Zukunftsmusik - Katerina Poladjan - E-Book
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Katerina Poladjan

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Beschreibung

Der neue Roman von Katerina Poladjan über vier Generationen von Frauen, eine Kommunalka und das Ende einer Epoche. In der sibirischen Weite, tausende Werst östlich von Moskau, leben in einer Kommunalka auf engstem Raum Großmutter, Mutter, Tochter und Enkelin unter dem bröckelnden Putz einer vergangenen Zeit. Es ist der 11. März 1985, Beginn einer Zeitenwende, von der noch niemand etwas ahnt. Alle gehen ihrem Alltag nach. Der Ingenieur von nebenan versucht, sein Leben in Kästchen zu sortieren, Warwara hilft einem Kind auf die Welt, Maria träumt von der Liebe, Janka will am Abend in der Küche singen.  »Zukunftsmusik« ist ein großer Roman über vier Leben am Wendepunkt, über eine untergegangene Welt, die bis heute nachwirkt, über die Absurdität des Daseins und die große Frage des Hier und Jetzt: Was tun?

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Katerina Poladjan

Zukunftsmusik

Roman

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Inhalt

[Widmung][Motto]1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. KapitelIch danke allen, die [...]

Für Alva

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1

Tausende Werst oder Meilen oder Kilometer östlich von Moskau ragte das Skelett einer Radarstation in den Nachthimmel, schwach beleuchtet von den Lampen der Glühbirnenfabrik, die immer brannten. Der März war mild, die Temperatur lag knapp unter null, und den sandigen Boden der Brache bedeckte schmutziger Schnee. Schnee schimmerte auch auf der Böschung, wo das Flussufer steil abfiel, an den Rundhorizont dahinter waren blasse Sterne projiziert, was hübsch aussah, und unten, das wusste Janka, nahm teerschwarz und träge der Strom alles mit sich, auch die Zeit. Janka setzte sich auf einen Baumstumpf, zog den Reißverschluss ihres Parkas hoch und zündete sich eine Zigarette an. Ihre Hand roch sauer nach Metall.

Zur Mitte der Nachtschicht war der Vorarbeiter vor die Belegschaft getreten, er hatte ein Transistorradio in die Höhe gehalten, aus dem Chopins Trauermarsch schepperte. Ihr wisst, was das bedeutet, hatte er gerufen und verkündet, das sei kein Grund zu verzagen, mehr denn je brauche die Sowjetunion jetzt Licht.

Noch zwei Stunden bis Sonnenaufgang. Janka warf die Zigarette weg und sah zu, wie sie im kalten Sand verglühte.

2

Ein Poltern und Scharren im Korridor riss Matwej Alexandrowitsch aus dem Schlaf. Er fingerte nach der Armbanduhr auf dem Nachttisch, und Gagarin rutschte von seiner Brust. Es war noch nicht einmal halb sechs, und Matwej hoffte, Janka würde nicht sofort ihr Kind wecken, wie sie es gewöhnlich nach der Nachtschicht tat, das Kind würde plärren und seine morgendlichen Rituale empfindlich stören. Er lauschte und kraulte Gagarin hinter den Ohren. Im vergangenen Jahr war das Fell des alten Katers stumpf geworden, und Matwej hatte schon befürchtet, Gagarin würde sterben, aber der dachte nicht daran.

Matwej Alexandrowitsch stand auf und schaltete das Radio ein. Sie spielten den dritten Satz aus Chopins zweiter Klaviersonate, den Trauermarsch. Er drehte den Ton leiser, stellte sich in Unterwäsche neben dem Bett auf, stemmte sich auf die Zehenspitzen, was den Beginn seiner täglichen gymnastischen Übungen markierte, da krähte die kleine Kroschka los. Matwej ließ sich auf die Fersen sinken und lauschte. Das Kind verstummte. Damit bestand noch die Möglichkeit, dass nicht alle erwacht waren und binnen kurzem in der Gemeinschaftsküche erscheinen würden. Matwej Alexandrowitsch schlüpfte in Hausmantel und Pantoffeln, durchmaß mit zwei Schritten sein Zimmer und schlich hinüber. Im Korridor hielt er kurz inne, aus dem Zimmer des Professors kamen Laute, als huste jemand in den Schallbecher einer Tuba.

 

Auf dem Herd der Karisen stand ein großer Topf mit Reis und Fleischstücken. Ohne das Licht anzuschalten, nahm er einen Löffel und aß direkt aus dem Topf. Das Fleisch schmeckte zart nach Huhn. Oder war es Schlange? Woher bekamen die Karisen Schlange zum Kochen? Im Erholungspark der Stadt gab es selbst im Sommer nur armselige Blindschleichen. Er aß noch ein paar Löffel, wischte sich den Mund an einem fadenscheinigen Handtuch ab und sah sich in der Küche um, die im matten Schein einer Straßenlaterne ihre ferne aristokratische Herkunft erahnen ließ.

Sechs Mietparteien lebten unter dem bröckelnden Stuck der Gründerzeit, und man ging sich aus dem Weg – soweit es die Umstände erlaubten. Den Bewohnern der Zimmer am Ende des Korridors begegnete Matwej selten, zum Beispiel den Karisen oder dem alten Professor, der ein so unauffälliges Leben führte, dass Matwej seinen Namen immer wieder vergaß. Im mittleren Teil des Korridors wirkte die Liebermann, daneben – im größten Zimmer von allen – wohnten die Kosolapijs. Mit den Damen im vorderen Teil der Wohnung hatte Matwej mehr Austausch, ihr Zimmer lag dem seinen gegenüber.

Matwej Alexandrowitsch legte den Löffel in einen Zuber mit schmutzigem Besteck und Geschirr. Die mangelnde Sauberkeit war ein immerwährendes und ermüdendes Thema in der Kommunalka, aber am Ende räumten die Karisen auf. Wann sie das taten, wusste niemand, noch nie hatte sie jemand dabei beobachtet, nur manchmal, mitten in der Nacht, meinte Matwej Alexandrowitsch, er höre die Karisen mit Kehrschaufel, Mopp und Besen hantieren.

Nebenan ließ Janka das Badewasser rauschen, was seine Rasur auf unbestimmte Zeit verschob.

Ein elektrischer Blitz an der Oberleitung des vorüberfahrenden Siebzehner Busses erhellte das Gesicht Michail Potapitsch Toptigins, der als Spardose auf dem großen Regal thronte. Die Bewohner der Kommunalka waren aufgerufen, dem Bären wöchentlich einige Münzen für gemeinschaftliche Anschaffungen von Kernseife oder Toilettenpapier zwischen die Augen zu stecken. Michail Potapitsch Toptigin hatte stets einen leeren Bauch, aber wiederum wie von Zauberhand wurden die Vorräte ergänzt, wenn es nötig war. Da sollte noch mal jemand über ihr System schimpfen.

Matwej Alexandrowitsch schaute hinaus. Nur ein einziges Fenster in der Straße war erleuchtet, die Menschen schliefen wie Schafe. Im Schein einer brennenden Zimmerlampe jedoch lagen vielleicht zwei im Liebesspiel vereint auf dem Sofa, strotzend vor Gesundheit knufften und küssten sie sich bis zum Sonnenaufgang. Matwej Alexandrowitsch seufzte und erschrak, weil sein Seufzen in der Küche so unheimlich widerhallte. Er seufzte noch einmal, diesmal leiser. Er brummte ein wenig, knurrte, summte, summte lauter, dann sang er:

Unsterbliche Opfer,

ihr sanket dahin,

wir stehen und weinen,

voll Schmerz, Herz und Sinn.

Ihr kämpftet und starbet

für kommendes Recht,

wir aber, wir trauern,

der Zukunft Geschlecht.

Wo sollen sich denn in unserer Küche die unsterblichen Opfer versteckt haben, verehrter Matwej Alexandrowitsch?

Er fuhr herum. Vor ihm stand Maria Nikolajewna im zartrosa Morgenrock, und ob es einfach eine Übersprungshandlung war oder ob es die blonden Locken waren, die Maria Nikolajewna auf die Schultern fielen, blonde Locken, die bei Tage stets zu einem strengen Knoten gesteckt waren, oder ob es der Kragen ihres Nachthemdes war, der unter dem Revers des Morgenrockes hervorschaute, wusste er später nicht mehr, jedenfalls ließ er sich dazu hinreißen, Maria Nikolajewna an den Schultern zu packen und ihr die nächste Strophe des Liedes ins Gesicht zu schmettern, als gäbe es kein Morgen.

Einst aber,

wenn Freiheit den Menschen erstand

und all euer Sehnen Erfüllung fand:

Dann werden wir künden,

wie ihr einst gelebt,

zum Höchsten der Menschheit

empor nur gestrebt!

Matwej, beruhigen Sie sich. Ich mache uns einen Tee. Es gibt auch Schokoladenkonfekt, eigens verwahrt für den Geburtstag meiner Mutter, aber Sie scheinen es gerade nötiger zu haben.

Hätte ich gewusst, dass ein patriotisches Lied mich in den Genuss Ihrer Anwesenheit und in den von Schokoladenkonfekt bringt, hätte ich diese Maßnahme längst ergriffen.

Maria Nikolajewna schaltete das Licht ein und machte sich an ihrem Herd zu schaffen. Matwej Alexandrowitsch betrachtete ihre Fesseln, von denen ein schmaler weißer Streifen zwischen dem Saum ihres Morgenrockes und den kunstfellbesetzten Stulpen ihrer Pantoffeln zu sehen war. Er ließ sich auf einen Stuhl sinken. Kein Gestirn, keine Sonne hatte das Recht, so weit in die Umlaufbahn der anderen einzudringen, dass es zu den unabsehbaren Folgen kam, die sich nun in der schrecklichen Unordnung seiner Gedanken ausdrückten.

Wissen Sie, Maria Nikolajewna, jeder Mensch lebt in seiner eigenen, abgeschlossenen Welt, das ist ein höheres Gesetz und erscheint mir somit recht und billig. Aber Ihre Tochter Janka lebt in einem besonders fremden und weit entfernten Kosmos, und darf sie deshalb, wenn sie frühmorgens von der Nachtschicht kommt, so egoistisch sein, dass sie sofort ihr Kind weckt, das dann mit seinem Geplapper und Geplärr die ganze Kommunalka aus dem Schlaf reißt?

Ein Scheißleben haben wir, sagte Maria Nikolajewna. Sie reichte Matwej eine Tasse Tee, setzte sich zu ihm an den Tisch und beugte sich über die Schachtel mit dem Konfekt. Im selben Augenblick stellte sie offenbar fest, dass dieser Satz, den sie oft und gern sagte, gerade gar nicht passte. Wohl daher fügte sie schnell hinzu: Und nicht mehr lange, dann wird es auch wieder Frühling, und die Birken bekommen kleine grüne Blättchen.

Was die Bäume betrifft, so sage ich Ihnen, dass, wenn Sie von der Beschaffenheit der Rinde einer Eberesche, einer Erle oder eben von der Farbe des Blattes einer Birke sprechen, ich mich von Ihnen angesprochen fühle, als gälte Ihre Ansprache nicht den Bäumen, sondern mir. Ich fühle mich geschmeichelt von der Zärtlichkeit Ihrer Worte über die Bäume, die so stumm und erhaben ihr Dasein fristen. Ich sage Ihnen noch etwas, aber bitte lachen Sie mich nicht aus: Mein junges Ich konnte sich vor dreißig Jahren nicht vorstellen, dass es einst beim Gedanken an eben diese Bäume in Schwermut versinken würde.

Maria Nikolajewna gähnte laut und breit und schön, erhob sich, nahm den Wasserkessel vom Herd, schob die Wäsche, die an mehreren, durch die gesamte Küche gespannten Leinen hing, beiseite und fragte schließlich gedankenverloren: Bäume, sagten Sie? Sie lesen zu viel Turgenjew.

Im hinteren Teil der Wohnung wurde ein Radio eingeschaltet, es erklangen die letzten Takte von Chopins Trauermarsch, dann intonierte ein Chor: Unsterbliche Opfer, ihr sanket dahin. Das Radio wurde wieder ausgeschaltet.

Aber ja doch, Bäume, sagte Matwej Alexandrowitsch, der sich plötzlich auch sehr müde fühlte, wenn Sie es wünschen, führe ich Sie nächsten Sonntag zu einem Spaziergang in den Erholungspark aus und zeige sie Ihnen.

Nicht doch, Matwej, das müssen Sie nicht, denn wer weiß, ob die Bäume dieser Tage nicht auch trauern und ein ganz klägliches Bild abgeben.

Was meinen Sie, verehrte Maria Nikolajewna?

Es ist ja nicht zu überhören, dass in Moskau schon wieder einer gestorben ist. Übrigens, haben Sie die Zeit?

Die Zeit?

Wie spät ist es?

Gleich halb sieben. Ich glaube nicht, dass die Bäume trauern, außer die Weiden natürlich. Ulmen und Birken sind grundsätzlich von fröhlichem, von leichtem Gemüt. Eichen sind manchmal etwas ernsthaft, aber Trauer? Um Stalin haben wir getrauert, um Breschnew haben wir getrauert – und heute?

Maria Nikolajewna sah Matwej Alexandrowitsch lange an und sagte nichts. Dann warf sie vier Stückchen Zucker in eine weitere Teetasse und rührte sorgfältig um.

Dein Tee, Mutter.

Warwara Michailowna trat auf, nahm die Tasse, sah ihre Tochter an und sagte, ich werde bald sterben.

Guten Morgen, verehrte Warwara Michailowna, sagte Matwej Alexandrowitsch.

Warwara Michailowna grunzte zur Antwort und wandte sich wieder ihrer Tochter zu. Wo ist Janka?

Sie badet.

Natürlich. Was sonst. Entweder sie badet oder sie schreit.

Sie schreit nicht, sie singt.

Und wer ist gestorben? Sie spielen Chopin.

Der verehrte Matwej Alexandrowitsch vermutet –

Solange nichts offiziell verlautbart ist, vermute ich gar nichts!, rief Matwej Alexandrowitsch mit ungewöhnlicher Heftigkeit.

Wer auch immer gestorben ist, beschwichtigte Maria Nikolajewna, ich muss mich jetzt fertig machen. Bis später.

Hüte dich vor den Karisen, sagte Warwara Michailowna.

Hüte dich vor dir selbst.

Bevor Sie gehen, verehrte Maria Nikolajewna, das Badezimmer ist schon wieder von Ihrer Tochter besetzt. Man muss etwas tun.

Und was muss man tun, Matwej? Was schlagen Sie vor?

Die kleine Kroschka erschien barfuß in der Tür, Warwara Michailowna nahm sie auf den Schoß und zauberte ein Paar Wollsocken aus ihrem Morgenmantel. Du wirst dich erkälten, Kind! Aber das interessiert hier ja niemanden, mein armer Engel.

Ein Mann muss mit ihr sprechen. Ein Machtwort, verstehen Sie?

Ja, ich verstehe, Matwej Alexandrowitsch, aber Sie werden nicht derjenige sein. Maria Nikolajewna schob sich an ihm vorbei aus der Küche und klopfte entschieden gegen die Badezimmertür. Janka, komm endlich raus. Sie versuchte, ihrer Stimme einen autoritären Klang zu verleihen. Man hörte Janka noch ein paar Takte singen dann schimpfen.

Sehen Sie, man kann nichts tun, rief Maria Nikolajewna über die Schulter.

3

Janka streckte das linke Bein aus dem lauwarmen Wasser und betrachtete ihren Fuß, bewegte ihn kreisend – ein solider Fuß. Sie schloss die Augen, nur noch fünf Minuten hier in der Badewanne liegen. Ihre Glieder waren schwer. Die Schicht war endlos lang gewesen, beleuchtet von abertausend schreiend hellen Glühbirnen. Schrauben, begutachten, schrauben, sortieren. Diese Nachtschichten schärften ihr Bewusstsein auf sonderbare Weise, und Janka entwickelte einen Sinn für Bedeutungslosigkeiten. Sie erinnerte sich, wie die Kolleginnen schwatzend in der Pause zusammengestanden hatten, und als sie dazugetreten war, um auch eine Zigarette zu rauchen, hatten sie das Thema gewechselt und sich mit den Augen verständigt. Worüber? Es war bedeutungslos. Die Kolleginnen waren egal. Die Fabrik war egal. Sie konnte schwerelos sein, und sie konnte traurig sein, und sie konnte dumm und glücklich sein. Oder sie könnte aufhören – endlich aufhören –, sich zu fragen, wie sie sein könnte, oder wie sie sein wollte, oder wie die Welt sie wollte. War sie nützlich, oder käme die Welt ohne sie aus? Tastend glitt ihre Hand zum Bauch, zur Hüfte, Luftbläschen stiegen auf und zersprangen an der Oberfläche. Sie tauchte unter und schwamm dem Ufer entgegen, tauchte wieder auf. Alle waren da, Pawel, Olga, Emi, Kostja und Andrej. Emi und Kostja lagen eng umschlungen auf einer Decke und fraßen sich gegenseitig auf. Olga lallte Verse von Pasternak, Andrej bewachte das Schaschlik über der Glut, und Pawel stand am Ufer und hielt nach ihr Ausschau.

Kann mir einer von euch Bastarden mal ein Handtuch reichen, rief sie im eiskalten Wasser stehend, so kalt, dass sich die Fische nach Afrika davongemacht hatten. Pawel ließ Hemd und Hose fallen, rannte mit wedelndem Pimmel auf sie zu und umarmte sie fest. Und du bist jetzt also mein Handtuch, murmelte sie in die warme Kuhle zwischen Hals und Schlüsselbein. Bin ich.

Andrej posierte athletisch mit der Grillzange und stopfte sich ein riesiges Stück Weißbrot in den Mund. Drumherum schimmernde Birken, blitzendes Wasser und eine gleißende Ahnung, dass der Sommer sein Ewigkeitsversprechen nicht halten würde. Den nackten Pawel an sich klebend, versuchte Janka, von der Stelle zu kommen, durch das Gras zu schlittern wie auf Skiern in nassem Schnee, Schritt um Schritt. Du brichst mir noch das Rückgrat. Sie kniff ihm in die Eier, endlich ließ er von ihr und fiel tot zu Boden. Andrej warf Janka ihr Hemd zu und grinste.

Was ist?

Singen wir was, Janka?

Für wen?

Für uns.

Welches Lied willst du singen?

Statt einer Antwort gab er ihr einen Spieß mit verbrannten Zwiebeln und fettem Fleisch, betrachtete ihren kauenden Mund. Die Fettstücke, die sie verschmähte, nahm er und aß sie. Das ist das Beste, und du spuckst es aus.

 

Janka ließ noch ein wenig heißes Wasser nachlaufen. Wie wunderbar es im Bauch der Wanne war. Alles liegt noch vor mir, lieber Gott, mach, dass ich noch viele Münder küssen werde, mach, dass meine Lieder gehört werden.

Am Abend würde sie ein Konzert in ihrer Küche geben, ein Kwartirnik, sie allein mit der Gitarre vor zehn, vielleicht zwanzig Leuten. Wenn so viele kämen, würde es eng werden, und noch immer hatte sie kein anständiges Instrument. Andrej war vor ein paar Tagen betrunken in ihre Gitarre gestolpert, der Korpus hatte den Tritt überstanden, aber die Verbindung von Decke und Zarge war an einer Stelle aufgeplatzt, und der Steg sah aus, als würde er sich bald lösen. Andrej hatte seine Verlegenheit feixend überspielt, du musst mir dankbar sein, Janka, jetzt klingt es endlich nach Punkmusik. Pawel wäre beinahe auf Andrej losgegangen, Janka war dazwischengetreten, Andrej hatte sich verzogen. Pawel hatte versprochen, eine neue Gitarre zu besorgen, war aber jedes Mal mit Ausflüchten gekommen: Schwierig zu beschaffen, zu teuer, nicht die Richtige für dich, was ist eigentlich mit Andrejs Gitarre? Er hat sie versetzt. Hat Olga nicht eine? Olga spielt Geige. Janka, ich verspreche dir, zu deinem Konzert hast du eine neue Gitarre. Pawel behauptete sogar, der berühmte B.G. sei aus Leningrad angereist und wolle ihr Konzert besuchen. Andrej hielt nichts von B.G., nannte ihn käuflich und einen Verräter wegen seiner Freundin aus dem Westen, die angeblich seine Aufnahmen nach Amerika schmuggelte und die ihm von dort eine rote Stratocaster mitgebracht habe. Mit der dürfe er nun im Leningrader Rockklub auftreten – unter den Augen des KGB, aber vor Publikum und auf einer richtigen Bühne. Aber wahrscheinlich war das alles erlogen.

Andrej hatte ihr auch von einer Sängerin namens Djagilewa erzählt, die mache nur für sich selbst Musik, der sei es egal, ob man ihre Lieder mochte oder nicht. Aber diese Djagilewa war wahrscheinlich eine Auserwählte, die unerschrocken und mit brennender Seele durch das Land streifte, sich verhaften ließ, gefährliche Liebesabenteuer mit ebensolchen Auserwählten hatte. Auch Jankas Seele sollte brennen, sie wollte brennend lieben, sie wollte brennend geliebt werden. Musste sie dafür ihre Finger an der Gitarre blutig spielen wie Andrej? Musste sie wegen öffentlicher Ruhestörung von der Miliz verhaftet werden wie eine Djagilewa? Janka ging ordentlich zur Arbeit, manchmal sogar gern, denn beim Prüfen von Glühbirnen konnte sie die Welt vergessen und im Rhythmus der Maschine ihre Lieder komponieren. Bis zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag würde sie ein unvergessliches Lied schreiben.

Das Wasser wurde langsam kalt. Sie hörte Kroschka fröhlich plappern. Kroschka, die doch gerade erst an ihrer Brust gelegen und sie selbst in verwirrtes Erstaunen versetzt hatte, dass aus so kleinen Brüsten so viel Milch schießen konnte. Einmal war Janka nachts aufgewacht und hatte das Gefühl, dass Kroschka neben ihr nicht mehr atmete, dass ihr der Atem abhandengekommen, dass ihr gemeinsames Leben schon zu Ende war, noch bevor es richtig begonnen hatte. Sie hatte sich die kleine erschöpfte Lunge vorgestellt und so laut geschrien, dass sie ihren Schrei selbst nicht vernahm. Erst als ihre Mutter und ihre Großmutter aus dem Schlaf hochschreckten und Kroschka mit ihrem dünnen Stimmchen in das Geschrei einfiel, war Janka zur Besinnung gekommen und zurück in die Kissen gefallen. Du Gans, sie hat doch nur geschlafen.

Wenn Janka noch länger in der Wanne bliebe, würde sie es nicht schaffen, Kroschka für den Kindergarten zurechtzumachen und ein paar Minuten mit ihr zu verbringen. Eigentlich sah sie das Kind kaum noch. Manchmal schaute Kroschka sie aus großen Augen an, als wundere sie sich, als bestünde zwischen dem Kind und Janka ein Missverständnis. Entschuldigen Sie, kennen wir uns? Sind wir uns irgendwo schon einmal begegnet? Und wenn Janka Kroschka ermahnte, irgendetwas zu tun oder zu lassen, kam es ihr falsch und ungelenk vor, sie meinte sogar, einen Funken Spott im Blick des Kindes zu erkennen. Ob es diesen Spott wirklich gab, wusste sie nicht. Vielleicht hatte sie einfach Angst, dass sie ihrer Tochter nichts bieten konnte. Dann kamen die Gewissensbisse, dass sie der Mutter die Sorge für das Kind überließ, dass sie schlief, wenn ihre Mutter Kroschka in den Kindergarten brachte. Maria wehrte sich nie, sagte nie nein, wagte niemals eine offensive Geste. Manchmal stellte Janka erschrocken fest, dass ihre junge Mutter begann, alt zu werden, sie entdeckte in ihrem Gesicht Züge der Großmutter, die leicht zusammengekniffenen Augen, das Zucken im Mundwinkel.

Janka stieg aus der Wanne, trocknete sich ab und wischte mit dem Handtuch den beschlagenen Spiegel frei. Sie lachte und betrachtete die Wirkung des Lachens auf ihrem Gesicht. Leuchte, mein Stern, leuchte.

4

Maria Nikolajewna klappte ihr Bett hoch und fixierte es mit einem Faustschlag, schob den Paravent in die Sichtachse zwischen Tür und Kleiderschrank, zog Morgenrock und Nachthemd aus und kleidete sich an. Die Pantoffeln, die der Bequemlichkeit halber an den Seiten aufgeschlitzt waren, schleuderte sie von sich, und da lagen sie nun und waren das ganze Elend. Maria legte sich auf Jankas Bett, zog den Vorhang zu und starrte an die Zimmerdecke. Ihr blieb noch ein Augenblick, ehe sie das Haus verlassen musste, sie hatte ein paar Minuten für sich allein.