Vielleicht Marseille - Katerina Poladjan - E-Book

Vielleicht Marseille E-Book

Katerina Poladjan

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Beschreibung

Zart und kraftvoll erzählt Katerina Poladjan von der Sehnsucht, alles hinter sich zu lassen. Luc Gaspard, Kommissar in Marseille, soll eine attraktive Stelle bei Europol antreten, ein Karrieresprung; seine Frau Miyu plant schon den Umzug mit den beiden Kindern nach Den Haag. Aber Luc hat tiefe Zweifel an seiner Ehe, seinem Leben überhaupt. Bei einer Dienstreise nach Salzburg lernt er Ann kennen, die vor acht Monaten ihren Mann verloren hat. Jetzt will sie aus der Trauer ausbrechen, sucht das Unbekannte, Neue. Voneinander angezogen, brechen Luc und Ann auf, beide sehen plötzlich neue Möglichkeiten. Doch nach einer gemeinsam verbrachten Nacht folgt Ann ihren Impulsen bedingungslos und fährt alleine weiter – in Lucs Wagen. Während dieser sich widerwillig nach Hause zu seiner beunruhigten Frau durchschlägt, hat auch Anns erwachsener Sohn, der sich trotz vieler Spannungen um seine Mutter sorgt, die Adresse der Gaspards herausgefunden. In Marseille kreuzen sich die Wege – und die Fragen holen sie ein, denen alle vier lange ausgewichen sind. Katerina Poladjan erzählt wunderbar zart und zugleich kraftvoll von Menschen, denen ihr Leben zu entgleiten droht. In erst zufälligen, bald schicksalhaften Begegnungen müssen sie erkennen, wofür es sich zu kämpfen lohnt – auch gegen den größten Gegner, gegen sich selbst.

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Seitenzahl: 173

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Katerina Poladjan

Vielleicht Marseille

Roman

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Über dieses Buch

Zart und kraftvoll erzählt Katerina Poladjan von der Sehnsucht, alles hinter sich zu lassen.

 

Über Katerina Poladjan

Inhaltsübersicht

WidmungEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenDank

Für N. und V.

Eins

Ann steht in der Tür, ihren Koffer in der einen, den Schlüssel in der anderen Hand, dann wendet sie sich zum Gehen. Sie hat das Gefühl, etwas vergessen zu haben, aber das hat sie immer. Sie verlässt dieses Haus. Sie wird sich um nichts mehr kümmern. Nun geh schon.

Im Auto glaubt sie, immer noch Eds Rasierwasser zu riechen, die beigen Ledersitze sind kühl, der Rock könnte zum Fahren ein wenig zu eng sein, sie hat ihn seit acht Monaten, seit Eds Beerdigung, nicht mehr getragen. Sie lässt den Motor an, der Wagen rollt langsam aus der Einfahrt. Der Hund der Nachbarn starrt sie durch den Zaun an, reckt sich träge und gähnt, zeigt seinen roten Gaumen und das gelbe Gebiss.

An der Ampelkreuzung links auf die Hauptstraße, das Eiscafé, die Apotheke, und an der Bushaltestelle steht niemand. Ed hat ein ganzes Sortiment von Lutschbonbons angesammelt. Alles schmeckt säuerlich. Sie fährt sich mit der Hand übers Gesicht, öffnet das Fenster. Tannen und Fichten und darüber etwas, das sind nicht die Wolken, das sind schon die Alpen. Ihre Schwester Johanna würde auf eine Insel fahren oder nach Indien, Ann fährt nach Salzburg. Salzburg ist genau richtig. Heute Abend ist sie mit ihrem Sohn beim Italiener in Schwabing verabredet. Theo hat eine hohe Stirn, und wenn er sich ärgert, kneift er die Augen zusammen. Das hat er schon als Kind getan. Hast du Lisa wiedergesehen? Was soll die Frage? Es ist nur eine Frage. Es geht dich nichts an. Sie wird nicht hingehen.

In Salzburg ist Feierabendverkehr, fast hätte sie den Kinderwagen übersehen. Das hätte jetzt noch gefehlt. Freie Parkplätze gibt es nicht, sie stellt das Auto im Halteverbot ab.

Die Hotelhalle ist stark beheizt, an der Rezeption eine junge Frau, sehr aufrecht in Rot. Es gibt ein freies Zimmer.

Sie nimmt die Treppe in den zweiten Stock. Zuerst geht sie in die falsche Richtung, findet dann die Zimmernummer am anderen Ende des Gangs. Sie klopft. Niemand antwortet. Natürlich nicht. Das Zimmer entspricht ihren Vorstellungen: Parkett, gestärkte Bettwäsche und eine gut gefüllte Minibar. Die Vase mit den staubigen Zweigen stellt sie in den Flur. Auf dem Kopfkissen eine Mozartkugel. Herzlich willkommen! Die Heizung lässt sich abdrehen. Kirchenglocken läuten, und sie öffnet das Fenster. Einige Bäume und die Rückseite der Post. Sie legt sich aufs Bett, trinkt Gin Tonic, streckt die Beine in die Luft und betrachtet ihre Füße. Gefalle ich dir? Sie lagen zum ersten Mal beisammen. Ich weiß nicht, vielleicht muss ich mich an dich gewöhnen. Eds Körper war keiner, der sofort mit dem ihren verschmolz oder so tat, als ob. Sein Körper war groß, hager. Du wirst damit leben müssen. Sie schlug die Decken zurück und bat ihn, sich zunächst auf den Rücken zu legen, ihr eine Viertelstunde Zeit zur Betrachtung zu lassen, sich umzudrehen, wieder eine Viertelstunde. Sie öffnete seine Faust, küsste seine Handfläche, küsste seinen Bauch, seine Hüften. Dann war er an der Reihe. Damals sagte er, seit er sie getroffen habe, sei sein Leben aus einer trüben Dämmerung in ein funkelndes gefährliches Licht getreten. Du übertreibst. Nein, das ist die Wahrheit. Ich will dich wunschlos still im Arm halten, dir dankbar sein, dass du mich annimmst. Damals rührte sie sein Pathos, später zog sie ihn am Ohr. Was waren seine letzten Gedanken? Sein Gesicht war ruhig, kein Zucken, kein Krampf. Was hat sie in diesem Moment gedacht? Sie versucht, sich zu erinnern. Zwischen Haut und Hirn pochte ein Schmerz. Wie sollte er beerdigt werden? Kein fremder Mensch sollte seine Arme anheben, kein fremder Mensch sollte seinen Körper berühren.

Sie hört Stimmen im Hotelflur. Eds Tod ist kein Ereignis mehr, das sie lähmt oder festhält, sein Tod ist jetzt kompakt.

Mach dir einen Zopf, Annerose! Das waren die letzten Worte ihrer Mutter: Mach dir einen Zopf. Bleich lag sie in ihrem Bett, ein zerbrechlicher, viel zu großer Vogel. Ann fasste sich ins Haar, band einen Knoten, verfolgte die Atemzüge, beugte sich vor, sog den restlichen Mutteratem in sich ein, damit etwas bliebe von der Mutter in ihr.

Heute wird Luc seine Antrittsrede halten. Die Verantwortung der neuen Position, das große Vertrauen in seine Person, ein neuer Lebensabschnitt, ja, herzlichen Dank dafür, heel hartelijk bedankt. Hingabe, natürlich, und Resultate. Der Holländer wird sich Notizen machen, ihm anschließend jovial auf die Schulter klopfen, Sie passen zu Europol, Luc, es wird Zeit, dass Sie auf internationaler Ebene arbeiten, das müssen wir feiern, später beim Bier, Luc, was meinen Sie? Und, Luc, ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit, Sie werden mich nicht enttäuschen.

Er sollte sich rasieren, schaltet aber den Fernseher ein, setzt sich aufs Bett, isst die restlichen gesalzenen Erdnüsse. Mit der Zunge schiebt er eine Nuss in seine Zahnlücke, sie passt genau. Vor zwei Jahren wurde ihm ein Backenzahn gezogen. Die Lücke stört ihn nicht, aber Miyu sagt, das sei eine Form von selbstverschuldetem Verfall. Er zieht den grauen Anzug an und verlässt das Hotel.

Salzburgs Straßen sind an diesem Montagvormittag voller Menschen. Geschäft reiht sich an Geschäft, das Geschiebe und Gedränge wird immer dichter. Er ruft Miyu an und erzählt ihr, dass er gerade durch die Getreidegasse geht. Und weiter, fragt sie. Mozarts Geburtshaus! Sie findet es interessant, dass die Tagung der europäischen Polizei ausgerechnet in Salzburg stattfindet. Vor dem Tagungshotel sieht er Kollegen in Grüppchen zusammenstehen und rauchen. Einige hat er noch nie gesehen, aber sie sehen überall auf der Welt gleich aus. Ist der Holländer schon da, will Miyu wissen. Natürlich ist der Chef da, er kann ihn schon hinter der Glasfront sehen, wie er leicht gebeugt an einem der Konferenztische steht, sein alkoholfreies Bier trinkt und sich über die hervorragenden Leistungen seiner Einheit auslässt. Er sieht brutal und zynisch aus, sagt Luc, und Miyu findet diese Kombination sexy, will wissen, ob er wieder solche schlechtsitzenden Jeans trägt. Ich muss jetzt reingehen, sagt Luc. Er hört sie atmen. Alles in Ordnung? Ja, sie hat nicht gut geschlafen, sie schläft besser, wenn er an ihrer Seite ist, außerdem hat sie gestern bis in die Nacht Unterlagen sortiert, sie will, wenn sie aus Marseille weggehen, nur das Wichtigste mitnehmen. Sie soll sich Zeit lassen, es sind noch drei Monate bis zum Umzug und wer weiß. Wie bitte? Nichts. Ob er gut vorbereitet ist, will sie wissen. Natürlich. Du schaffst das, Luc. Ich muss Schluss machen, es geht los, sagt er und legt auf.

Er betrachtet das Gebäude. Ein Glaskasten aus den achtziger Jahren. Das Foyer leert sich, man geht in den Saal. Er sieht Michel, der seinen Kaffee austrinkt, sich suchend umschaut und dann den anderen folgt.

Die Verantwortung der neuen Position, das große Vertrauen in seine Person, neue Ufer, Zusammenarbeit, Zukunft. Gleich wird er vor sie treten und dann mit ihnen sein. Vielleicht kann er morgen diese Rede halten, aber nicht jetzt. Gestern, heute und morgen haben nichts mit der Wirklichkeit zu tun, wann sich etwas ereignet, ist nur eine Frage der Grammatik. Eine junge Kellnerin zupft an ihrer Strumpfhose. Sie hat schöne Beine und offenbar keinen Grund, sich zu beeilen. Er dreht sich um und geht zurück in Richtung Hotel.

Theo trägt den zweiten Stuhl in den Hof. In seiner Wohnung befinden sich jetzt keine Stühle mehr. Auf dem Weg zurück nach oben passt ihn die Nachbarin ab, fragt, ob sie sich den Stuhl nehmen könne. Sicher, er braucht ihn nicht mehr. Draußen werden Getränkekisten geliefert. Danach kommt die Post, meistens Rechnungen, die er sofort in einer Schublade verstaut. Es gibt ein Abkommen mit der Schublade: Schweigt sie, schweigt auch er. Er legt sich wieder hin, schiebt seine angefangene Hausarbeit unter die Matratze: Über den Messianismus in der Matrix-Trilogie. Drei Monate schreibt er schon daran und verwickelt sich immer mehr in Widersprüche, weil er keine Hauptthese zu fassen bekommt. Viel wichtiger ist die Novelle, die er vor einigen Wochen begonnen hat. Science-Fiction mit Wüste, Schweiß, Philosophie und Erotik. In seinem Schaffensrausch war er völlig geblendet von dem, was da so unvermittelt aus ihm herausbrach. Bis tief in die Nacht hat er geschrieben, war dann beseelt eingeschlafen, und als er am Morgen alles las, wurde ihm heiß vor Scham. Gern würde er Lisa seinen Text vorlesen, aber Lisa hat ihn verlassen. Eine Zukunft mit dir an meiner Seite, Theo, scheint mir nicht möglich. Lisa, wir kennen uns seit der siebten Klasse! Du bist sprunghaft und lethargisch, Theo. Das wird er ändern, in Zukunft wird er Anzüge tragen und seine Wohnung streichen. Schon bei seinem Einzug wollte er die Wasserflecken an der Decke überstreichen, aber haben diese Wasserflecken nicht auch eine eigene Anmut? Ausgefranste Schwefelseen oder schäumende Wirbel. Lisa sagt, sie brauche niemanden, sie wolle nur eine gute, gewissenhafte Ärztin werden, und dafür benötige sie alle Kraft, die sie habe, denn ihr werde nichts geschenkt. Meinst du, mir wird etwas geschenkt? Theo, mir bezahlt niemand die Wohnung. Ich werde deine Miete bezahlen, Lisa, ich werde arbeiten gehen! Ich werde Bierkisten ausfahren und Fische ausnehmen, Bäume fällen und an der Kasse sitzen! Bis auf ein Glas Mayonnaise und vier Bananen ist sein Kühlschrank leer. Er setzt sich auf die Fensterbank und isst zwei davon. Auf der Straße ist eine Menge los. Es gibt Menschen, die kaufen in der ersten Hälfte des Monats im teuren Laden gegenüber ein und in der zweiten Hälfte im preisgünstigen Supermarkt direkt daneben. Das hat er beobachtet. Seine Nachbarin geht sogar mit einer Tüte aus dem Edelladen in den Supermarkt. Im Radio ist die Rede vom Frühling, und es gibt tatsächlich grüne Blätter an den Bäumen. Unter ihnen steht ein Langer, Dürrer mit Zopf und spielt Mundharmonika, wirft mehr den Kopf hin und her, als dass er spielt. Manchmal sieht Theo seinen Vater da unten stehen. Er steht da und blickt zu ihm nach oben. Na mein Junge, sitzt du da und hast nichts vor? Er vermisst seinen Vater. Ann sagt, er habe seinen Vater seine ganze Kindheit lang gehabt, dafür solle er dankbar sein. Die kleine Zimmerlinde, die sie ihm geschenkt hat, beginnt sich zu lichten.

Fast wäre Luc über die Tonvase im Hotelflur gestolpert. Aus der Minibar nimmt er sich eine Cola, zieht sich aus, setzt sich nackt in den geblümten Sessel. Solange er lebt, wird man sagen, das ist Jean-Luc Gaspard. Er hält die Hände vor die Augen. Unsichtbares Blut fließt durch unsichtbare Adern. Die Verantwortung der neuen Position, das große Vertrauen in meine Person, die Zukunft der europäischen Polizei. Vor ein paar Jahren, liebe Kollegen, waren meine Kinder klein und die Nächte kurz, und trotzdem waren es Liebesnächte. Einmal haben wir gemeinsam ein Fotoalbum angesehen, und Christophe rief: Das ist Papa! Auf dem Foto war ich fünfzehn Jahre jünger und nur von hinten zu sehen, und mein kleiner Sohn hat mich erkannt. Meine Frau freut sich auf Den Haag, liebe Kollegen Verbindungsbeamte, sie hat für die Kinder eine wunderbare Schule gefunden, alles fügt sich so gut zusammen, eine kühle Brise weht in Den Haag. Hinter dem Fenster gegenüber versucht ein dicklicher Mann, die Jalousien zu schließen, es gelingt nicht, er wird wütend, klettert auf einen Stuhl und fingert an der Befestigung herum, bis er plötzlich aus dem Blickfeld stürzt, das ganze Konstrukt hinterher. Herzlichen Dank dafür, heel hartelijk bedankt. Man gratuliert Jean-Luc Gaspard zur neuen Position, zu seiner beeindruckenden Antrittsrede, der Holländer lobt die österreichische Küche, Michel ist ganz aus dem Häuschen, alle sind bester Laune.

Das abendliche Grau zieht den Blick ins Weite. Er würde Miyu gern vom Kommunalfriedhof erzählen. Einfach, weil es ein schöner Ort ist. Den halben Tag lang ist er zwischen den Gräbern umhergewandert. Es gibt dort eine Ruhestätte für stillgeborene Kinder. So nennen sie es hier. Geboren und gestorben am selben Tag.

Er steht auf und sucht sein Telefon. Er findet es in seiner Jackentasche und blättert durch die gespeicherten Namen. Mit den meisten hat er seit Jahren nicht mehr gesprochen. Er ruft Miyu an. Er möchte den Kindern eine gute Nacht wünschen. Sie sagt, sie fühlt sich nicht gut. Nichts Schlimmes, nur eine Erkältung. Christophe hat es auch erwischt. Wie seine Rede gelaufen ist, will sie wissen. Hervorragend! Wieso er sie nicht gleich angerufen hat? Die Tagung zog sich hin. Seine Mutter meldet sich jeden Tag, ihr Fernseher ist kaputt, aber sie wird das regeln, er soll sich keine Gedanken machen. Ob er weiß, wo die Telefonnummer vom Steuerberater ist, in seinem Arbeitszimmer ist so ein Durcheinander, sie will nicht in seinen Sachen wühlen, aber sie hat diese Telefonnummer gesucht und nicht gefunden, und vor Den Haag will sie die Steuer unbedingt fertig haben. Sie vermisst ihn und muss immer an ihren Streit denken, manchmal ist sie einfach ungehalten, es ist so viel zu organisieren. Sie versteht natürlich, dass ihn zwischendurch Unsicherheit überfällt. Außerdem muss sie das Storyboard abgeben. Storyboard? Die spanische Salami. Richtig. Und wo ist er jetzt? Beim Abendessen mit den Kollegen, und später geht man noch feiern. Ja, er soll sich feiern lassen. Sie ist stolz auf ihn. Ist jetzt alles geklärt, will sie wissen. Was geklärt? Das war doch dein Einstand. Ja, alles ist geklärt. Ich umarme dich, sagt sie. Gib den Kindern einen Kuss, sagt er.

Sie ist stolz auf ihn. Wie albern, auf jemanden stolz zu sein. Wenn er jetzt tatsächlich zu den Kollegen geht, sind alle betrunken. Vielleicht kein schlechter Zeitpunkt. Du kannst doch nicht einfach verschwinden, wird Michel sagen. Er kann sich genau vorstellen, wie Michel die Nase hochzieht und den Kopf schüttelt. Wir haben auf dich gewartet. Du hättest nur ein paar Floskeln sagen müssen. Weiß der Himmel, warum du das tust, Luc. Ja, weiß der Himmel, Michel, mir war nicht wohl, kann passieren.

Luc fährt mit dem Fahrstuhl nach unten, nickt dem Nachtportier zu, der in ein Buch versunken hinter dem Tresen sitzt, und tritt aus dem Hotel. Die Luft ist kalt und wunderbar. Es ist kaum jemand auf der Straße, und trotzdem fühlt er sich beobachtet. Er ist ein Idiot. Ein idiotischer Idiot. Ein Mann in seinem Alter, sandfarbene Haare, Brille, eher schlank als rundlich, kommt ihm entgegen. Hat er ihm zugelächelt? Er treibt weiter die Straßen entlang, verfällt wieder in den Rhythmus des Gehens, Stunde um Stunde, rastloses Wundern.

Club Amadeus leuchtet in roten Buchstaben über der Tür. Ein Türsteher, braungebrannt im schwarzen Anzug, winkt ihn herein. Viel nackte Haut, Touristen und mittlere Führungskräfte, die an kleinen Tischen zusammensitzen, mit ihren Autoschlüsseln spielen oder sich auf der Tanzfläche versuchen. An einer silbernen Stange rekelt sich ein Mädchen. Keine Kollegen. Er ist erleichtert und bestellt einen Kaffee an der Bar. Sein Nachbar wippt begeistert zur Musik, ruft nach Sekt für eine Brünette mit Zahnspange und erzählt mit großen Gesten. Sie strahlt ihn verständnislos an und winkt eine dürre Blonde heran, die sich neben Luc platziert. Ich bin Dani. Der Discjockey kündigt für die nächste halbe Stunde Oldies an. Einige Touristen tun sich zusammen und singen lauthals mit. Dani findet das lustig. Wie einen Hund krault sie Luc am Ohr. Es geniert ihn.

Was machst du beruflich, brüllt Dani ihn an.

Polizei, sagt er, ich muss gehen. Er steht auf und bezahlt seinen Kaffee.

Soll ich mitkommen, fragt Dani.

Nein.

Vor der Tür hat sich ein Glatzkopf mit dem Türsteher angelegt. Ob er helfen könne, fragt Luc. Alles unter Kontrolle, sagt der Türsteher, doch der Glatzkopf kommt drohend auf Luc zu, stößt ihm die flache Hand gegen die Brust. Ein Schatten schießt vorbei, ein Flattern in der Luft, nur eine Fledermaus, Luc dreht ihm den Arm auf den Rücken, Kreuzfesselgriff, dann wieder der Schatten, Luc lässt los, und der Glatzkopf taumelt zurück.

Bist du bescheuert, fragt der Türsteher, geh nach Hause, Mann.

Schon gut.

Es dämmert, Salzburg schläft noch. Das passt zu dieser Spielzeugstadt, dass die Leute ihre Häuser erst verlassen, wenn draußen eine gewisse Eindeutigkeit herrscht. Gleich werden Ritter um die Ecke kommen, das Scheppern ihrer Rüstungen wird durch die Gassen hallen. Vor einem Schaufenster bleibt er stehen und zündet sich eine Zigarette an. Wild und Geflügel. Auf den weißen Kacheln sitzt ein ausgestopftes, mageres Flügeltier. Wohl ein Fasan. Neben dem Vogel ein Korb mit gesprenkelten Eiern und ein runzliger Maiskolben. Sonst ist das Schaufenster leer. Eine Nachricht von Michel. Er will ihn um zehn Uhr morgens treffen.

Zwei

Es ist noch fast dunkel, als Ann erwacht. Sie dreht sich auf die andere Seite, atmet flach, aber der Schlaf hat sie verlassen, hat sich vielleicht eines anderen Körpers bemächtigt, der seit Stunden auf ihn gewartet hat. Der Schlaf kann nicht zu jeder Zeit überall sein, das sollten jene eigentlich wissen, die im Lavendelrausch an die Decke starren und die Minuten zählen bis zum Morgengrauen. Es ist kalt im Zimmer. Sie nimmt einen Schluck von dem Gin Tonic und geht ins Bad. Im Spiegel betrachtet sie den Abdruck der Kissenfalten auf ihrer Wange. Theo wird sich nicht um alles kümmern können. Theo hasst ihren Garten. Im Keller sind auch noch die Sachen ihrer Mutter, Kleidung, Porzellan, das Gewehr. Außerdem Theos Spielsachen, Bilder aus dem Kindergarten, der Grundschule, Akten, Fotos, ihre Studienunterlagen. Grundlagen der Morphologie, Mikrobiologie, Organische Chemie. Wirf das Zeug weg, sagte Ed immer. Vielleicht ist es irgendwann zu gebrauchen. Aber wann denn?

Sie duscht, zieht sich an. Leise schließt sie ihre Zimmertür und fährt mit dem Aufzug nach unten. Auf den zweiten Blick erst bemerkt sie den jungen Nachtportier an der Rezeption.

Kann ich Ihnen helfen, fragt er und legt sein Buch beiseite.

Wann gibt es Frühstück?

Ab sieben.

Wenn Sie vielleicht einen Tee für mich hätten, bis dahin?

Nur löslichen Kaffee, sagt er und verschwindet in einem Raum hinter dem Tresen.

Löslichen Kaffee gab es an der Universität aus einem Automaten, der auf Wunsch auch Instantsuppe oder Kakao in kleine braune Becher spuckte. Sie war eine fleißige Studentin, und direkt nach ihrer Promotion bekam sie eine Stelle am Max-Planck-Institut angeboten. Man freue sich, sie gewinnen zu können, stand in dem Brief, und wenn sie schon zum kommenden Monat anfangen könne, habe sie die Möglichkeit, in guter Position einer langfristigen Forschungsinitiative beizutreten. Zwei Wochen lang war sie wie berauscht von ihrer neuen Perspektive, in der dritten stellte sie fest, dass sie schwanger war. Wir schaffen das, Ann, sagte Ed, und sie schaute auf seinen schönen Mund, hörte nichts mehr und zerrieb eine Papierserviette zwischen den Fingern.

Ihr Kaffee, sagt er und stellt ihr eine große Tasse hin.

Studieren Sie, fragt sie und schüttelt sich beim ersten Schluck.

Nein, ich arbeite hier.

Natürlich. Wie alt sind Sie?

Zweiundzwanzig.

Wie mein Sohn.

Ein Mann ist herangetreten. Zimmer 208 bitte, sagt er mit französischem Akzent. In seiner Kleidung hängt die Kälte des frühen Morgens.

Wann gibt es Frühstück, fragt er und unterdrückt ein Gähnen.

Ab sieben können Sie frühstücken, bis zehn Uhr, sagt der Portier, gibt ihm seinen Schlüssel.

Der Franzose geht in Richtung Aufzug. Er trägt einen etwas zerknitterten grauen Anzug. Er ist um die vierzig, groß, das ist einer, der es gewohnt ist, dass man ihm hinterherschaut. Wenn sein Blick sie träfe, wie würde sie ihm begegnen? Wenn du so schaust, Ann. Was ist dann, Ed? Das gefällt mir.

Gleich habe ich Schluss, sagt der Nachtportier.