören und sollte sich, wenn alles gut gegangen ist, in der gleichen Zeitzone wie Australien befinden.

 

Der Taxifahrer ist ein blasser junger Mann, der sich als Dimitri vorstellt und uns durch das Schneechaos über die Schnellstraße in unser Basislager bringen soll. Die Scheibenwischer kämpfen mit dem nassen Ansturm, und Dimitri flucht, wenn er um quer stehende Autos kurvt, die plötzlich im Schneetreiben auftauchen. Die Verkehrslage hält ihn nicht davon ab, sich zu uns umzudrehen. Er könne eine Flughafengeschichte von allgemeinem Interesse erzählen: Im vergangenen Jahr habe es dort eine Katze gegeben, über die sogar die Medien berichtet hätten. Man habe die Katze Schlemmer-Fufu genannt, weil sie täglich zur gleichen Stunde eine Tour durch das Fischdelikatessengeschäft in der Flughafenhalle machte. Laut Augenzeugenberichten bevorzugte sie geräucherten Tintenfisch und getrocknete Flundern. Er selbst habe die Katze beobachten können; Leute aus der Stadt seien eigens gekommen, um Schlemmer-Fufu zu filmen. Die Geschichten wurden immer wilder, und man munkelte, Schlemmer-Fufu sei der Wiedergänger eines ehrgeizigen Gastronomen, der in den mafiösen Neunzigern unter unschönen und weitgehend ungeklärten Umständen in der Küche eines seiner Restaurants zu Tode gekommen war. Ich übersetze für Henning, und er will wissen, was aus der Katze geworden sei. Das gehe ihm zu nah, meint unser Fahrer.

Ich lehne die Stirn an das beschlagene Seitenfenster, wische ein schlieriges Loch in die kondensierte Atemluft. Das indifferente Grau-Weiß dahinter lässt überhaupt keine Orientierung zu. Plötzlich taucht ein Schild auf, es trägt die Aufschrift Wladiwostok und weist geradeaus. Wir fahren nach rechts.

«Wo fahren wir hin?»

«Wir müssen über die Brücke», brummt Dimitri.

«Wo fahren wir hin?», fragt Henning.

«Wir müssen über die Brücke», sage ich.

Draußen schwimmen armdicke Stahltrossen vorbei, die sich nach oben hin im Nichts verlieren. Das muss die Brücke sein. Eine Bodenwelle, alle nicken, wir biegen ab, passieren ein großes Tor in einem massiven Stahlzaun, kurven noch einige Minuten mal nach rechts, mal nach links und kommen unter dem Vordach eines offenbar großen Gebäudes schlingernd zum Stehen.

 

Unser Basislager hat eine prachtvolle Rezeption aus hellen polierten Steinflächen und dunklem Holz. Hier ist es trocken, warm und hell beleuchtet; das gräuliche Tageslicht versucht gar nicht, durch die großen Fenster hereinzudringen. Henning findet unsere Pässe, die Dame an der Rezeption plaudert mit einem Wachmann.

«Wo bin ich?», frage ich.

«Im Gästehaus der FEFU, der Far Eastern Federal University»[*], sagt die Dame.

«Und drum herum?»

«Die Insel Russkij.»

Nach Erledigung der Formalitäten erhalten wir einen Schlüssel. Unser Zimmer befinde sich im achten Stock, die moderne Ausstattung gleiche jener in den Zimmern der Studentenwohnheime, versichert die Rezeptionistin stolz. Die Studenten genössen hier den gleichen Komfort wie die Gäste, und sogar Putin sei 2012 hier abgestiegen. «Ganz oben, im zwölften Stock», flüstert sie.

Hinter Moskau

An einem trüben Novemberabend des Jahres 2014 saßen Katerina und ich mit unseren Freunden Felix und Alexandra in Berlin beim Tee. Wir sprachen über Russland, solange ich im Raum war auf Deutsch, sobald ich den Raum verließ, wechselten die drei in ihre Muttersprache. Ich kam mit einer zweiten Kanne Tee aus der Küche zurück, man sprach wieder deutsch, und ich zog meinen alten Schulatlas aus dem Regal. Katerina und Alexandra sind in Moskau geboren, Felix kommt aus Sibirien. «Nein, viel weiter westlich, hier bin ich geboren!» Felix kratzte am unteren Teil des Uralgebirges, Alexandra beugte sich über seine Schulter. Ob sie schon einmal so weit im Osten war? Sie schaute mich groß an: «Nein! Ich komme aus Moskau!»

«Und das ist alles Sibirien?», fragte ich und tippte auf die große Fläche rechts auf der Karte.

«Da ist Wladiwostok», sagte Katerina, da sei ihre Großmutter geboren, dort sollten wir nächstes Jahr mal hinfahren.

Mein Zeigefinger suchte Halt in der grünen Fläche, die einen Großteil der aufgeschlagenen Doppelseite bedeckte. Geologisch befindet sich alles mit uns auf einer Kontinentalplatte, der Eurasischen. Tektonisch müssten wir an den Rand dieser Platte reisen, und mir kam das kippelig vor. Mein Finger wanderte weiter: Russland wickelt sich ganz im Osten ein bisschen um China. Noch weiter östlich kommt erst einmal eine Menge Wasser, und darin schwimmt Japan. Immer noch weiter im Osten stieß ich auf Kanada. Aber das ist ja schon wieder Westen.

Ich hob den Blick von der Karte und schaute Katerina in die Augen: «Du willst mit mir nach Sibirien?»

«Nein», sagte Felix, «das ist Hintersibirien, der Russische Ferne Osten.»

«Und bis wohin reicht Sibirien?»

Alle redeten durcheinander, viele Finger auf der Landkarte. Noch größer wurde die Verwirrung, als wir auf die Frage nach den Grenzen Europas kamen. Der Ural, natürlich, so haben wir das im Schulunterricht gelernt. Aber wo endet das geistige Europa? Sankt Petersburg ist europäisch geprägt, Moskau asiatisch. Aha. Der Grund ist Zar Peters Orientierung nach dem Westen. Und Sibirien? Europäisch! Sowjetisch! Asiatisch! Endet Europa heute schon an der polnischen Ostgrenze oder gar kurz vor Dresden?

Felix versuchte es noch mal anders: «Welche Städte fallen dir ein, wenn du an Sibirien denkst?»

«Wladiwostok. Nowosibirsk.»

«Diese beiden Städte liegen fünfeinhalbtausend Straßenkilometer auseinander. Es gibt eine tägliche Zugverbindung, aber die Reise mit der Bahn dauert vier Tage. Sibirien erstreckt sich, von Europa aus gesehen, bis kurz hinter das Uralgebirge, etwas weiter als der Baikalsee, das ist Ostsibirien. Dahinter folgt Transbaikalien und schließlich bis zur Küste der Russische Ferne Osten.»

«Der Baikalsee!» Katerina ist begeistert. «Dort leben die einzigen Süßwasserrobben der Welt und unzählige seltsame Fische, der Baikal-Omul zum Beispiel und der Golomjanka, ein schuppenloser, durchsichtiger Fisch ohne Schwimmblase, der in der Sonne schmilzt wie Butter.»

 

An einem trüben Montagmorgen zu Beginn des Jahres 2015 verkündete Katerina ihr Expeditionsvorhaben: eine Reise vom Pazifik bis zum Baikalsee. Nach Hintersibirien! «Wir lassen den Mythos Sibirien links liegen und beginnen unsere Reise in Wladiwostok.» Sie wolle ins Dickicht der Städte entlang der chinesischen Grenze: Chabarowsk, Blagoweschtschensk, Tschita, Ulan-Ude. Ich musste zugeben, dass ich von keinem dieser Orte je gehört hatte. «Das sind Großstädte. Das ist Hintersibirien. Da leben Menschen.»

Die Flüge wurden gebucht, in wenigen Wochen würde es losgehen. «Wie werdet ihr denn in Russland reisen?», fragte Alexandra bei unserem nächsten Treffen.

«Mit dem Zug. Mit der Transsibirischen Eisenbahn.»

«Den Tee in den Zügen dürft ihr nicht trinken. Das Wasser in den Samowars wird nicht gekocht, es steht tagelang bei mäßiger Hitze in dem Behälter, da können sich Keime bilden», riet Felix und nannte uns Adresse und Telefonnummer von Pawel und Boris in Wladiwostok, die sollten wir auf jeden Fall treffen. «Und zieht euch warm an, Anfang März ist noch Winter.»

«Wie kalt?»

«Bis minus dreißig Grad.»

Wir verabredeten uns auf ein Abendessen, wenn wir eventuell wohlbehalten zurückgekehrt wären, und sie ließen mich in der Gewissheit zurück, dass keiner der beiden Mäntel in meinem Kleiderschrank für die Unternehmung in Frage käme.

In einem Reisebericht las ich, die Passagiere der Transsibirischen Eisenbahn trügen während der Fahrt alle Jogginganzüge. Ich besitze gar keinen – war es nun notwendig, mir für diese Reise einen zuzulegen? Was sollte ich einpacken, um einerseits für die unvorstellbaren Temperaturen gerüstet zu sein und andererseits nicht jeden Anspruch an Stil aufzugeben? Würden die Fellmützen noch en vogue sein, die die Bösewichte in den James-Bond-Filmen der siebziger Jahre getragen haben? Und woher jetzt eine solche nehmen? Und untenherum? In quietschbunter Outdoorkleidung antizipierte ich mich sofort als gebrandmarkt im fernen Land, gestempelt als Tourist, Anthropologe, westlicher Zaungast, verspleenter Ornithologe oder sonst etwas, das mein Bedürfnis, gerade auf Reisen möglichst nicht aufzufallen, unterlaufen würde.

Ich fragte Katerina. «Was sollen wir anziehen?» Warm müsse es sein, meinte sie, darüber hinaus verweigerte sie den Kommentar zu solch kleinteiligen Überlegungen.

Ich bemühte das Internet und stieß auf ein Forum, in dem verschiedene Themen rund um Sibirien erörtert wurden, eines davon passte genau auf meine Frage: «Sibirien im Winter – Was anziehen?» Wer schon einmal ein solches Forum konsultiert hat, der konnte schmerzlich erfahren, was Meinungsvielfalt heißen kann. In meinem Fall reichten die guten Ratschläge von «Bleib zu Hause, es ist zu kalt» bis «Turnschuhe sind okay». «Wenn dir kalt ist, kauf dir ein paar Filzschuhe auf einem Markt vor Ort.» Von da an konzentrierte sich die Diskussion auf die Frage, ob jene traditionellen Filzschuhe, Walenki genannt, heute noch modisch adäquat, und ob sie mit oder ohne Galoschi zu tragen seien.

Ich gab die Internetrecherche auf. Ich wollte mit richtigen Menschen sprechen und besuchte einen Laden für Abenteuerausrüstung. «Ich fahre nach Hintersibirien.» Der junge Mann nickte ernst. Hier war ich unter Profis. Hier gab es keine exotischen Ziele. Wenn ich gesagt hätte, ich plante eine Marsexpedition, er hätte mich ebenso stoisch gefragt, ob ich dort eine Kanutour oder mehrtägige Wanderungen vorhabe. «Wir bereisen vorwiegend Städte am östlichen Ende des Kontinents. Aber natürlich gehen wir auch mal raus. In die Tundra. Oder die Taiga. Je nachdem, was gerade draußen ist. Das soll ja alles sehr kalt sein.» Er nickte wieder ernst. Er hatte genau verstanden, was ich brauchte, und steckte mich in etwas, das auf den ersten Blick wie eine normale Jacke aussah. Als ich probehalber den Reißverschluss geschlossen und die kunstpelzbesetzte Kapuze unter dem Kinn verschnürt hatte, schien mir selbst eine Marsexpedition erwägenswert. Ich war rundum gut verpackt, es war, als wäre mein Bett samt Kissen und Decke heute Morgen mit mir aufgestanden. Dann wurde mir warm. Das Geschäft war gut geheizt zugunsten jener, die nicht in die Kälte wollten, sondern für ihre Expedition in die Karibik vielleicht nur eine Badehose anprobierten. Ich schielte auf das Preisschild der Wunderjacke, und mir wurde noch heißer.

Wieder auf der Straße, schlug mir frühlingshafte Luft entgegen, plus zwölf Grad bescherte uns der Berliner Januar. Das kontinentale Klima ist nicht mehr, was es mal war, sagte ich mir, es bestand also auch Hoffnung auf einen milden März in Hintersibirien.

 

Am Abend vor unserem Abflug standen wir lange am Fenster, schauten auf die parkenden Autos und stellten uns vor, was wir aus dem Fenster der Transsibirischen Eisenbahn sehen würden. Birken?

«Bist du aufgeregt?»

«Ja.»

Gefangen auf der Insel Russkij

Das wattierte Ding mit Mütze neben mir ist Henning in seiner neuen Jacke. Wir stehen im Eingang des Gästehauses unter dem ausladenden Vordach und schauen in das Schneegestöber über der Insel Russkij, können uns nicht recht entschließen, den ersten Schritt zu machen. Wir sind mit Boris und Pawel in der Cafeteria in Haus 18 verabredet, irgendwo soll das hier sein. Geh du zuerst, möchte ich sagen und trete dann selbst in den Sturm, wir tauchen ein ins weiße Wirbeln, kämpfen uns mühsam voran, irgendwann stoßen wir unvermittelt auf etwas großes Graues. Wir retten uns in den Windschatten des verglasten Gebäudeungetüms, an dem leider nirgendwo die Nummer 18 zu sehen ist. Dafür kündet ein Schild neben dem Eingang von der Powerlifting Championship of Russia vom 26. Februar bis zum 1. März.

Am Eingang ist niemand zu sehen, unbehelligt betreten wir die gut geheizte Unbehaglichkeit des ernüchternd zweckmäßigen Foyers. Über zwei Geschosse herrscht hier die Atmosphäre einer Gemeindeverwaltung mit einer Prise Einkaufszentrum: Rolltreppen und ein kleiner Infostand, jedoch keine Menschenseele. Ein Schild weist den Weg zur Veranstaltung in der oberen Etage. Neugierig fahren wir nach oben und betreten, ohne dass man uns nach einem Ausweis oder einer Eintrittskarte fragt, eine riesige Sporthalle. An der Stirnseite ist eine Bühne aufgebaut. Powerlifting steht auf einem großen Transparent, und eben in diesem Moment betritt das blonde bärtige Mädchen vom Flughafen in Moskau die Bühne und stellt sich hinter eine Eisenstange, an deren Enden riesige Gewichte befestigt sind, die ihr eigenes nach grober Schätzung bei weitem übersteigen. Lange Sekunden fixiert sie das Monstrum zu ihren Füßen, dann geht sie in die Knie, schließt die weiß gekalkten Hände um die Stange, verharrt. Einen zähen Augenblick später richtet sie sich abwinkend auf, verbeugt sich leicht vor einem Anzugträger, der, auf einem Klappstuhl vor den Gewichten sitzend, sie die ganze Zeit fixiert hat, und verschwindet hinter der Bühne.

Ich komme mit einer Dame ins Gespräch, die mit zwei rosafarbenen Smartphones die Szene filmt.

«Lidija ist eine der Besten, sie hat so viel Potenzial. Heute wird sie fix und fertig sein mit der Welt, sie hat Monate für diesen Wettbewerb trainiert, und nun dieser grässliche Schnee, kaum Zuschauer, grauenhaft, traurig, was für ein Schicksal. Sie ist auch zu dünn geworden, könnte in ihrer Gewichtsklasse wieder einiges zunehmen.»

«Kennen Sie diese Gewichtheberin?»

«Natürlich, sie ist meine Tochter!»

Als Kind sei Lidija mit ihren Freunden auf Garagendächern herumgeklettert, dort habe sie eines Tages ein paar schwere Metallteile gefunden, eine eiserne Scheibe habe es ihr besonders angetan. «Lidija war neugierig und versuchte die Scheibe anzuheben. Das Gewicht fühlte sich gut an in ihren Händen. Danach kletterte sie fast jeden Tag auf das Dach und stemmte das schwere Ding in die Höhe. Schon nach kurzer Zeit wollte sie größere Gewichte bewegen.» Ihr Ziel seien fünfhundertfünfundfünfzig Kilogramm. Wenn sie das erreiche, dann habe das Leben für sie einen Sinn.

Ohrenbetäubende Popmusik erschallt aus den Lautsprechern und beendet das Gespräch. Eine Gruppe von Cheerleadern stürmt die Bühne und beglückt das spärliche Publikum mit einer hochenergetischen Darbietung.

 

Wir ziehen weiter, müssen Haus 18 suchen, kämpfen uns wieder durch den Schneesturm und finden endlich den Eingang zur Universitätskantine.

«Wir suchen die Cafeteria in Haus 18.»

«Dies ist die Cafeteria in Haus 18.»

«Und das Gästehaus?»

«Das Gästehaus ist im Nebentrakt. Gehen Sie durch diese Tür, dort ist das Foyer.»

Der Weg im Kreis war weit, aber wir haben das Ziel erreicht. Boris und Pawel sind noch nicht da.

Hungrig beladen wir ein Tablett mit Tee, Krautsalat und kleinen fettig-süßen Quarkküchlein. Kaum haben wir uns gesetzt, betritt Lidija in Begleitung ihrer Mutter den Raum. Ich will grüßen, aber die beiden sind mit der Analyse des Wettkampfes beschäftigt. Vielmehr analysiert die Mutter, und Lidija spielt an ihrem Smartphone. Sie trägt wieder den glänzend blauen Trainingsanzug, den sie schon auf dem Moskauer Flughafen trug, und ihr Haar hat sie zu einem festen Knoten gebunden. Besteht ihr Lebenssinn wirklich darin, für einige Sekunden Hunderte von Kilogramm gegen die Schwerkraft zu stemmen, weil sie es gut kann? Vielleicht spielt es auch keine Rolle, für sie ist der Zauber des Wettkampfs für heute vorbei.

 

Ein Anruf erreicht uns, der Verkehr sei in Wladiwostok durch den Schneesturm völlig zusammengebrochen, Boris und Pawel würden es heute nicht zu uns auf die Insel schaffen.

Ob wir nicht in einem Land seien, das im Umgang mit Schnee und Eis gelassen, routiniert, wenn nicht gar versiert sei, frage ich. Wladiwostok sei nicht Sibirien, ist die Antwort, niemand habe hier Winterreifen, die steilen Erhebungen inmitten der Stadt seien das Problem, in den Senken dazwischen ereigneten sich bei Glätte zwangsläufig Karambolagen. Auch rate man uns aus denselben Gründen, nicht zu versuchen, in die Stadt zu kommen, man sei gar nicht sicher, ob überhaupt noch Busse führen.

Wir sind gefangen auf der Insel Russkij.

Die Jüngeren sind noch wild

Katerina weckt mich. Warum? Die Sonne scheint auf eine dicke Schneedecke. Ich stecke den Kopf aus dem geöffneten Fenster in die eisige Luft. Um uns herum glänzen Dutzende neuer Gebäude: der Campus der Universität, im Jahr 2012 anlässlich der APEC-Konferenz[*] aus dem Boden gestampft. Zwischen den Gebäuden kann man ein System von breiten Straßen unter der Schneedecke erahnen. Dahinter liegt die Bucht, der Pazifik. Ich lehne mich weiter aus dem Fenster und erkenne in der Ferne die Pfeiler der gewaltigen Brücke, die zur gleichen Zeit über den pazifischen Meeresarm gespannt wurde, um die Insel, auf der das Universitätsgelände liegt, mit der Innenstadt von Wladiwostok zu verbinden. Eine Brücke ins Nichts nannte die New York Times das Projekt, denn die Insel Russkij ist nicht größer als Langeoog, und es wohnen noch weniger Menschen hier.

 

Beim Frühstück in der Kantine teilt man uns mit, dass die Verbindung zur Innenstadt immer noch unterbrochen sei. Der junge Mann an unserem Tisch spricht uns auf Deutsch an. Er will wissen, was wir hier machen.

«Meine Großmutter Ljudmila hat vor vielen Jahren in Wladiwostok gelebt», sagt Katerina.

«Wann?»

«Vor über achtzig Jahren.»

«Und wo lebt sie jetzt?»

«In Berlin.»

Valentin studiert hier an der Fernöstlichen Universität von Wladiwostok, sein Seminar fällt heute Morgen wegen des Schnees aus. Er ist einundzwanzig Jahre alt, spricht besser Deutsch als ich und ist von seiner Universität begeistert:

Hier sei alles neu und vom Feinsten, Campus, neue Computer, hochmoderne Sportplätze, Schwimmbad, Golfplatz, einmalig auf der Welt. Er habe ein Stipendium bekommen, denn sonst könne man sich diese Universität gar nicht leisten. Zuvor habe er einige Semester in Birobidschan studiert.

«Was ist denn dieses Birobidschan?», frage ich.

«Birobidschan ist meine Heimatstadt, die Hauptstadt der Jüdischen Autonomen Oblast.»

Oblast? Später würde ich Felix anrufen, und er würde behaupten, in der Jüdischen Autonomen Oblast gebe es gar nicht mehr viele Juden. Oblast sei im Übrigen einfach die Bezeichnung für einen größeren Verwaltungsbezirk, und wir sollten auf keinen Fall den Tee im Zug trinken.

Die Universität in Birobidschan sei schlecht, sagt Valentin, seine Mutter habe ihm den Wechsel nach Wladiwostok ermöglicht, alles habe sie ihm ermöglicht.

Valentins Großeltern seien um 1930 aus der Ukraine nach Birobidschan umgesiedelt worden. Man habe ihnen gesagt: ‹Hier habt ihr ein Stück Land, macht etwas daraus.› Bei ihnen hätten er und seine Mutter bis zu seinem zwölften Lebensjahr gelebt, denn sein Vater sei früh verstorben, zu früh. Seine Mutter arbeite bei einer Bank, langweile sich und bekomme wenig Geld. Natürlich habe sie es zu Sowjetzeiten leichter gehabt, sie sei Mathematik- und Physiklehrerin gewesen und habe ein gutes Gehalt bekommen. «Also das gleiche wie alle.» So habe sie reisen können, überallhin, auch außerhalb der Sowjetunion, zum Beispiel nach Georgien.

«Georgien war auch eine Sowjetrepublik.»

«Ach so, da gab es mich noch nicht», sagt er, «aber Georgien war doch so anders, das war doch wie Ausland, oder nicht?» Am 8. März, dem Weltfrauentag, habe seine Mutter frei, dann werde sie ihn besuchen, und sein Studienkollege müsse das Zimmer räumen. Er habe für sie einen Antrag ausfüllen müssen, damit sie überhaupt auf dem Campus übernachten dürfe. Natürlich sei das seltsam und auch anstrengend, immer irgendwelche Anträge auszufüllen, aber er habe sich daran gewöhnt. «Meine Mutter wird Essen für Wochen mitbringen. Wir werden spazieren gehen, also, wenn dieser Schnee aufhört, und abends wird sie mir vorlesen. Das habe ich als Kind geliebt. Ich habe ihr immer einen netten Mann gewünscht, es hat aber nicht geklappt, obwohl meine Mutter so schön ist, die Schönste. Jetzt muss ich mich entscheiden, habe all diese Fragen: Will ich in Deutschland studieren, will man mich dort, gerade jetzt, in Zeiten der Krise?

Als ich einmal in Deutschland war, in Ulm, habe ich mich gut gefühlt. Die Leute wollten, dass ich ihnen auf der Karte zeige, wo ich herkomme, und sie machten ‹Ah› und ‹Oh›, ‹So weit?›. ‹Was gibt es denn dort? Tiger?› – ‹Auch die.› Ich liebe mein Land, aber ich bin kein Patriot. Ich habe nur patriotische Gefühle, wenn man mein Land angreift oder Lügen verbreitet, dann denke ich, kommt doch her und schaut es euch an. Meine Gastmutter in Ulm hat mir nicht geglaubt, dass es in Wladiwostok eine Universität gibt und eine Oper. Für sie war der Ferne Osten so etwas wie eine Legende. Ich lebe hier in meinem Zimmerchen auf dem Campus. Ich mache meine Hausaufgaben, und abends mache ich Sport. Ich trinke nicht, ich rauche nicht, und ich gehe nicht in Clubs. Alles Zeitverschwendung. So machen das viele hier. Nur am Wochenende gehe ich mal zu einem Konzert und spiele mit einem Freund Schach oder Badminton. Vielleicht ist das langweilig. Die Jüngeren sind noch wild. Aber mit fast zweiundzwanzig habe ich andere Interessen.»

Valentin verabschiedet sich. Wie erwachsen er wirkt.

 

«Und nun?», frage ich.

«Ich will in die Stadt, die Sonne scheint, ich will das Haus meiner Großmutter suchen. Gehen wir zu Fuß?»

«Das ist viel zu weit. Die Brücke selbst ist schon drei Kilometer lang.»

«Das kam dir gestern nur so lang vor. Wir waren müde und aufgeregt, da dehnt sich alles.»

Die Straße zur Brücke ist vierspurig ausgebaut, ein Gehweg ist nicht zu erkennen, so stapfen wir durch den hohen Schnee, klettern über Hügel, die die Räumfahrzeuge am Rand der Straße aufgetürmt haben. Endlich sehen wir hinter einer Anhöhe die schlanken Pfosten und Seile der Brücke in die Höhe ragen, und etwas weiter öffnet sich der Blick nach rechts über die Seegurkenbucht, entlang des Ufers drängen sich schmutzig braune Eisschollen. Ich beschatte die Augen mit der Hand und werfe mich in Entdeckerpose: «Dort hinten irgendwo liegt Japan.»

Eislaufen

Als Ukichiro Nakaya 1930 an der Hokkaido-Universität ankam, fand er das Physikalische Institut in einem erbarmungswürdigen Zustand. Es fehlte an Geld, an Ausrüstung, an allem. Was es gab, war eine unbegrenzte Menge natürlichen Schnees. Also begann er, den Schnee zu untersuchen, die Kristalle zu zeichnen und zu kategorisieren. Briefe des Himmels nannte er die schwebenden hexagonalen Eisgebilde, und am 12. März 1936 schuf er die erste künstliche Schneeflocke.

Ich liebe Schnee, und Ukichiro Nakaya ist mein Held. Als Kind in Russland genoss ich es, wenn der Schnee so hoch lag, dass man das Haus kaum verlassen konnte. Ich liebte den Gedanken, eingeschneit und mit meinen Eltern und Großeltern bis zum Frühling eingeschlossen zu sein. Niemand konnte schnell und dringend das Haus verlassen, alle würden bis zum Frühling mit mir spielen und mir Schauergeschichten erzählen.

Der Verkehr zwischen der Insel und der Innenstadt kann nicht vollständig unterbrochen sein, denn in kurzen Abständen rasen Autos an uns vorbei. Schweigend arbeiten wir uns der Brücke entgegen, kein Fußgänger außer uns ist zu sehen. Henning scheint der Ehrgeiz gepackt zu haben, er geht immer schneller, mit den Armen macht er Ruderbewegungen. «Das war eine gute Idee! Wir bezwingen die Russkij-Brücke, das hilflose Stahlgetier!», ruft er aus.

Ein Auto pflügt direkt neben uns durch den Schneematsch und kommt dann ein Stück weiter vorne zum Stehen. «Was tut ihr hier?», ruft uns die Fahrerin durch das geöffnete Fenster zu.

Als wir auf gleicher Höhe sind, beuge ich mich hinunter: «Wir wollen über die Brücke.»

«Seid ihr verrückt geworden? Zu Fuß über die Brücke? Das ist eine Autobahn, da kann man nicht spazieren gehen! Steigt ein.»

Von einer Sperrung der Brücke wisse sie nichts, wer uns diesen Unsinn erzählt habe, fragt sie in einem Ton, als sei es ihr tägliches Geschäft, verirrte Touristen vor der Brücke einzusammeln. Sie erzählt, es gebe zwei neue Brücken: die Russkij-Brücke über den Östlichen Bosporus, die die Insel mit dem Festland verbindet, und die Solotoi-Brücke über das Goldene Horn, die sieben Kilometer lange Hafenbucht zwischen der Innenstadt und dem Stadtteil Tschurkina. Der Bau der beiden Brücken habe Milliarden verschlungen, ein Großteil davon sei in dunklen Kanälen verschwunden und mit ihnen einige verantwortliche Ingenieure – spurlos. Neben der Korruption gebe es in der Gegend viele Füchse, «sie lungern herum und wollen gefüttert werden». Seit Fertigstellung der Brücken seien außerdem schon vier Menschen hinuntergesprungen und hätten das auch noch überlebt.

San Francisco

Niemand hat jemals San Francisco als das Wladiwostok des Wilden Westens bezeichnet. Warum der sowjetische Generalsekretär Nikita Chruschtschow das Umgekehrte behauptet hat, können wir ihn nicht mehr fragen, er nannte die Stadt mit ihren steil aus dem Meer aufragenden Hügeln, Buchten und Häfen das «San Francisco des Fernen Ostens».

Ich war noch nicht in San Francisco, aber es heißt, man brauche nicht mehr als ein paar Blumen im Haar,